Bianca Extra Band 69

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ATTRAKTIV, ARROGANT - UND SO VERFÜHRERISCH … von ALLISON LEIGH
Attraktiv - und viel zu arrogant! Männer wie Brody kennt Angeline zur Genüge. Besser, sie lässt die Finger von ihm! Bis sie sich bei einem gemeinsamen Hilfsseinsatz als seine Ehefrau ausgeben muss und Brody eine ungeahnt liebevolle Seite zeigt. Jäh wird sie schwach. Ein Fehler?

NEUE LIEBE FÜR DEN SINGLEDAD? von MARIE FERRARELLA
Eine neue Liebe? Nichts für Lucas Dolan! Der jüngst verwitwete Arzt muss sich um seine kleine Tochter Lily und seine Praxis kümmern! Zum Glück ist seine fürsorgliche Mitarbeiterin Kayley immer für ihn da. Wenn ihre sinnlichen Reize bloß nicht so unwiderstehlich wären!

DIE MELODIE UNSERER HERZEN von TERI WILSON
Ballerina Tessa fühlt sich sofort zu dem mysteriösen Pianisten Julian hingezogen. Als er bei einer nächtlichen Probe zärtlich "Küss mich!" flüstert, kann sie nicht widerstehen. Aber kaum sinkt sie in seine Arme, weist er sie wieder ab. Verletzt fragt sie sich, ob er nur mit ihr spielt …

ENDLICH KEHRT DAS GLÜCK ZURÜCK von KERRI CARPENTER
Elle ist zurück aus Italien! Cam traut seinen Augen nicht: Der scheue Bücherwurm von einst hat sich in eine aufregende Schönheit verwandelt. Eine leidenschaftliche Romanze beginnt. Doch während Cam sein Glück laut hinausposaunen will, möchte Elle ihre Beziehung geheim halten …


  • Erscheinungstag 09.04.2019
  • Bandnummer 0069
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736705
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Allison Leigh, Marie Ferrarella, Teri Wilson, Kerri Carpenter

BIANCA EXTRA BAND 69

ALLISON LEIGH

Attraktiv, arrogant – und so verführerisch …

Brody weiß nicht mehr weiter: Immer wieder wehrt Angeline seine Flirtversuche ab. Da müssen sie beide bei einem geheimen Rettungseinsatz ein Ehepaar spielen. Seine Chance, ihr Herz zu erobern?

MARIE FERRARELLA

Neue Liebe für den Singledad?

Ein neuer Job – und mehr? Zwischen Kayley und ihrem Boss Lucas knistert es heiß; auch mit seiner Tochter versteht sie sich bestens. Aber wird das Herz des Witwers jemals frei sein für eine neue Liebe?

TERI WILSON

Die Melodie unserer Herzen

Pianist Julian ist auf den ersten Blick fasziniert von der zer-brechlich schönen Ballerina Tessa. Doch auch wenn es magisch zwischen ihnen funkt, spürt er: Tessa trägt ein Geheimnis in sich!

KERRI CARPENTER

Endlich kehrt das Glück zurück

Ausgerechnet der Bruder ihres Jugendschwarms! Als Elle in ihren Heimatort zurückkehrt, verliebt sie sich in den sexy Bauunternehmer Cam Dumont. Doch Gerüchte und Intrigen bedrohen ihr junges Glück …

1. KAPITEL

„Ich finde immer noch, dass du verrückt bist.“

Angeline hatte Brody Paine das letzte Mal vor sechs Monaten gesehen. Jetzt trug er einen ungepflegten Bart, hinter dem er sein Lächeln über ihre Aussage jedoch kaum verbergen konnte.

Seine dichten sandbraunen langen Haare, die zweifellos geschnitten werden mussten, verdeckten seine Ohren, und zusammen mit dem Bart ließen sie ihn ein bisschen wie einen Piraten aussehen.

„Ach Babe, das sagst du doch immer.“

Angeline zog streng eine Augenbraue hoch. Sie saßen nebeneinander in einem Jeep, der bis zu den Radmuttern im Matsch feststeckte.

Brody starrte durch die verregnete Windschutzscheibe und trommelte mit den Daumen auf dem Lenkrad.

Der Wagen war uralt. So etwas Luxuriöses wie Türen besaß er nicht mehr. Und der Wind, der seit Angelines Ankunft in Venezuela vor drei Tagen nicht an Kraft verloren hatte, brachte immer neuen Regen, sodass ihr und Brody erbarmungslos Schauer entgegenschlugen.

Der gewaltige Sturm, der vom Land abdrehen und über dem Ozean abklingen sollte, hatte sich völlig gegenteilig verhalten. Stattdessen lauerte er wie ein quälendes Monstrum über ihnen, das es unentwegt regnen und stürmen ließ. Mai war vielleicht zu früh für einen Hurrikan, aber Mutter Natur schien sich nicht besonders um den Kalender zu scheren.

Angeline drückte sich tiefer in den Sitz. Die Kapuze ihres khakifarbenen Regenponchos bedeckte fast ihren ganzen Kopf, und trotzdem waren ihre Haare mittlerweile komplett nass.

Das hatte sie jetzt davon, dass sie das Camp in Puerto Grande so überstürzt verlassen hatte. Hätte sie sich kurz Zeit genommen, um nachzudenken, hätte sie vielleicht wenigstens ein paar warme Anziehsachen mitgenommen, die sie unter dem Poncho hätte tragen können.

Stattdessen hatte sie sich bei All-Med-Teamleiter Dr. Miguel Chavez mit der Ausrede, eine Freundin in Caracas benötige ihre Hilfe, entschuldigt und war in Brodys armseliges Gefährt gestiegen. Sie wusste, dass man sie nicht so schnell zurückerwarten würde. Selbst bei gutem Wetter dauerte die Fahrt nach Caracas immerhin einen ganzen Tag.

„St. Agnes, das Kloster, in dem die Kinder untergebracht wurden, befindet sich auf dieser Straße“, sagte er und trommelte immer noch mit den Daumen auf dem Lenkrad herum. Wenn er ihre Lage genauso ungemütlich empfand wie sie, konnte er das gut verbergen. „Es gibt keinen anderen Weg zum Kloster. Höchstens den Luftweg. Aber Fliegen ist bei dem Wetter unmöglich.“ Er nickte ein paar Mal, als würde er sich selbst und den verrückten Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten, zustimmen.

Angeline winkelte auf dem harten zerschlissenen Sitz die Beine an und drehte dem strömenden Regen den Rücken zu. „Zu Fuß könnten wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Camp in Puerto Grande sein.“ Auch wenn Dunkelheit ein dehnbarer Begriff war, in Anbetracht der dichten Wolken über ihnen.

Seit ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag war sie fünf Mal mit All-Med in Venezuela gewesen, aber noch nie war das Wetter so schlecht gewesen.

„Es gibt jetzt kein Zurück mehr, Babe.“ Er seufzte laut genug, dass sie es trotz des Regens, der auf das Autodach prasselte, hören konnte. Seine Jeans und sein Regenponcho waren durch die wiederholten Versuche, den Jeep freizubekommen, schlammverschmiert.

„Aber das Kloster ist noch Kilometer entfernt.“ Dem Camp waren sie viel näher. „Wir könnten morgen von dem Team Hilfe bekommen. Den Jeep aus dem Matsch ziehen. Sie müssten nicht erfahren, dass wir auf dem Weg nach St. Agnes und nicht nach Caracas waren.“

„So viel Zeit haben wir nicht.“

Angeline schnaubte und starrte Brody an. Er verlieh dem Wort stur eine gänzlich neue Bedeutung.

Sie drehte sich mit dem Rücken weiter in den Wind und streifte dabei mit den Knien den Schaltknüppel. Als sie versuchte, eine bequemere Position zu finden, berührte sie seinen Oberschenkel.

Wenn er es bemerkt hatte, sah man es ihm nicht an. Deshalb ließ sie ihr linkes Knie dort, wo es war, da der Hautkontakt ihrem zitternden Körper ein kleines bisschen Wärme spendete.

Sie zitterte, weil sie fror und weil sie einen unguten Verdacht hatte, seitdem Brody unerwartet in Puerto Grande aufgetaucht war.

„Warum hast du es so eilig?“, fragte sie. „Du hast mir gesagt, dass wir nur die Stanley-Kinder für ihre Eltern im Kloster abholen.“

„Das tun wir auch.“

Sie presste die Lippen aufeinander. „Brody …“

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich Hewitt nennen, okay?“

Es störte sie nichts an diesem Namen, nur war er einfach kein Hewitt für sie. Brody war pure Energie von Kopf bis Fuß, mit langen Beinen, großen Händen und einem durchtrainierten Körper. Wenn sie schon am Fuße eines Berges in einem fremden Land im Matsch feststecken musste, war Brody die beste Gesellschaft, die sie sich vorstellen konnte. Sie würde nicht so weit gehen und behaupten, sich bei ihm sicher zu fühlen, aber sie glaubte, dass er eine Lösung finden würde.

„Na gut, Hewitt“, wiederholte sie. „Warum dann die Eile? Die Kinder sind seit fast zwei Monaten in dem Kloster. Was macht dann schon eine Nacht mehr?“ Er hatte ihr schon von Hewitt Stanley – dem echten Hewitt Stanley – und seiner Frau Sophia erzählt, die ihre beiden Kinder in dem kleinen ziemlich abgeschiedenen Kloster untergebracht hatten, während sie in abgelegenen Gegenden Venezuelas nach einem Arzneimittel forschten.

Vermutlich benötigte Brody Angelines Hilfe, weil er die Kinder aus irgendwelchen Gründen nicht allein abholen konnte.

„Die Santina Group hat Hewitt und Sophia vor zwei Tagen gekidnappt.“

„Wie bitte?“

Trotz des derben Bartes konnte sie sein Profil deutlich erkennen, während er durch die verregnete Windschutzscheibe starrte. Es sah aus wie aus den sie umgebenden Felsen gemeißelt. „Wunderst du dich nie über die Nachrichten, die du übermitteln sollst?“

„Nein.“

„Nie?“ Er warf ihr wieder einen dieser Blicke zu, bei denen sie das Gefühl hatte, er könne ihre Gedanken lesen.

Manchmal war Ehrlichkeit eine verdammte Nervensäge.

„Ja. Natürlich bin ich manchmal neugierig“, gab sie zu. „Aber ich versuche nicht, dieser Neugierde nachzugehen. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich überbringe nur die Nachricht. Aber was hat das mit den Stanleys zu tun?“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Als ich dir im November den Spionagebericht gegeben habe, warst du nicht neugierig?“ Er klang nicht wirklich so, als glaubte er ihr nicht, aber ein gewisser Zweifel lag trotzdem in seiner Stimme.

„Ich bin bei vielen Dingen neugierig, aber ich habe nicht die Befugnis, mehr zu wissen. Vielleicht ist es mir so auch lieber.“ Die wenigen Informationen, die sie übermittelte, reichten nicht, um wirklich zu wissen, worum es bei den Operationen von Hollins-Winword ging. Es war eine altbewährte Sicherheitsmaßnahme, nicht nur, um sie zu schützen, sondern auch jeden in ihrem Umfeld, die Arbeit der Agentur – und die Agentur selbst.

Das wusste sie. Verstand es. Fand es richtig.

Sie glaubte an ihr Mitwirken bei Hollins-Winword. Aber das bedeutete nicht, dass sie erpicht darauf war, Kopf und Kragen für eine Sache zu riskieren, zu der sie – wie gewöhnlich – nur bruchstückartige Informationen von Brody bekommen hatte. Die Nachricht, die er ihr neulich auf Leandras und Evans Hochzeit hatte zukommen lassen, lautete nur: Stanley experimentiert. Sandoval MIA.

Sie hatte sich die Information gemerkt – was nicht besonders schwer war in diesem Fall – und kurz nach ihrer Rückkehr nach Atlanta dem fast noch unreif aussehenden Jungen überbracht, der neben ihrem Tisch in einem Coffeeshop seinen Rucksack auf dem Boden ausgeschüttet hatte. Sie hatte sich neben ihn gekniet und ihm geholfen, Hefte, Zettel und Stifte wieder einzupacken, und drei Minuten später war er mit einem Cappuccino und der Nachricht wieder zur Tür hinaus, und Angeline hatte sich mit ihrem Buch und ihrem Latte wieder an ihren Tisch gesetzt.

„Bei dem Namen Sandoval hast du dich nicht gewundert?“

Irgendwie war kaltes Wasser unter ihren Poncho geraten und lief ihr jetzt den Rücken hinunter. Sie zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, aber das war genauso nützlich, als würde man das Scheunentor schließen, nachdem das Pferd schon abgehauen war. „Ist das wichtig? Sandoval ist kein ungewöhnlicher Name.“

Er schürzte die Lippen. „Wie alt warst du, als du Santo Marguerite verlassen hast?“

In ihr wurde plötzlich etwas ausgelöst, und die angespannte Neugier verwandelte sich in unerträgliche Angst. „Vier.“ Alt genug, um sich an den Namen des Mannes zu erinnern, der das Dorf in Mittelamerika, in dem sie geboren worden war, zerstört und all seine Bewohner umgebracht hatte – er hieß Sandoval.

Sie legte eine Hand auf seinen nassen Unterarm. „Ich bin nicht gut in Ratespielen, Brody. Sag mir einfach, was ich wissen soll. Ist Sandoval an dem Kidnapping beteiligt?“

Er senkte den Blick, als überraschte ihn der Körperkontakt, und sie zog die Hand zögerlich weg.

„Wir konnten es noch nicht beweisen, aber wir glauben, dass er der Geldgeber der Santina Group ist. Andererseits wissen wir, dass Santina mindestens zwei verschiedene Schwarzmarktorganisationen mitfinanziert, die mit allem handeln, von Drogen über Waffen bis zu Menschen. Laut dem Pharmaunternehmen, für das Hewitt arbeitet, war er etwas Großem auf der Spur. Es hat etwas mit einem winzigen roten Frosch zu tun.“

Er schüttelte den Kopf, als würde er die ganze Angelegenheit nicht recht verstehen. „Jedenfalls wollen die Pharmatypen versuchen, die Spucke des Froschs synthetisch zu reproduzieren.“ Er sprach jetzt abgehackt. „Und in den richtigen Händen sind diese Ergebnisse auch hilfreich. Aber in den falschen Händen können sie eine ganz neue Bedeutung für den Drogenhandel haben.“

„Sie haben die Eltern, und jetzt wollen sie auch die Kinder. Sandoval oder Santina oder wer auch immer“, mutmaßte Angeline alarmiert.

„An dieser Theorie arbeiten wir noch. Einer von Santinas Top-Leuten, Rico Fuentes, wurde gestern Morgen in Caracas gesehen. Sophia Stanleys Eltern waren Venezolaner, und sie hat dort ein kleines Apartment geerbt, als sie gestorben sind. Irgendjemand hat es durchwühlt.“

„Wie kannst du dir sicher sein, dass die Kinder überhaupt in dem Kloster sind?“

„Weil ich das Apartment gestern Morgen durchsucht habe und Sophias Notizen zur Anfahrt und den Sachen, die die Kinder brauchen werden, gefunden habe. Ich habe nichts für Rico zurückgelassen, aber wer weiß, wem Hewitt und Sophia vom Aufenthaltsort ihrer Kinder erzählt haben. Meine Leute sprechen mit jedem ihrer Arbeitskollegen, und bisher scheint niemand etwas über das Kloster zu wissen, aber …“ Er zuckte mit den Schultern und sah auf die Straße.

„Hewitt wusste offensichtlich, dass sie etwas gefunden hatten, das sowohl für die Guten als auch für die Bösen von Bedeutung sein würde. Denn warum sonst hätten sie die Kinder versteckt? Sie hätten auch einfach eine Nanny anheuern können. Stattdessen schickten Sie die Kinder in das Kloster, in dem Sophias Mutter als kleines Mädchen gewesen war.“

„Wenn Rico die Kinder aufspürt, kann Santina sie als Druckmittel nutzen, um sicherzustellen, dass Hewitt kooperiert“, schlussfolgerte Angeline.

„Bingo.“

„Wie können Hewitt und Sophia überhaupt sicher sein, dass es ihren Kindern gut geht? Könnten diese Santina-Leute nicht einfach lügen?“

„Klar, könnten sie. Werden sie auch. Aber es gibt noch ein Team, das an ihrer Rettung arbeitet.“

Sie atmete langsam aus. „Warum gehen wir nicht zur Polizei? Die könnte bestimmt mehr ausrichten.“

„Und der Polizei können wir bedingungslos vertrauen?“

Sie runzelte die Stirn. Miguel hatte sich oft über den wachsenden Schwarzmarkt und seine angeblichen Verbindungen zur Polizei beschwert. „Brody, diese Sache ist nichts für mich. Ich bin keine Agentin. Das weißt du besser als jeder andere.“ Ihre Mitwirkung bei Hollins-Winword hatte immer nur die Übermittlung von Informationen beinhaltet.

Auf seiner Wange formte sich ein tiefes Grübchen, als er lächelte. „Jetzt bist du es, Süße.“

„Ich habe einen Namen“, erinnerte sie ihn.

„Ja. Und bis wir die Kinder aus dem Land gebracht haben, ist er Sophia Stanley.“

„Wie bitte?“

„Du hast schon richtig gehört. Im Handschuhfach ist ein Umschlag.“

Sie fummelte an dem rostigen Knopf herum und schaffte es, das Fach zu öffnen. Es war voller Karten und Werkzeuge. Sie zog den Briefumschlag heraus und öffnete ihn. Darin befanden sich ein schmaler goldener Ring mit eingraviertem Muster und ein paar Fotos.

Brody nahm ihr den Briefumschlag ab und leerte den Inhalt auf seiner Hand aus. „Hier.“ Er reichte ihr den Ring. „Steck den an.“

Vorsichtig nahm Angeline ihn entgegen und schob ihn auf ihren rechten Ringfinger.

Er schüttelte den Kopf. „Linke Hand. Es ist ein Ehering, Babe.“

Sie zog den Ring ab und steckte ihn sich an den Ringfinger der linken Hand, wobei ihr irgendwie unwohl war. Er war etwas zu groß. Sie schloss die Hand zur Faust, damit er nicht herunterrutschte.

Sie hatte sich noch nie einen Ring an diesen Finger gesteckt, und es fühlte sich irgendwie seltsam an.

„Das“, er hielt ein Foto hoch, „ist Sophia.“

Eine Frau mit langen dunklen Haaren lächelte in die Kamera. Sie sah älter als Angeline aus, doch alles in allem sahen sie sich mit der olivfarbenen Haut und den dunklen Augen sehr ähnlich.

„Ihr seht euch nicht komplett ähnlich“, sagte Brody. „Du bist hübscher. Aber wir haben keine Wahl.“

Unsicher, ob das ein Kompliment war oder nicht, runzelte sie die Stirn. Er bemerkte jedoch nichts.

„Das sind die Kinder. Eva ist neun. Davey ist vier.“ Er reichte ihr ein paar weitere Bilder. Sie hatte kaum Zeit sich eines genauer anzusehen, da gab er ihr schon das nächste. „Und das ist der Vater.“

Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte Angeline laut losgelacht. Der echte Hewitt Stanley wurde seinem Namen gerecht: mittelgroß, schlaksig, mit Brille. Abgesehen von der Tatsache, dass sie beide männlich waren, gab es nicht im Entferntesten eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Brody.

„Warum müssen wir überhaupt vorgeben, die Stanleys zu sein? Die Nonnen in dem Kloster werden mit Sicherheit wissen, dass wir nicht die Eltern sind.“

„Für gewöhnlich kümmert sich die Mutter Oberin um Auswärtige. Sie ist definitiv die Einzige, die Hewitt und Sophia getroffen hat, als sie die Kinder hingebracht haben. Und momentan sitzt sie eben dank des Wetters in Puerto Grande fest.“

„Den Nonnen können wir vielleicht etwas vormachen, aber den Kindern nicht. Sie werden ganz sicher nicht einfach mit Fremden mitgehen.“

„Die Stanleys und ihre Kinder haben ein Code-Wort für Notfälle: Wasserfall. Wenn wir ihnen das sagen, werden sie wissen, dass wir im Auftrag ihrer Eltern kommen.“

Die Situation konnte gar nicht unwirklicher sein. „Woher weißt du das?

„Ich weiß es eben.“

„Was ist, wenn wir scheitern?“

Er sah sie von der Seite an. „Werden wir nicht.“

„Warum hast du mir nichts von all dem gesagt, als du im Camp aufgetaucht bist?“ Hätte er das getan, hätte sie irgendeinen Weg gefunden, ihn zu überzeugen, jemand anderes um Hilfe zu bitten.

„Zu viele Ohren.“ Er griff hinter seinen Sitz und zog eine Pistole hervor. In einer blitzschnellen Bewegung prüfte er den Zug und ließ sie unter seinem Regenponcho verschwinden.

Angeline war auf einer Ranch aufgewachsen, deshalb waren ihr Waffen nicht fremd. Doch die Gewehre und Pistolen, die in ihren Koffern im Hobbyraum ihres Vaters gestanden hatten, waren etwas ganz anderes als das Ding, das Brody gerade in der Hand gehabt hatte. „Die werden wir aber nicht brauchen, oder?“

„Hoffen wir nicht.“ Er sah sie an, als wüsste er ziemlich genau, wie sie sich bei dem Gedanken an eine derartige Situation fühlte. „Ich will genauso wenig wie jeder andere auf eine Nonne zielen. Wenn wir sie überzeugen können, dass wir Hewitt und Sophia Stanley sind, wird das nicht nötig sein. Aber glaub mir, Süße, es wird immer noch besser sein, wenn ich ihnen drohe und nicht dieser Santina-Typ. Der macht auch nicht vor Unschuldigen Halt. Und wenn wir diesem Typen nicht so weit voraus sind, wie ich glaube, wirst du ziemlich froh sein, dass ich die gute alte Delilah dabeihabe, Babe.“

Er nannte seine Pistole Delilah?

Verwirrt – nicht nur wegen der Waffe – schüttelte sie den Kopf.

Sandoval hatte nicht davor zurückgeschreckt, Menschen zu verletzen, die sie gekannt hatte. Als sie vier Jahre alt gewesen war, hatte er das Dorf ihrer Familie in einem Machtkampf um die Kontrolle über das fruchtbare Land zerstört. Als er drohte, den Kampf zu verlieren, hatte er das Land vernichtet.

„Nenn mich nicht Babe“, sagte Angeline und schob das Zittern in ihrer Stimme auf das kalte Wasser, das immer noch unter ihren Poncho lief. „Nenn mich Sophia.“

In Brodys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Das ist mein Mädchen.“

Wieder musste sie zittern, und dieses Mal wusste sie, dass es nicht nur an der Kälte oder ihren Nerven lag.

Es lag an ihm.

2. KAPITEL

Sie ließen den Jeep dort zurück, wo er im Matsch stecken geblieben war, und liefen zu Fuß weiter.

Der steile, rutschige Aufstieg schien Stunden zu dauern.

Der Wind pfiff ihnen um die Ohren und brachte immer wieder neue Regengüsse. Angeline war dankbar dafür, dass sie in Brodys Windschatten ein wenig vor dem Sturm geschützt war. Sie verlor jegliches Zeitgefühl, während sie weiterstapften. Jeder Schritt tat weh – ihre Hüften, ihre Waden, ihre Schienbeine schmerzten.

Endlich blieb Brody stehen.

Er hob die Hand und schlug fest auf ein breites schwarzes Holzbrett, das ihnen den Weg versperrte.

Eine Tür, realisierte sie benommen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie sie gar nicht bemerkt hatte. „Sie werden es nicht hören“, sagte sie, konnte ihre eigenen Worte durch den pfeifenden Wind jedoch selbst nicht hören.

Er legte die Finger in einem eisernen Griff um ihr Handgelenk, als sich die Tür knarrend öffnete, und zog sie mit sich hinein. Dann drückte er die Tür mit der Schulter wieder zu und schob den alten Holzbalken, der als Schloss diente, hinunter.

Dass es so plötzlich windstill war, war beinahe überwältigend. Zudem war es seltsam ruhig, bemerkte Angeline. So sehr, dass sie hören konnte, wie das Wasser von ihrem Poncho auf den Steinboden tropfte.

„Señora.“ Eine winzige Frau in einem Nonnengewand hielt ihr ein weißes Handtuch hin.

„Danke.“ Angeline nahm es entgegen und drückte es sich aufs Gesicht. Der Stoff war rau und dünn, aber er war trocken und fühlte sich wundervoll an. Sie lächelte die Nonne an. „Gracias.“

Die Frau sprach in schnellem Spanisch mit Brody. Und obwohl Angeline ihre Muttersprache seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, konnte sie der Nonne leicht folgen. Sie erklärte gerade, dass die Mutter Oberin nicht da sei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

„Wir sind keine Neuankömmlinge“, entgegnete Brody. Er sprach fast ohne Akzent, stellte Angeline etwas überrascht fest. „Wir sind gekommen, um unsere Kinder abzuholen.“

„Sí. Sí.“ Die Nonne drehte sich um und lief den mittleren der drei Flure, die von dem Vestibül abgingen, entlang.

Brody warf Angeline einen strengen Blick zu, als sie ihm nicht sofort folgte.

Sie wusste, dass sie später zusammenbrechen konnte, nachdem sie wussten, dass die Kinder in Sicherheit waren. Und doch wollte sie nichts sehnlicher, als auf den dunklen Steinboden zu sinken und den Kopf an die raue weißgetünchte Wand zu lehnen.

Als ob Brody ihre Gedanken gelesen hätte, umschloss er wieder ihr Handgelenk und zog sie der Nonne hinterher durch den Korridor.

So wie das Vestibül hatte auch der Flur weißgetünchte Wände. Es gab keine Fenster, aber jede Menge Wandleuchten mit weißen Kerzen, die hoch an den Wänden angebracht waren und für ausreichend Beleuchtung sorgten.

Sie liefen etwa fünfzehn Meter, bevor sie scharf links abbogen und nach etwa zwanzig weiteren Metern einen großen quadratischen Raum mit einem halben Dutzend langen hölzernen Tischen und Bänken erreichten.

„Der Speisesaal“, informierte die Nonne sie, ohne stehenzubleiben.

„Verstehst du das alles?“, fragte Brody Angeline auf Englisch.

Sie nickte. Sie hatte erst Englisch gelernt, als Daniel und Maggie Clay sie adoptiert hatten, nachdem ihr Heimatdorf zerstört worden war. Und auch wenn Angeline ihrer Muttersprache bewusst den Rücken gekehrt hatte, hatte sie sie nie vergessen.

Sie unterschied sich schon in so vielen anderen Dingen von den Leuten in der kleinen Stadt in Wyoming, in der sie mit Daniel und Maggie gelebt hatte. Noch bevor sie alt genug war, um ihr Handeln zu verstehen, hatte sie sich bemüht, akzentfrei Englisch zu sprechen. Sie wollte einfach so sehr dazugehören. Nicht, dass irgendjemand in ihrer Adoptivfamilie ihr das Gefühl gegeben hatte, dass sie nicht dazugehörte, doch im Innern hatte Angeline immer gewusst, dass sie anders war.

Sie lebte, während der Rest ihrer leiblichen Familie umgekommen war. Sie war aus einem armen Waisenhaus in Zentralamerika gerettet und mit in die USA genommen worden, wo sie von liebevollen Menschen aufgezogen worden war.

Doch sie hatte nie den Anblick des Feuers auf dem Feld, das ihre Cousins bestellt hatten, vergessen. Hatte nicht vergessen, wie die Flammen an den Wänden ihrer einfachen Häuser hinauf- und über die Dächer gezüngelt waren. Und was nicht verbrannt war, war mit Äxten zerhackt, mit Messer zerstückelt, mit Gewehren erschossen worden.

Nichts hatte überlebt. Keine Menschen. Kein Vieh. Kein Land.

Nur sie.

Es war fünfundzwanzig Jahre her, und sie verstand immer noch nicht, warum sie verschont geblieben war.

„Sophia“, sagte Brody streng und riss sie aus ihren dunklen Gedanken. Angeline konzentrierte sich auf seine tiefblauen Augen, und plötzlich war sie wieder zurück in der Gegenwart.

Wo zwei Kinder sie brauchten.

„Tut mir leid.“ Wie schnell sie wieder auf Spanisch dachte und sprach. „Die Kinder …“ Sie sah zur Nonne. „Bitte, wo sind sie?“

Die Schwester sah sie betrübt an. „Es geht ihnen gut, Señora. Aber bis die Mutter Oberin zurückgekehrt ist und den Zugang zu ihnen erlaubt, darf ich niemanden zu ihnen lassen.“

„Selbst mich nicht?“ Angeline musste sich nicht anstrengen, damit ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihr war kalt, sie war erschöpft, und vor allem war sie berührt von der Geschichte, in die Brody sie hineingezogen hatte. „Ich bin ihre Mutter.“ Die Lüge ging ihr leichter über die Lippen, als sie gedacht hatte.

Die Nonne sah sie mitleidig, jedoch entschlossen an. „Sie waren diejenigen, die diese Vereinbarung mit der Mutter Oberin getroffen haben. Aber jetzt sind sie erschöpft. Sie und Ihr Mann sollten etwas essen und sich ausruhen. Der Sturm wird bald vorüber und die Mutter Oberin schnell wieder hier sein, sie wird Sie dann sofort zu Ihren Kindern bringen.“

„Aber …“

Brody nahm ihre Hand. „Gracias, Schwester. Meine Frau und ich danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Wenn Sie trockene Kleidung für uns …“

„Sí, Sí.“ Die Nonne sah erleichtert aus. „Bitte warten Sie hier. Ich schicke Schwester Frances sofort zu Ihnen, in Ordnung?“

Brody drückte Angelines Hand als Warnung. „Sí.“

Die Schwester nickte, machte auf dem Absatz kehrt und lief durch den Flur zurück. Ihr langes Gewand glitt raschelnd über den Steinboden.

Als sie außer Sicht war, ließ Brody Angeline los, und sie sank auf eine der langen Holzbänke. Sie rieb sich das Handgelenk, und als sie merkte, dass er sie dabei beobachtete, errötete sie.

Brody setzte sich neben sie. Sie wollte etwas von ihm abrücken, da er ihr für ihren Geschmack zu nah war, doch eine andere Nonne – wahrscheinlich Schwester Frances – betrat in diesem Augenblick schweigend den Speisesaal. Sie bedeutete den beiden, ihr zu folgen, und Brody schob eine Hand unter Angelines Arm, um ihr aufzuhelfen.

Sie liefen der schweigsamen Nonne durch einen weiteren Flur hinterher und ein paar schmale Treppen hinauf, die alle mit den gleichen Wandleuchten beleuchtet wurden. Schließlich blieb sie stehen und öffnete eine hölzerne Tür, dann streckte sie die Hand aus und machte eine einladende Geste. Offensichtlich sollten sie hineingehen.

Angeline dankte der Nonne leise im Vorbeigehen, als sie eintrat. Brody duckte sich, um sich nicht den Kopf an dem tiefen Türrahmen zu stoßen.

In dem schwach beleuchteten Zimmer standen ein kläglich schmales Bett, ein Holzstuhl mit gerader Lehne und eine Kommode mit einem altmodischen Krug und einem Waschbecken aus Keramik darauf.

Die Nonne nahm eine der Kerzen von der Wand im Flur und reichte sie Brody. Sie deutete auf die zwei Wandleuchter in dem Zimmer, und Brody entzündete sie mit der Kerze.

Warmes Licht erfüllte den Raum, als die Flammen langsam größer wurden. Brody gab der Nonne die Kerze zurück. Sie nickte, verließ den Raum und schloss die hölzerne Tür von außen.

Jetzt waren Angeline und Brody allein.

Das Zimmer hatte keine Fenster, und obwohl Angeline definitiv kein Fan von kleinen, abgeschlossenen Räumen war, war es in diesem Zimmer trotzdem fast gemütlich. Und es vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, was in Anbetracht der unwirklichen Situation überraschend war.

„Nun“, sagte er mit leiser Stimme, „das war einfacher, als ich gedacht habe.“

Sie starrte ihn an. „Einfach? Sie lassen uns die Kinder nicht einmal sehen.“

„Schhh.“ Er nahm die Kerze aus einem der Wandleuchter und schlich in dem kleinen Zimmer herum.

„Wonach suchst du?“, flüsterte sie.

Er ignorierte sie und schob das Bett von der Wand ab. Sah dahinter. Darunter. Schob es zurück. Das Gleiche tat er mit der Kommode. Er sah unter den Krug und das Waschbecken. Dann, als es nichts mehr zu untersuchen gab, stellte er die dicke Kerze zurück in den Wandleuchter.

„Ich glaube nicht, dass wir abgehört werden.“

Sie sah ihn fassungslos an. „Ernsthaft?“

„Ich bin ein bisschen paranoid.“ Er blickte in die flackernde Kerzenflamme. „Die Wände müssen einen halben Meter dick sein. Man hört den Sturm kaum.“

Und sie war mit ihm zwischen diesen Wänden in einem Raum, der etwa so groß war wie der Balkon ihres Apartments in Atlanta. „Es tut mir leid, wenn ich schwer von Begriff bin, aber ist das gut oder schlecht?“

Er zuckte die Schultern und zog den Regenponcho aus. „Es ist nicht schlecht. Zumindest müssen wir uns wahrscheinlich keine Sorgen darum machen, dass der Hurrikan das Kloster wegwehen könnte.“ Er warf den Poncho in die Ecke hinter der Tür. Sein Rolling-Stones-Shirt war genauso nass wir ihr T-Shirt. Er hob den Saum und löste das Holster mit der Pistole von seinem Hosenbund, dann schob er beides unter die Matratze.

„Wahrscheinlich“, wiederholte sie leise. „Bro… Hewitt, was ist mit den Kindern?“

„Wir finden schon einen Weg, zu ihnen zu kommen.“

Sie wünschte, sie wäre nur halb so zuversichtlich wie er. „Was ist aus der Eile von vorhin geworden?“

„Eilig habe ich es immer noch, glaub mir. Aber einen Schritt nach dem anderen.“ Er streckte den Arm nach ihrem Poncho aus, und erschrocken fuhr sie zusammen. „Entspann dich. Ich wollte dir nur mit dem Poncho helfen.“

Sie spürte, wie ihre Wangen rot wurden, und war dankbar für das schwache Kerzenlicht. „Das wusste ich.“

Er schnaubte sanft.

Glücklicherweise blieben ihr weitere Peinlichkeiten erspart, da es in diesem Moment an der Tür klopfte.

Brody brauchte nur zwei Schritte, um die Tür zu erreichen, und als er sie öffnete, stand eine Nonne mit einem hölzernen Tablett davor. Sie lächelte schwach, aber so wie die andere Schwester, die ihnen das Zimmer gezeigt hatte, sprach sie nicht, als sie eintrat und das Tablett auf der Kommode abstellte.

Sie nahm einen Korb mit Brot, ein Stück Käse, eine Rebe mit grünen Trauben, zwei weiße Teller, ein Messer, zwei Gläser und einen Krug von dem Tablett und richtete alles auf der Kommode an. Sie blickte weder Brody noch Angeline an, sondern neigte den Kopf vor der Mahlzeit. Offensichtlich sprach sie ein Gebet. Dann sah sie wieder auf, lächelte friedlich und ging zur Tür. Sie hob ein Stoffbündel auf, das davor gelegen hatte, trat ans Bett und legte es darauf. Danach verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

„Essen und frische Klamotten“, sagte Brody glücklich. Er hob das Stoffbündel vom Bett hoch. „Hose und Shirt für dich. Hose und Shirt für mich.“ Er sortierte die Sachen flink und warf die kleineren Kleidungsstücke auf die zwei dünnen Kissen auf dem bescheidenen Bett.

Angeline griff jedoch nicht danach.

Er sah sie von der Seite an. „Keine Sorge, meine Schöne. Ich drehe mich um, wenn du dich umziehst.“ Er grinste spitzbübisch. „Es gibt hier nicht einmal einen Spiegel für einen verstohlenen Blick. Und jetzt, wenn du nicht anders kannst, darfst du so viel gucken, wie du willst. Schließlich sind wir verheiratet“, sagte er amüsiert.

Ihre Wangen wurden noch röter. „Stopp. Bitte. Ich lache mich wirklich tot“, entgegnete sie sarkastisch.

Wieder grinste er, dann zog er sich das T-Shirt über den Kopf.

Angeline schluckte, als sie nicht schnell genug wegsah und freien Blick auf seinen muskulösen Bauch und die seidenweiche goldene Haut seiner festen Brust hatte, die in dem Shirt nicht annähernd so breit gewirkt hatte. Als er sich an die Hose fasste, schnappte sie sich die sauberen, trockenen Kleidungsstücke und drehte sich um.

Als sie sich gerade wünschte, im Erdboden zu versinken, hörte sie ihn leise lachen.

Reiß dich zusammen. Sie war Rettungssanitäterin, verdammt nochmal. Sie hatte nackte Männer, Frauen und Kinder in verschiedensten Situationen gesehen.

Aber es gibt einen Unterschied zwischen nackt und entblößt, neckte sie eine leise Stimme in ihrem Kopf – und Brodys Brust war sowas von entblößt.

Sie brachte die Stimme zum Schweigen, zog ihr triefend nasses Shirt über den Kopf aus und ließ es zu Boden fallen. Wenn sie den nassen BH anließ, würde das trockene Oberteil sofort nass werden, deshalb öffnete sie ihn und stellte sich vor, woanders zu sein als in diesem engen Raum mit Brody Paine, während sie ihn abstreifte. Dann zog sie rasch das trockene Shirt über den Kopf.

Sie stellte sich vor, eine Verwandlungskünstlerin zu sein, als sie den Saum des Oberteils über ihre Hüften hinabzog – dankbar dafür, dass es ihr bis zu den Oberschenkel reichte – und sich ihrer nassen Jeans und Pantys entledigte, um die trockene Hose anzuziehen.

Ihr war sofort wärmer.

Sie kniete sich hin und raffte ihre nasse Kleidung zusammen, um die seidene Spitzenunterwäsche darin zu verstecken.

„Versuchst du zu verbergen, dass du auf schlüpfrige Unterwäsche stehst?“

Sie drehte sich blitzschnell um.

Brody beobachtete sie. Er lehnte mit der Hüfte an der Kommode, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Oberteil spannte an den Schultern. Er blickte sie lustvoll an und erntete dafür ihren ganzen Zorn.

„Du hast versprochen nicht zu gucken.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, sodass seine sehr geraden und weißen Zähne dazwischen hervorblitzten. „Baby, du hörst dich prüde genug an, um eine Schwester in diesem Kloster zu sein.“

Ihre Wangen konnten nicht noch röter werden. „Was nichts an der Tatsache ändert, dass du versprochen hast, nicht zu gucken.“

Er zuckte mit einer Schulter. „Versprechen sind da, um gebrochen zu werden.“

„Das meinst du nicht ernst.“

„Woher willst du das wissen?“

Es konnte nicht offensichtlicher sein. „Es ist egal, wie viele Sprüche du machst. Denn die Wahrheit ist, dass du die Arbeit, die du machst, nicht tun könntest, wenn du nicht an Versprechen glauben würdest“, sagte sie.

3. KAPITEL

Brody blickte Angeline an. Sie sah so … ernst aus, dachte er. Ernst und verdammt sexy, was überhaupt nichts mit der schwarzen Spitze, auf die er einen Blick hatte werfen können, zu tun hatte.

Sie waren immer schon eine explosive Kombination gewesen, auch wenn sie sich selten und immer nur kurz sahen. War es da verwunderlich, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er mehr davon wollte oder nicht?

Schwierigkeiten beim Job waren die eine Sache.

Schwierigkeiten neben dem Job gab es nicht, denn so wollte er es.

Immer.

Doch da stand sie nun und sah ihn mit ihren großen braunen Augen an, die es ihm schon bei ihrer ersten kurzen Begegnung vor fünf Jahren angetan hatten.

Er zog unbewusst eine Augenbraue hoch. „Es ist ein Job, Süße. Ein ziemlich gut bezahlter.“

„Geräte zusammenzubauen ist ein Job“, gab sie zurück. „Unschuldige beschützen? Falsches in Richtiges umkehren? Das ist nicht nur ein Job, und irgendwie bezweifele ich, dass du es nur für das Geld tust.“

„Du bist nicht nur prüde, du bist auch noch romantisch“, neckte er sie.

Sie runzelte etwas die Stirn, wahrscheinlich weil ihr bewusst wurde, dass sie irgendwie vom Thema abgekommen waren. „Also was ist der nächste Schritt?“

Er hielt die Weintrauben hoch. „Wir essen.“

Wie aufs Stichwort grummelte ihr Magen so laut, dass er es hören konnte. „Sollten wir nicht versuchen, die Kinder zu finden?“

„Willst du sie etwa kidnappen?“ Er scherzte nicht.

„Das war doch eigentlich dein Plan.“

„Ich würde es eher als einen Fall von Inobhutnahme bezeichnen.“

Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie sich aus dem Gesicht zu streichen. Sie trug nicht einen Hauch von Make-up und war trotzdem schöner als neunzig Prozent der weiblichen Weltbevölkerung.

„Schön. Nenn es, wie du willst“, sagte sie resignierend. „Sollten wir nicht etwas tun, um das hier zu beenden?“

„Ich habe dir doch gesagt, einen Schritt nach dem anderen. Was meinst du, wie weit wir kommen, wenn wir jetzt loslegen? Du bist so erschöpft, dass ich die Ringe unter deinen Augen sogar in diesem Licht sehen kann. Und ich bin mir nicht sicher, wessen Magen lauter knurrt, deiner oder meiner.“ Er schob sich ein paar Trauben in den Mund und hielt dann Angeline welche hin. „Komm schon, Süße. Iss was.“

„Ich finde, wir sollten zumindest versuchen, die Kinder zu sehen. Was, wenn das mit dem Passwort nicht funktioniert?“ Sie zupfte ein paar Trauben ab und schob sich eine zwischen ihre geschwungenen Lippen. Während sie kaute und schluckte, mied sie seinen Blick.

„Das wird es.“ Er riss ein Stück Brot vom Laib, reichte es ihr und schnitt dann einige Scheiben vom Käse ab. „Hier.“

Sie setzte sich an das Fußende des Bettes und sah aus, als müsse sie sich sehr unter Kontrolle halten, um das Essen nicht gierig hinunterzuschlingen. Er nahm den Krug, goss eine helle goldene Flüssigkeit in eines der Gläser und roch daran. „Wein.“ Er nahm einen Schluck. „Ziemlich guter Wein.“ Er goss auch etwas in das zweite Glas und reichte es ihr.

Sie nahm es, und ihre Finger berührten sich dabei kurz; offensichtlich war sie zu müde, um darauf zu achten, das zu vermeiden, wie sie es für gewöhnlich tat. „Wein merke ich immer sofort.“

„Toll.“ Er warf ihr eine der Stoffservietten zu, die unter dem Brotkorb lagen. „Trink schneller.“

Sie lachte genervt. „Hörst du eigentlich auch mal auf mit dieser Anmache?“

„Erst, wenn ich Erfolg bei dir habe.“

Sie schnitt eine Grimasse. „Warum sollte ich eine weitere Kerbe in deinem Bettpfosten werden wollen?“

„Wer sagt, dass du das sein würdest?“

Sie nahm einen weiteren Schluck Wein. „Ich bin mir sicher, dass Frauen für dich nichts anderes sind.“

„Das trifft mich, Babe. Du bist anders als all die anderen.“

Sie lachte kurz auf. „Du redest Unsinn.“

„Und du bist viel zu ernst.“ Er biss vom Brot ab. Er war ein achtunddreißig Jahre alter Mann, aber er hätte auch gut erst sechszehn sein können, so aufgeregt und lustvoll, wie er sie anstarrte.

„Ich bin ein ernster Mensch“, entgegnete sie mit vollem Mund. „Der einem ernsten Beruf nachgeht.“

„Dem einer Sanitäterin oder dem einer Spionin?“

„Ich bin keine Spionin.“

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Süße, du bist ein Kurier für einen der ganz Großen in dem Geschäft.“ Er goss sich mehr Wein ein. „Und deine Familie hängt da mit drin, so oder so.“

„Du musst es ja wissen. Du warst es, der mich gebeten hat, als Kurier zu arbeiten.“

Dem konnte er nicht widersprechen. „Trotzdem. Meinst du nicht, dass es etwas … ungewöhnlich ist?“

Sie starrte ihn an. „Was meinst du, wie viele von uns für Hollins-Winword arbeiten?“

Zumindest war sie nicht ewig im Dunkeln getappt, so wie ihre Cousine Sarah. Die hatte keine Ahnung gehabt, dass sie nicht die Einzige in ihrer Familie war, die für Hollins-Winword arbeitete. Sie würde es wahrscheinlich immer noch nicht wissen, wenn nicht ihr funkelnagelneuer Ehemann Max Scalise mit einer seiner eigenen Untersuchungen in Brodys Auftrag, ein kleines Mädchen namens Megan zu beschützen, hineingeraten wäre. Sie waren in einem geheimen von Sarah organisierten Unterschlupf in Weaver untergebracht. Wenn sie nicht gerade für Hollins-Winword Dinge organisierte, arbeitete sie als Lehrerin. Doch sie hatte bisher nur erfahren, dass auch ihre Onkel diesem Job nachgingen. Von Angeline wusste sie nichts.

Oder von den anderen in dieser großen Familie.

Und jetzt hatte Brody gehört, dass Sarah und Max Megan adoptieren wollten. Ihre Eltern waren brutal ermordet worden, und so bekam sie wenigstens die Chance auf ein vernünftiges Leben mit guten Menschen, die sie aufziehen würden.

Sie würde eine Familie haben.

Der Gedanke war düsterer, als er sein sollte, und er griff nach dem Weinkrug, der mittlerweile jedoch leer war. Achtunddreißig Jahre alt, erregt, durstig und neidisch auf ein unschuldiges achtjähriges Kind. Was, verdammt noch mal, war nur los mit ihm?

Er war ein paar Jahre älter gewesen als Megan, als seine Familie ausgelöscht worden war. Was die Familie anging, die er danach hatte; es gab wohl keinen größeren Workaholic als Cole.

Angeline hatte die Serviette in ihrem Schoß ausgebreitet, und er sah ihr dabei zu, wie sie sanft mit den Fingerspitzen über den Stoff strich.

Sie hatte die Art von Figur, von der Männer träumten, ein Gesicht wie eine Madonna und Finger, die wirkten, als sollten sie nichts Anstrengenderes tun, als Ringe zu tragen. Und doch hatte er sie jetzt schon zwei Mal hart arbeiten gesehen.

Das erste Mal war fünf Jahre her. Sein Kurier hatte das Treffen verpasst und Brody war aufgefordert worden, einen neuen Spion aufzutun. Und praktischerweise hatte sich bereits eine hübsche Amerikanerin in Puerto aufgehalten, deren Familie schon in die Geschäfte von Hollins-Winword involviert war.

Für Brody war das kein Zufall gewesen. Doch er hatte es nicht weiter hinterfragt und seinen Job erledigt. Er hatte sie überredet und ihr die Nachricht gegeben, die sie später in den Staaten überliefern sollte – und voilà, eine neue Botin war geboren.

Das zweite Mal, dass er sie hart arbeitend angetroffen hatte, war in Puerto Grande gewesen, und zwar an diesem Morgen. Er hatte seinen Informanten bei Hollins-Winword angerufen, um herauszufinden, wer ihm dabei helfen könnte, die Kinder abzuholen. Und siehe da, wieder einmal war die wunderschöne Señorita Clay gerade in Puerto Grande. Sie war die am schnellsten zu erreichende – wenngleich auch ungewöhnlichste – Assistentin. Und eine, die nicht viel Zeit hatte zu überlegen, ob sie ihm helfen wollte oder nicht.

Nicht dass es einfach gewesen war, sie zu überzeugen. Wie sie gesagt hatte, sie war keine Feldagentin. Nicht mal ansatzweise. Sie hatte absolut keine Erfahrung in derartigen Angelegenheiten. Und sie hatte sich verpflichtet, für All-Med zu arbeiten. Das kleine Medizinerteam verabreichte Schutzimpfungen und behandelte verschiedenste Erkrankungen in den Dörfern um Puerto Grande.

Er hatte ihr versprechen müssen, dass sie in Kürze durch einen anderen Assistenten ersetzt werden würde, bevor sie auch nur einen Schritt in Richtung seines Jeeps gemacht hatte.

Sie war definitiv eine Frau der Gegensätze.

Wenn sie nicht gerade bei der humanitären Hilfe mitarbeitete, war sie als Sanitäterin in den Straßen von Atlanta unterwegs, und für gewöhnlich sprach sie sehnsuchtsvoll über den Ort, an dem sie aufgewachsen war: Wyoming.

Und an ihren langen, eleganten Fingern trug sie keinen einzigen Ring, außer – in diesem Moment – dem Ehering, der seiner Mutter gehört hatte.

Normalerweise trug er ihn in seinem Portemonnaie bei sich, um sich daran zu erinnern, das Leben nie zu selbstverständlich zu nehmen. Es sich nicht zu bequem zu machen. Sich nicht zu sehr zurückzulehnen.

In Anbetracht dessen, wie sehr er sich in letzter Zeit zurückgelehnt hatte, war das vielleicht eine passende Erinnerung.

„Hast du noch viele Erinnerungen an Santo Marguerite?“

Mit großen Augen sah sie ihn erstaunt an. Dann senkte sie den Blick wieder. Sie zuckte mit einer Schulter, und ihr Oberteil verrutschte etwas, sodass Brody einen besseren Blick auf ihr Schlüsselbein unterhalb ihres wunderschönen Halses werfen konnte.

„Ich erinnere mich an ein paar Dinge.“ Sie strich die Ecke der Serviette auf ihrem Schoß glatt, dann beugte sie sich vor, um nach dem Glas Wein, das sie auf den Boden gestellt hatte, zu greifen. „Was weißt du denn über den Ort? Er existiert nicht einmal mehr.“

Sie hatte recht. Das, was er wusste, hatte er in ihrer Akte bei Hollins-Winword gelesen. Die Häuser des Dorfs waren nicht wieder aufgebaut worden.

Sie deutete sein Schweigen als Antwort. „Wo bist du aufgewachsen?“, fragte sie.

„Hier und da.“ Er stellte sich gerade hin. Über ihre Vergangenheit zu sprechen war eine Sache. Seine hingegen war tabu. Er versuchte sogar, nicht einmal daran zu denken. „Meinst du, das Bett hält uns beide aus?“

Ihre Augen weiteten sich kaum merklich, bevor sie wieder wegschaute. „Ich … Ich bin harte Betten in den Camps und so gewöhnt. Ich kann auf dem Boden schlafen.“

„Nicht gerade etwas, das Ehefrauen tun.“

Sie knüllte die Serviette zusammen und stand vom Bett auf. „Ich bin keine Ehefrau.“

„Schhh.“ Dass es ihm so sehr gefiel, sie erröten zu sehen, war nicht normal.

Sie verzog den Mund. „Du hast doch gesagt, dass die Wände keine Ohren haben.“

„Das habe ich. Irgendwie schade. Wirklich. Ich habe mich schon darauf gefreut zu sehen, wie gut wir in der Nacht Mister und Misses spielen.“

Sie warf ihm einen eiskalten Blick zu und trank ihr Glas aus. Dann stand sie einfach da und starrte die Wand an.

Im Kerzenlicht sah ihr Haar auf dem hellen Stoff des Oberteils so dunkel wie Tinte aus, auch wenn er wusste, dass diese langen Locken im Sonnenlicht nicht wirklich schwarz, sondern dunkelbraun schimmerten.

„Was denkst du?“

„Meinst du, ähm, dass es hier Sanitäranlagen gibt?“

Er unterdrückte ein Lächeln. Das Kloster lag abgeschieden, aber es war nicht aus dem Mittelalter. „Ich habe am Ende des Flurs eine Toilette gesehen.“

„Wirklich?“

Er ging zur Tür. „Nach dir, meine liebe Ehefrau.“

Als sie die Toilette erreichten, blieb Brody stehen. „Hier sind eigentlich nur Frauen. Du gehst besser vor. Ich will nicht, dass eine Nonne einen Herzinfarkt bekommt.“

„Ich beeile mich.“

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür wieder.

„Die Luft ist rein.“ Er ging hinein und sie wartete auf dem Flur.

Es war immer noch gespenstisch still, als sie wieder zurück zu ihrem Zimmer liefen. Alle Türen, an denen sie vorbeikamen, waren verschlossen.

„Was meinst du, wo die Kinder sind?“

Er wünschte, er hätte eine Antwort gehabt. „Das werden wir früh genug herausfinden.“

„Ich kann nicht verstehen, warum du immer noch so schrecklich geduldig sein kannst, schließlich hattest du es doch so eilig, hierherzukommen.“

„Schätzchen, ich bin nicht geduldig. Ich bin pragmatisch.“

Sie blieb stehen. „Was ist so pragmatisch daran, keinen Plan zu haben, wie wir hier wieder rauskommen?“

„Oh, hab Vertrauen.“ Aus dem Augenwinkel sah er jemanden auf sie zukommen.

„Bro …“

Blitzschnell zog er Angeline an sich und küsste sie, um ihr das Wort abzuschneiden.

Sie quietschte kurz und stand stocksteif da. Sie versuchte, ihn wegzuschieben, doch Brody umfing sie mit seinen Armen und drückte sie warnend.

Da entspannte sie sich plötzlich, und anstatt sich zu wehren, erwiderte sie den Kuss.

Es fiel ihm schwer, nicht zu vergessen, dass dieser Kuss nur wegen der Nonne stattfand. Und als er es schaffte, sich von Angelines unglaublich weichen Lippen zu lösen und sich bei der Schwester – tatsächlich war es Schwester Frances – zu entschuldigen, konnte er das Kribbeln im Bauch nicht leugnen.

Sie neigte den Kopf leicht. „Das Sakrament der Ehe ist ein Segen, Señor. Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.“ Sie lächelte die beiden an. „Haben Sie alles für die Nacht? Können wir noch etwas für Sie tun?“

Brody hielt Angelines Hände immer noch fest. „Unsere Kinder sehen zu können, wäre schön.“

„Es tut mir leid, aber die Mutter Oberin ist die einzige, die das veranlassen kann.“ Sie sah sie freundlich an. „Der Sturm wird morgen früh hoffentlich vorüber sein, und dann kann die Mutter zurückehren. Gute Nacht.“ Sie lief den Flur hinunter in Richtung Treppe.

Brody zog Angeline zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür.

Sofort drehte sie sich zu ihm. „Das musste nicht sein.“

„Was?“

Mit offenem Mund sah sie ihn an. Sie musste schlucken, bevor sie die Worte aussprechen konnte. „Mich zu küssen.“

Er strich ihr über die Schulter und senkte den Kopf. „Was immer du sagst, Babe.“

Sie schob seine Hand beiseite, und er trat schmunzelnd einen Schritt zurück. „Entspann dich, Sophia. Wir haben den Segen der Nonne, oder?“

„Sehr lustig.“ Sie brachte so viel Abstand zwischen sich und Brody, wie es der kleine Raum zuließ. „Ich werde dich nicht daran erinnern müssen, dass Nein auch Nein bedeutet, oder?“

Er fing an zu lachen, bemerkte jedoch dann, dass sie es ernst meinte. „Mach dich mal locker. Wenn ich es jemals ernsthaft versuchen werde, dich ins Bett zu kriegen, wirst du das schon merken.“

„Du bist unmöglich.“

„Immer“, stimmte er zu. Er schlug die Decke auf dem Bett zur Seite und sah, wie Angeline sich versteifte. „Und du führst dich wie eine Jungfrau auf. Entspann dich. Du magst vielleicht eine Traumfrau sein, aber ich kann mich sehr wohl kontrollieren.“

Das Kompliment war ihr sichtlich unangenehm.

Eingeschnappt sah sie ihn nicht an und nahm sich eines der dünnen Kissen von der Matratze. „Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du auf dem Boden schlafen.“

„Süße, ich würde nie behaupten, ein Gentleman zu sein.“

„Na schön.“ Sie ließ das Kissen fallen, schnappte sich die Decke und machte es sich damit so gut es ging auf dem Boden bequem.

„Du willst wirklich auf dem Boden schlafen?“

Sie zog die Decke ein Stück höher und wandte sich ab. „Wonach sieht es denn aus?“

Er wusste nicht, ob er lachen oder applaudieren sollte. „Du hättest mir doch einfach sagen können, dass ich eine Dusche nötig habe.“

Aber sie reagierte nicht. Brody fluchte murmelnd – letztlich waren sie in einem Kloster, und sogar er fand, dass man das Schicksal nicht unbedingt herausfordern sollte. Er nahm das übrig gebliebene Bettzeug und warf beides auf den Boden.

Angeline drehte den Kopf und sah ihn an. „Was machst du da?“

„Mich offensichtlich beschämt auf diesen gottgesegneten Boden legen.“ Als er sich ausstreckte, protestierte fast jeder Muskel seines Körpers gegen diese Bewegung. Er war ziemlich gut in Form, doch der Aufstieg war nicht gerade ein Spaziergang gewesen.

„Du weißt doch gar nicht, was Scham ist“, entgegnete sie.

Er drehte ihr den Rücken zu und knüllte energisch das Kissen unter seinem Kopf zurecht, um seinen Standpunkt klarzumachen. Die Fläche auf dem Boden war ziemlich schmal, aber nicht so schmal, dass er nicht hätte vermeiden können, ihren Rücken zu berühren, wenn er es gewollt hätte.

Wollte er aber nicht.

So viel zu dem Versuch, die höheren Mächte davon zu überzeugen, dass er ganz und gar vernünftig war.

Sie schnaubte leise, dann setzte sie sich auf und versuchte ihn wegzuschieben. Als er sich nicht bewegte, stand sie auf.

„Wo gehst du hin?“ Er rollte sich auf die Seite zurück, stützte sich mit dem Ellenbogen ab und beobachtete sie interessiert.

„Weg von dir“, antwortete sie, hob ihre Decke und ihr Kissen auf und legte sich ins Bett. „Wenn der Blitz dich trifft, will ich nicht in deiner Nähe sein.“

Brody grinste. „Das ist gut, weil ich nämlich schon geglaubt habe, du hast Angst davor, neben meiner bescheidenen Wenigkeit zu schlafen.“

Sie schnaubte. „Also bitte. An dir ist doch nichts bescheiden.“

„Babe, du schmeichelst mir.“

Sie sah ihn düster an, weshalb er jedoch nur noch mehr grinsen musste. „Du weißt ja was man sagt, je größer das Ego, desto kleiner der …“

„Charakter?“, schlug er unschuldig vor.

Sie schnaubte erneut und streckte sich. „Puste die Kerzen aus.“

„Ich dachte schon, du fragst nie.“ Er stand auf und löschte die Kerzen, wodurch es in dem kleinen Raum vollkommen dunkel wurde.

Angeline war still. Sie hielt sogar ihren Atem an.

„Alles okay?“

„Es ist wirklich dunkel.“

Er fragte sich, wie schwer es ihr gefallen sein musste, das zuzugeben. Auf keinen Fall würde es ihr gefallen, wenn er sich anmerken ließ, dass er den Hauch von Verletzlichkeit in ihrer Stimme bemerkt hatte.

In der Dunkelheit stand er auf und tastete sich zur Kommode vor. Die kleine Dose mit den Streichhölzern lag neben dem Krug und der Schüssel. Ein Ratschen an der Mauer, ein Funken, der Geruch von Schwefel, und die kleine Flamme erhellte wieder den Raum. „Ich kann eine der Kerzen anlassen.“

„Du hast gesagt, du wärst kein Gentleman.“

Er entzündete eine der Kerzen und schüttelte das Streichholz aus. „Bin ich auch nicht“, versicherte er ihr.

„Dann hör auf, dich wie einer zu benehmen, denn jetzt muss ich dir ja Platz im Bett machen.“ Sie rutschte auf der Matratze zur Seite, und ein leises Quietschen erklang. Sie stöhnte auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

Er lachte leise. „Es sind nur ein paar quietschende Federn. Ich bezweifle, dass irgendeine der Schwestern im Nebenraum ein Glas an die Wand hält. Du benimmst dich, als hättest du das Bett noch nie mit einem Typen geteilt.“

Sie bewegte sich nicht. Es war, als sei sie völlig erstarrt.

Für gewöhnlich hielt er sich für einen Kerl, der nicht auf den Kopf gefallen war, doch diesmal fiel der Groschen bei ihm erstaunlich spät. „Ah. Ich … verstehe.“ Doch das tat er nicht. Nicht wirklich. Sie war neunundzwanzig Jahre alt. Wie konnte eine Frau, zumal eine, die so aussah, so intelligent, so fürsorglich, so … alles war … Wie, verdammt nochmal, konnte sie so alt werden und noch nie mit einem Mann geschlafen haben?

„Warum bist du noch … warum hast du noch nie … oh Mann.“ Auf sich selbst wütend, fuhr er sich mit einer Hand durch das Gesicht. „Vergiss es. Das geht mich nichts an.“

„Nein“, stimmte sie zu. „Das tut es nicht. Also, schläfst du jetzt im Bett oder nicht?“

Er nahm das Kissen vom Boden und warf es neben sie auf die Matratze.

Sie ist Jungfrau. Der Gedanke kreiste in seinem Kopf – nagte an ihm.

Er legte sich neben sie, und das Bett quietschte leise.

„Kein Wort“, flüsterte sie wütend.

Das war ihm nur allzu recht.

4. KAPITEL

Angeline hatte nicht damit gerechnet, gut zu schlafen.

Sie wusste, sie würde schlafen, einfach weil sie vor langer Zeit gelernt hatte, dann zu schlafen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Und obwohl Brody neben ihr lag und sie sich an den gegenüberliegenden Rand der Matratze klammerte, um nicht zu dicht an ihn heranzurollen, hatte sie gedacht, dass sie trotzdem etwas Schlaf bekommen würde.

Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, so tief zu schlafen, dass sie es nicht bemerkt hatte, dass Brody mitten in der Nacht aufgestanden war.

Das ist doch nicht normal, dachte sie, als sie sich kühles Wasser ins Gesicht spritzte und das Handtuch gegen ihre Wangen presste. Der Aufstieg in dem Sturm war offensichtlich noch anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte.

Oder vielleicht fühlst du dich in Brodys Gegenwart wohler, als du zugeben willst.

Sie drehte sich um und verließ den Raum, um die nervige Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen.

Nachdem sie den Waschraum aufgesucht hatte, machte sie sich auf die Suche nach Brody.

Doch als sie im Erdgeschoss angekommen war und sich im Speisesaal wiederfand, musste sie feststellen, dass er nicht da war. Genervt machte sie auf dem Absatz kehrt, um zurückzugehen und weiterzusuchen, aber ein gedämpftes Geräusch ließ sie innehalten.

Schritte?

Nervosität breitete sich in ihr aus, und sie versuchte, sie abzuschütteln. Sie war in einem Kloster, zum Teufel. Was konnte ihnen hier schon passieren?

Sie sah sich vorsichtig um und versuchte, sich zu beruhigen. Still stand sie da und presste die Hand auf die Brust, unter der sie ihr Herz pochen spürte. Sie lauschte und wartete auf ein weiteres Geräusch, ein Scharren, ein Rascheln von schwarzen Gewändern.

Doch alles, was sie hörte, war Stille. Sie lauschte so konzentriert, dass sie zusammenfuhr, als plötzlich die Glocken läuteten.

Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an die raue Wand und wartete darauf, dass das Läuten endete.

„Falls du beten möchtest, da ist eine Kapelle nicht weit von hier.“

Ihr Herz schien in dem ewig währenden Moment auszusetzen, als sie die tiefe, männliche Stimme wiedererkannte.

Sie öffnete die Augen und sah Brody an.

„Zum Glück ist mein Herz gesund“, fuhr sie ihn an. „Denn so, wie du dich anschleichst, könnte man einen Herzinfarkt bekommen.“

„Wer muss denn schleichen?“, antwortete er im Flüsterton.

„Offensichtlich du“, entgegnete sie gereizt, passte sich jedoch seiner Lautstärke an.

Abgesehen von den Falten in seiner Kleidung sah er erschreckend frisch aus.

„Weißt du eigentlich, dass du einen ziemlich tiefen Schlaf hast?“

Darüber wollte sie mit ihm nicht diskutieren. Immerhin hatte sie normalerweise einen leichten Schlaf, was sicherlich mit ihrer Sanitäterausbildung zu tun hatte. „Warum schleichst du hier herum? Weißt du, wie spät es ist?“

„Fast drei Uhr. Und warum schleichst du hier herum?“, entgegnete er. „Ich suche dich seit zehn Minuten.“

„Ich musste zur Toilette“, flüsterte sie, was teilweise stimmte.

Er legte den Kopf schief. „Du hast deine Stiefel an. Gut.“

Er nahm sie am Handgelenk und zog sie durch den Flur hinter sich her, während er immer wieder Türen öffnete und in die dahinterliegenden Räume hineinsah. „Während du von gut aussehenden Prinzen geträumt hast, habe ich mich hier mal umgesehen. Schwer zu glauben, aber die guten Schwestern haben eine interessante Sammlung von Fahrzeugen.“

Ihr Magen verkrampfte sich. „Hast du etwa gefragt, ob du dir eins ausleihen kannst?“

Trotz der schwachen Beleuchtung konnte sie sehen, dass sich sein Gesichtsausdruck kein bisschen veränderte.

Sie unterdrückte ein Stöhnen. „Wir können doch nicht eines ihrer Autos stehlen“, flüsterte sie.

„Babe.“ Er klang verletzt. „‚Stehlen‘ ist ein hartes Wort.“ Abrupt blieb er stehen, sodass sie fast gegen ihn lief. „Mir gefällt ‚leihen‘ besser.“

„Das funktioniert aber nur, wenn du um Erlaubnis fragst.“

„Einzelheiten. Du hältst dich immer mit Einzelheiten auf.“ Er nahm eine Kerze aus einem der Wandleuchter, dann öffnete er die Tür neben sich. „Wir müssen schnell sein, aber auch leise. Meinst du, du schaffst das?“

„Ja, ich kann leise sein“, versicherte sie etwas lauter, als sie eigentlich wollte.

Brody zog die Augenbrauen hoch, und sie presste die Lippen zusammen, hob die Hand vor den Mund und ahmte die Drehung eines Schlüssels nach.

Er grinste kurz. „Gutes Mädchen.“

Die Nervosität, die sie vorher gespürt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt fühlte, als Brody sie durch die Tür schob. Er folgte ihr und blieb gerade lang genug stehen, um die Tür geräuschlos zu schließen.

Nachdem sie durch ein Gewirr von beängstigend engen Gängen gelaufen waren, kamen sie irgendwann in einen Teil des Klosters, in dem der Boden nicht mehr gefliest war, sondern nur aus festgetretener Erde bestand.

Angeline schluckte. Sie fühlte sich, als würden sie geradewegs in das Innere des Berges laufen. „Hast du überhaupt geschlafen? Wie lange hast du gebraucht, um dieses Labyrinth zu finden? Weißt du überhaupt, wo wir hingehen?“

Er blieb stehen, damit sie aufschließen konnte, und die wilden Schatten, die im Licht der Kerze auf die Wände geworfen wurden, beruhigten sich. „Ja, ich habe genug geschlafen. Und ja, ich weiß, wo wir hingehen. Vertraust du mir nicht? Wir holen die Kinder und machen uns aus dem Staub, solange die Gelegenheit günstig ist.“

„Aber was ist aus ‚einen Schritt nach dem anderen‘ geworden?“

„Du hast geschlafen, richtig? Und gegessen.“

Sie presste die Lippen aufeinander, entschlossen, nicht zu widersprechen. „Deine plötzliche Eile überrascht mich einfach“, brachte sie schließlich steif hervor.

„Neben verschiedensten Fahrzeugen haben die guten Schwestern sogar ein Satellitentelefon. Nicht gerade etwas, womit man hier rechnen würde. Jedenfalls habe ich meinen Informanten kontaktiert. Die Stanleys wurden woanders hingebracht. Und die Mutter Oberin hat einen Guide gefunden, der sie trotz des Wetters zurück zu ihrer Herde bringt. Sie soll kurz nach Sonnenaufgang eintreffen.“

„Ein Guide“, wiederholte Angeline verwirrt. „Was für ein Guide?“

„Einer, der sich von einer unterspülten Straße nicht aufhalten lässt.“

„Meinst du, es ist dieser Rico, der Sophias und Hewitts Wohnung durchsucht hat?“

Er blickte sie vielsagend an.

Entsetzen ließ sie erstarren. „Das ist ein Albtraum.“

„Na, na. Könnte schlimmer sein. Viel schlimmer“, versicherte er ihr.

Sie sah über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Was war schlimmer? Vor oder zurück? So oder so, sie wollte wirklich raus aus diesem engen, dunklen Stollen. Als sie den Kopf wieder zurückdrehte, sah er sie durchdringend an. „Was ist?“

„Sag du es mir. Was bereitet dir Sorgen?“

Abgesehen von der ganzen Situation? Sie befeuchtete ihre Lippen. „Ich, ähm, ich habe einfach nicht viel für Stollen übrig.“

Er hielt die Kerze in die Höhe und sah nach oben. Danach bewegte er sie nach links, dann nach rechts.

Sie wusste, was er überprüfte. Die Decke über ihnen war verputzt. Die Wände zu beiden Seiten auch. Und auch wenn der Boden schmutzig war, war er nicht mit dem Schlamm, in dem der Jeep steckengeblieben war, zu vergleichen. Er schien glatt und fest zu sein.

Es war nicht wirklich ein Stollen.

Sie wusste, dass es das war, was Brody dachte.

„Wir sind fast da“, sagte er schließlich. „Meinst du, dass du es noch ein paar Minuten aushältst?“

Zu stolz, um Schwäche zu zeigen, hob sie das Kinn. Das hier war St. Agnes, nicht irgendein unterirdischer Tunnel unter Atlanta. „Klar.“

Er lächelte nicht. Er nickte nur und lief dann weiter.

Dass er ihre Worte einfach hinnahm, vermittelte ihr mehr Sicherheit, als wenn er sie einfach an die Hand genommen und sie wie ein ängstliches Kind mit sich gezogen hätte.

Wie er versprochen hatte, waren es nur wenige Minuten, bis sie nach einer Abbiegung über eine Eisentreppe ins Freie traten. Es war dunkel, und die Luft war feucht. Ein mit Weinranken bewachsenes Spalier über ihnen schützte sie vor dem Nieselregen, doch Angeline zitterte, als der Wind in ihre Kleidung fuhr.

Donner rollte begleitet von aufflackernden Blitzen über sie hinweg.

Sie konnte in der Dunkelheit Hecken und andere Pflanzen ausmachen. War dies der Klostergarten?

Brody nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.

Überrascht sah sie zu ihm auf.

„Nicht vergessen, Sophia“, murmelte er sanft und drückte ihre Hand. „Wasserfall.“

Dann zog er sie mit sich, und sie rannten über den nassen Rasen zu dem Gebäude auf der anderen Seite des Gartens. Sie betraten es durch einen schmalen Eingang, liefen ein paar Stufen hinauf und blieben dann neben einer Tür stehen. Brody drückte sie leise auf und zog Angeline hinter sich her.

Das Zimmer war fast identisch mit dem, das sie und Brody bekommen hatten, nur dass hier zwei schmale Betten standen.

„Wir wecken zuerst sie.“ Brody nickte zu dem Bett auf der rechten Seite, unter dessen Decke sich ein größerer Körper abzuzeichnen schien. Er stellte die Kerze neben den Krug auf der Kommode und ging zu dem Bett. „Eva“, sagte er sanft. „Komm schon, Kleine. Wach auf.“

Das Mädchen murmelte etwas und drehte sich weg, wobei es die Decke fast ganz über den Kopf zog.

Brody versuchte es noch einmal, und dieses Mal hob das Mädchen den Kopf. Doch beim Anblick der Fremden weiteten sich seine Augen vor Schreck.

„Schhh.“ Brody legte ihm die Hand auf den Mund. „Es ist okay. Du brauchst nicht zu schreien.“

Eva versuchte wegzukrabbeln, doch Brody hielt sie fest.

„Deine Eltern schicken uns“, flüsterte Angeline und beugte sich zu dem Mädchen hinunter. „Wasserfall, richtig?“

Das Mädchen hatte sie mit ängstlich aufgerissenen Augen angesehen, doch als es das Codewort hörte, entspannte es sich allmählich.

Angeline kniete sich neben das Bett und legte die Hände auf Evas Fäuste, mit denen sie die Decke umklammerte.

„Es ist alles gut“, versprach sie. „Alles gut. Wir bringen euch so schnell wie möglich zu euren Eltern.“ Sie hoffte, dass das Team, das zur Rettung der Stanleys losgeschickt wurde, erfolgreich sein würde.

Eva blinzelte.

„Du musst leise sein“, sagte Brody. „Schaffst du das?“

Wieder blinzelte das Mädchen. Schließlich nickte es, und Brody zog vorsichtig die Hand weg.

„Wer seid ihr?“, fragte Eva mit zittriger Stimme.

„Das ist Brody. Ich bin Angeline. Wir sind … Freunde von deinen Eltern.“

„Ich möchte, dass du deinen Bruder aufweckst“, trug Brody ihr auf. Er ging zu der Kommode und öffnete leise die Schubladen. „Damit er keine Angst hat.“ Er nahm ein paar Kleidungsstücke heraus und warf sie neben das Mädchen aufs Bett. „Habt ihr Wanderschuhe? Und Koffer?“

Sie nickte argwöhnisch. „Unter dem Bett.“

Brody kniete sich hin und holte die Wanderschuhe hervor. Er warf einen Blick auf die sperrigen Koffer und schob sie zurück unter das Bett. „Wir nehmen besser einen Kissenbezug“, murmelte er, zog das Kissen hinter Eva ab und packte die Kleidung hinein.

„Warum holen unsere Eltern uns nicht selbst ab?“ Eva war zwar erst neun, doch wusste sie, wie man aussprach, was einem auf dem Herzen lag.

„Sie arbeiten noch“, versicherte Angeline und hasste es, zu lügen. Sie drückte die Hände des Mädchens. „Komm, lass uns Davey wecken.“

Eva schob die Decke beiseite und stand auf. Der Saum ihres langen Nachthemds reichte bis zu ihren nackten Füßen, als sie zu dem anderen Bett ging und sich neben ihren Bruder setzte. „Davey.“ Sie rüttelte ihn. „Wach auf.“

Davey setzte sich auf und blinzelte verschlafen. Als er die zwei Fremden entdeckte, vergrub er das Gesicht an Evas Brust.

Obwohl er fast schon so groß war wie seine Schwester, zog sie ihn auf ihren Schoß und legte beschützend die Arme um ihn. „Mom und Daddy wollen, dass wir nach Hause gehen.“

„Im Dunkeln?“, fragte Davey. „Warum?“

Angeline seufzte und versuchte, eine Erklärung zu finden, die den Kindern nicht noch mehr Angst machen würde. „Ich weiß, dass ihr Angst habt, aber es ist sehr wichtig, dass wir uns schnell auf den Weg machen.“

Eva legte die Arme fester um ihren Bruder. „Meine Mom und mein Dad sind in Gefahr, oder? Deshalb seid ihr doch hier.“

„Ihnen wird nichts passieren“, sagte Brody mit solch einer Zuversicht, dass sogar Angeline ihm glaubte. „Aber sie wollen, dass wir euch an einen sicheren Ort bringen.“

Evas Augen wurden groß. „Aber …“

„Wir sprechen unterwegs darüber“, versprach Angeline. Sie streichelte den Arm des Mädchens. „Jetzt müssen wir tun, was Brody sagt.“

„Wir sollen nicht mit Fremden sprechen“, flüsterte Davey.

„Das stimmt“, sagte Angeline schnell. „Und daran solltet ihr euch halten, aber wir sind keine Fremden, oder? Eure Mom und euer Dad haben uns euer Codewort verraten.“

„Wasserfall“, sagte Davey. „Weil sie uns irgendwann zum höchsten Wasserfall der Welt mitnehmen. Angel Falls.“

„Ich finde, wir sollten hierbleiben“, sagte Eva vorsichtig. „Bei den Nonnen. Dann …“

„Wir müssen vor Tagesanbruch vom Berg verschwunden sein“, sagte Brody leise. „Was bedeutet, dass wir jetzt gehen müssen. Jetzt sofort.“

Eine sehr große Träne rann über Evas Wange. „Sie sind tot, nicht wahr? Sie sind von dem Berg gefallen, auf den sie geklettert sind.“

„Oh, Schätzchen, nein.“ Angeline schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“

Brody fluchte leise und nahm Davey plötzlich von Evas Schoß. Davey riss die Augen auf. „Stellt euch vor, das ist ein Abenteuer“, sagte er zu dem Kind. „Du kannst Peter Pan sein. Ihn mochte ich immer am meisten. Ich hatte ein Schwert, wie er. Und ich habe mir vorgestellt, ich könne auch fliegen.“

Angeline wusste, dass es in Brodys Fällen immer um Kinder ging, aber sie war trotzdem überrascht, wie geübt er dem Jungen Socken und Schuhe überzog, während er die Geschichten von Peter Pan erzählte, als wäre er wirklich seine Lieblingsfigur gewesen.

Und Davey hörte ihm gespannt zu.

„Sie sind wirklich nicht tot?“, frage Eva noch einmal aufgewühlt.

Angeline konnte einfach nicht anders und zog das Mädchen in ihre Arme, um es zu drücken. „Natürlich nicht.“

Plötzlich hörten sie die Glocken läuten, und Brody und Angeline erstarrten. „Das ist die Vier-Uhr-Glocke“, sagte Eva. „Die Schwestern stehen auf um zu beten, bevor sie das Frühstück machen.“

Brody sah Angeline an, während er einen Zettel auf Evas Bett legte. „Nimm ihre Schuhe“, murmelte er. „Und beeil dich.“

Angeline half Eva schnell dabei, ihre Wanderschuhe anzuziehen. Dann zog sie ihr den Pullover, den Brody ihr zuwarf, über das Nachthemd.

„Sie sieht aus wie Tinkerbell“, sagte Davey und kicherte.

Brody warf Angeline den vollen Kissenbezug zu, blies die Kerzen aus und öffnete die Tür. Vorsichtig spähte er hinaus. Einen Moment später eilten sie durch den Flur.

Die Glocken verstummten, und fast gleichzeitig öffneten sich ein Dutzend Türen auf dem Gang.

Angeline hielt die Luft an, und Brody fluchte leise.

Kein Wunder, dass sie so einen umständlichen Weg zum Zimmer der Kinder genommen hatten.

„Du hast ein böses Wort gesagt“, sagte Davey laut zu Brody.

Dem entfuhren noch ein paar mehr solcher Wörter, während er auch noch Eva auf den Arm nahm. Angeline rannte hinter ihm her, als sie die schmale Hintertreppe hinabrannten, ins Freie stolperten und im Nieselregen verschwanden, bevor die Nonnen sie entdecken konnten.

5. KAPITEL

Die interessante Sammlung an Fahrzeugen beinhaltete auch einen Hummer. Robust und stämmig stand er auf der anderen Seite des Gartens.

Obwohl Angeline damit rechnete, dass ihnen jemand folgen würde, kam niemand hinterher. Sie nahm an, dass Brody keinen Gedanken daran verschwendete.

Jedenfalls verschwendete er keine Zeit, als sie das Fahrzeug erreichten. Er setzte die Kinder auf dem Rücksitz ab, und als Angeline auf den Beifahrersitz sprang, hatte er bereits den Motor gestartet.

„Anschnallen.“ Er wartete nicht darauf, dass alle gehorchten, und legte den Gang ein.

„Festhalten“, warnte er, als er auf einen Busch zufuhr. „Das wird keine angenehme Fahrt.“

„Das ist untertrieben“, brachte Angeline einen Moment später hervor, als das Fahrzeug heftig schaukelnd bergab raste. Sie schlug mit dem Kopf gegen das Fenster und konnte nicht sagen, ob sie gerade auf der Straße fuhren oder nicht.

Als sie kurz vom Boden abhoben, schrien Davey und Eva beide auf. „Wir fliegen“, rief Davey. „Ganz ohne Feenstaub!“

„Scheint so“, stimmte Brody zu.

Angeline schloss die Augen.

„Wofür betest du?“ Brodys Stimme klang fast genauso beschwingt wie die von Davey.

„Ich bitte um Vergebung dafür, dass wir das Auto ‚ausgeliehen‘ haben und … und … oh!“ Wieder schlug sie mit dem Kopf gegen die Scheibe. „Und dafür, dass wir die Kinder mitgenommen haben.“

„Ich habe den Nonnen eine Nachricht hinterlassen. Ich habe geschrieben, dass jemand von All-Med das Auto zurückbringen wird.“

Angeline schnappte nach Luft. Jetzt zog er auch noch das Freiwilligenteam in die Sache hinein? „Aber, aber das bedeutet, dass wir in Puerto Rico halten müssen.“

„Nur so lange, wie du brauchst, um Dr. Chavez dazu zu bringen, den Wagen zum Kloster zurückzufahren. Glaub mir, wir werden nicht lange bleiben, und wir werden niemandem einen Besuch abstatten. Es gibt keine Garantie, dass unser Freund Rico dort keine Ohren hat.“

„Was ist, wenn Miguel uns nicht helfen will? Du weißt, dass er und das Team ziemlich viel zu tun haben ohne …“

„Er wird.“

Sie wünschte, sie könnte genauso sicher sein wie Brody.

Ein Ast schlug gegen die Windschutzscheibe, und Angeline zuckte zusammen. Die Scheibenwischer wischten genauso viel Matsch wie Regen weg, während sie den Berg hinabsausten.

Er hatte gesagt, er wolle die Kinder aus Venezuela hinausschaffen. Das würde nicht zu Fuß passieren. „Und wenn wir den Hummer in Puerto Grande lassen, womit fahren wir dann weiter?“

„Miguel hat doch einen SUV, oder?“

Sie runzelte die Stirn. „All-Med hat einen SUV.“

„Und Miguel Chavez …“ Doch er unterbrach sich und fluchte, als das Auto ausbrach. Er riss das Lenkrad herum, streifte einen Busch und zog den Hummer mit einem Ruck wieder gerade. „Wie ich gerade sagen wollte, ist Miguel Chavez der Leiter des All-Med-Teams.“

Das stimmte nicht ganz. Zu All-Med gehörten ein Dutzend Teams, die an unterschiedlichen Orten arbeiteten.

„Du machst mich fertig“, murmelte sie.

Er grinste nur, und sie ruckelten weiter durch das unwegsame Gelände.

Als es langsam heller wurde, entdeckte Angeline in der Ferne ihren Jeep. Der Fluss aus Schlamm war noch höher gestiegen, seit sie das Auto zurückgelassen hatten.

Sie ignorierte die Übelkeit, die sie überkam. Wenn sie versucht hätten nach Puerto Grande zurückzulaufen, so wie sie es gewollt hatte, wären sie auf der Straße unterwegs gewesen, die jetzt vollkommen überflutet war.

„Sieht so aus, als würden wir einen anderen Weg nehmen müssen“, sagte Brody.

„So wie die Oberin Mutter“, fügte Angeline hinzu. „Auf keinen Fall werden sie und ihr ‚Guide‘ diesen Weg genommen haben.“

„Ich glaube, eine kreative Person findet immer einen Weg“, entgegnete er.

Sie war sich sicher, dass Brody einen gefunden hätte.

Resignierend schloss sie die Augen. Was würde sie jetzt nicht dafür geben, in einem Café zu sitzen und ihrer regulären Arbeit für Hollins-Winword nachzugehen.

„Wie hast du mich überhaupt in Puerto Grande gefunden?“

Brody lenkte den Wagen von dem strömenden Schlammfluss fort, und wenn sie sich nicht täuschte, fuhren sie Richtung Westen.

„Habe ich dir doch gesagt, Babe. Die Agentur behält ihre Spione im Auge.“

Richtig. Das hatte er gesagt. Ein Kopfschmerz machte sich hinter ihrer Stirn bemerkbar.

„Du warst die, die am nächsten war“, fügte er hinzu. Er grinste. „Ich wette, du könntest deswegen Luftsprünge machen, oder?“

Sie fragte sich, was er gemacht hätte, wenn der nächste Hollins-Winword-Spion ein riesiger, haariger Mann gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte er sich einen anderen unmöglichen Plan ausgedacht.

„Ihr habt uns nicht gesagt, warum wir an einen sichereren Ort fahren müssen“, meldete sich Eva zu Wort.

Angelines Kopfschmerzen wurden in diesem Moment schlimmer. Sie zog die Augenbrauen hoch, als Brody ihr einen Blick zuwarf, als wäre es ihre Aufgabe, die Frage des Mädchens zu beantworten. „Du bist der Experte für solche Situationen.“

Er sah so begeistert aus, wie sie sich fühlte.

Doch dann hielt er an und drehte sich im Sitz so weit wie möglich um, damit er die Kinder hinter sich ansehen konnte. „Da ist ein Mann – kein netter –, der etwas von euren Eltern will, und sie wollten sichergehen, dass er nicht zu euch ins Kloster kommt, bevor sie zurück sind. Deshalb haben sie uns um Hilfe gebeten.“

Eva schluckte. „Was will er?“

„Forschungsergebnisse von deinem Dad. Aber die wird er nicht bekommen. Alles, was ihr zwei tun müsst, ist bei uns zu bleiben. Wir werden euch zurück in die USA bringen, und dort werdet ihr eure Eltern wiedersehen. Aber bis dahin gilt weiter die Regel, dass ihr nicht mit Fremden sprechen dürft, verstanden?“

Völlig verängstigt nickte das Mädchen.

Davey zog an Evas Arm und flüsterte etwas in ihr Ohr. „Er muss aufs Klo“, übermittelte sie.

Brody fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Sonst noch jemand?“

Eva schüttelte den Kopf.

Angeline spürte, wie sie etwas rot wurde, als Brody sie ansah. „Nein.“

„Alles klar.“ Er stieg aus und öffnete Davey die Tür. „Wir Männer haben es leicht“, sagte er zu dem Jungen, der ziemlich begeistert darüber war, als Mann bezeichnet zu werden.

Eva sagte nichts, bis Brody die Tür geschlossen hatte und mit Davey weggegangen war. „Seid ihr verheiratet?“

„Was?“ Angeline sah überrascht nach hinten. Der Ehering an ihrem Finger wurde allmählich warm. „Oh. Nein. Nein. Nein. Wir … arbeiten nur zusammen.“

Eva zupfte an ihrem Nachthemd, das unter ihrem Pullover hervorguckte. „Ich bin vom Regen ganz nass geworden.“

„In Puerto Grande bekommt ihr trockene und warme Sachen. Sieht so aus, als hätte Brody jede Menge Klamotten eingepackt.“

„Ich glaube, er ist nett.“

Angeline presste die Lippen aufeinander. „Ja“, sagte sie dann. „Ich glaube, du hast recht.“

Der Weg nach Puerto Grande war genauso abenteuerlich und gefährlich wie die Fahrt vom Kloster zum Fuß des Berges. Vor allem, als der Regen wieder stärker wurde.

Die Hauptstraßen waren völlig überschwemmt und nicht befahrbar. Brody holte alles aus dem Wagen heraus, und Stunden später kamen sie endlich in dem kleinen Dorf an.

Als sie schließlich die Hütte, in der All-Med untergebracht war, erreichten, parkte Brody dahinter neben einem SUV, der schlammbespritzt und viel kleiner war als der Wagen der Nonnen.

Angeline wusste immer noch nicht, wie sie Miguel die Situation erklären sollte. Sie teilte nicht Brodys Zuversicht, dass der Arzt, der das Team leitete, ihr einfach die Autoschlüssel überreichen würde. Er war schon gestern, als sie das Camp verlassen hatte, nicht besonders erfreut gewesen.

„Du solltest reingehen“, schlug Brody mit sanfter Stimme vor. „Sag ihm einfach, dass du immer noch einen Notfall in Caracas hast, aber dass du seinen Truck dafür brauchst.“

„Sicher. Hört sich ganz einfach an.“ Sie stieg aus und lief geduckt durch den Regen zur Hütte.

Rasch schlüpfte sie durch einen Vorhang aus dickem Stoff, der als Tür diente. Die Hütte hatte drei Zimmer, die nicht nur vorübergehend als Untersuchungszimmer von All-Med dienten, sondern auch als die Quartiere der Freiwilligen. Angeline ging in das hinterste Zimmer.

„Hallo zusammen“, versuchte sie, alle gelassen zu begrüßen, versagte dabei jedoch kläglich.

Offensichtlich überrascht über ihr Erscheinen ließ Robert Smythe, der an einem alten Klapptisch saß, die Karten fallen. Maria Chavez stand von ihrem Klappstuhl auf. „Angel! Gute Güte, Mädchen, du siehst aus, als wärst du hierhergeschwommen. Du und dein Freund habt es aber nicht bis nach Caracas und zurück geschafft, oder?“

Zusammen mit ihrem Mann Miguel trug Maria die Verantwortung für das Team.

„Nein. Der Sturm hat uns aufgehalten.“ Sie lächelte schwach und blickte die junge blonde Frau an, die am Tisch saß. Sie musste neu sein, denn Angeline kannte sie noch nicht.

„Seid ihr wenigsten letzte Nacht irgendwo untergekommen?“, fragte Maria.

„Ja, bei einer einheimischen Familie. Wir, ähm, haben ihren Truck geliehen, um zurückzukommen.“

Angeline ging zu der blonden Frau und streckte ihr die Hand hin. „Angeline Clay. Schön, dich kennenzulernen.“

„Persia Newman. Ich habe mir gedacht, dass du zurückkommen würdest, um deine Sachen abzuholen.“ Persia sah Angeline bedeutungsvoll an.

„Äh, ja. Richtig. Meine Sachen.“

Das Mädchen nickte, verschwand dann im mittleren Zimmer, wo die Feldbetten standen, und kehrte mit Angelines abgenutztem Seesack zurück. „Dein Reisepass ist in der Innentasche.“

„Danke.“

„Wie wollt ihr denn jetzt nach Caracas kommen?“

„Eigentlich ist das noch ein Grund, warum wir zurückgekommen sind. Das, ähm, Auto, das wir uns geliehen haben, gehört den Schwestern von St. Agnes.“

Marias Augen weiteten sich. „Wie um alles in der Welt seid ihr da drangekommen?“

„Die Familie, bei der wir letzte Nacht untergekommen sind … Wir haben ihnen gesagt, dass wir versuchen würden, es für sie zum Kloster zurückzubringen, damit sie es nicht selbst tun müssen.“

„Robert und ich können es doch zurückbringen“, schlug Persia vor und sah Maria an. „Ihr kommt doch ein paar Stunden ohne uns klar, oder?“

„Natürlich“, antwortete Maria bereitwillig. „Aber das löst immer noch nicht Angelines Problem, wie sie nach Caracas kommen soll.“

„Sie wird natürlich den Rover nehmen.“ Miguel betrat den Raum und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Die Schlüssel stecken, so wie immer. Warum hast du mir nicht gesagt, wie dringend dein Notfall ist?“

„Ich …“

„Ich habe mit deinem Begleiter gesprochen. Er wartet draußen. Er sagte mir, dass deine Collegefreundin vielleicht nicht überleben wird.“ Miguel legte Angeline die Hand auf die Schulter. „Wir werden für sie beten.“

Miguel hatte also mit Brody gesprochen.

Aber was war mit den Kindern? Es schien nicht so, als hätte er sie gesehen.

„Hier.“ Persia drückte ihr den Seesack und einen Proviantbeutel in die Hand. „Ihr werdet unterwegs Verpflegung brauchen.“

Angeline betrachtete das Brot, das frische Obst und die großen Thermobehälter. Das erinnerte sie daran, dass ihr gestriges Abendessen mit Brody schon etwas länger her war und sie seitdem nichts gegessen hatte. „Aber was macht ihr ohne den Rover?“

Miguel lächelte. „Lasst ihn einfach beim All-Med-Büro in Caracas. Die kümmern sich darum, dass er wieder zu uns zurückkommt.“

„Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.“

„Angeline.“

Sie wirbelte herum und erblickte Brody, der gerade die Hütte betreten hatte. „Ja?“

„Wir sollten uns beeilen.“

„Ja.“ Maria schob sie zur Tür. „Eines Tages werden wir wieder zusammenarbeiten, meine Liebe. Jetzt kümmerst du dich erst einmal um deine Freundin.“

Sie umarmte Maria und folgte Brody durch den Regen zum Wagen.

So langsam gefiel ihr dieser Job.

6. KAPITEL

Eva und Davey hatten sich unter einer Decke auf der Rückbank des Rovers versteckt und kamen erst wieder hervor, als sie Puerto Grande hinter sich gelassen hatten.

Brody machte sich keine Sorgen darum, unentdeckt nach Caracas zu kommen. Das Wetter war sowieso so schlimm, dass sie auf der Straße kaum jemandem begegneten. Deshalb blieben sie einfach auf der Hauptstraße Richtung Norden.

Eva und Davey zogen sich auf dem Rücksitz trockene Kleidung über. Dann verteilte Angeline den Proviant. In den Thermobehältern befand sich heiße Suppe.

Danach dauerte es nicht lang, bis Eva und Davey sich aneinanderkuschelten und einschliefen.

„Du solltest auch schlafen“, sagte Brody, als er ihr den leeren Thermobehälter reichte.

„Aber du hast letzte Nacht weniger geschlafen als ich.“ Sie war müde, aber sie war immer noch so angespannt, dass sie ohnehin nicht hätte einschlafen können. „Ich bin an kurze Nächte gewöhnt.“

„Hast du in Atlanta oft die Nachtschicht?“

Sie lehnte sich im Sitz zurück. „Ich bin überrascht, dass du das nicht schon weißt.“

Er sah sie schief an. „Sieht so aus, als gäbe es da ein paar Dinge, die ich noch nicht über dich weiß.“

Hitze stieg in ihre Wangen. Natürlich würde er sie nicht vergessen lassen, was er letzte Nacht herausgefunden hatte.

So ein Typ Mann war er eben.

Aber sie hatte nicht gedacht, dass er der Typ Mann war, der die Peter-Pan-Karte spielte, um einen kleinen Jungen zu beruhigen.

„Erzähl mir was.“ Brodys Blick war wieder auf die Straße geheftet. „Halt mich wach, das Essen hat mich nämlich wirklich müde gemacht.“

„Was soll ich erzählen?“, fragte sie misstrauisch.

„Irgendwas. Warum du nach Georgia gegangen bist.“

Sie war überrascht, dass er nicht weiter nach ihrem Liebesleben fragte und das Thema, das ihm jede Menge Unterhaltung geboten hätte, einfach fallen ließ.

Sie schämte sich nicht für ihre Jungfräulichkeit, aber in ihrem Alter war es nicht unbedingt etwas, das sie erklären wollte, und ihr gefiel es überhaupt nicht, wenn sich jemand darüber lustig machte.

„J. D. ist als Erste dort hingezogen“, sagte sie, ohne zu erklären, wer J. D. war, denn das wusste er zweifellos schon.

„Sie ist die Pferdenärrin. Und dein Bruder Casey ist der Bücherwurm.“

Bei der treffenden kurzen Beschreibung musste sie schmunzeln. Keines ihrer Geschwister war mit ihr verwandt, aber das hatte sie und J. D. nicht daran gehindert, dicke Freundinnen zu werden. „Casey macht gerade seinen Abschluss in Literatur … und Frauen“, fügte sie ironisch hinzu. „Und J. D. arbeitet als Pferdetrainerin auf einer Farm in Georgia.“

„Aber sie trainiert Vollblüter für Rennen. Schon etwas ganz anderes als das Viehtreiben, das deine Familie in Wyoming macht, oder?“

„Sie könnte auch Pferde zum Westernreiten trainieren, und es würde sie glücklich machen. Das ist J. D. egal, solange sie mit Pferden arbeitet. Ich bin ihr jedenfalls ein Jahr später nach Atlanta gefolgt.“

„Da warst du schon Sanitäterin.“

Sie nickte. „Ja. Aber meine Lizenz als Notfallsanitäterin habe ich erst in Atlanta bekommen.“ Wenn sie nicht gerade arbeitete – und das tat sie viel – besuchte sie Kurse und versuchte herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte.

„Ich kann mir vorstellen, dass der Rettungsdienst in Atlanta anders ist als der in Wyoming.“

„Vielleicht etwas stressiger“, sagte Angeline ruhig. Sie wollte nicht wirklich über ihre Arbeit sprechen.

„Also, was verschweigst du?“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, log sie. Seitdem er sie in Puerto Grande aufgespürt hatte, tat sie das häufiger.

„Ja, genau“, sagte er gedehnt. „Na, gut. Dann behalte es für dich. Erst mal.“

„Was machen wir, wenn wir in Caracas sind?“ Sich auf ihre Situation zu konzentrieren, war ihr lieber, als über Atlanta nachzudenken.

„Wir werden das Land so unauffällig wie möglich verlassen.“

„Mit dem Flugzeug? Abgesehen von dem Sturm, der es wahrscheinlich unmöglich machen wird, haben wir nicht einmal die Reisepässe der Kinder.“

„Doch, die haben wir“, korrigierte er sie sanft. „Ich … ich habe sie eingesteckt, als ich das Satellitentelefon gesucht habe. Sie waren im Schreibtisch der Mutter Oberin.“

Sie konnte sich direkt vorstellen, wie er in dem Büro der Nonne herumwühlte, und fragte sich, welche Auswirkungen das auf sein Karma haben würde.

Endloser Regen?

„Aber das ist egal“, fuhr er fort, als wüsste er, was sie dachte. „Wir können sie sowieso nicht benutzen, weil man uns sonst verfolgen könnte. Jetzt können wir nur hoffen, dass uns die Schwestern von St. Agnes unser Theater abgekauft haben. Denn ansonsten können sie uns dafür, dass wir die Kinder mitgenommen und uns den Hummer geliehen haben, anzeigen. Und auch, wenn die Schwestern keinen Alarm schlagen, bin ich mir verdammt sicher, dass Rico nach Eva und Davey suchen wird, wenn er herausfindet, dass sie nicht mehr im Kloster sind. Deshalb ist es keine Option, den Internationalen Flughafen zu benutzen.“

„Also werden wir das Land auf illegalem Weg verlassen?“

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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