Bianca Extra Band 84

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KÜSS MICH, WENN ES STERNE REGNET von KATHY DOUGLASS

"Ich werde alles für deine Töchter tun", flüstert Carmen traurig an Annas Grab. Sie hält ihren Schwur - und verliebt sich nach einem nächtlichen Kuss in Trenton, den smarten Vater der beiden Mädchen! Dabei weiß sie doch genau, dass er sein Herz zusammen mit Anna begraben hat …

IMMER DIE BRAUTJUNGFER, NIEMALS DIE BRAUT? von SUSAN CROSBY

Verzweifelt gibt sie Joe seinen Verlobungsring zurück. Was als Teenagerliebe begann, muss nun enden: Zu unterschiedlich ist, was Dixie und er sich vom Leben erhoffen. Wird Joe jetzt Chance City verlassen und sein Fernweh stillen - ohne Dixie, die ihn immer noch liebt?

PLÖTZLICH EINE KLEINE FAMILIE von MELISSA SENATE

Ein Mann, der als Nanny arbeitet: Die Einwohner von Wedlock Creek nennen ihn ein bisschen spöttisch "Manny". Aber Brooke, für die Nick der Retter in der Not geworden ist, nennt ihn ganz anders: mein heimlicher Traummann, der für immer bei mir und meinen Zwillingen bleiben soll …

DU HAST DICH IN MEIN HERZ GETANZT von ALLISON LEIGH

Nie wieder wird Lucy nach einer Verletzung als Ballerina auf der Bühne stehen! Aber das Leben ist trotzdem schön. Wovon sie unbedingt ihren verwitweten Nachbarn Beck Ventura überzeugen will. Und dessen süße, schüchterne Tochter, die davon träumt, Ballerina zu werden …


  • Erscheinungstag 02.06.2020
  • Bandnummer 84
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748104
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kathy Douglass, Susan Crosby, Melissa Senate, Allison Leigh

BIANCA EXTRA BAND 84

KATHY DOUGLASS

Küss mich, wenn es Sterne regnet

Nie wieder Liebe! Das hat Trent sich nach dem Tod seiner Frau geschworen. Aber ausgerechnet die verführerische Carmen bringt seinen Entschluss in Gefahr. Die Frau, der er die Schuld an Annas Tod gibt …

SUSAN CROSBY

Immer die Brautjungfer, niemals die Braut?

Fasziniert beobachtet Joe, wie Dixie sich vor dem Spiegel ein Brautkleid anhält. Vor einem Jahr haben sie sich getrennt. Woher kommt dann plötzlich seine Sehnsucht, sie im Brautkleid zu sehen?

MELISSA SENATE

Plötzlich eine kleine Familie

Nick hat seinem sterbenden Freund das Versprechen gegeben, die schöne Brooke und ihre Zwillinge zu suchen. Aber als er die drei findet, will er am liebsten gar nicht mehr weg von dieser kleinen Familie …

ALLISON LEIGH

Du hast dich in mein Herz getanzt

Seinen Ehering hat der verwitwete Beck auch nach zwei Jahren nicht abgelegt. Bis nebenan eine zierliche Ballerina einzieht – und sich direkt in sein Herz tanzt. Doch Lucy will nur einen Sommer bleiben …

1. KAPITEL

Als Carmen Shields das Blaulicht im Rückspiegel sah, stöhnte sie auf. Der schlimmste Tag ihres Lebens wurde noch schlimmer.

„Hoffentlich sind alle Papiere in Ordnung“, murmelte sie und hielt am Straßenrand. Nachdem sie in Charlotte, North Carolina, gelandet war, hatte sie ihren hastig gepackten Koffer im Auto verstaut und war sofort losgefahren.

Tränen liefen ihr über die Wangen. Seit sie gestern im Sweet Briar Herald vom Tod ihrer Mutter gelesen hatte, weinte sie nahezu ununterbrochen. Obwohl Carmen in New York lebte, hatte sie die Zeitung ihrer Heimatstadt als einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit abonniert. Wie oft hatte sie wohl nach dem Telefonhörer gegriffen und dann doch wieder aufgelegt? Die Angst, zurückgewiesen zu werden, war übermächtig gewesen. Und jetzt war es zu spät.

Sie wischte sich die Tränen ab und wühlte in ihrer Handtasche nach dem Führerschein und dem Zulassungspapier.

Im Außenspiegel sah sie, wie ein dunkelhäutiger Mann mit kurzem schwarzem Haar aus dem Streifenwagen stieg. Er schaute auf ihr Kennzeichen, bevor er in ein Mikrofon an seiner Schulter sprach. Hochgewachsen und muskulös wirkte er äußerst selbstsicher.

Wenn der Polizist sich jetzt nicht beeilte, würde sie nicht rechtzeitig in die Kirche huschen können, um sich unbemerkt in die letzte Reihe zu setzen. Bei der Vorstellung, beim Beerdigungsgottesdienst von ihrem Vater entdeckt zu werden, zog sich in ihr etwas zusammen. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie für ihn nicht mehr seine Tochter war, als er sie vor sieben Jahren aus dem Haus geworfen hatte. Sie hatte sich zu oft Ärger eingehandelt und ihn blamiert. Der Unfall hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Wahrscheinlich würde ihr Vater sie nicht persönlich aus der Kirche befördern, sondern sie vielmehr durch jemand anderen von der Beisetzung entfernen lassen. Aber diesmal würde sie sich nicht daran hindern lassen, sich von ihrer Mutter zu verabschieden.

Sie unterdrückte den Impuls, auf die Hupe zu drücken, und schaute wieder in den Außenspiegel. Der Polizist musste es bemerkt haben, denn er bat sie mit erhobenem Zeigefinger um Geduld. Dann notierte er sich etwas. Carmen holte tief Luft. Ihren ersten und einzigen Konflikt mit dem Gesetz hatte sie mit achtzehn erlebt, und der reichte fürs Leben.

„Ihren Führerschein, bitte.“

Er war so leise an die Fahrertür getreten, dass sie erschrak. Rasch reichte sie die Karte nach draußen.

„Sonnenbrille.“

Sie blinzelte. „Wie bitte?“

„Bitte nehmen Sie die Sonnenbrille ab.“

Hastig legte sie diese aufs Armaturenbrett.

„Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe?“, fragte der Officer. Er schien sie auch nicht zu erkennen. Kein Wunder, sie sah nicht mehr so aus wie vor sieben Jahren.

„Nein.“ Sie suchte an seiner Uniform nach einem Namensschild. Er trug keins. Auch das noch, sie war anscheinend vom Polizeichef persönlich gestoppt worden. Natürlich war es nicht mehr der alte, humorlose, übergewichtige Dale Muldoon, der vor sieben Jahren Chief gewesen war. Den hatte ihr Vater in der Tasche gehabt, und der Mann hätte nichts unternommen, ohne es vorher mit Charles Shields abzusprechen. Sie konnte nur hoffen, dass sein Nachfolger eine unabhängigere Persönlichkeit war.

Trenton Knight sah die junge Frau an. „Sie sind in einer Fünfunddreißig-Meilen-Zone fünfundvierzig gefahren. Kurz vor einer Grundschule.“

„Es tut mir leid. Ich habe nicht gemerkt, dass ich zu schnell fahre.“

„Wir nehmen Geschwindigkeitsübertretungen sehr ernst.“

„Es tut mir leid“, wiederholte sie.

Trent glaubte ihr, aber irgendetwas mit ihr stimmte nicht. Jung, makellose goldbraune Haut und hohe Wangenknochen – bildhübsch. Ihre kaffeebraunen Augen waren gerötet, die Unterlippe zitterte. Er roch keinen Alkohol, aber das hieß nicht, dass sie fahrtüchtig war.

Er schob ihren Führerschein in die Brusttasche und trat zurück. „Bitte steigen Sie aus, Ma’am.“

Ihre Augen wurden groß. „Können Sie mir nicht einfach den Strafzettel geben und mich fahren lassen?“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme war verdächtig. „Bitte verlassen Sie das Fahrzeug.“

Seufzend stieg sie aus und starrte ihn an, als würde sie auf weitere Anweisungen warten. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter und war konservativer gekleidet, als er erwartet hatte. Der Wind blies ihr das schulterlange Haar in die Augen, und sie strich es mit einer zierlichen Hand nach hinten.

Sie trug ein schwarzes Seidentop und einen langen schwarzen Rock. Er warf einen Blick in den Wagen. Eine schwarze Jacke hing hinter der Fahrertür.

Ihre Augen waren vom Weinen gerötet – keine Frage, sie trauerte um einen geliebten Angehörigen. Er kannte den Schmerz nur zu gut, denn er hatte seine Frau verloren.

„Brauchen Sie noch etwas von mir, Chief?“

„Nein.“ Jetzt nicht mehr.

„Darf ich dann bitte weiterfahren? Ich bin auf dem Weg zu einer Beisetzung“, bestätigte sie seine Überlegung. „Wenn ich nicht bald fahre, komme ich zu spät.“ Sie drehte den Kopf leicht zur Seite und strich über ein Augenlid. „Ich halte mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und zahle die Strafe, bevor ich wieder abreise. Ich verspreche es.“

Ihre leicht heisere Stimme brach beim letzten Wort. Er entschied sich, ihr keinen Strafzettel zu verpassen. So gnadenlos verhielt selbst er sich nicht.

„Diesmal belasse ich es bei einer Verwarnung. Ihre Familie würde nicht wollen, dass die nächste Beisetzung Ihre ist.“

„Danke.“

Er schaute auf ihren Führerschein, und ihm blieb urplötzlich das Herz stehen.

Carmen Shields. Er sprach mit der Frau, die den Tod seiner Frau zu verantworten hatte. Sie war zwar nicht selbst gefahren, aber sie hatte im Wagen gesessen und zugelassen, dass der Fahrer sich betrunken ans Steuer setzte.

Dass er sie nicht sofort erkannt hatte, überraschte ihn – sicher, sie sah nicht mehr aus wie der Amok laufende Teenager, dessen Gesicht sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Damals war ihr Haar rückenlang gewesen, voller Wellen und Locken, nicht seidenglatt bis zu den schmalen Schultern. Und sie hatte immer große Ohrringe getragen, nicht winzige Perlen. Die höfliche, respektvolle Frau vor ihm war ganz anders als der freche und streitlustige Teenager von früher.

„Carmen Shields. Ich hätte Sie erkennen sollen.“

Zorn stieg in ihm auf, als er sich an den Abend des Unfalls erinnerte.

Anna hatte Schokoladeneis zum Nachtisch gewollt, und er hatte versprochen, es nach der Arbeit zu besorgen, es dann aber angesichts der Hektik auf der Polizeiwache vergessen. Sie hatte ihn auf die Wange geküsst und war selbst losgefahren. Eine Stunde später war er angerufen worden. Jetzt stand er am Straßenrand, alles verschwamm vor seinen Augen, und sein Magen rebellierte. Hätte er an das dämliche Eis gedacht, wäre seine geliebte Anna nicht auf dieser Straße unterwegs gewesen.

„Ich kann Ihnen nicht folgen, Chief. Ich weiß nicht, wer Sie sind. Als ich noch hier in der Gegend lebte, war Dale Muldoon der Polizeichef.“

Trent ballte die Hände zu Fäusten. Dale hatte geholfen, die Ermittlungen schneller als nötig abzuschließen, was Trent ihm niemals verzeihen würde. Deshalb hatte er gegen ihn kandidiert und ihn als Polizeichef abgelöst.

„Dale hat sich vor drei Jahren zur Ruhe gesetzt.“

„Okay.“ Sie wartete noch immer darauf, dass er ihr den Führerschein zurückgab.

„Mein Name ist Trenton Knight.“

Sie blinzelte nicht einmal. Der Name sagte ihr anscheinend nichts.

„Anna Knight war meine Ehefrau.“

Noch immer keine Reaktion. Carmen Shields’ Miene veränderte sich kein bisschen. Hatte sie vergessen, wer bei dem Unfall ums Leben gekommen war? Bedeutete es ihr so wenig, dass sie sich nicht einmal an Annas Namen erinnerte?

„Sie wurde vor sieben Jahren getötet, als ein betrunkener Teenager am Steuer eines SUV ein Stoppschild überfahren und ihren Wagen gerammt hat. Sie waren damals die Beifahrerin!“

Carmen schnappte nach Luft und hielt sich an ihrem Wagen fest. „Die Frau im anderen Wagen ist gestorben?!“

„Ja. Zwei Töchter haben ihre Mutter verloren.“

„Das … wusste ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kannte ihren Namen nicht. Niemand wollte mir etwas erzählen.“

Als Carmen sofort nach Abschluss der Ermittlungen aus der Stadt verschwunden war, hatte Anna noch um ihr Leben gekämpft. Das war sieben Jahre her. Hatte niemand aus der Shields-Familie es für nötig gehalten, ihr von Annas Tod zu erzählen?

Er biss die Zähne zusammen. „Sie hat neunzehn Tage darum gekämpft, bei der Familie bleiben zu können, die sie liebte. Doch sie war einfach zu schwer verletzt. Sie ist in meinen Armen gestorben.“

Carmen streckte beide Hände aus. Er wich zurück.

Sie faltete die Hände wie zum Gebet. „Oh Gott. Das alles tut mir so leid. Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun.“

„Ihre Entschuldigung ändert nichts.“ Er war versucht, sie länger hier festzuhalten, damit sie zu spät zur Beisetzung ihrer Mutter kam. Aber Anna hätte es niemals gutgeheißen. Er würde die Erinnerung an sie nicht beschmutzen, indem er jetzt seinem Hass nachgab.

Er ließ den Führerschein in Carmens Hand fallen. „Fahren Sie in meiner Stadt nicht zu schnell.“ Entschlossen ging er davon, aber es war zu spät. Diese Frau wiederzusehen, hatte die nie richtig verheilte Wunde in seinem Herzen wieder aufgerissen.

Carmen stand abseits der kleinen Gruppe von Trauernden am Grab ihrer Mutter. Sie war nahe genug gewesen, um die Zeremonie zu hören, aber auch weit genug, um nicht bemerkt zu werden. Jetzt war alles vorüber. Der Geistliche hatte das letzte Gebet gesprochen, und die letzte weiße Rose war auf den Sarg gelegt worden, bevor er in die Erde hinabgelassen wurde. Ein letzter Nachbar umarmte ihre Schwestern, klopfte ihrem Vater auf die Schulter und ließ das traurige Trio allein.

Ein Eichhörnchen huschte über den Rasen. Carmen schaute zum blauen Himmel hinauf. Es war ein wunderschöner Tag, und dass ihre Mutter ihn nicht erleben konnte, brach ihr das Herz.

Sie hatte so viel wertvolle Zeit mit ihrer Mutter versäumt – Zeit, die sich nie nachholen ließ. Könnte sie doch nur in die Vergangenheit zurückkehren und ändern, was passiert war. Dann hätte sie sich von den anderen Jugendlichen ferngehalten, wäre zur Schule gegangen und anschließend sofort nach Hause.

Aber die Fehler der Vergangenheit ließen sich nicht rückgängig machen. Sie konnte nur nach vorn schauen und bessere Entscheidungen treffen.

Langsam näherte Carmen sich ihrer Familie. Obwohl sie ihren Vater zwischen ihren beiden Schwestern vor der Kirche bereits kurz gesehen hatte, war sie schockiert, wie sehr er sich verändert hatte. Charles Shields sah aus, als könnte ein Windstoß ihn umwehen. Früher hatte er jeden Raum beherrscht, jetzt wirkte er verloren.

„Daddy“, sagte Carmen mit brechender Stimme. Niemand drehte sich um, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie geflüstert hatte. Sie räusperte sich. „Daddy.“

Ihre Familie wandte sich um. Charlotte, ihre älteste Schwester, sah sie mit ausdruckslosen Augen an, das Gesicht voller verlaufener Wimperntusche. Charmaine, die mittlere Schwester, schrie leise auf, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

Ihr Vater kehrte ihr den Rücken zu und ging zur wartenden Limousine.

„Daddy, bitte!“, rief Carmen verzweifelt. „Bitte, sprich mit mir.“ Sie hielt sich an einem Grabstein fest, als ihre Beine nachzugeben drohten. Er hatte durch sie hindurchgeblickt und war davongegangen, als wäre sie eine Fremde.

Charlottes eiskalter Blick bohrte sich in Carmen. „Daddy trauert. Er braucht dieses Drama jetzt nicht.“

Drama?! Ich will nur mit ihm reden.“ Und ich würde mich am liebsten von ihm in die Arme nehmen lassen, wie vor all den Jahren als kleines Mädchen, wenn ich vom Fahrrad gefallen war und mir die Knie aufgeschürft hatte.

Damals war ihr Vater ihr Held gewesen. Sie hatte ihn vergöttert, bis sie herausgefunden hatte, dass seine Liebe nicht bedingungslos war. Solange sie sich so kleidete, wie er wollte, und mit denjenigen Menschen Umgang hatte, die er für sie aussuchte, gehörte seine Liebe ihr. Aber wenn sie rebellierte und eigene Entscheidungen traf, dann löste sich seine Liebe auf wie Tau in der Sonne. Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, dass er sie irgendwann wieder willkommen heißen würde. Doch sein Zorn und seine Enttäuschung brannten noch so heiß wie vor sieben Jahren. Er hatte anscheinend tatsächlich aufgehört, sie zu lieben.

Charmaine unternahm keinen Versuch, sie zu berühren. „Carmen, bitte, versuch uns zu verstehen. Daddy leidet. Er und Mama waren fünfunddreißig Jahre verheiratet. Er steht noch unter Schock. Dich wiederzusehen, war noch ein weiterer Schock.“

„Und ich habe meine Mutter verloren“, erwiderte Carmen.

„Typisch“, fauchte Charlotte. „Nach allem, was du uns angetan hast, denkst du nur an dich selbst.“

„Das ist doch nicht wahr!“, protestierte Carmen. „Ich weiß, ihr trauert ebenso sehr wie ich. Ich dachte, wir könnten einander helfen, den Schmerz zu ertragen.“

Charlotte straffte sich. „Ist das dein Ernst? Du glaubst, du könntest einfach hier auftauchen und so tun, als hättest du keine Schande über unsere Familie gebracht?“

Charlotte war immer wie die weibliche Version ihres Vaters gewesen – hart, gnadenlos und stolz. Charles verlangte, dass Carmen seinen unmöglich hohen Ansprüchen genügte. Als sie begriff, dass nur marionettenhafter Gehorsam ihn zufriedenstellen würde, hörte sie auf, es auch nur zu versuchen. Sie fing an, die Schule zu schwänzen und mit einer Gruppe von Unruhestiftern abzuhängen. Obwohl die Phase nicht lange dauerte, wirkte sie sich fatal auf ihr Leben aus. Ihr Vater hatte für den Kongress kandidieren wollen, als sich der Unfall ereignete und seinen Traum zerstörte. Offenbar hatte er ihr noch immer nicht verziehen.

Auch ihre Schwestern würden sie niemals willkommen heißen. Charlotte brauchte Charles’ Anerkennung, und Charmaine war zu ängstlich, um sich gegen ihren Vater zu stellen. Carmen sah den beiden nach, als sie sich zu ihrem Vater in die Limousine setzten und der Wagen davonfuhr. Einmal mehr war sie allein, getrennt von der Familie, die Carmen als Mitglied nicht wollte. Sie gab sich einen Ruck und trat ans Grab ihrer Mutter. In der hohen Vase neben der Grube standen noch mehrere Rosen, und sie nahm die schönste heraus. Sie schnupperte daran und küsste die Blüte. Dann schloss sie die Augen, betete um Kraft und ließ die Blume ins Grab fallen.

„Leb wohl, Mama. Ich habe dich auch dann noch geliebt, als du aufgehört hast, mich zu lieben.“

Sie drehte sich um und ging mit schweren Schritten zum Mietwagen. Sie hatte sich gerade hineingesetzt, als ihr Handy läutete. Dankbar griff sie danach. Der Anruf bewahrte sie davor, zu verzweifeln oder – schlimmer noch – sich dem Selbstmitleid hinzugeben.

„Hallo?“

„Wie geht es dir, Carmen?“

Damons warme Stimme umfing sie und spendete ihr den Trost, den ihre Familie ihr verweigert hatte, und sie spürte, wie ihre Anspannung etwas nachließ. Er war die starke Vaterfigur, die sie gebraucht hatte. Ohne ihn hätte sie die vergangenen Jahre nicht überlebt.

Sie war obdachlos, verzweifelt und allein in New York gewesen, als er sie gefunden hatte. Er hatte ihr einen Job als Sekretärin in seiner Kunststofffirma gegeben und ihr eine Bleibe besorgt. Und er hatte ihre Ausbildung finanziert. Kurz gesagt, er hatte ihr das Leben gerettet. Später hatte sie erfahren, dass er vielen anderen Mädchen geholfen und ihnen das gegeben hatte, war er seiner eigenen Tochter nicht hatte geben können.

„Ganz okay.“

Er schwieg, und Carmen wusste, dass er ihr nicht glaubte.

„Na ja, okay ist vielleicht etwas übertrieben“, gab sie zu.

„Hast du deinen Vater getroffen?“

„Ja. Und er hat mir klargemacht, dass er nichts mit mir zu tun haben will. Er hat also ernst gemeint, was er gesagt hat, als er mich aus dem Haus warf. Ich bin nicht mehr seine Tochter.“ Die letzten Worte gingen im Schluchzen unter. Sie wischte sich die Augen mit dem Ärmel ab.

„Hat er das gesagt?“

Sie schluckte mühsam, holte ein Taschentuch aus der Handtasche und putzte sich die Nase. „Nein, er hat nichts gesagt.“ Sie nahm sich ein frisches Tuch. „Und erzähl mir nicht, dass er leidet, weil er seine Frau verloren hat. Ich habe meine Mutter verloren und leide auch.“

„Das wollte ich überhaupt nicht sagen.“

„Gut. Bist du zurück in den Staaten?“

„Ich bin heute Morgen angekommen. Ich wünschte nur, ich hätte bei dir sein können, damit du das nicht allein hättest durchmachen müssen.“

Carmen wünschte es auch. Aber als Damon angeboten hatte, früher von seiner Geschäftsreise zurückzukommen und sie nach Sweet Briar, Virginia, zu begleiten, hatte sie ihm erklärt, das sei nicht nötig. Sie war naiv gewesen und hatte geglaubt, dass ihre Familie sie mit offenen Armen aufnehmen würde.

„Kannst du mich vom Flughafen abholen?“, fragte sie.

„Das habe ich doch schon zugesagt.“

„Ich meine heute Abend, sobald ich einen Flug nach Hause bekomme.“

„Heute Abend?!“

„Ja.“

Damon seufzte. „Was ist denn passiert, Schatz?“

„Daddy ist nicht wie du. Er hält nichts von einer zweiten Chance. Er will keinen einzigen Tag mehr mit mir zusammen sein. Nicht wie du mit Kimberley.“

Damons Tochter Kimberley war vor zwölf Jahren bei einem Badeunfall ums Leben gekommen – sie wäre jetzt ein paar Jahre jünger als Carmen gewesen.

„Carmen, dein Vater ist in Trauer“, sagte Damon leise. „Und er steht unter Schock. Lass ihm Zeit. Hast du mir nicht erzählt, dass du deine Familie wieder an deinem Leben teilhaben lassen möchtest? Wie willst du das denn erreichen, wenn du ihnen keine Chance dazu gibst? Du wirst nie wissen, ob eine Versöhnung möglich ist, wenn du wegläufst. Versuch es. Ich bin ja nur einen Anruf entfernt. Wenn du mich brauchst, nehme ich das erste Flugzeug. Okay?“

Sie atmete tief durch. „Okay. Ich bleibe. Vorläufig.“

„Ich bin mir sicher, es ist die richtige Entscheidung.“

„Da ist noch etwas“, sagte sie.

„Was?“

„Erinnerst du dich an den Unfall, von dem ich dir erzählt habe?“

„Natürlich.“

Sie schloss die Augen. „Die Fahrerin des anderen Wagens ist gestorben.“

„Oh, Carmen. Weißt du das genau?“

„Ja. Ich bin heute ausgerechnet dem Witwer begegnet.“ Ungebeten schoss ihr Trenton Knights Anblick durch den Kopf. Seine Trauer war zu spüren gewesen. Er trug einen Ehering, und sie war überzeugt, dass er noch von der Frau stammte, die bei dem Unfall gestorben war. Sein Schmerz war zu frisch und sein Zorn zu akut, als dass Carmen hätte glauben können, er könnte mit einer anderen Frau sein Glück gefunden haben. „Sie hatte zwei kleine Mädchen.“ Sie schluchzte. „Ich habe mich bei ihm entschuldigt, aber er hat es nicht angenommen.“

„Wenn es dir wirklich leidtut, reichen Worte nicht aus.“

„Ich weiß. Danke, Damon. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.“

„Ich bin immer für dich da.“

„Ich rufe dich morgen an.“

Sie saß eine Weile da und dachte nach. Damon hatte recht. Sie musste etwas tun. Und sie wusste, wo sie damit anfangen würde. Sie stieg aus und straffte die Schultern. Um nach vorn zu schauen, musste sie zurückblicken.

Es dauerte eine Weile, bis sie Anna Knights Grab gefunden hatte. Der Stein war sauber, und mitten auf dem Grab wuchs ein pinkfarbener Rosenstrauch. Carmen holte tief Luft.

„Ich bin Carmen Shields. Ich habe gerade erst erfahren, dass du bei dem Unfall damals ums Leben gekommen bist.“ Sie schluckte, machte aber tapfer weiter. „Das wusste ich nicht. Es tut mir so entsetzlich leid. Ich bin deinem Ehemann begegnet. Er schien traurig zu sein.“ Und wütend, hätte sie hinzufügen können, ließ es aber. „Ich verspreche, ich werde mein Bestes für deine Mädchen geben. Ich werde alles tun, um ihnen zu helfen.“

Sie erhob sich, drehte sich um und stand Chief Knight gegenüber.

2. KAPITEL

„Was tun Sie hier?“

Carmen sah das zornige Gesicht des Polizeichefs und schaute rasch zur Seite, um nach einer Antwort zu suchen. Er stand zwischen zwei Mädchen, die vermutlich seine Töchter waren. Die Jüngere war etwa acht, hielt einen Bogen pinkfarbenes Bastelpapier in der Hand und sah Carmen neugierig an, ein Lächeln auf dem hübschen Gesicht.

Das andere Mädchen war älter, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Sie war groß und schmal, die Hände in den Gesäßtaschen der engen Jeans. Sie bedachte Carmen mit einem kurzen Blick und wandte sich seufzend ab.

Endlich tat Carmen, was sie bisher vermieden hatte. Sie sah Chief Knight an. Er trug eine dunkle Hose und einen weißen Pullover. Und er hatte einen Strauß Wildblumen und einen großen Luftballon mit der Aufschrift Happy Birthday in den Händen.

Carmen erstarrte. Sie hatte etwas für ihn und seine Familie tun wollen, aber Ort und Zeitpunkt waren eindeutig falsch. Sie murmelte eine Entschuldigung und wollte davongehen, aber schon beim ersten Schritt versank ihr Absatz im feuchten Gras, und sie stolperte. Sie versuchte, sich irgendwo festzuhalten, griff jedoch ins Leere.

Leise fluchend ließ Chief Knight den Strauß fallen, packte sie an den Oberarmen und half ihr auf eine Steinbank unter einem Baum.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie.

Er beugte sich hinab, damit nur sie ihn hören konnte. „Sagen Sie das nie wieder zu mir. Ihre angebliche Reue ändert gar nichts. Selbst wenn ich dumm genug wäre, sie Ihnen abzunehmen. Verstanden?“

Er ließ sie los und ging zum Grab zurück.

„Wer bist du?“ Das kleine Mädchen stand jetzt vor ihr und betrachtete sie voller Neugier. In ihrem leuchtend gelben Sommerkleid und mit zwei dazu passenden Schleifen im Haar sah sie aus wie ein Engel. Ihr Blick zuckte von Carmen zu ihrem Vater, der reglos dastand und ganz offenbar um seine Beherrschung rang.

„Mein Name ist Carmen. Carmen Shields.“

„Kanntest du meine Mommy?“

„Nein“, gab Carmen zu und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Herzukommen war eindeutig ein Fehler gewesen. Dieser Moment gehörte allein der Familie.

„Robyn, warte bei deiner Schwester.“

„Okay, Daddy.“ Das kleine Mädchen machte einen Schritt, drehte sich wieder zu Carmen um und lächelte traurig. „Mommy hat uns sehr lieb gehabt“, sagte sie, bevor sie zu ihrer Schwester ging.

Plötzlich schämte Carmen sich so sehr, dass es ihr die Luft nahm. Sie zog ihre Jacke glatt und wich Chief Knights Blick aus. „Ich wollte nicht stören.“

Als sie sich zum Gehen wandte, stellte er sich ihr in den Weg. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Was tun Sie am Grab meiner Frau?“

Carmen schüttelte den Kopf, ging um ihn herum und eilte davon.

Trenton sah Carmen nach, als sie den Friedhof verließ.

„Warum war die Lady hier, Daddy?“, fragte Robyn, während sie ihre kleine Hand in seine schob.

„Ich weiß es nicht.“

„Wer war sie?“

„Ich weiß, wer sie war“, sagte Alyssa.

„Wirklich?“ Hatte sie Carmen Shields erkannt? Sie war damals erst sieben gewesen.

„Ja.“ Mehr sagte Alyssa nicht. Sie warf das Haar über die Schulter. Mit dreizehn hatte sie beschlossen, dass ein Pferdeschwanz zu kindisch für sie war.

„Wer ist sie denn?“, wollte Robyn wissen und hopste ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Sag schon.“

Alyssa konzentrierte sich ganz auf ihre Schwester, als wollte sie ihren Vater aus dem Gespräch ausschließen. „Sie ist eine von Mrs. Shields’ Verwandten. Du weißt schon, die Lady, die immer Kekse und Kuchen ins Jugendzentrum gebracht hat.“

„Sie war nett. Sie hat mir immer einen Extrakeks gegeben“, sagte Robyn. Ihr Blick wurde ernst. „Sie ist gestorben.“

„Ich weiß“, sagte Trenton. Rachel Shields war eine freundliche Frau gewesen. Einige Tage nach Annas Beisetzung war sie in die Polizeistation gekommen und hatte sich für die unglückliche Rolle entschuldigt, die ihre Tochter beim Tod seiner Frau gespielt hatte. Er hatte sie stehen lassen, bevor sie zu Ende sprechen konnte.

Später hatte er herausgefunden, dass sie dafür gesorgt hatte, dass die Frauen ihrer Kirche Mahlzeiten für seine Familie zubereiteten. Acht Wochen lang war pünktlich um fünf Uhr nachmittags ein komplettes Abendessen in sein Haus geliefert worden. Sie hatte auch organisiert, dass jeden Samstag Frauen kamen, um sauber zumachen und die Wäsche zu waschen. Als alleinerziehender Vater einer einjährigen und einer siebenjährigen Tochter war er dafür dankbar gewesen.

„Kommt schon. Lasst uns Mommys Geschenke hinlegen.“

Sie erwähnten Carmen nicht mehr, während sie sich um Annas Grab versammelten. Robyn lehnte das Bild, das sie gemalt hatte, an den in Granit gemeißelten Namen ihrer Mutter, und Alyssa band den Luftballon an einem schweren Stein fest und legte ihn auf den Grabstein. Anna wäre heute achtunddreißig Jahre alt geworden. Sie war viel zu jung gestorben.

Trent tat alles in seiner Macht Stehende, um bei seinen Töchtern die Erinnerung an Anna wachzuhalten, aber war sich nicht sicher, ob es ihm gelang. Alyssa war klein gewesen, als Anna gestorben war. Robyn war ein Baby gewesen und hatte keine eigenen Erinnerungen. Er sagte ihnen dauernd, wie sehr ihre Mutter sie beide geliebt hatte, aber in letzter Zeit kamen ihm Zweifel, ob das genug war.

Als Anna in seinen Armen gestorben war, hatte er ihr versprechen müssen, dass er für ihre Kinder eine liebevolle Stiefmutter finden würde. Es war das einzige Versprechen an sie, das er nicht gehalten hatte. Er hatte sein Herz mit ihr zusammen begraben. Es gab nichts mehr, das er einer anderen Frau hätte geben können.

„Vergiss nicht, du kannst mich jederzeit anrufen“, sagte Carmen. Sie wartete noch einen Augenblick, dann legte sie auf. Sie hatte auf den Anrufbeantwortern ihrer Schwestern lange Nachrichten hinterlassen. Sie hatte auch versucht, Voicemails auf den Handys zu hinterlassen, aber Charlottes Nummer gehörte jetzt zu einem Fahrradkurierdienst. Charmaines alte Nummer war inzwischen die eines Mannes, dessen feindselige Freundin gedroht hatte, Carmen fertigzumachen, wenn sie ihren Freund noch einmal anrufen sollte.

Carmen setzte sich in einen gestreiften Sessel, sah sich um und hoffte, etwas zu entdecken, das sie von ihren deprimierenden Gedanken abzulenken vermochte. Obwohl sie sich in einem der kleineren Zimmer im Bed-and-Breakfast-Hotel befand, fehlte es an nichts. Das breite Bett stand am offenen Fenster, und ein nach Rosen duftender Luftzug ließ den Vorhang wehen.

Unter anderen Umständen hätte sie sich hier wohlgefühlt. Jetzt hatte sie das Gefühl, als würden die Wände auf sie zukommen. Sie sprang auf, wühlte in ihrem Koffer und zog eine weiße Hose und ein dunkelrotes Top an. Dann schnappte sie sich die Handtasche und eilte ins Freie.

Sie schlenderte die Straßen entlang, atmete die saubere Luft ein und ertappte sich dabei, wie sie lächelte. Sie überquerte die Main Street und blieb vor einem Restaurant namens Heaven on Earth stehen. Ihr Magen knurrte. Seit dem Tee und Muffin im B&B hatte sie nichts zu sich genommen.

Sie ging hinein, wurde an einen freien Tisch geführt und bekam eine Speisekarte gereicht. Carmen überflog sie, als eine Kellnerin erschien.

„Hi, ich bin Joni und bediene Sie heute.“

„Hallo. Was können Sie mir empfehlen?“, fragte Carmen.

„Mein Bruder Brandon ist Koch und Betreiber, also muss ich sagen, dass alles gut ist.“

Carmen lächelte. „Stimmt das denn auch?“

„Ganz ehrlich, ich kann alles empfehlen. Was mögen Sie? Ich nenne Ihnen gerne meine Lieblingsgerichte.“

„Na ja, ich esse kein Rindfleisch, aber ich mag alles andere.“

„In diesem Fall empfehle ich die Lachsfilets mit Brunnenkresse-Mayonnaise oder Bulgogi vom Lachs, also koreanisch mariniert und über offenem Feuer zubereitet, mit Pak Choi und Pilzen. Wenn Sie jedoch lieber Huhn möchten, macht Brandon Ihnen ein tolles Pfannengericht mit Zitronensoße.“

„Das klingt alles köstlich. Ich nehme das Huhn.“

Joni hatte nicht übertrieben. Carmen schmeckte es himmlisch.

Als die Kellnerin kam, um den Tisch abzuräumen, sparte Carmen nicht mit Lob.

„Ich gebe das Kompliment an Brandon weiter. Aber ich warte damit bis zum Feierabend, weil er sich so viel darauf einbildet, dass er vielleicht vor Stolz platzt.“

Carmen lächelte. Jonis Freundlichkeit tat gut, nachdem ihre eigene Familie Carmen derart eisig empfangen hatte.

„Was bringt Sie in unsere kleine Stadt?“

„Die Beisetzung meine Mutter.“

Joni wurde schlagartig ernst. „Das tut mir leid.“

„Danke.“

Joni musterte sie. „War Ihre Mutter Rachel Shields?“

„Ja.“

„Sie sehen ihr ähnlich. Sie war eine wunderbare Frau.“

„Danke.“

„Wie lange bleiben Sie in der Stadt?“

„Ich weiß es noch nicht“, gab Carmen zu.

„Wenn Sie Zeit haben oder einfach mal genug von der Familie haben, kann ich Ihnen einen perfekten Vorschlag machen.“

„Ich bin keine gute Kellnerin.“

„Soll das ein Witz sein?“ Joni lachte. „Sie sind viel zu nett, um Sie meinem Bruder auszusetzen.“

Carmen hörte heraus, dass Joni ihren Bruder liebte, und spürte einen Anflug von Neid. „Was schwebt Ihnen vor?“

„Sie könnten ehrenamtlich im Jugendzentrum aushelfen. Es ist das große graue Gebäude an der Ecke Maple und Oak.“

Das Haus war ihr bereits aufgefallen.

In ihrer Jugend hatte es für Teenager nur das Kino mit einer Leinwand und den Strand gegeben. Meistens hatte sie sich am Strand aufgehalten. Unbeaufsichtigt, und zu oft war Alkohol im Spiel gewesen. Sie war der lebende Beweis für die Probleme, zu denen ein solches Verhalten führte.

Carmen fand es großartig, dass es jetzt ein Jugendzentrum gab. Gern würde sie Kinder davor bewahren, wie sie damals auf Abwege zu geraten. Aber sie war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war. „Ich weiß nicht recht.“

„Warum nicht?“, fragte Joni erstaunt. „Ich leite das Zentrum und freue mich über jede Hilfe.“

Carmen legte die Serviette auf den Tisch. „Ich bin Carmen Shields.“

Joni zuckte mit den Schultern, als würde ihr der Name nichts sagen.

„Ich war Beifahrerin in dem SUV, der vor sieben Jahren mit dem Wagen von Chief Knights Frau zusammengestoßen ist.“

„Oh.“ Joni zog einen Stuhl hervor und setzte sich.

„Er würde bestimmt nicht wollen, dass ich mit den Kindern arbeite. Andere sehen das vielleicht auch so.“

„Was ist passiert?“

Carmen schloss die Augen. Die Erinnerung an jenen Abend war so deutlich, als wäre es gestern geschehen. „Meine Freunde waren betrunken. Wir sind zu schnell gefahren, haben ein Stoppschild übersehen und sind mit einem anderen Wagen kollidiert.“

„Aber Sie haben nicht am Steuer gesessen.“

„Das stimmt, aber ich hätte es tun sollen. Ich war nüchtern.“ Donny hatte ihr die Schlüssel nicht geben wollen. Trotzdem war sie eingestiegen, weil sie geglaubt hatte, ihn dazu bringen zu können, langsam zu fahren.

Joni dachte kurz nach. „Wie alt waren Sie?“

„Achtzehn.“

„Sie waren jung und dumm. Wie wir alle.“

„Das ist keine Entschuldigung. Drei Menschen sind tot.“ Donny, Jay und eine vollkommen unschuldige Ehefrau und Mutter.

„Das ist tragisch, aber Sie sind nicht gefahren. Ich verstehe nicht, wie jemand Ihnen die Schuld geben kann.“

„Chief Knight tut es.“

Joni nahm Carmens Hand. „Chief Knight hat seine Frau verloren. Er braucht einen Sündenbock. Ich verstehe nur nicht, warum er Sie und nicht den Fahrer beschuldigt.“

„Der Fahrer ist am Unfallort gestorben.“ Carmen wusste, dass sie juristisch gesehen nicht verantwortlich war. Aber moralisch gesehen hatte sie sich falsch verhalten. „Ich hätte mir mehr Mühe geben können, Donny die Schlüssel abzunehmen. Aber ich wollte unbedingt dazugehören. Ich hatte es endlich geschafft, von den coolen Kids akzeptiert zu werden.“

„Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Sie können nur daraus lernen und es besser machen. Ihre Vergangenheit wird Sie für die Kinder im Jugendzentrum glaubwürdiger machen als jede andere.“ Joni blinzelte. „Es sei denn, Sie sind mit Ihrer Familie vollauf beschäftigt. Sie sind ja nur eine kurze Weile hier, also werden Sie wahrscheinlich viel Zeit mit ihnen verbringen.“

„Nicht so viel.“ Wenn ihr Vater seine Meinung nicht änderte, würde sie die Aussätzige bleiben. „Ich würde gern mit den Kindern arbeiten.“

„Ist das ein Ja?“

Carmen lächelte. „Sagen Sie mir einfach, wann. Dann bin ich da.“

„Welche Aktivitäten liegen Ihnen?“

„Ich bin Künstlerin. Wenn es solche Kurse oder Projekte gibt, könnte ich aushelfen.“

„Wir haben einen Kunstraum. Sie wären ideal dafür.“

„Danke.“

„Was für eine Art von Künstlerin sind Sie?“

„Ich male. Und ich hatte das Glück, ein paar Arbeiten verkaufen zu können.“

„Sind Sie berühmt?“, fragte Joni.

Carmen lachte. „Wohl kaum. Ich habe einfach nur Glück gehabt.“ Als sie anfing, hatte Damon seine Kontakte genutzt, um ihrer Arbeit Aufmerksamkeit zu verschaffen.

„Wenn ich Ihren Namen googele, finde ich dann eine heimliche Berühmtheit?“

Carmen schüttelte den Kopf. „Ich male unter meinen Vornamen. Carmen Taylor.“

„Dann sehen wir uns morgen.“

„Morgen“, wiederholte Carmen voller Vorfreude.

Es würde ein besserer Tag werden.

3. KAPITEL

„Ich gehe nicht hin.“ Alyssa verschränkte die Arme. Noch im Schlafanzug umrundete sie den gestreiften Sessel, in dem Anna immer gesessen hatte, und nahm auf dem Couchtisch Platz. Herausfordernd sah sie ihren Vater an.

Trenton atmete tief durch. „Du kannst nicht den ganzen Tag allein zu Hause bleiben.“

„Warum nicht? Ich bin kein Baby mehr.“

Er kannte den Trick. Sie drehte den Spieß um, damit er sich rechtfertigen musste. Heute ließ er sich nicht darauf ein. „Das habe ich auch nicht behauptet.“

„Ich bin vierzehn.“

„Ich weiß.“

„Warum kann ich dann nicht zu Hause bleiben?“

Er rieb sich das Kinn. „Weil ich es nicht möchte. Und ich verstehe nicht, warum du unbedingt zu Hause bleiben willst. Du hattest immer Spaß im Jugendzentrum. All deine Freunde gehen hin.“

Alyssa stand auf und stemmte die Hände in die Seiten. „Ich habe keine Freunde. Dank dir!

Sie marschierte hinaus. Erst an der Treppe hielt er sie am Arm fest. „Was soll das heißen, du hast keine Freunde? Jeder mag dich.“

Alyssas stille und ernste Art machte sie vielleicht nicht gerade zur beliebtesten Schülerin, aber ihre Loyalität hatte ihr mehrere echte Freundschaften eingebracht. Sie verstand sich gut mit den meisten anderen Mädchen, auch wenn sie einander nicht besonders nahe- standen.

Alyssa hatte das atemberaubend gute Aussehen ihrer Mutter geerbt, zusammen mit der schmalen Taille und den langen Beinen. Mit zwölf und sogar dreizehn war sie noch schlaksig wie ein Fohlen gewesen, jetzt sah sie älter aus, als sie war.

„Das war vorher.“

„Vor was?“

Sie schüttelte seine Hand ab. „Bevor du die Party im Haus von Olivias Tante und Onkel aufgelöst hast. Du hast sämtliche Eltern angerufen und sogar Olivias Cousin festgenommen.“

„Weil es dort Alkohol für Minderjährige gab! Das durfte ich nicht zulassen. Erst recht nicht, dass sie betrunken nach Hause fahren. Deshalb habe ich die Eltern angerufen.“ Alyssa kannte keine Einzelheiten, aber sie wusste, dass ihre Mutter von einem alkoholisierten Teenager getötet worden war. Da musste sie doch begreifen, wie gefährlich es war, betrunken Auto zu fahren.

„Und Olivias Cousin hat Alkohol an Minderjährige ausgeschenkt.“ Er war einundzwanzig, und der Sinn seines Lebens bestand offensichtlich aus dem Feiern von Partys. Er und seine Kumpel hatten mehreren Mädchen genug Alkohol verabreicht, um ihnen die Hemmungen zu nehmen. Wer wusste, was ihnen passiert wäre, wenn Trenton nicht rechtzeitig einen anonymen Anruf bekommen hätte.

„Jedenfalls sind sie jetzt alle sauer auf mich.“

„Warum?“

Sie warf ihm ihren Du-bist-so-dumm-Blick zu. „Weil du mein Dad bist. Sie glauben, ich hätte dir von der Party erzählt. Als wäre ich ein Spitzel der Drogenfahndung. Sie haben gesagt, jeder, der auch nur mit mir redet, ist für sie gestorben.“

Trenton biss die Zähne zusammen, um nicht zu fluchen. Olivias Onkel und Tante gehörten zu den wohlhabenden Bewohnern einer der Villen auf einem privaten Golfplatz. Viele von ihnen waren der Ansicht, dass die Gesetze für sie und ihre verwöhnten Sprösslinge nicht galten.

„Wie lange geht das schon so?“

Tränen liefen über Alyssas Gesicht. „Es hat letzte Woche angefangen. Brooke hat noch mit mir gesprochen, sonst niemand. Aber jetzt ist die Schule aus, und Brooke verbringt den Sommer bei ihrem Vater in Colorado.“

„Es wird besser, warte nur ab. Jetzt zieh dich an.“ Er wollte sie umarmen, aber sie wich ihm aus.

„Du zwingst mich, hinzugehen? Nach allem, was ich dir erzählt habe? Dir ist wohl völlig egal, wie ich mich fühle?!“ Ihre Worte versetzten ihm einen Stich.

„Das stimmt nicht, aber du darfst dich nicht verstecken. Du hast nichts falsch gemacht. Das werden deine Freunde schon noch einsehen. Lass ihnen Zeit.“

„Es sind nicht mehr meine Freunde. Sie hassen mich. Und ich hasse dich!“, rief sie.

Sekunden später knallte sie ihre Zimmertür zu. Er lehnte sich ans Geländer und holte tief Luft. Obwohl er wusste, dass Alyssa es nicht so gemeint hatte, taten ihre Worte weh.

Sie hallten ihm durch den Kopf, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Dort ließ er sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen, bis er kleine Füße auf der Treppe hörte.

„Wir können los“, verkündete Robyn. Ihr strahlendes Lächeln wärmte sein Herz und machte das Atmen leichter. „Wie sehe ich aus?“

In weißen Shorts mit aufgenähten pinkfarbenen Blüten und einem passenden T-Shirt sah sie hinreißend aus. Selbst ihre Sportschuhe waren pinkfarben. Alyssa hatte ihr das Haar gebürstet und geblümte pinkfarbene Haargummis für die Pferdeschwänze verwendet. Pinkfarbene Ohrringe komplettierten das Outfit. „Du siehst aus wie auf einem Titelbild.“

Robyn umarmte ihn.

Fünf Minuten später kam Alyssa zurück, in kurzem Jeansrock und orangefarbenem Tanktop. Er verkniff sich einen Kommentar.

Auf der Fahrt zum Jugendzentrum plapperte Robyn fröhlich. Alyssa schwieg. Als Trenton auf den Parkplatz einbog, meldete sich die Zentrale. Er sprach kurz mit der Kollegin und scheuchte die Mädchen aus dem Wagen.

Ein Sattelschlepper war auf dem Highway in die Stadt mit einem SUV kollidiert, und sieben weitere Fahrzeuge waren aufgefahren. Der Auflieger hatte die Ladung verloren. Noch schlimmer, es gab Verletzte, manche lebensgefährlich.

„Ich habe einen Notfall, deshalb muss ich gleich wieder los“, sagte Trenton, als er die Mädchen anmeldete. Die grauhaarige Frau am Empfang versprach ihm, sie in die richtigen Gruppen zu bringen.

„Ich hole euch um vier ab.“ Er küsste Robyn auf die Wange, hielt sich aber von Alyssa fern. Er hatte gelernt, dass sie öffentliche Zuneigungsbekundungen für peinlich hielt.

„Bis dann, Daddy!“, rief Robyn und eilte davon.

Alyssa stand mit gesenktem Blick und verschränkten Armen da. Dann seufzte sie und drehte ihm den Rücken zu. Er wünschte, er könnte sie aufmuntern, aber ihm fiel nichts ein. Außerdem musste er zum Unfallort.

Die großmütterliche Mitarbeiterin nickte ihm zu. „Fahren Sie ruhig, Chief. Ich kümmere mich um sie.“

Trenton warf Alyssa einen letzten Blick zu und ging zum Wagen.

Carmen legte letzte Hand an ihr Kunstprojekt und betrachtete ihr Werk. Sie hatte seit Jahren keine Figur mehr geschaffen und war mit dem Ergebnis dennoch zufrieden. Da sie nicht gewusst hatte, welche Materialien sie vorfinden würde, hatte sie verschiedene Möglichkeiten für Kinder aller Altersgruppen vorbereitet.

Wie sie erwartet hatte, gab es im Jugendzentrum Farben, Pinsel und Papier. Aber sie hatte auch diverse Dinge gefunden, mit denen sich Schmuck basteln ließ.

Es klopfte an der offenen Tür. „Kann es losgehen?“

Carmen lächelte Joni und den kleinen Mädchen zu. „Kommt herein.“

„Ich habe vier angehende Künstlerinnen für dich. Die Zwillinge sind Mia und Maya. Das hier ist Juliet. Und Robyn. Sie freuen sich darauf, mit dir zu basteln.“

Carmen ließ sich nichts anmerken, als sie die Tochter des Chiefs erkannte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es ihm recht war, wenn ausgerechnet sie sein Kind betreute.

„Ich erinnere mich an dich. Wir haben uns auf dem Friedhof gesehen. Ich bin Robyn.“

„Ich erinnere mich auch an dich. Du siehst heute sehr süß aus.“ Das kleine Mädchen kicherte, während Carmen auch den anderen drei Komplimente machte. „Seid ihr bereit, Spaß zu haben?“

„Ja!“, antworteten sie im Chor.

„Na, dann lasst uns anfangen.“ Nachdem jedes Mädchen sich einen farbenfrohen Malerkittel ausgesucht hatte, führte Carmen sie an den Tisch, auf dem alle möglichen Materialien ausgebreitet waren. Sie nahm sich einen Klumpen Ton und knetete ihn ein wenig, während sie ihr Projekt erklärte. Dann trat sie zurück, und die drei Mädchen machten sich an die Arbeit. Nur Robyn hielt sich zurück.

„Alles in Ordnung?“

Robyn schüttelte den Kopf. „So etwas habe ich noch nie gemacht. Ich weiß nicht, wie es geht.“

„Das ist nicht schlimm.“ Carmen lächelte aufmunternd. „Fang einfach an. Kunst soll Spaß machen.“

Robyn nagte an der Unterlippe. „Und wenn ich etwas falsch mache?“

„Schatz, es ist Kunst. Da gibt es kein richtig oder falsch.“

„Bei allem gibt es richtig oder falsch. Die einzigen Leute, die das nicht glauben, sind die Leute, die es falsch machen.“

Wow. Carmen war verblüfft, ein so strenges Urteil aus dem Mund eines so kleinen und unschuldigen Kindes zu hören. Zweifellos plapperte Robyn nur nach, was sie immer wieder hörte. „Bei manchen Sachen stimmt das, aber glaub mir, bei diesem Kunstprojekt kannst du nichts falsch machen. Egal, was du machst, es wird schön.“

„Und wenn nicht?“

Sie ging in die Hocke und nahm Robyns Hände. „Wenn es dir nicht gefällt, ändern wir es einfach. Das ist das Schöne an der Kunst. Man bearbeitet seine Fehler so, dass sie wie Absicht aussehen.“

„Ich weiß nicht.“ Sehnsüchtig schaute das kleine Mädchen dorthin, wo ihre Freundinnen schon bis zu den Ellbogen im Ton wühlten. Jemand hatte einen Plastikbecher mit gelber Farbe umgestoßen, und ein vollgesogenes Papiertuch lag mitten in der Pfütze. Offenbar hatten Robyns Freundinnen keine Angst davor, etwas falsch zu machen – und eindeutig kein Interesse daran, das angerichtete Chaos zu beseitigen.

„Aber ich weiß. Lass uns mit deiner Blume anfangen.“ Carmen nahm sich einen Klumpen Ton und reichte ihn Robyn, bevor sie sich selbst einen nahm und ihn zu bearbeiten begann. Nach einem Moment fing Robyn an, ihren in Form zu bringen.

„So?“, fragte sie zaghaft.

„Ja, genau so.“ Carmen bot ihr eine Teigrolle an. „Mach den Ton flach. Dann lässt er sich einfacher formen.“

Robyn konzentrierte sich. Nach ein paar Minuten strahlte sie. „Es klappt.“

„Ja, das tut es.“

„Das macht Spaß“, freute sie sich.

„Ich wusste, dass du es kannst.“

Carmen ging umher und sah den kleinen Künstlerinnen über die Schulter. Die Begeisterung der Kinder war ansteckend, und in ihr keimten neue Ideen auf. Die meisten Kinder im Raum waren im Grundschulalter, aber eigentlich hatte sie die Älteren anlocken wollen. Und sie wusste auch schon genau, wie sie es anstellen musste.

Joni hatte sie am Morgen kurz durchs ganze Zentrum geführt. Es verfügte über alles vom Computerraum über ein Basketballfeld bis zu einem Schwimmbecken mit sechs Bahnen. Sämtliche Wände waren sauber und in hellen Farben gestrichen, erschienen ihr aber trotzdem langweilig.

Carmen hatte angeboten, für jeden Raum ein Wandbild zu entwerfen und ein großes für die Außenfassade. Joni hatte sofort angenommen. Carmen wusste, dass sie den Teenagern etwas Spannenderes als den Sechsjährigen bieten musste.

Sie kehrte zu Robyn zurück, die mit gerunzelter Stirn auf ihr Werk schaute. Als das kleine Mädchen sie bemerkte, begann seine Unterlippe zu zittern. Es wischte sich die Augen ab. „Ich hab es verdorben.“

„Es ist nicht verdorben. Das bekommen wir wieder hin. Und wenn nicht, bastelst du etwas Neues“, sagte Carmen.

„Ich weiß nicht. Daddy sagt immer, man muss es beim ersten Mal richtig machen, weil das Leben einem keine zweite Chance gibt.“

„Das stimmt bei vielen Sachen, aber nicht in der Kunst.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Bestimmt hat dein Daddy nicht die Kunst gemeint. Er ist kein Künstler, oder?“

Robyn schüttelte den Kopf. „Er ist Polizist.“

Carmen betrachtete Robyns Werk aus allen Blickwinkeln und fragte sich, was es darstellen sollte. Es glich kein bisschen dem Muster, das sie angefertigt hatte. Natürlich durfte sie das nicht sagen. Robyn wäre völlig entmutigt gewesen.

„Ich glaube, das bekommen wir hin – wenn du willst.“

Das Mädchen nickte. Zwanzig Minuten später starrte Robyn halb ungläubig, halb andächtig auf ihr Projekt. „Habe ich das wirklich gemacht?“

„Hast du. Ganz allein.“

„Daddy wird es lieben.“

„Das wird er. Jetzt lassen wir es eine Weile trocknen.“

Das kleine Mädchen eilte zur Tür. Dort zögerte es, rannte zurück und umarmte Carmen fest. Carmen wurde warm ums Herz. Wenn sie nicht aufpasste, würde ihr das mutterlose Mädchen bald mehr bedeuten, als gut war.

Trenton sah auf die Uhr, als er das Jugendzentrum betrat. Es war halb sieben, aber er hatte nicht früher kommen können. Der Unfall war einer der schlimmsten gewesen, zu denen er je gerufen worden war. Der Fahrer einer Limousine hatte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten und war in den Gegenverkehr geraten – direkt vor einen Sechsachser. Das Ergebnis war eine Massenkarambolage mit zehn Fahrzeugen und vielen Verletzten, von denen einige ins Krankenhaus mussten.

Der Papierkram war noch nicht beendet, aber den Rest hatte er seinem zuverlässigen Sergeant überlassen. Als alleinerziehender Vater konnte Trenton nicht die Nacht über im Büro bleiben. Selbst wenn er keine familiären Verpflichtungen hätte, wäre es nicht gut, so lange zu arbeiten. Wer zu müde war, konnte Fehler machen. Es war für alle das Beste, den Rest der zweiten Schicht zu überlassen.

In Zeiten wie diesen, angesichts großer Tragödien und ihrer Folgen, vermisste er Anna mehr denn je. Sie war die perfekte Polizistenfrau gewesen. Sie hatte ihn immer unterstützt und ihm geduldig zugehört, wenn er sich die Schattenseite seines Berufs von der Seele redete. Anders als die meisten Frauen erwartete sie von ihm nicht, Tag und Nacht stark und unerschütterlich zu sein. Anna hatte gewusst, dass in der Uniform ein Mann aus Fleisch und Blut steckte. Seit ihrem Tod hatte es niemanden gegeben, der ihren Platz einnahm. Nach sieben langen Jahren hatte er sich damit abgefunden.

Als er den Flur entlangging, sah er, dass die meisten Kinder schon fort waren. Nur die Jungen spielten noch Basketball. Wenn sie könnten, würden sie die ganze Nacht hindurchspielen.

Er hatte angerufen und die Mitarbeiter informiert, dass er nicht rechtzeitig kommen würde, damit seine Töchter sich keine Sorgen machten. Zweifellos würde Alyssa noch ärgerlicher sein als zuvor, nachdem sie so lange im Zentrum hatte bleiben müssen. Er konnte nur hoffen, dass dieser Tag nicht typisch für die Sommermonate war.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Er konnte die Mädchen nicht den ganzen Tag hierlassen, aber er wollte auch nicht, dass sie viele Stunden allein zu Hause verbrachten. Selbst die bravsten Kinder schlugen über die Stränge, wenn sie nicht beaufsichtigt wurden. Leider war seine Haushälterin seit zwei Tagen fort, weil sie ihrer Tochter bei einer schwierigen Schwangerschaft helfen musste. Er rechnete nicht damit, dass sie vor September aus Tennessee zurückkehren würde.

Seufzend nahm Trenton das Klemmbrett, um seine Töchter auszutragen, und nickte dem jungen Mann hinter dem Tresen zu. Sekunden später stürmte Robyn in den Vorraum, in den Händen eine Plastiktüte. „Daddy! Warte, bis du siehst, was ich heute in Kunst gemacht habe.“

„Was ist es?“

„Mach die Augen zu“, befahl sie. Er gehorchte und hörte die Tüte rascheln. „Okay, jetzt darfst du hinsehen.“

„Wow!“, rief er, ehrlich beeindruckt von der dreidimensionalen Blume in ihrer Hand.

„Hast du die gemacht?“

„Ganz allein. Na ja, die Lehrerin hat ein bisschen geholfen. Ich dachte, ich schaffe es nicht, aber ich habe es hinbekommen. Zuerst hat sie mir gesagt, was ich machen muss, aber als ich es nicht kapiert habe, hat sie selbst eine gebastelt und mir genau erklärt, wie es geht. Sie hat gesagt, dass nur meine Hände meine Blume berühren dürfen. Jedenfalls, solange ich sie mache. Du darfst sie jetzt anfassen.“

Kluge Frau. Er fragte sich, welche der Mitarbeiterinnen es gewesen war. Er nahm sich vor, es in Erfahrung zu bringen und ihr morgen zu danken. Im Moment wollte er nur nach Hause und etwas essen.

„Sie ist echt nett, Daddy. Und hübsch.“

Es gelang ihm, eine Grimasse zu unterdrücken. Wollte seine Tochter wieder mal ein Date für ihn arrangieren? Seit Robyn drei geworden war und mitbekommen hatte, dass ihre Freundinnen Mütter und Väter hatten, wollte sie dafür sorgen, dass auch sie eine Mommy bekam. Sie hatte versucht, ihn mit ihrer Erzieherin im Kindergarten zu verheiraten. Das wäre lustig gewesen, wenn Harriet Bowman nicht schon seine Erzieherin gewesen wäre. Und sie war schon damals ziemlich alt gewesen.

Vor zwei Jahren hatte Robyn versucht, ihn mit der Mutter ihrer Freundin Juliet zusammenzubringen, obwohl die Frau glücklich verheiratet war. Er hatte ihr zu erklären versucht, dass er sich seine Frau selbst aussuchen musste. Robyn hatte nur geantwortet, dass er das offenbar nicht schaffte und sie ihm dabei helfen würde – so, wie er ihr geholfen hatte, ihre Schuhe zuzubinden.

„Willst du Hallo zu ihr sagen?“

Nicht, wenn Robyn der Frau gesagt hatte, dass er eine Ehefrau suchte. „Das nächste Mal, wenn sie hier ist.“

Robyn zog an seiner Hand. „Sie ist jetzt hier.“

„Wirklich?“ Den ganzen Tag hier zu verbringen, war mehr, als man von einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin verlangen konnte.

„Wirklich.“

Trenton ließ sich von seiner kleinen Tochter nach hinten ziehen, vorbei an Alyssa, die mit verschränkten Armen dastand.

„Wohin wollt ihr? Ich will nach Hause!“

„Daddy soll Hallo zu meiner Kunstlehrerin sagen.“

Alyssa verdrehte die Augen. Auch sie hatte vergeblich versucht, Robyn von der Suche nach einer neuen Mutter abzubringen. „Muss das jetzt sein? Dies ist ja nicht unser letzter Tag hier. Außerdem ist Daddy ihr schon begegnet.“ Widerwillig folgte Alyssa ihnen.

„Ja, aber da haben sie nicht richtig miteinander geredet. Jetzt können sie das. Er kann sie sogar fragen, ob sie mit ihm ausgeht. Sie ist nämlich nicht verheiratet.“

Trent stöhnte leise auf. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was Robyn über ihn erzählt hatte, um an diese Information zu gelangen.

Robyn zog ihn in einen großen Raum voller Tische, in dem sich nur eine Person befand.

„Das ist sie.“

Trents Blick folgte dem ausgestreckten Arm seiner Tochter. Die Frau stand mit dem Rücken zu ihm. Obwohl er uninteressiert war, musste er zugeben, dass sie eine gute Figur besaß. Sie war zierlich und trug enge Jeans und ein T-Shirt, das die schmale Taille betonte. Die Frau wusch gerade Pinsel aus, summte vor sich hin und hörte sie nicht hereinkommen.

„Miss Shields, Daddy ist hier, um Hallo zu sagen. Finden Sie nicht auch, dass er in seiner Uniform toll aussieht?“

Die Frau – die letzte Frau, die er sehen wollte – drehte sich um. Ihr Lächeln verblasste.

Er erstarrte. Erst kehrte sie in die Stadt zurück – in seine Stadt. Er konnte verstehen, dass sie zur Beisetzung ihrer Mutter hatte gehen wollen, aber die war vorbei. Offenbar hatte sie keine große Lust auf ihre Familie, sonst würde sie nicht im Zentrum aushelfen. Warum war sie noch hier?

Robyn zog überraschend kräftig an seinem Arm und führte ihn zu der Frau. Er wollte ebenso wenig mit ihr reden wie sie mit ihm, aber er durfte Robyns Gefühle nicht verletzen. Außerdem musste er wissen, wann sie abreisen würde.

„Chief.“ Bevor er etwas sagen konnte, verschränkte sie die Arme – als würde ihr bewusst, wie abweisend sie wirkte, nahm sie die Arme wieder herunter.

„Miss Shields, ich hatte keine Ahnung, dass Sie noch in der Stadt sind.“ Es gelang ihm, sein Missfallen auszudrücken, ohne die Stimme zu heben.

Alyssa, die in der Tür gelehnt und laut geseufzt hatte, betrat plötzlich den Raum. Robyn war zu jung, um Körpersprache oder einen Tonfall zu deuten, aber Alyssa war ein Profi. Neugierig kam sie näher und blickte von ihm zu Carmen Shields. Toll.

Carmen schaute von ihm zu den Mädchen und zurück. „Ich bleibe noch eine Weile.“

Ihre Stimme klang ruhig. Aber als erfahrener Polizist registrierte er den heftigen Puls an ihrem Hals, ein deutliches Anzeichen für Nervosität. Was war los mit ihm? Seit Annas Tod hatte er keine Frau so genau betrachtet wie Carmen Shields. Es machte ihn noch zorniger.

„Wie lange dauert eine Weile?“, fragte er so scharf, dass sie zusammenzuckte.

„Fragen Sie das als Polizeichef oder als Privatperson?“

Er antwortete nicht.

Sie zuckte mit den Schultern. „Zwei Wochen.“

„Müssen Sie nicht nach Hause?“ Von ihrem Führerschein wusste er, dass sie in New York City lebte. Passt, dachte er.

„Nein.“

„Super. Dann können Sie heute Abend zum Essen zu uns kommen. Stimmt’s, Daddy?“, fragte Robyn und sah zufrieden aus.

Carmen Shields’ Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Er hätte gelacht, wenn er nicht gewusst hätte, dass seiner ganz ähnlich war.

„Nein“, sagten sie und er gleichzeitig.

„Warum nicht?“ Robyn schaute zwischen ihnen hin und her.

„Das ist sehr nett von dir, aber ich habe schon etwas vor. Danke, dass du an mich gedacht hast.“ Carmen sah sich um, als suchte sie nach einer Möglichkeit, ihre Hände zu beschäftigen. „Ich muss jetzt los. Es hat wirklich Spaß gemacht, mit dir zu arbeiten, Robyn. Ich wünsche euch allen einen schönen Abend.“

Sie griff nach ihrer Tasche und sprintete geradezu aus dem Raum.

„Bis dann, Miss Shields!“, rief Robyn ihr nach und strahlte ihren Vater an. „Ist sie nicht nett? Und hübsch?“

Alyssa hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt. „Können wir jetzt fahren?“

„Ja.“

Auf dem Heimweg war Trenton vor Zorn fast übel. Carmen Shields hatte seiner Familie genug angetan. Er würde nicht zulassen, dass sie ihre Tage mit seinen Kindern verbrachte.

Er fuhr in Rekordzeit nach Hause und schob einen der Aufläufe, die Mrs. Watson vor ihrer Abreise eingefroren hatte, in die Mikrowelle. „Essen in zwanzig Minuten!“, rief er.

Dann rief er Lex an, seinen besten Freund und Bürgermeister der Stadt. Während es am anderen Ende läutete, nahm Trenton einen Beutel Salat aus dem Kühlschrank. Er riss ihn auf, holte eine Schüssel heraus und kippte den Inhalt hinein. Stirnrunzelnd starrte er auf die grünen Blätter und Karottenscheiben, bevor er nach einer Gurke und einem Behälter mit Kirschtomaten griff.

„Devlin.“

„Lex, hier ist Trent. Hast du eine Minute Zeit für mich?“ Mit mehr Krafteinsatz als nötig zerkleinerte er die Gurke und warf die Scheiben in die Schüssel.

„Natürlich. Was gibt es?“

Trent öffnete den Geschirrspüler und nahm drei saubere Teller heraus.

„Ich muss mit dir über das Jugendzentrum reden.“ Trent deckte den Tisch fertig. „Dort hilft eine Frau aus, der du ein Hausverbot erteilen musst.“

„Solltest du das nicht Joni sagen?“

„Ich habe es gerade erst erfahren.“ Er nahm zwei Flaschen mit Dressing aus der Kühlschranktür. Geschmacksrichtung Ranch für die Mädchen, Italian für ihn.

„Was hat sie sich zuschulden kommen lassen? Gegen Gesetze verstoßen?“

Trent zog die Stirn kraus. „Nein. Aber sie ist nicht die Art von Person, die mit leicht beeinflussbaren Kindern umgehen sollte.“

„Das muss Joni entscheiden. Sie leitet das Zentrum.“

Trent knurrte unzufrieden.

„Dir würde es auch nicht gefallen, wenn jemand über deinen Kopf hinweg versuchen würde, einen deiner Officers loszuwerden.“

Trent lehnte sich gegen die Theke. Lex hatte recht. Er würde mit Joni sprechen.

„Joni wird dich ohnehin anrufen“, fuhr der Bürgermeister fort.

„Warum?“

„Jetzt, da die Schule aus ist, gibt es für die Teenager noch mehr Gelegenheiten, Dummheiten zu begehen.“

Trent rieb sich den Nacken.

„Das könnte zu Konflikten mit der Polizei führen, und das wollen wir vermeiden“, sagte Lex. „Ich will nicht wie ein PR-Mann klingen, aber wir möchten, dass unsere Ordnungshüter ein gutes Verhältnis zur Jugend unserer Stadt haben.“

Trent ahnte, worauf sein Freund hinauswollte. Und es gefiel ihm nicht.

„Joni hat erzählt, dass eine Künstlerin aus New York in der Stadt ist und angeboten hat, die Wände im Jugendzentrum zu bemalen. Sie braucht ein paar Tage für die Entwürfe, also habe ich für später in der Woche ein Treffen arrangiert. Ich möchte, dass du dich einbringst. Dann kannst du außerdienstlichen Kontakt mit den Teenagern halten.“

Trent biss die Zähne zusammen. Die Frau, von der Lex sprach, konnte nur Carmen Shields sein. In ihrer Nähe würde er es nicht lange aushalten, ohne den Verstand zu verlieren.

„Den netten Freund und Helfer zu spielen, ist leider nicht meine Stärke.“ Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Für die Teenager und ihre Unarten brachte er wenig Verständnis auf. „Ich schicke einen meiner Leute hin.“

„Nein, du gehst hin. Du bist der Chef unserer Polizei. Du bist das Vorbild für deine Leute. Du brauchst eine entspanntere Beziehung zu den Teens.“

Lex sprach es nicht aus, aber Trent galt als harter Hund. Er verstand keinen Spaß, und die Jugendlichen wussten es. Er und seine Leute verpassten selbst denjenigen, die nur eine Meile zu schnell fuhren, einen Strafzettel. Die Sperrstunde wurde eisern durchgesetzt, und wer betrunken am Steuer erwischt wurde, landete in der Arrestzelle.

Trent war bei den Teenagern nicht beliebt, aber das war ihm egal. Vielleicht wussten sie seine Strenge jetzt nicht zu schätzen, aber er bewahrte sie davor, sich ihre Zukunft zu verderben. Er würde alles tun, damit ein Kind nicht ohne Mutter aufwuchs – alles, außer mit Carmen Shields zusammenzuarbeiten.

Trent atmete tief durch. „Über welchen Zeitraum reden wir?“

„Nur ein paar Stunden über ein paar Tage.“

„Habe ich eine Wahl?“ Trent bewegte die Schultern, aber der Schmerz im Nacken ließ nicht nach.

Lex lachte. „Die hast du immer.“

Klar. „Ich rufe Joni heute Abend an und organisiere etwas.“

Noch lange, nachdem Lex aufgelegt hatte, hielt Trent das Telefon in der Hand. Er konnte unmöglich mit Carmen Shields zusammenarbeiten.

Carmen warf einen letzten Blick auf ihre Skizzen und legte sie in ihre Mappe. Sie hatte in den vergangenen zwei Nächten daran gearbeitet. Jetzt hatte sie drei Entwürfe für jeden Raum sowie für die Fassade.

Wenn das Jugendzentrum cool aussah, würden vielleicht auch die cooleren Kids hingehen, anstatt am Strand abzuhängen und sich Ärger einzuhandeln.

Joni hatte die Erlaubnis des Bürgermeisters für die Wandbilder. Jetzt mussten sie nur noch die auswählen, die gemalt werden sollten. Darum ging es bei der Besprechung am heutigen Vormittag. Carmen war überzeugt, dass die Kids viel Spaß mit den Graffitis haben würden. Natürlich hatte sie auch zahmere Entwürfe für den Fall, dass Joni und der Bürgermeister skeptisch waren.

Sie stieg aus dem Wagen, strich den luftigen orangefarbenen Rock glatt und steuerte das Rathaus an. Joni hatte ihr versichert, dass Bürgermeister Devlin nicht so leicht zu beeinflussen war und ihr einen Fehler in ihrer Jugendzeit nicht nachtragen würde. Carmen hoffte, dass Joni recht hatte. Auch wenn sie nur noch zehn Tage in der Stadt bleiben würde, wäre es gut, wenn er keine Vorurteile gegen sie hegte. Im Moment wäre es eine nette Abwechslung, mal etwas Positives zu erleben.

Sie schloss die Augen, als ihr die Tränen kamen und das Make-up zu ruinieren drohten, das sie so sorgfältig aufgelegt hatte. Die Versuche, mit ihrem Vater zu reden, waren jämmerlich gescheitert. Er hatte sie weggescheucht wie eine lästige Fliege.

Er ging nicht ans Telefon und überließ es Charlotte, ihr kühl mitzuteilen, dass er partout nicht mir ihr sprechen wollte. Nach sieben Jahr hatte sie die leise Hoffnung gehabt, dass er ihr verzeihen oder es wenigstens bereuen würde, sie enterbt zu haben. Aber die Hoffnung nahm jeden Tag ab. Hätte sie sich nicht vorgenommen, etwas für Anna Knights Familie zu tun, wäre sie längst wieder in New York.

Obwohl der Chief nicht wollte, dass sie mit seinen Kindern arbeitete, kam Robyn regelmäßig zu ihr in die Kunst-AG. Carmen wollte seinen Wunsch respektieren, aber sie brachte es nicht fertig, das kleine Mädchen zurückzuweisen. Robyn war ein glückliches Kind, das sich nach einer Mutter sehnte und wiederholt andeutete, wie gern sie Carmen in der Rolle sähe. Aber eher fror die Hölle zu, als dass es dazu käme.

Um Alyssa dagegen machte Carmen sich Sorgen. Das ältere Mädchen wirkte ungeheuer traurig. Bisher hatte sie keinen Weg gefunden, an Alyssa heranzukommen, aber sie gab nicht auf.

Das Rathaus sah noch so aus wie früher. Damals war es ihr zutiefst provinziell erschienen. Jetzt dagegen kam es ihr mit seinen schmiedeeisernen Bänken und den Kübelpflanzen neben dem Eingang wie ein Stück Heimat vor.

Carmen ging hinein und sah sich um. Auch im Inneren hatte sich nichts geändert. Die Wände waren noch immer grau, die Beleuchtung schwach. Noch immer führte eine Doppeltür aus Glas ins Büro des Bürgermeisters.

Sie trat ein und hätte fast gejubelt, als sie Denise Harper entdeckte, die Sekretärin des Bürgermeisters. Mrs. Harper gehörte zu den wenigen Menschen in Sweet Briar, die Carmens Vater die Stirn geboten hatten.

„Bist du das, Carmen?“ Mrs. Harper rannte um ihren großen Schreibtisch herum, um Carmen fest an sich zu drücken. Danach betrachtete sie die junge Frau von Kopf bis Fuß. „Sieh mal einer an. Du bist richtig erwachsen geworden. Und so schön, wie ich es erwartet habe. Dich zu sehen, ist die Antwort auf meine Gebete.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, erwiderte Carmen gerührt.

Mrs. Harper drückte Carmens Hände. „Das mit deiner Mutter tut mir leid. Sie war eine so gute Frau. Und sie hat dich geliebt.“

„Danke.“

„Aber du musst jetzt zu deiner Besprechung. Wir müssen uns unbedingt mal zum Lunch treffen.“

„Gern.“

Die Sekretärin klopfte an eine Tür, meldete Carmen an, trat beiseite und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Carmen wurde warm ums Herz. Sie hatte noch Freunde in dieser Stadt. Nicht nur Mrs. Harper, sondern auch Joni, die ihr zuwinkte, als sie sie sah.

„Miss Shields, ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten.“

Carmen drehte sich zu der tiefen Stimme und stand einem atemberaubend attraktiven Mann gegenüber. Endlich etwas, das sich im Rathaus verändert hatte – dieser Bürgermeister sah viel besser aus als sein Vorgänger. Sie musterte ihn mit den Augen einer Künstlerin. Er war über eins achtzig, mit kaffeebrauner Haut, breiten Schultern und schmaler Taille. Im schwarzen Haar zeigten sich erste Grautöne. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig.

Bürgermeister Devlin entsprach so gar nicht ihrem Bild eines Kleinstadtoberhaupts. Sicher, der maßgeschneiderte dunkelblaue Anzug, das weiße Hemd und die konservative rote Krawatte passten zur Position, aber sein charmantes Lächeln ließ sie eher an einen Playboy denken – einen netten Playboy mit Herz, falls es so etwas geben sollte.

„Bedienen Sie sich bei den Erfrischungen. Ich weiß, es ist früh, aber dies war der einzige freie Termin in meinem Kalender“, sagte der Bürgermeister.

„Ich bin nur froh, dass wir uns nicht um sechs getroffen haben“, scherzte Joni.

„Ach, Besprechungen im Morgengrauen setze ich nur an, wenn ich Streit erwarte.“ Devlin lächelte Carmen zu. „Nichts stimmt Menschen vernünftiger als ein Treffen vor Sonnenaufgang.“

Carmen lachte, ging zu Joni und goss sich einen Kaffee ein. Danach nahm sie sich eine Apfeltasche und eine Serviette und setzte sich mit ihrer Freundin an den langen Tisch. Der Bürgermeister saß am Kopfende, schien es aber nicht eilig zu haben.

„Wir warten noch auf einen Teilnehmer.“

„Wie soll ich Sie anreden? Mr. Mayor? Oder Mayor Devlin?“

„Nennen Sie mich einfach Lex.“

„Kurz für Alexander Devlin III.“, warf Joni ein.

„Nicht zu verwechseln mit meinem Großvater Alexander und meinem Vater Alex.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Mit jeder Generation verlieren wir Buchstaben. Ich werde meinen Sohn wohl L nennen müssen.“

„Wie alt ist er?“, fragte Carmen.

„Wer?“

„Ihr Sohn.“

Er hob die Hände. „Ich habe keinen Sohn. Ich bin nicht verheiratet. Ich habe nicht mal eine Freundin.“

Joni verdrehte die Augen. „Subtil wie immer, mein Bester.“

Lex blickte auf die Uhr. „Ich denke, wir sollten anfangen. Trent muss aufgehalten worden sein.“

Carmen verschluckte sich an ihrer Apfeltasche. Chief Knight war auch eingeladen? Warum? Was hatte er mit dem Jugendzentrum zu tun? Sie arbeitete jetzt seit einigen Tagen dort und hatte ihn seit dem ersten Abend nicht wiedergesehen. Er hatte Joni mitgeteilt, dass er Carmen nicht in der Nähe seiner Töchter haben wollte, aber Joni hatte sich geweigert, ihr die Arbeit mit den Mädchen zu verbieten. Wenn er seine Töchter von Carmen fernhalten wollte, sollte er es den beiden Mädchen gefälligst selbst sagen.

„Geht es dir gut?“, fragte Joni.

„Ja.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck und hoffte, dass die Besprechung zu Ende war, bevor der Chief eintraf.

„Sollen wir uns die Entwürfe ansehen?!“, schlug Lex vor.

„Gern.“ Carmen holte gerade die Mappe heraus, als die Tür aufging. Sie brauchte nicht hinzuschauen. Die leichte Veränderung des Sauerstoffgehalts, gekoppelt mit der Gänsehaut an ihren Armen, verriet, dass Trenton Knight anwesend war.

„Entschuldigung“, sagte er.

„Kein Problem. Wir fangen gerade erst an. Nimm dir einen Kaffee.“ Lex zeigte zur Anrichte. „Bist du Miss Shields schon begegnet?“

„Ja.“ Die frostige Antwort ließ die Temperatur im Raum auf arktisches Niveau sinken.

Lex zog die Augenbrauen hoch und sah vom Chief zu Carmen. Hatte niemand den Bürgermeister informiert, dass sein Polizeichef ihr die Schuld am Tod seiner Frau gab? Sie fragte sich, ob er auch noch so freundlich sein würde, wenn er es wusste.

Chief Knight goss sich einen Kaffee ein. Als er sich gesetzt hatte, stand sie auf und stellte ihre Zeichnungen auf die Staffelei. Als Künstlerin hielt sie selten Vorträge, sondern ließ ihre Arbeit für sie sprechen. Chief Knights Anwesenheit machte sie noch nervöser.

Sie präsentierte den ersten Entwurf und trat beiseite, damit die anderen ihn betrachten konnten.

„Ich dachte mir, dieses Wandbild wäre gut für die Fassade. Es ist eine Szene, die um das gesamte Gebäude läuft.“ Sie zeigte auf die gepunktete Linie, die die Ecken markierte. „Es zeigt Kinder jeden Alters bei den verschiedenen Aktivitäten, die das Zentrum anbietet.“

„Sieht aus wie ein Graffito!“, sagte Chief Knight. Die Worte waren ein einziger Vorwurf.

„Graffitikunst“, verbesserte Carmen sanft. „Der größte Teil wird allerdings mit Pinseln gemalt. Stellenweise wird gesprayt, und ein Abschnitt ist reine Graffitikunst.“

„Ich nehme Leute fest, die in der Stadt auf Wände sprühen.“

„Es ist Kunst“, erwiderte Carmen mit etwas mehr Nachdruck. „Das hier ist nicht verboten. Wir sprayen nicht ohne Erlaubnis auf Privateigentum. Es ist eine anerkannte Kunstform, und die Kids finden sie gut.“

Sie hatte mit einem der älteren Jungen darüber gesprochen, und am nächsten Morgen hatte er ihr einige seiner eigenen Entwürfe gezeigt. Genau deshalb hatte sie Graffiti in das Wandbild integriert – damit Jugendliche wie er ihr Talent zur Schau stellen konnten, ohne das Eigentum anderer zu beschädigen.

„In New York gelten solche Schmierereien vielleicht als Kunst, aber nicht hier in Sweet Briar. Aber in New York ist ja so manches willkommen, was hier unerwünscht ist.“

„Trent“, entfuhr es Joni.

„Schon gut.“ Carmen schob ihre Blätter zusammen. „Ich wollte nur helfen.“

„Warten Sie.“ Lex stand auf. „Sehen wir uns die Entwürfe an. Wenn uns etwas nicht gefällt, können wir es ändern, stimmt’s?“

„Ja. Das ist der Sinn dieses Treffens.“

„Dann sehen wir uns zuerst alle Skizzen an und entscheiden danach. Einverstanden?“ Er warf Trent einen vielsagenden Blick zu.

Joni trat an die Staffelei. „Also, ich finde das hier großartig.“

„Danke.“

„Es sind Graffiti“, beharrte der Chief.

„Meinst du wirklich, wir könnten so etwas hinbekommen?“, fragte Joni.

„Natürlich. Zuerst müssen die Wände vorbereitet werden, dann zeichne ich den Entwurf auf den Untergrund. Danach ist es wie Malen nach Zahlen. Und wenn du etwas Zahmeres möchtest, habe ich diese Entwürfe hier.“ Sie stellte die Zeichnungen typischer Wandbilder ohne Graffiti auf.

Joni seufzte. „Alles sieht so perfekt aus. Wir sind aber Amateure. Was, wenn jemand einen Fehler macht? Die falsche Farbe nimmt oder so?“

„Das ist keine Katastrophe. Wir übermalen dann einfach. Es gibt keine irreparablen Fehler.“

„Da bin ich anderer Meinung.“ Trents Augen blickten eiskalt, aber irgendwie erwärmten sie ihre Seele. „Allerdings überrascht es mich nicht, dass jemand wie Sie so etwas behauptet.“

Carmen wusste, dass manche Fehler nicht wiedergutzumachen waren. Sieben Jahre lang hatte sie das Schuldgefühl der Überlebenden gequält. Sie lebte, andere waren gestorben. Dass sie in jener Nacht nicht am Steuer gesessen hatte, änderte nichts daran. Jetzt kam noch das Wissen hinzu, dass auch eine völlig unschuldige Frau gestorben war.

„Jemand wie ich?!“, wiederholte sie automatisch.

„Jemand, der die Leben anderer zerstört und dann davonläuft. Jemand, dem es egal ist, wie viel Leid er anrichtet. Zu glauben, dass Fehler übermalt werden können, ist einfach, wenn man die Folgen nicht selbst tragen muss.“

„Trent“, begann Joni, aber Carmen legte ihr eine Hand auf den Arm.

„Nein. Er hat recht. Manche Fehler lassen sich nicht beseitigen. Das weiß ich aus persönlicher Erfahrung. Man kann nur versuchen, den Schaden auszugleichen, den man angerichtet hat.“

Carmen sah Lex an. „Ich lasse die Entwürfe hier. Wenn Sie sie verwenden wollen, sagen Sie mir Bescheid. Wenn nicht …“ Sie zuckte mit den Schultern.

Lex presste die Lippen zusammen. „Geben Sie Mrs. Harper Ihre Nummer, ich rufe Sie später an.“

Carmen ging hinaus. Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, sich der Vergangenheit zu stellen. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es so wehtun würde.

„Ich hoffe, du bist mit dir zufrieden, Trenton Knight“, sagte Joni. „Carmen wollte nur helfen, und du behandelst sie wie eine Kriminelle.“

„Joni.“

„Ich will nichts von dir hören.“ Joni wirbelte zu Lex herum. „Mir gefallen die Entwürfe mit den Graffiti. Ich glaube, die Kids werden begeistert sein. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast.“

„Joni“, wiederholte Trent, aber sie ignorierte ihn, stürmte aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

„Unschöne Szene“, sagte Lex leise.

Trent schnaubte. „Ich hätte Joni nicht für so melodramatisch gehalten.“

„Ich meine nicht Joni.“ Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Willst du darüber reden?“

„Nein.“ Trent sprang auf. Er wollte weg von hier. Obwohl Carmen Shields nicht mehr da war, lag ihr Duft noch in der Luft. „Ich muss zurück.“

„Ich bin mir sicher, die Officers kommen noch zehn Minuten ohne dich zurecht.“ Lex winkte Trent auf den Stuhl zurück und goss sich Kaffee nach. „Was läuft da zwischen dir und Carmen?“

„Carmen, ja? Seid ihr befreundet?“ Dass sein bester Freund sie beim Vornamen nannte, erschien ihm wie Verrat.

„Du warst ziemlich feindselig zu ihr.“

„Sie hat es nicht besser verdient.“ Noch während er es aussprach, fragte Trent sich, ob es stimmte. Carmen Shields mochte seine Freundschaft nicht verdient haben, aber das gab ihm nicht das Recht, sie so verächtlich zu behandeln.

Überrascht sah Lex ihn an. „Sie ist erst einige Tage in der Stadt. Wie hat sie es geschafft, dich in so kurzer Zeit gegen sich aufzubringen?“

„Soll das ein Witz sein?“

„Höre ich mich so an?“

„Du weißt nicht, wer sie ist?!“

„Sollte ich?“

„Sie ist die jüngste Tochter der Shields’.“ Trent schloss die Augen. „Sie ist für Annas Tod verantwortlich.“

„Ich dachte, Dave Henrys Sohn ist gefahren. Er und ein anderer Junge waren sturzbesoffen, und er hat ein Stoppschild übersehen.“

Trent nickte. „Sie saß mit ihnen im Wagen. Als einzige Überlebende und Zeugin hätte sie erklären können, was genau passiert ist. Aber sie hat nur das Allernotwendigste ausgesagt und ist verschwunden.“

„Wieso soll sie schuld sein? Sie ist nicht gefahren, und alle waren betrunken“, wandte Lex ein.

„Carmen Shields hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken. Aber sie hat den Idioten nicht davon abgehalten, sich ans Steuer zu setzen und loszufahren.“

Lex beugte sich vor. „Wie alt war sie, als der Unfall passiert ist?“

„Sie war achtzehn. Alt genug, um wählen und zur Armee gehen zu dürfen. Alt genug, um zu heiraten.“

„Was Anna zugestoßen ist, war eine Tragödie. Aber du gibst der falschen Person die Schuld.“

Trent knallte seinen Becher auf den Tisch. Kaffee schwappte über. Er achtete nicht darauf. „Es geht nicht darum, was sie getan hat. Es geht darum, was sie nicht getan hat. Sie hätte selbst fahren oder ihm wenigstens die Wagenschlüssel wegnehmen sollen. Aber das hat sie nicht, und meine Anna ist gestorben.“

Einige Sekunden lang herrschte angespanntes Schweigen.

„Du kannst nicht so feindselig zu ihr sein“, sagte Lex schließlich.

„Sagst du das als Freund oder als Vorgesetzter?“

Lex wischte sich übers Gesicht. „Darauf antworte ich nicht. Ich weiß besser als jeder andere, wie sehr du Anna geliebt hast. Sie war eine großartige Frau. Aber sie ist fort. Und du musst sie loslassen. Du musst den Zorn loslassen.“

„Einfach so, ja?“ Trent schnippte mit den Fingern. „Ich soll die Frau vergessen, die ich mein ganzes Leben lang geliebt habe? Ich bin nicht wie du. Ich kann nicht eines Morgens aufwachen und beschließen, dass die Frau, die ich geheiratet habe, mir nichts bedeutet. Ich kann nicht vergessen, was wir hatten.“ Lex zuckte zusammen, und Trent wusste, dass er ungerecht war. Aber er war so aufgebracht, dass es ihm egal war.

„Jetzt hältst du mir meine Ehe vor?!“

„Lex, ich …“

„Nein. Mach jetzt keinen Rückzieher. Was hättest du denn getan, wenn Anna dir gesagt hätte, dass sie dich nicht mehr will? Hättest du gekämpft und sie festzuhalten versucht oder hättest du sie gehen lassen, damit sie glücklich sein kann? Aber du, mit deiner perfekten Ehe, du brauchtest dich das nie zu fragen. Bilde dir bloß nicht ein, dass dich das zu einem besseren Menschen macht. Du hast einfach nur Schwein gehabt.“

Schwein gehabt?! Meine Frau wurde im besten Alter getötet, und du findest, ich hatte Glück?“

„Du hast mich falsch verstanden, Trent. Ich meinte, dass du das Glück hattest, eine so wundervolle Frau zu finden.“

„Ja. Und jetzt soll ich sie vergessen.“

„Das verlange ich doch gar nicht!“, widersprach Lex. „Das würde ich nie tun. Anna hat dich geliebt. Sie würde allerdings wollen, dass du nach vorn schaust. Du kannst nicht so tun, als wäre sie im Urlaub oder beim Einkaufen. Sie ist weg, Mann. Und sie kommt nie wieder.“

Trent schoss hoch. „Denkst du, das weiß ich nicht?! Ich lebe damit. Jeden verdammten Tag!“

Bevor Lex antworten konnte, fuhr er fort. „Alyssa und Robyn sind der einzige Grund, warum ich morgens aufstehe. Alyssa erinnert sich kaum noch an Anna, Robyn so gut wie gar nicht. Wie fair ist es, dass meine Mädchen ohne Mutter aufwachsen? Wie fair ist es, dass Anna so viel verpasst hat?“

„Ich sage nicht, dass es fair ist. Das ist es auch nicht. Ich verstehe, dass du die Erinnerung für deine Mädchen bewahren willst. Aber du hast es übertrieben. Dein Haus ist zu einem Schrein für Anna geworden. Hast du in sieben Jahren irgendetwas verändert?“

„Natürlich.“

„Was denn?“ Als Trent nicht antwortete, stand Lex auf und ging um den Tisch herum. „Du musst sie loslassen.“

„Weil es meinen Freunden dann leichterfällt, sich mit dieser Frau zu verbünden?“

„Niemand verbündet sich gegen dich.“

„Anna war meine Welt, und Carmen Shields hat sie mir geraubt. Und ich soll so tun, als wäre das nicht passiert, und ich soll nett zu ihr sein. Wie könnte ich das?“

Lex legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Indem du einen Schritt nach dem anderen machst. Carmen zu hassen, bringt dir Anna schließlich nicht zurück.“

„Die Vorstellung, dass die Frau mit meinen Mädchen umgeht, macht mich rasend“, gab Trent zu.

„Sie bleibt doch nur zwei Wochen.“

„Ach, sie hat keine zwei Wochen gebraucht, um mein Leben zu zerstören. Verdammt, sie hat keine zwei Minuten gebraucht. Und jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, ist sie da. Im Jugendzentrum. Hier. In meinen Gedanken.“

„In deinen Gedanken?“

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Doch, das hast du. Vielleicht ist genau das dein Problem. Vielleicht bist du so aufgebracht, weil du sie anziehend findest.“

„Blödsinn“, protestierte Trent und ignorierte die Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm widersprach.

Carmen ging langsamer, als sie sich dem Jugendzentrum näherte. Sie holte tief Luft. Dieser Trent Knight war unglaublich. Wie konnte er es wagen, ihre Kunst als Schmiererei zu bezeichnen? Sie war eine der gefragtesten Künstlerinnen New Yorks. Sie konnte gar nicht schnell genug malen, um die Nachfrage zu befriedigen. Was sie schuf, war ganz gewiss keine Schmiererei.

Na gut, die Wandbilder, die sie entworfen hatte, waren nicht ihr typischer Stil. Ihre Arbeit war jung und frisch, aber noch nie hatte sie Graffitikunst verwendet. Doch diese passte gut zu einem Jugendzentrum.

Der Polizeichef war einfach nur ein kleingeistiger Mann, der sie hasste. Trotzdem tat sein Urteil weh, weil sie wusste, dass er nicht nur von ihrer Kunst sprach. Für ihn war auch sie als Mensch wertlos.

Er konnte nicht ahnen, dass allein ihre Kunst sie in den letzten sieben Jahren gerettet hatte. Ohne diese Ausdrucksmöglichkeit hätte sie den Schmerz und das Schuldgefühl vielleicht nicht überlebt.

„Hi, Miss Shields.“

Carmen drehte sich zu den achtjährigen Mädchen um, die sie scherzhaft ihren Fanclub nannte. Sie erwiderte die Umarmungen, wobei ihr nicht entging, dass Robyn sie etwas fester und länger als die anderen drückte.

„Wie geht es euch Ladys heute?“

Die Mädchen kicherten.

„Gut“, antwortete eins. „Was machen wir heute?“

„Selbstporträts. Mit Kreide.“ Carmen hatte sich das neue Projekt am Abend zuvor ausgedacht. Sie lächelte ihnen zu. „Gebt mir ein paar Minuten, um alles aufzubauen, okay?“

„Okay“, sagten die Mädchen und hüpften davon.

Auf dem Weg zum Kunstraum bemerkte Carmen eine einsame Gestalt in einem Sessel im Gruppenraum, weit weg von den anderen drei Teenagern. Das Trio steckte die Köpfe zusammen, schaute immer wieder zu dem allein sitzenden Mädchen hinüber und lachte. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass es absichtlich ausgeschlossen wurde.

Es war Alyssa, die Tochter des Polizeichefs. Carmen zögerte. Chief Knight wollte nicht, dass sie sich um seine Kinder kümmerte. Er wollte nicht einmal, dass sie sich in der gleichen Stadt aufhielt. Aber sie brachte es nicht fertig, ein Kind zu ignorieren, dem es offensichtlich schlecht ging. Zaghaft ging sie hinüber. „Hi.“

Alyssa hob den Kopf und warf einen Blick auf die wispernden Mädchen, bevor sie Carmen ansah. „Hi.“

„Erinnerst du dich an mich? Ich bin Carmen Shields.“

„Ich weiß. Wir haben Sie an Moms Grab gesehen. Robyn spricht dauernd von Ihnen. Es macht meinen Dad verrückt.“

Lachen hallte durchs Zimmer, und Alyssa zuckte zusammen. Carmen fühlte es ihr nach. Sie wusste, wie es war, eine Außenseiterin zu sein.

„Was liest du?“

Alyssa drehte das Buch so, dass Carmen das Cover sehen konnte. Es war ein Bestseller, aber Carmen spürte, dass Alyssa lieber bei den anderen gewesen wäre, als allein vor sich hin zu lesen.

„Wenn du nicht mehr lesen willst, gibt es im Kunstraum ein tolles Projekt.“

„Kunst ist für kleine Kinder wie Robyn.“

„Ich will im Rahmen eines Kurses für Ältere Schmuck und T-Shirts machen. Meinst du, du könntest mir helfen?“

Ein Leuchten trat in Alyssas Augen, aber als sie zu den anderen Mädchen blickte, war es erloschen. „Ich glaube nicht.“

Carmen setzte sich zu ihr. Das Gefühl von Einsamkeit des Mädchens war mit Händen zu greifen. „Na ja, wenn du es dir anders überlegst, komm einfach herüber.“

„Okay“, murmelte Alyssa, ohne den Blick zu heben.

Hilflos stand Carmen auf und durchquerte den Raum. Ein Junge stand in der Tür und schaute von Alyssa zu den anderen. Er wäre Carmen nicht weiter aufgefallen, wenn seine Augen nicht so geblitzt hätten. Ihm war anzusehen, wie wütend er war.

Er stellte sich Carmen in den Weg. „Ignorieren die sie immer noch?“

„Sieht so aus. Weißt du, warum?“

„Ja.“

Carmen bedeutete ihm, ihr auf den Flur zu folgen. „Warum?“

Er starrte sie an, als würde er mit sich ringen. Dann lehnte er den Kopf an die Wand und atmete tief durch. „Ihr Vater ist doch der Polizeichef. Vor zwei Wochen hat er eine Party gesprengt, auf der Alkohol getrunken wurde. Er hat die Eltern angerufen, und viele haben Ärger bekommen. Jemand hatte die brillante Idee, dass deshalb keiner mehr mit ihr spricht.“ Er stampfte mit dem Fuß auf. „Als könnte sie etwas dafür.“

„Waren die Mädchen im Gruppenraum mal ihre Freundinnen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Meinst du, es geht von allein vorbei?“

Wieder zuckte er mit den Schultern. Carmen sah ihm nach, als der Jugendliche davonging. Solche Situationen hatte Damon gemeint, als er sagte, sie müsse der Knight-Familie helfen. Sie würde einen Weg zu finden versuchen, Alyssa zu helfen, bevor das Mädchen die gleichen Fehler wie sie beging.

Trent betrat das Büro und nahm von Ella, einer der drei Kolleginnen aus der Einsatzzentrale, eine Handvoll pinkfarbener Notizzettel entgegen.

„Guten Morgen, Chief. Dr. Richards hat aus dem Krankenhaus angerufen. Mrs. Riley ist wach und möchte mit Ihnen über den Unfall sprechen.“

Verdammt. Er hatte gehofft, ein paar Minuten Ruhe zu haben, bevor die Hektik des Arbeitstages einsetzte. Er rieb sich den Nacken. Seine Kopfschmerzen wurden immer stärker.

Er ging zur Tür. „Sagen Sie ihm, ich bin unterwegs. Und informieren Sie Officer Smith, wo ich bin.“

„Wird gemacht.“

Auf der Fahrt zum Krankenhaus ging er noch einmal die Fakten durch. Bob Riley hatte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten, sein Wagen war mit einem Sattelschlepper kollidiert und hatte eine Kettenreaktion mit fast einem Dutzend Verletzten ausgelöst, zu denen auch seine Frau Tina gehörte.

Am Eingang der Klinik suchte er nach den richtigen Worten. Sie hatte ihren geliebten Partner verloren, und er wusste, dass nichts und niemand ihr den Schmerz nehmen konnte.

Kurz darauf klopfte er an die Tür des Krankenzimmers.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Chief“, sagte Mrs. Riley. Ihr Kopf war verbunden, und der rechte Arm steckte in einem Gips. Sie hatte Tränen in den Augen und sah erschöpft aus.

„Sie haben mich immer Trent genannt. Bleiben wir dabei, okay?“

Sie lachte, und Tränen rannen ihr über die Wangen. „Mein Bob ist tot.“

„Ich weiß.“ Er setzte sich ans Bett und nahm ihre unverletzte Hand in seine.

„Dreiundvierzig Jahre. Wir waren dreiundvierzig wundervolle Jahre verheiratet.“

„Er war ein guter Mann. Einer der besten, die ich kannte.“

„Ja.“

Sie schwieg, und er ließ ihr die Zeit, die sie brauchte.

„Ich werde heute Nachmittag entlassen, und nach der Beisetzung bleibe ich bei meiner Tochter Anna in Atlanta, bis mein Arm verheilt ist.“ Mrs. Riley lächelte matt, und es brach ihm fast das Herz. Sie versuchte verzweifelt, tapfer zu sein.

„Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.“ Sie schluckte und schloss die Augen. „Ich habe gehört, dass es viele Verletzte gegeben hat. Bitte, sagen Sie ihnen, wie leid es mir tut, dass ich daran beteiligt war.“ Sie schüttelte traurig den Kopf.

Beteiligt?! Sie waren Beifahrerin.“

„Ich weiß.“ Sie weinte stumm.

„Ihr Mann hat einen Herzinfarkt erlitten und die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Es war ein Unfall, ganz eindeutig. Es war nicht seine Schuld und ganz bestimmt nicht Ihre.“

„Doch, ich bin schuld“, beharrte sie mit zitternder Stimme. „Bob war mein Mann. Ich wusste, dass er sich nicht immer richtig ernährte und sich viel zu wenig bewegt hat.“

„Jeder wusste, dass er übergewichtig war, ja. Das bedeutet aber nicht, dass wir mit einem Herzinfarkt hätten rechnen können. Sie konnten es auch nicht. Es war nicht ihre Schuld“, versicherte Trent ihr.

Er drückte auf den Knopf, um die Schwester zu rufen, und sah Mrs. Riley in die Augen. „Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Sie sollten es auch nicht tun.“

Die Schwester eilte herein, gefolgt von Donna und ihrem Bruder Doug. Donna setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre Mutter in die Arme. Doug schämte sich seiner Tränen nicht. Trent hoffte, dass die beiden die richtigen Worte fanden, um Mrs. Riley das Schuldgefühl zu nehmen.

Auf dem Weg zur Tür berührte er Dougs Schulter. „Sagt Bescheid, wenn ihr etwas braucht.“

„Danke. Was wir jetzt brauchen, ist vor allem Zeit, um darüber hinwegzukommen.“

Trent nickte. Er hätte Doug sagen können, dass die Zeit nicht alle Wunden heilte, ließ es aber. Er eilte über den Korridor und wich einem leeren Rollstuhl aus. Das Gespräch mit Tina Riley ging ihm nicht aus dem Kopf.

Er wusste, dass jeder für sein Handeln verantwortlich war. Das hatte er immer gewusst. Warum hatte er trotzdem Carmen die Schuld an Annas Tod gegeben? Sie hatte nicht am Steuer gesessen, trotzdem hatte er sie all die Jahre für die Unfallfolgen verantwortlich gemacht.

Das ist nicht dasselbe. Carmen hatte sich mit den falschen Leuten abgegeben. Sie hatte gewusst, dass Dave Henrys Sohn getrunken hatte, dennoch hatte sie ihn fahren lassen. Mrs. Riley hatte nicht ahnen können, dass ihr Ehemann einen Herzinfarkt erleiden würde. Sie war eine verantwortungsbewusste Frau und hätte ihn nie ans Steuer gelassen, wenn sie gewusst hätte, wie riskant es war.

Trent blieb stehen und lehnte sich gegen die Wand. Genau das hatte Carmen zu ihm gesagt. Wenn sie gewusst hätte, dass der Donny einen Unfall verursachen würde, hätte sie ihn nicht fahren lassen.

Vielleicht war sie doch nicht allein verantwortlich für Annas Tod. Sie war nicht selbst gefahren. Sein Verstand wusste, dass Carmen nicht schuld war, aber das änderte nichts an seinen Gefühlen. Sie hätte die Tragödie irgendwie verhindern können. Vielleicht würde er seine Meinung eines Tages ändern, aber im Moment sagte ihm sein Verstand etwas anderes als sein Herz.

4. KAPITEL

Carmen schaute zum Himmel. Es kam ihr vor, als wäre die Sonne erst vor einem Moment untergegangen. Eine sanfte Brise trug frische Meeresluft mit sich, und Carmen atmete sie tief ein. Sie grub die Zehen in den noch warmen Sand und lauschte der Brandung.

Als sie den ersten Stern funkeln sah, wünschte sie sich etwas, wie sie es als Kind immer getan hatte.

„Als Frau nachts allein am Strand zu sein, ist leichtsinnig.“

Carmen zuckte zusammen und drehte sich um. Sie hatte Chief Knight nicht kommen gehört. Anstatt auf sein markantes Gesicht zu starren, drehte sie sich um und schaute den mondbeschienenen Strand entlang. In der Ferne schlenderte ein Paar Hand in Hand über den Sand. „So spät ist es noch nicht. Außerdem kann es Ihnen doch egal sein, ob jemand mir etwas antut. Wahrscheinlich würden Sie einen neuen Feiertag ausrufen, wenn mir etwas zustößt. Dann wären Sie mich schließlich für immer los.“

„Es würde meine Kriminalstatistik verderben. Ganz zu schweigen vom Papierkram. Ich hasse Papierkram.“ Seine Stimme war ausdruckslos. „Ich begleite Sie zum Haus Ihres Vaters. Es wundert mich, dass er Sie allein an den Strand gelassen hat.“

„Erstens, ich wohne nicht bei meinem Vater, sondern im Sunrise B&B. Zweitens, meinen Vater interessiert nicht, was ich tue.“ Sie hob ihre Sandaletten auf und wandte sich zum Gehen. „Es geht Sie zwar nichts an, aber ich bin im Haus meines Vaters nicht willkommen. Oder bei meinen Schwestern.“

„Seit wann?“ Er wollte ihre Hand nehmen. Sie wich ihm so hastig aus, dass sie ausrutschte. Er hielt sie am Arm fest.

Sie riss sich los. Ihre Haut kribbelte, wo er sie berührt hatte.

„Machen Sie sich über mich lustig?“, fragte sie scharf.

„Nein.“

Autor

Susan Crosby
Susan Crosby fing mit dem Schreiben zeitgenössischer Liebesromane an, um sich selbst und ihre damals noch kleinen Kinder zu unterhalten. Als die Kinder alt genug für die Schule waren ging sie zurück ans College um ihren Bachelor in Englisch zu machen. Anschließend feilte sie an ihrer Karriere als Autorin, ein...
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Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...

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Als Tochter lesebegeisterter Eltern ist Kathy Douglass mit Büchern aufgewachsen und hat schon früh eins nach dem anderen verschlungen. Dann studierte sie Jura und tauschte Liebesgeschichten gegen Gesetzestexte ein. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder wurde aus der Liebe zum Lesen eine Liebe zum Schreiben. Jetzt schreibt Kathy die Kleinstadt-Romances,...
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