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Der Job auf Clarewood Priory verspricht unglaublich aufregend zu werden! Cressida spürt, dass ihr Chef Sir Piers Aylward, der Eigentümer des historischen Landsitzes, sie ebenso heiß begehrt wie sie ihn. Trotzdem zieht er sich nach jedem Kuss kühl zurück. Standesdünkel? Oder liebt er noch immer seine Ex-Frau?


  • Erscheinungstag 10.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755430
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Glaubst du wirklich, dass dies das Richtige für dich ist?“ Dr. Heaton blickte besorgt aus dem Autofenster zu seiner Tochter auf. „Ich lasse dich ungern hier, Cressida. Einen so einsam wirkenden Ort habe ich noch nie gesehen. Nirgendwo ein Lebenszeichen.“ Er schaute sich sorgenvoll um und blickte dann auf die Uhr. „Ich muss auch bald fahren. Um sechs werde ich im Krankenhaus erwartet.“

Cressida, die neben dem Wagen stand, beugte sich zu ihrem Vater hinab und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Es geht alles in Ordnung, Dad, wirklich. Ich bin sicher, dass Sir Piers sich hier irgendwo in der Nähe aufhält. Vielleicht musste er weg. Oder er hat vergessen, wann ich ankomme. Ich habe dir doch gesagt, dass er alt und vergesslich ist.“

„Aber irgendjemand muss doch da sein! Seine Frau zum Beispiel. Weiß du eigentlich, ob er verheiratet ist? Klingel noch mal. Ich möchte sichergehen, dass alles in Ordnung ist, bevor ich abfahre.“

Cressida stellte sich aufrecht hin und sah mit ihren grünen Augen ernst zu ihrem Vater hinab. „Dad, ich bin fünfundzwanzig, erwachsen und in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Fahr ruhig zu deinen Patienten zurück. Ich warte hier, bis irgendjemand die Güte hat zu erscheinen. Früher oder später kommt bestimmt einer. Guck mal, die würden wohl kaum die Fenster offen lassen, wenn sie die Absicht hätten wegzubleiben.“

Dr. Heaton warf einen missbilligenden Blick auf die Sprossenfenster. „Die Fenster scheinen jahrelang nicht geputzt worden zu sein. Man kann den Staub von hier aus deutlich sehen.“

Cressida lächelte. „Du kannst von einem Herrensitz aus dem sechzehnten Jahrhundert nicht erwarten, dass er dem Krankenhausstandard an Sauberkeit entspricht. Fahr ruhig, Dad. Ich rufe dich an, wenn die Sache einen Haken hat. Sollte ich hier gestrandet sein, werde ich in dem netten Gasthaus übernachten, in dem wir zu Mittag gegessen haben.“

Dr. Heaton umfasste unschlüssig das Steuerrad. „Teilst du uns mit, wie du zurechtkommst? Komm nach Hause, wenn es Schwierigkeiten gibt.“

„Ich verspreche, euch zu schreiben. Aber ich bin sicher, dass es keine Schwierigkeiten geben wird. Sir Piers hat in seinem Brief genau angegeben, welche Aufgaben mit dieser Stelle verbunden sind – vage drückte er sich da ja nicht gerade aus.“

Cressida beugte sich wieder zu ihrem Vater hinab und küsste ihn noch einmal. „Danke, dass du mich hergebracht hast, Dad. Mach dir keine Sorgen. Nun aber los mit dir, lass mich auf die Suche nach meinem Chef gehen.“

Dr. Heaton wollte noch etwas sagen, aber er überlegte es sich anders, lächelte seine Tochter nur traurig an. Sie hatte ja recht; sie war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er regte sich völlig unnötig auf. Und wenn aus dem Ganzen hier nichts würde – Suffolk lag nicht gerade am Ende der Welt. Cressida könnte die Stelle einfach wieder aufgeben und nach Kent zurückkehren.

Er drehte den Zündschlüssel und legte den Gang ein. „Dann viel Glück, Cressida. Ich hoffe, dass alles klappt. Gib uns Bescheid, wann Clarewood Priory eröffnet wird – deine Mutter und ich wollen die ersten Besucher sein.“

„Ich nehme euch beim Wort“, sagte Cressida und lächelte. „Aber ich werde mich schon vorher mit euch in Verbindung setzen. Vielleicht komme ich sogar an dem einen oder anderen Wochenende nach Hause.“

Cressida sah zu, wie ihr Vater den Wagen auf dem gepflasterten Vorhof wendete, dann die lange Auffahrt hinunterfuhr und schließlich durch die großen Eisentore verschwand.

Nun war sie allein und schaute unsicher umher. Ihr Vater hatte recht gehabt. Nirgendwo ein Lebenszeichen, nicht einmal Hundegebell, das ihre Ankunft meldete. Trotz ihrer selbstsicheren Worte drohte ein Gefühl von Einsamkeit ihren anfänglichen Optimismus zu besiegen, als sie so vor dem großen Hauptportal von Clarewood Priory stand.

Das zweiflüglige Gebäude vermittelte keine einladende Wärme. Die eisenbeschlagenen Holztüren schienen allem Fremden fest verschlossen. Das Haus schien, wie sein Besitzer, Zurückhaltung zu üben.

Auf der rechten Seite des Hofes stand eine Steinbank, und Cressida schlenderte hinüber. Sie setzte sich und versuchte, die Atmosphäre aufzunehmen, während sie darauf wartete, dass jemand kam. Nicht einmal das Geräusch des abfahrenden Wagens hatte Aufmerksamkeit erregt!

Trotz des Staubs, den Cressidas Vater missbilligend erwähnt hatte, funkelten die verbleiten Fensterscheiben in der Aprilsonne, die auch die alten Ziegelmauern erwärmte. Von der Abgelegenheit abgesehen, war dies ein ansprechendes Gebäude, nicht zu imposant trotz seines Alters. Cressida wusste, dass es auf den Grundmauern eines Klosters errichtet worden war. Sie kramte in ihrer Tasche und holte die Notizen hervor, die sie sich zur Vorbereitung für das erste Gespräch mit Sir Piers gemacht hatte. Aber über ein historisches Gebäude zu lesen war doch etwas anderes, als es tatsächlich vor Augen zu haben – und genau das sollte sie den Leuten vermitteln.

Ganz zufällig hatte Cressida die Anzeige in einer der Zeitschriften gefunden, die im Wartezimmer ihres Vaters auslagen.

„Kein Wunder, dass du der beliebteste Arzt weit und breit bist“, pflegte sie ihren Vater zu necken. „Nicht wegen deiner Behandlungsmethode stehen die Leute Schlange, sondern wegen der druckfrischen Zeitschriften in deinem Wartezimmer.“

Seit geraumer Zeit hatte Cressida sich in ihrer alten Stelle nicht mehr wohl gefühlt. Als Sekretärin bei einem Makler in der Kleinstadt, in der ihr Vater arbeitete, war sie unterfordert. Sie besaß Organisationstalent. Das hatte sich gezeigt, als sie den Antiquitätenladen ihrer Mutter während einer Familienkrise eine Zeit lang führte. Im Maklerbüro waren diese Fähigkeiten jedoch kaum gefragt. Die Erfahrung, die sie damals hatte sammeln können, würde ihr jetzt zugutekommen – das hoffte sie zumindest.

Vielleicht hatte sie mit dieser Stelle tatsächlich ein wenig zu hoch gegriffen, aber sie gehörte zu jenen Menschen, die spontan handeln und hinterher überlegen. In der Anzeige war jemand gesucht worden, der die Eröffnung von Clarewood Priory für die Öffentlichkeit organisierte. Und als Cressida das las, entschloss sie sich, den entscheidenden Schritt zu wagen und sich zu bewerben.

„Ich glaube kaum, dass ich eine Chance habe, diese Stelle zu bekommen“, hatte sie ihren Eltern gesagt. „Aber versuchen kann man’s ja mal. Vielleicht springt dabei eine Kurzreise nach Suffolk heraus, zu einem Vorstellungsgespräch mit … wie war doch der Name?“ Sie musste noch mal in die Zeitung schauen. „Sir Piers Aylward. Na, das ist ein guter, altmodisch klingender Name. Ich kann mir den Herrn vorstellen: groß, schon ein wenig älter und ziemlich vergesslich, aber ein Gentleman. Und mit abgetragenen Tweedsachen, natürlich erstklassig geschnitten – einem Cockerspaniel … Oh, und einer Pfeife.“

Cressidas Mutter hatte gelacht. „Ich glaube, deine Fantasie geht mit dir durch. Warte doch erst einmal ab, bis du ihn gesehen hast, bevor du ins Schwärmen gerätst.“

Zu einem Treffen mit Sir Piers war es jedoch nicht gekommen. Cressida hatte sich die größte Mühe mit ihrem Bewerbungsschreiben gegeben. Sie wusste, dass ihre mangelnde Erfahrung höchstwahrscheinlich zu ihrem Nachteil war, wenn es viele Bewerber gäbe. Um dies auszugleichen, versuchte sie, ihr Begleitschreiben so interessant und begeistert wie nur eben möglich zu machen, und vielleicht hatte das ihren zukünftigen Arbeitgeber beeindruckt.

„Oder es hat sich sonst niemand beworben“, hatte Cressida düster gesagt. „Vielleicht stimmt irgendetwas mit dem Ort nicht oder mit dem Besitzer, was nur ich nicht weiß.“

Denn Sir Piers hatte ihr die Stelle sofort angeboten. Keine Rede von einem Vorstellungsgespräch. Alle Vorkehrungen wurden brieflich getroffen, ganz geschäftsmäßig und effizient, aber total unpersönlich.

„Sehr geehrte Miss Heaton“, hatte er geschrieben. „Ich habe Ihren Lebenslauf gelesen und mir Ihre Qualifikationen angesehen. Falls es Ihnen recht ist, würde ich mich freuen, wenn Sie Ende April hierher kommen und Ihre Arbeit aufnehmen könnten. Sie werden selbstverständlich im Priory wohnen, und Ihr Gehalt beträgt …“ Hier hatte er die Summe genannt, die ansehnlich, wenn nicht gar großzügig war. Nach einer kurzen Bedenkzeit hatte sich Cressida entschieden, die Stelle anzunehmen.

„Komisch, dass er mich nicht vorher kennen lernen wollte“, hatte sie gesagt. „Schließlich werde ich dort wohnen. Und man sollte doch meinen, dass er mich erst einmal ansieht, bevor er sich entscheidet.“

Ihre Mutter runzelte daraufhin die Stirn. „Wir wollen hoffen, dass alles anständig ist und in Ordnung geht, wenn du da wohnst.“ Cressida lachte und umarmte ihre Mutter. „Du liebe, altmodische Mama – natürlich geht alles in Ordnung. Ich bin doch ziemlich groß und kräftig und werde mich schon durchschlagen.“ Sie straffte sich – immerhin maß sie einen Meter fünfundsiebzig –, warf ihr dunkles Haar zurück und zeigte ihre Muskeln. „Ich nehme es mit jedem klapprigen alten Aristokraten auf, und wenn er Sklavenhandel mit weißen Mädchen betreibt …“

„… wirst du das vermutlich auch für ihn organisieren.“ Sie hatten beide gelacht, und Cressidas Mutter hatte aufgegeben. „Nun, vergiss nicht, dass wir für dich da sind, wenn du uns brauchst … oder wenn es nicht klappt.“

Jetzt war Cressida also hier und sollte für einen Mann arbeiten, den sie immer noch nicht kennen gelernt hatte – ihr Herz flatterte vor Besorgnis. Vielleicht hätte sie doch zunächst vorschlagen sollen, hierher zu kommen und sich vorzustellen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie es nicht für notwendig angesehen. Sie hatte noch nie Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen gehabt.

Ein Windstoß fuhr durch die Notizblätter, die sie in der Hand hielt, und das riss Cressida aus ihren Träumen. Eine große Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, und Cressida fröstelte in der plötzlichen Kühle. Irgendwo schlug eine Uhr.

Man hatte sie bereits eine Stunde warten lassen. Unmöglich! Allmählich wurde sie ärgerlich. Was fiel denen ein? Adelstitel oder nicht, kein Mann hatte das Recht, eine junge Frau – sei sie seine Angestellte oder sein Gast – derart lange warten zu lassen. Das war doch äußerst unhöflich. Es wurde Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen!

Cressida ließ ihr Gepäck mitten auf dem Vorhof stehen und marschierte mit entschiedenen Schritten zum Holzportal. Geklingelt hatte sie zuvor schon mehrere Male, jetzt drückte sie nochmals auf den Knopf und wartete auf eine Reaktion. Nichts geschah. Entweder hörte man die Klingel nicht, oder sie war kaputt. Vielleicht der Türknauf? Vorsichtig umfasste Cressida den großen eisernen Knauf und drehte ihn versuchsweise. Er ließ sich leicht drehen, und sie drückte behutsam gegen die Tür, die sich zu Cressidas Erstaunen sofort öffnete.

Nun, die sind selber schuld, dachte sie und beschloss, einfach hineinzugehen und drinnen zu warten.

Gleich darauf fühlte sie sich in ein anderes Zeitalter versetzt. Die Tür führte in einen lang gestreckten Raum mit hoher Decke, Steinfliesen und Wandtäfelungen aus geschnitzter Eiche. Cressida holte tief Atem und schlang ihre Jacke etwas enger um sich, denn es war kühl. Was für ein Raum! Ach was, das war kein Raum – ein viel zu hausbackenes Wort für etwas so Gewaltiges. Dies musste der so genannte ‚Große Saal‘ sein.

Cressida blickte auf einen riesigen Kamin mit Holzscheiten davor. Ein Tisch, an dessen beiden Seiten schwere Holzbänke standen, erstreckte sich über die ganze Länge des Saales. Es sah so aus, als würde der gesamte Hausstaat zum Abendessen erwartet. Auf einem niedrigen Podium befand sich ein kleiner Tisch mit geschnitzten Stühlen für den Hausherrn und seine Familie.

Das Ganze wirkte steif und finster. Spärliches Licht drang durch schmale, in Blei gefasste Fenster hoch oben an einer Seite; das schwere Eichenschnitzwerk und die elegante Stuckdecke bildeten die einzige Dekoration.

Viel stärker jedoch zogen die Porträts an den Wänden die Blicke auf sich. Die abweisende Kühle, die sich sofort beim Eintritt um Cressida gelegt hatte, rührte nicht nur vom Steinboden her, sondern vor allem von den starren Blicken, mit denen die vergangenen Generationen der Aylwards auf die ungebetene Besucherin herabsahen. Nicht ein einziger Ahnherr lächelte.

Cressida ging langsam von einem Porträt zum anderen. Einige Aylwards trugen eine Uniform; die Haarlänge variierte mit der Mode der jeweiligen Zeit; ein oder zwei protzige Bärte, aber es gab doch bestimmte Züge, die Cressida wieder erkannte, als sie von den Vorfahren aus dem sechzehnten Jahrhundert bis zum eindeutig jüngsten Porträt fortschritt. Dieser letzte Aylward mit dem strengen Mund und dem stählernen Blick hatte wenig Ähnlichkeit mit dem ältlichen Gentleman ihrer Fantasie. Wer war er eigentlich? Bestimmt nicht ihr Sir Piers – Cressida hoffte es zumindest. Sie trat ein wenig näher heran, um das Bild genauer zu betrachten.

Plötzlich hörte Cressida ein leises Geräusch. Erschreckt drehte sie sich um und stellte fest, dass sie nicht länger allein war. An der gegenüberliegenden Wand stand regungslos ein Mann, der Cressida mit der gleichen eisigen Abschätzung musterte wie die Ahnherren. Einer von ihnen musste zu neuem Leben erweckt worden sein. Zumindest schien es Cressida so. Sie atmete schwer und lehnte sich haltsuchend an die Wand, war wie hypnotisiert von der Erscheinung in der Ecke.

„Miss Heaton?“

Die Stimme des Mannes war so kalt wie seine Augen. Cressida nickte, unfähig zu sprechen. Er kam langsam auf sie zu. Die Gummisohlen seiner Schuhe machten kein Geräusch auf dem Steinboden. Natürlich war er kein Geist, das war purer Unsinn, aber die Geräuschlosigkeit, mit der er sich näherte, der konzentrierte Blick – dies alles verstärkte die Vorstellung eines Gespenstes. Nur, wo war er hergekommen?

Cressida schaute an ihm vorbei auf die Stelle, wo sie ihn zuerst gesehen hatte. Sie konnte beim besten Willen keine Tür entdecken, der gesunde Menschenverstand sagte Cressida jedoch, dass es eine geben musste.

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln legte sich um den strengen Mund des Mannes. „In der Holzverkleidung ist eine Tür“, erklärte er kurz. „Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“

Cressida lächelte zaghaft und trat vor. Also doch ein menschliches Wesen – und sicher ihr Arbeitgeber, Sir Piers Aylward. Auf jeden Fall ein Aylward; Cressida hätte die geraden dunklen Augenbrauen und das trotzige Kinn, das zur Herausforderung einzuladen schien, überall sofort wieder erkannt. Die Ähnlichkeit mit den Porträts war bemerkenswert, aber dieser Mann war kein genaues Ebenbild. Die hohe Stirn und die Linie seiner Wangenknochen waren nicht typisch … vielleicht von den Vorfahren mütterlicherseits geerbt? Und woher hatte er diese Gesichtsbräune?

„Wenn Sie fertig sind, Miss Heaton …“

Cressida errötete. „Ich war unhöflich, entschuldigen Sie. Während ich wartete, habe ich mir die Porträts angesehen. Sie sind Sir Piers – Sir Piers Aylward?“

Seine markanten Züge ließen eigentlich keinen Zweifel zu, aber die abgetragene Cordhose und der alte Aran-Pullover passten nicht so recht in Cressidas Vorstellung von einem Baronet aus altehrwürdigem Adelsgeschlecht. Und ihr ältlicher, pfeiferauchender Gentleman in Tweedkleidung? Der Mann vor ihr war höchstens fünfunddreißig Jahre alt. Er neigte gerade den Kopf und gab ihr die Hand. Der feste Händedruck verriet Wärme und stand ganz im Gegensatz zu Aylwards kühler Ausstrahlung.

Ein Schauer durchlief Cressida, und sie blickte hoch. Zu ihrer Enttäuschung konnte sie keinerlei Reaktion in Sir Piers’ Gesicht lesen. Immerhin zeigt sich doch, dass irgendwo unter diesem strengen Äußeren menschliche Gefühle existieren, dachte sie und wartete, bis er sprach.

Sir Piers zögerte einen Augenblick, unschlüssig, was weiter zu tun sei. Er fuhr sich mit den schlanken braunen Händen durchs Haar und fragte dann: „Haben Sie Gepäck?“

„Ja, draußen im Vorhof. Mein Vater hat mich hier hergefahren, ist aber gleich umgekehrt. Er ist Arzt, wissen Sie, und musste zurück zum Krankenhaus. Wir konnten niemanden auf uns aufmerksam machen, und nachdem ich eine Zeit lang draußen gewartet hatte, stellte ich fest, dass die Tür offen war. Ich bin dann hier hereingekommen, um zu warten …“

Cressida geriet ein wenig außer Atem, und sie spürte, dass ihr Geplauder Sir Piers irritierte. Er war offensichtlich kein Mann vieler Worte. Wenn sie mit ihm zusammenarbeitete, musste sie aufpassen, dass sie nicht ins Schwadronieren verfiel, wie ihre Eltern es nannten.

„Soll ich meine Koffer holen?“, fragte sie. „Und vielleicht können Sie jemanden bitten, mir zu zeigen, wo ich sie hinbringen soll – dann bin ich schon mal untergebracht, bevor wir das Geschäftliche besprechen.“

Sir Piers lachte kurz auf. „Sie nehmen hoffentlich nicht an, ich hätte Personal, das Sie von oben bis unten bedient, Miss Heaton. Ich habe nur eine Zugehfrau. Mrs. Bryant kommt vormittags aus dem Dorf hierher, sonst ist hier niemand.“ Er drehte sich auf dem Absatz um. „Kommen Sie, wir schaffen Ihr Gepäck herein. Danach zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.“

Cressida folgte Sir Piers und bemühte sich, ihre Verärgerung zu unterdrücken. Weder hatte er sich dafür entschuldigt, dass er sie so lange hatte warten lassen, noch sie sonderlich freundlich willkommen geheißen, als er sich schließlich dazu herabließ zu erscheinen. Und jetzt hatte er sie quasi als eine Art klassenbewusste Snobistin bezeichnet!

Selbstverständlich erwartete sie nicht, bedient zu werden. Für was hielt er sie eigentlich? Cressida war versucht, sich zu verteidigen. Je eher Sir Piers merkte, was für eine Frau sie war, desto besser … Aber als sie ihn an der Tür einholte, überlegte sie es sich anders. Dies war nicht der richtige Augenblick. Sie würde noch manche Gelegenheit haben, ihm ihre Meinung zu sagen, wenn – falls – sie ihn besser kennen lernte.

Sir Piers öffnete die Tür und ließ Cressida den Vortritt. Während sie an ihm vorbeiging, streifte sie mit der Schulter seinen ausgestreckten Arm. Mit Erstaunen bemerkte Cressida, wie Sir Piers zusammenzuckte, als ob er gestochen worden wäre. Aber sie hatte ihn doch kaum berührt! Sie zögerte einen Augenblick. Doch was sollte sie sagen? Sie ging weiter, als sei nichts geschehen. Aber sie wollte sich diese merkwürdige Reaktion merken.

Sir Piers schloss die Tür und schritt an Cressida vorbei auf den Gepäckberg zu. Im hellen Tageslicht konnte sie ihren neuen Chef besser betrachten als im Dämmerlicht des Hauses.

Er war wesentlich kräftiger, als sie gedacht hatte. Die stark ausgeprägten Schultermuskeln zeichneten sich unter dem weiten Pullover ab. Trotz seiner athletischen Statur bewegte Sir Piers sich mit unbewusster Eleganz und Leichtigkeit. Während Cressida ihn beobachtete, gewann sie den Eindruck, dass er einen großen Teil seiner Zeit im Freien verbrachte. Diese tiefe Bräune stammte nicht einfach vom Herumwerkeln auf dem Grundstück, auch nicht von einem vierzehntägigen Skiurlaub.

Die launische Aprilsonne war wieder hinter den Wolken hervorgekommen und zauberte silbrige Reflexe in das glatte blonde Haar, das Sir Piers in die Stirn fiel, als er sich nach den Koffern und Taschen bückte. Cressida beeilte sich, ihrem Arbeitgeber zu helfen – er sollte die Kuliarbeit nun wirklich nicht allein machen – aber er nahm ihr Gepäck mit Leichtigkeit hoch. Dabei strafften sich die Muskeln seiner Oberschenkel.

„Hier lang“, sagte Sir Piers knapp und ging, in jeder Hand einen schweren Koffer, auf den rechten Flügel des Gebäudes zu, ohne sich darum zu kümmern, ob Cressida folgte.

Unterhielt er sich nie? Das würde aber einsam für sie werden, es sei denn, es gelänge ihr, ihn irgendwie aus der Reserve zu locken. Er blieb vor einer niedrigen Tür in der Ziegelmauer stehen. „Würden Sie die bitte aufmachen?“, bat er. „Und beugen Sie den Kopf, wenn Sie durchgehen. Einige Türbalken sind ziemlich niedrig. Meine Vorfahren waren eindeutig kleiner als wir.“

Cressida beeilte sich, seiner Bitte nachzukommen. Sie freute sich über diesen verhältnismäßig langen Redebeitrag und darüber, dass Aylward zumindest bemerkt hatte, dass sie überdurchschnittlich groß war. Das war nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Sie trat nach ihm ein, schloss die Tür – und befand sich in einem Gebäudeteil, der dem alten Herrensitz einmal als Werkstatt und Lager gedient haben musste. Links und rechts des weiß getünchten Ganges, der sich über die gesamte Länge des Flügels erstreckte, befanden sich leere Räume.

„Dort hinein.“ Sir Piers wies mit dem Kopf auf eine Tür neben dem Rundbogen, durch den man wieder ins Haupthaus gelangte.

Gleich darauf stand Cressida in einem hellen, aber geradezu spartanisch ausgestatteten Zimmer. Die Einrichtung bestand aus einem alten, abgenutzten Schreibtisch mit Stuhl, zwei alten Sesseln, denen auch das ungeübte Auge ansah, dass sie vermutlich aus dem achtzehnten Jahrhundert stammten, einem Aktenschrank, ebenfalls zerkratzt und abgenutzt, und einem alten elektrischen Heizofen. Das war alles.

„Ihr Schlafzimmer ist dort hinten.“ Sir Piers wies auf eine Tür, die aus dem Büro herausführte.

Cressida durchquerte den Raum und schaute in ein kleines, noch spärlicher eingerichtetes Zimmer. Es enthielt ein Bett, ein Waschbecken, das, nach dem Etikett auf dem Kaltwasserhahn zu urteilen, erst kürzlich angebracht worden war, einen Kleiderschrank, eine Kommode und einen harten Stuhl mit kerzengerader Rückenlehne. Sonst nichts, nicht einmal eine Nachttischlampe.

Sir Piers hatte das Gepäck im Büro abgestellt, machte jedoch keinerlei Anstalten, Cressida zu folgen. Glaubt er etwa, dass er seinen Ruf aufs Spiel setzt, wenn er das Schlafzimmer einer Frau betritt? fragte sie sich amüsiert. Nach der Episode an der Eingangstür hätte es Cressida nicht im Geringsten überrascht. Oder vielleicht ist Lady Aylward eine besonders eifersüchtige Frau, dachte sie dann. Das würde zumindest seine erschreckte Reaktion auf Körperkontakt erklären. Sie musste abwarten und es herausfinden.

„Das Zimmer ist hübsch“, sagte sie und war insgeheim froh, dass sie einige ihrer Lieblingsgegenstände von zu Hause mitgebracht hatte. Die Teppiche aus Wales und einige Dekorationsgegenstände würden die beiden Räume etwas freundlicher gestalten. Wie schnell man einer Umgebung, sei sie auch noch so abschreckend, eine persönliche Note geben kann, wusste Cressida.

Sir Piers stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und schaute auf die Gärten hinaus. Sie wagte es nicht, sich zu ihm zu gesellen. So verharrte sie in der Mitte des Raumes und beobachtete ihren neuen Arbeitgeber ungestört. Er hatte die Hände fest auf dem Rücken verschränkt, die Zeigefinger klopften rhythmisch gegeneinander.

Cressida räusperte sich – Sir Piers’ Nervosität steckte an. „Wie hätten Sie es gern, Sir Piers? Soll ich erst einmal auspacken und dann mit Ihnen über mich … über meine Arbeit sprechen?“

Er drehte sich um und sah Cressida an. Obwohl er äußerst kontrolliert wirkte, strahlte er so etwas wie Kraft aus.

„Ich zeige Ihnen, wo Sie mich finden, wenn Sie fertig sind, Miss Heaton.“ Ihre Blicke trafen sich, dann, als sei er erleichtert wegzukommen, durchquerte Sir Piers den Raum, ging zur Tür und wies auf den Rundbogen. „Mein Arbeitszimmer befindet sich dort links. Daneben ist übrigens eine Toilette.“ Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. „Es tut mir leid, dass dieses Haus nicht so gut mit modernen Annehmlichkeiten ausgestattet ist, wie es sein könnte. Aber im Toilettenraum befindet sich ein Duschbad, das Sie selbstverständlich jederzeit benutzen dürfen.“

„Ich danke Ihnen“, antwortete Cressida. „Was immer Sie von mir denken mögen – es tut mir leid, wenn ich Ihnen einen falschen Eindruck vermittelt habe. Ich habe wirklich keinen Luxus erwartet.“

Sobald sie ihren Satz beendet hatte, kamen ihr Zweifel. Das hätte man besser ausdrücken können. Dieser Mann verstand es, sie so zu verunsichern, dass sie immer das Falsche sagte. Cressida warf einen verstohlenen Blick in Sir Piers’ Richtung, aber er schien nicht verärgert zu sein. Geduldig wartete er an der Tür und betrachtete das Gemäuer im Gang mit besorgter Miene.

„Ich gehe dann und packe die Koffer aus“, meinte Cressida schließlich. „Sobald ich mit allem fertig bin, komme ich zu Ihnen herüber.“

Sir Piers sagte nichts darauf; er nickte nur und verschwand im Hauptteil des Gebäudes. Cressida war wieder allein.

2. KAPITEL

Cressida räumte ihre Kleidungsstücke in den Schrank und die Kommode, ging dann in ihr künftiges Büro, schaute sich um und versuchte, sich das ruhige Zimmer mit Leben erfüllt vorzustellen, mit klingelnden Telefonen und dem Klappern der Schreibmaschine. Doch diesmal versagte die Einbildungskraft, und ein Gefühl der Hilflosigkeit beschlich Cressida. Sie fragte sich, was sie hier sollte und wie sie mit ihrem seltsam zurückhaltenden Arbeitgeber zurechtkommen würde.

Einen Augenblick lang war sie versucht, ihre Sachen wieder einzupacken und in die Welt vor den Toren von Clarewood Priory zurückzufliehen, eine Welt, in der Menschen sich gern miteinander unterhielten und sich nichts dabei dachten, wenn sie sich mal zufällig berührten.

Plötzlich wurde irgendwo im Haus eine Tür zugeschlagen, und Cressida erinnerte sich an ihre Pflichten. „Du bist zum Arbeiten hergekommen und hast noch nicht einmal angefangen“, sagte sie halblaut zu sich selbst. „Bevor du auf dem Absatz kehrtmachst und wegläufst, solltest du der Sache – und Sir Piers – zumindest eine Chance geben. Vielleicht wird er etwas zugänglicher, wenn er dich erst besser kennt.“

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und betrachtete sich im kleinen Spiegel über der Kommode. Nicht gerade ein Titelblattgesicht, dachte Cressida und musterte ihre Stupsnase. Aber was soll’s? Ich bezweifle stark, dass Sir Piers mir mehr Aufmerksamkeit schenkte, wenn ich wie Elizabeth Taylor aussähe.

Cressida frischte ihr Make-up auf, glättete ihren knielangen zimtfarbenen Rock, warf ihr volles dunkles Haar zurück und strebte dem Korridor zu. Kein Laut war zu hören.

Das Geräusch, das ihre Absätze auf dem Steinboden verursachten, während sie durch den Rundbogen in den Hauptteil des Gebäudes ging, berührte sie unangenehm. Es kam ihr vor, als störe sie einen Jahrhunderte alten Frieden.

Sie hatte keine Mühe, das Büro ihres Arbeitgebers zu finden. Sir Piers hatte die Tür offen gelassen, und Cressida verweilte auf der Türschwelle, betrachtete die Einrichtung. Der Raum vermittelte einen wesentlich gemütlicheren Eindruck als der große Saal und ihre eigenen Zimmer. Mit den bequemen Ledersesseln und den verblichenen Orientteppichen auf dem Parkettboden wirkte er sehr anheimelnd. Vor den hohen getäfelten Wänden standen Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten.

Cressida sah auf die Buchrücken und erkannte sofort, dass es sich nicht um jene Art von Büchern handelte, wie sie in den meisten Herrenhäusern zu finden sind – säuberlich aufgereihte Lederbände, die mehr zur Dekoration dienen als zum Lesen. Dies hier waren Bücher, die wirklich gelesen wurden und die jemand sorgfältig zusammengetragen hatte.

Sir Piers schien Cressidas Anwesenheit nicht bemerkt zu haben. Er stand am Fenster, die breiten Schultern angespannt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Cressida räusperte sich, und Sir Piers drehte sich jäh um.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe“, sagte sie.

Autor

Helena Dawson
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