Cora Collection Band 46

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Ein Ehering kann manchmal Angst machen. Da flieht man besser Hals über Kopf – ins nächste große Liebesabenteuer!

HALTET DIE BRAUT! von CINDY KIRK
Fassungslos liest Dr. Andrew O’Shea Sylvies Abschiedsbrief. Sie haben einander geliebt, wollten heiraten, aber nun ist sie weg! Er will eine Erklärung – und fährt seiner geflohenen Braut hinterher …

KÜSS MICH, GELIEBTER PRINZ von KATHRYN JENSEN
Unförmige Stiefel zu einem wunderschönen Kleid? Prinz Phillip Kinrowan ist sofort fasziniert von dem Outfit – genauso wie von der jungen Frau, die es trägt. Um zu erfahren, wer die bezaubernde Alexandra wirklich ist, schlägt er ihr ein ungewöhnliches Wochenende vor …

EINE BRAUT MUSS SICH ENTSCHEIDEN … von TERESA SOUTHWICK
Sich in einem schmutzigen Hochzeitskleid um einen Job bewerben? Auch für Kate scheint das kein guter Start. Trotzdem gibt der gutaussehende Cabot ihr Arbeit auf seiner Ranch – bis ihr altes Leben sie einholt …


  • Erscheinungstag 19.11.2021
  • Bandnummer 46
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502238
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cindy Kirk, Kathryn Jensen, Teresa Southwick

CORA COLLECTION BAND 46

1. KAPITEL

Sylvie Thorne schaute in den Spiegel und zwang sich zu atmen. Sieben Sekunden ein, elf Sekunden aus. Fast sofort legte sich die Panik.

Zwei Stunden zuvor hatte sie Cassidy Duggan, der Betreiberin des Clippety Di Dah Salons, freie Hand gegeben, ihr Haar zu schneiden und zu färben. Cassidy ging mit dem Haar ihrer Kundinnen zwar ebenso unkonventionell um wie Sylvie mit ihren Torten, aber sie war nun mal die beste Stylistin in Jackson Hole.

„Was meinst du?“ Cassidy strich eine lockere Strähne an ihren Platz und lächelte erwartungsvoll.

„Ich sehe … anders aus.“ Das war untertrieben, aber etwas Besseres fiel Sylvie nicht ein.

Sie betrachtete ihren ungewohnten Anblick und erinnerte sich daran, dass sie es selbst so gewollt hatte. Die Frisur, die sie seit der Highschool getragen hatte, war ihr langweilig erschienen. Die bevorstehende Hochzeit einer Freundin war der Anstoß gewesen, den sie gebraucht hatte, um etwas anderes zu probieren.

Vor zwei Stunden hatte sie den Salon mit langen kupferfarbenen Locken betreten und sich in Cassidys fähige Hände begeben.

„Schlicht und edel.“ Daffodil Prentiss, die Hairstylistin am Nachbarstuhl, unterstrich ihr Urteil mit einem Kopfnicken.

Schlicht und edel.

Das hörte Sylvie selten. „Es gefällt mir.“

Das Haar war jetzt glatt, fiel ihr auf die Schultern und hatte honigblonde Spitzen.

„Wirklich?“, fragte Cassidy. „Wenn du es nicht magst, kann ich …“

„Genau so wollte ich es“, unterbrach Sylvie sie.

„Ich wollte es nicht zu verrückt aussehen lassen.“ Cassidy tippte mit dem Finger gegen ihre leuchtend roten Lippen. „Wenn du nach Hause kommst und es nicht gewagt genug findest, können wir es mit etwas Himmelblau aufpeppen. Das würde deine violetten Augen so richtig betonen.“

„Nein, kein Blau“, sagte Sylvie rasch. „Das hier ist perfekt.“

Weil sie in ihrer Konditorei Crazy Cakes eher ungewöhnliche Torten produzierte und meistens Boho-Chic trug, fanden viele sie exzentrisch.

Jetzt sah sie – jedenfalls laut Daffodil – schlicht, aber elegant aus. Wer hätte das für möglich gehalten?

„Super gemacht“, lobte Sylvie die Stylistin, bevor sie aufstand und sie umarmte. Dann bezahlte sie, gab ein großzügiges Trinkgeld und ging in den sonnigen Sommertag hinaus.

Sie lockerte ihr Haar, schüttelte es kurz und fühlte sich plötzlich ganz leicht und sorgenlos. Da es Anfang September noch zu früh für den Ansturm der Skiläufer auf Jackson Hole war, herrschte in der Innenstadt nur wenig Verkehr. Sylvie hielt nach jemandem Ausschau, den sie kannte. Sie konnte es kaum erwarten, ihren neuen Stil zu präsentieren.

Frisur und Freunde waren schnell vergessen, als ihr Blick einen dunkelhaarigen Mann an der nächsten Querstraße erfasste. Sie betrachtete sein Profil, während er die Speisekarte im Fenster des Coffee Pot Cafés überflog.

Sylvie blieb die Luft weg. Andrew.

Ihr Herz begann zu klopfen, und sie hörte ein Rauschen in den Ohren. Sie sagte sich, dass er es nicht sein konnte. Andrew O’Shea lebte in Boston, zweitausend Meilen entfernt. Trotzdem erschien ihr etwas an dem Mann allzu vertraut.

In den Monaten, in denen sie zusammen gewesen waren, hatte sie Andrew oft gesagt, dass er seinen Wohlstand und sein privilegiertes Leben so trug wie die meisten Männer ihre Lieblingsjacke. Er hatte jedes Mal gelacht, als hätte sie einen guten Witz gemacht.

Vielleicht lag es gerade an seiner Herkunft aus einer reichen Familie, dass er sich als klassischer Hausarzt Zeit für seine Patienten nahm, anstatt möglichst viele davon durch die Praxis zu schleusen. Wie angewurzelt stand Sylvie da und starrte auf den Mann. Die Sehnsucht, die in ihr aufstieg, war so stark, dass ihr die Tränen kamen.

„Sylvie?“

Hastig blinzelnd drehte sie sich nach der Stimme um.

Josie Campbell, werdende Braut und ihre beste Freundin, berührte sie am Arm. „Geht es dir gut? Du hattest einen eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht.“

Sylvie schaute die Straße entlang. Andrews Doppelgänger war verschwunden. Sie rang sich ein Lächeln ab. „Eine Sekunde lang dachte ich, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.“

Josie folgte ihrem Blick. Sie war eine attraktive Frau mit honigblondem Haar, strahlend grünen Augen und einem großen Brillanten an der linken Hand. „Wie sieht sie aus?“

„Er.“ Sylvie wedelte mit der Hand. „Groß, mit dunklem Haar. Bestimmt war er es nicht.“

„Groß und dunkelhaarig, ja?“ Josie legte einen Finger an den Mund. „Und gut aussehend, nehme ich an.“

Andrew sah tatsächlich sehr gut aus. Aber er war in Massachusetts, nicht in Jackson.

„Gut aussehend? Ja, das trifft es. Falls wir von deinem Verlobten reden.“ Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann kam auf sie zu. Da Josie ihm den Rücken zukehrte, bemerkte sie es nicht.

„Noah sieht wirklich gut aus.“ Josie lächelte. „Ich treffe mich gleich mit ihm an der Kirche. Wir …“

Dr. Noah Anson wirbelte sie herum, und als sie aufschrie, küsste er sie. Josie legte die Hände in seinen Nacken, und er streichelte ihren Rücken. Sylvie stockte der Atem, so gewaltig war die Liebe in seinen Augen. Die Sehnsucht, die sie gerade eben verspürt hatte, kehrte mit Wucht zurück.

Josie seufzte glücklich.

Noah ließ den Arm um ihre Taille und nickte Sylvie zu. Dann runzelte er die Stirn und kniff die Augen zusammen. „An dir ist heute etwas anders.“

„Das Haar“, sagte Josie. „Bei all dem Gerede über heiße Kerle habe ich ganz vergessen, dir zu sagen, wie sehr mir deine neue Frisur gefällt. Und die Farbe ist einfach famos. Cassidy, nehme ich an?“

Sylvie ließ eine der kurzen seidigen Strähnen durch die Finger gleiten. „Wer sonst?“

„Steht dir.“ Noah sah Josie. „Was für heiße Kerle meinst du?“

„Dich natürlich, Liebling.“ Josie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. „Und ein Typ, den Sylvie gerade gesehen hat. Sie meint, dass sie ihn kennt.“

„Nur auf den ersten Blick“, verbesserte Sylvie. „Aber er war es nicht.“

Es kann nicht Andrew gewesen sein. Er hatte keinen Grund, hier zu sein.

Trotzdem hielt sie auf dem ganzen Weg zu ihrem Geschäft nach dem früher so vertrauten Gesicht Ausschau.

Später an diesem Tag betrat Dr. Andrew O’Shea das Hill of Beans in der Innenstadt von Jackson, bestellte einen äthiopischen Kaffee und setzte sich damit an einen Tisch am Fenster. Es kam ihm seltsam vor, unter der Woche Blue Jeans und ein Poloshirt zu tragen. In Boston trug er selten Jeans, aber für seine Reise in das Land der Cowboys und Rodeos hatte er ein paar eingepackt.

Aufzufallen war das Letzte, was er wollte. Er wollte diskret vorgehen, bis er wusste, wie er sich Sylvie am besten nähern konnte. Zunächst hatte er daran gedacht, einfach in ihrem Geschäft aufzutauchen. Aber sie bei der Arbeit zu stören fühlte sich nicht richtig an. Und er verließ sich meistens auf seinen Instinkt.

Viel länger würde er nicht warten. Er war gestern eingeflogen. Heute Morgen hatte er im Coffee Pot gefrühstückt und seine Strategie geplant. Er war es endgültig leid, sich mit den verwirrenden Gefühlen abzuquälen, die er seit Monaten mit sich herumschleppte. Sobald er die Antworten hatte, die er brauchte, würde er nach Boston zurückkehren und sein gewohntes Leben weiterführen.

Als Sylvie ihn kurz vor der Hochzeit verlassen hatte, war er fassungslos gewesen. Er hatte herumtelefoniert, kein Mensch wusste, wo sie steckte. Aber niemand, den er anrief, war überrascht. Offenbar hatte Sylvie den Ruf, äußerst sprunghaft zu sein. Er entschied sich, ein paar Tage abzuwarten, ob sie von allein wiederkam. Aber noch bevor vierundzwanzig Stunden vergangen waren, erfuhr er, dass eine gute Freundin aus Kindertagen im Sterben lag. Die akuten Probleme verdrängten für eine Weile den Trennungsschmerz.

Kurz nachdem seine Freundin verstorben war, las Andrew einen Artikel über die Weinauktion und das Food Festival in Jackson Hole. Darin wurde auch Sylvie Thorne, eine einheimische Tortenkünstlerin, erwähnt. Er fand heraus, dass sie dorthin umgezogen war. Selbst wenn ihr Name nicht genannt worden wäre, hätte er gewusst, dass sie es war. Denn ein Farbfoto zeigte eine mehrstöckige Hochzeitstorte, die nur von ihr sein konnte. Als sie beide noch zusammen gewesen waren, hatte sie gerade erst als Konditorin angefangen, aber ihr Stil war schon damals unverkennbar gewesen.

Jetzt dachte er an die Torte, die sie kurz vor ihrem Weggang zu seinem Geburtstag kreiert hatte. Eine dreistöckige Burg mit schiefen Türmen und breit grinsenden Figuren als Wasserspeier. Den Kaffeebecher zwischen den Händen, starrte er aus dem Fenster. Er war nur drei Querstraßen von der Backstube entfernt, in der sie ihre Meisterwerke schuf.

Andrew trank einen Schluck. Eins stand fest: Er brauchte Antworten.

Ohne die würde er nicht aus Wyoming abreisen.

Einen Block von Benedict und Poppy Campbells Haus in Spring Gulch entfernt parkte Sylvie ihren Minivan am Straßenrand. Anstatt auszusteigen blieb sie sitzen und versuchte sich zu erinnern, warum sie die Einladung zur Grillparty angenommen hatte.

Sie ging selten als Gast zu Barbecues oder Abendessen. Sie traf sich auch nicht nach der Kirche am Sonntag mit Freunden im Coffee Pot Café. Das lag daran, dass sie in einer Welt ohne Barbecues und Dinnerpartys aufgewachsen war. Sylvie und ihre Mom waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, einfach nur zu überleben. Sie hatten mit Lebensmittelmarken eingekauft und in einer schäbigen Sozialwohnung gehaust.

Sylvie war dreizehn gewesen, als ihre Mutter sie verlassen hatte, und hatte schnell herausgefunden, dass das Leben in einer Pflegefamilie sogar noch härter war.

Jetzt schob sie die schmerzhaften Erinnerungen beiseite. Als sie nach Wyoming gezogen war, hatte sie sich geschworen, nie mehr zurückzublicken. Daran hatte sie sich gehalten.

Nur am Anfang der Woche nicht, als sie geglaubt hatte, Andrew gesehen zu haben. An dem Abend hatte sie ihren Verlobungsring herausgeholt und an früher gedacht. Obwohl ihr noch immer weh ums Herz wurde, wenn sie das tat, war sie noch immer überzeugt, dass es richtig gewesen war, sich von ihm zu trennen.

Seinen Ring zu behalten war allerdings falsch gewesen.

Da spielte es auch keine Rolle, dass der dreikarätige Diamant ihre letzte Verbindung zu ihm gewesen war.

Oder dass der Ring kein Familienerbstück war.

Und auch nicht, dass sie damals einen guten Grund gehabt hatte, ihn mitzunehmen. Sie hatte befürchtet, dass Andrew den Ring, der extra für sie entworfen worden war, von der Longfellow Bridge in den Charles River werfen würde.

Sylvie schloss kurz die Augen. Wäre es wirklich so schlimm, einfach wieder wegzufahren? Noch hatte niemand sie gesehen.

Trotzdem zögerte sie. Die Party war für Josie, und die wollte unbedingt, dass ihre Brautjungfern erschienen. Sylvie fügte sich in das Unvermeidliche, stieg aus und achtete darauf, nicht den Wagen zu streifen. „Ethel“, der 1996er Dodge-Kombi, den sie kurz nach der Ankunft in Jackson Hole gekauft hatte, war über und über mit Staub bedeckt.

Der hellblaue Lack blätterte stellenweise ab, und ein herrenloser Einkaufswagen hatte am Heck eine Beule hinterlassen, aber das Gefährt ließ sie nie im Stich. Sie hatte die Rücksitze ausbauen lassen, um mit „Ethel“ ihre Torten auszuliefern. Sie ließ den Blick über die glänzenden Autos in diesem wohlhabenden Viertel von Jackson Hole wandern. Ihr Wagen passte ebenso wenig hierher wie sie selbst.

Sylvie schaute auf ihren Rock mit den orangefarbenen, roten und schwarzen Diagonalstreifen und zögerte erneut. Sie trug dazu Gladiator-Sandalen und ein schwarzes Oberteil, das um ihren gepiercten Bauchnabel herum einen Streifen Haut freiließ.

Zu diesem Barbecue versammelte sich die High Society von Jackson Hole, und sie war hier so fehl am Platz wie früher in Andrews Welt.

Herzukommen war ein Fehler gewesen.

Sylvie wollte gerade die Wagentür öffnen, als Tim und Cassidy in einem glänzend roten SUV hinter ihr hielten. Sie seufzte resigniert, stieg aus und begrüßte die beiden.

Ehe und Mutterschaft hatten Cassidy nicht verändert. Die Hairstylistin trug einen blauen Rock und ein Top in Tierfelloptik. Sylvie atmete auf. Sie war nicht die Einzige mit gewagtem Outfit.

Cassidy war zwar mit einem prominenten Kinderarzt verheiratet, aber wie Sylvie stammte sie aus eher bescheidenen Verhältnissen.

Nach einer überschwänglichen Begrüßung hakte Cassidy sich bei Sylvie ein, ging mit ihr zum Haus und fragte, ob sie eine Torte mitgebracht hatte.

„Keine Torte, aber ich habe ein Blech Cupcake-Burger gebacken.“ Obwohl Poppy, die Gastgeberin, darauf bestanden hatte, dass sie nichts mitzubringen brauchte, hatte Sylvie ihre neueste Kreation vorhin schon abgeliefert. Auf die Weise hatte sie sich die Möglichkeit offengehalten, die Party zu schwänzen.

Cassidys Mann Tim, konservativ gekleidet in Kakihose und marineblauem Poloshirt, sah sie neugierig an. „Cupcake-Burger? Klingt nach etwas, das Esther und Ellyn schmecken würde.“

Esther und Ellen waren Tims Zwillinge aus erster Ehe. Als Witwer hatte er die Mädchen allein großgezogen, bis er und Cassidy im letzten Jahr geheiratet hatten.

„Bestimmt würden die beiden sie lieben. Allein der Name ist schon lustig“, sagte Cassidy. „Sind sie schwierig zu machen?“

„Ganz einfach. Man beginnt mit Vanille-Cupcakes und einem Blech Brownies.“ Auf dem kurzen Weg zur Veranda erklärte Sylvie, wie sie die Brownies für die „Burger“ rund schnitt, farbigen Zuckerguss für Senf, Ketchup und Salat nahm und das Ganze zwischen zwei „Brötchenhälften“ aus Cupcakes klemmte.

„Du bist wirklich unglaublich talentiert“, lobte die Stylistin. „Und heute Abend siehst du absolut hinreißend aus.“

Das Kompliment verhalf Sylvie zu dem Selbstvertrauen, das sie benötigte, als Poppy die Tür öffnete. Obwohl sie mit ihrem zweiten Baby im siebten Monat war, sah die Gastgeberin in grauem Leinen äußerst elegant aus. Auf dem Weg durchs Haus verlor Sylvie ihre Freunde aus den Augen. Sie hatte mit einem oder zwei Grills gerechnet, aber auf der großen Terrasse bildete eine komplette, aus Natursteinen gestaltete Outdoor-„Küche“ den Mittelpunkt. Zwischen den Schüsseln mit diversen Salaten standen farbenfrohe Blumensträuße. Sylvie entdeckte ihre Cupcakes inmitten der anderen Desserts. Offenbar war ihr Beitrag gut angekommen, denn das in ein hübsches Tablett verwandelte Blech war fast leer.

Benedict und sein Vater John standen am Grill. Poppys Schwiegermutter Dori schlenderte umher und sorgte dafür, dass jeder einen Drink hatte. Anders als bei Partys mit Cateringservice schien das hier eine Familienangelegenheit zu sein.

Sylvie nahm von Dori etwas entgegen, das sich Crazy Coyote Margarita nannte, bevor sie die zukünftige Braut im Garten stehen sah. Josie plauderte gerade angeregt mit einigen Frauen und winkte sie sofort herüber. Das strahlende Gesicht ihrer Freundin bewies Sylvie, dass es doch richtig gewesen war, heute Abend herzukommen.

Sie betrat den Rasen und blieb gerade stehen, um an ihrer Margarita zu nippen, da spürte sie ein Kribbeln im Nacken. Eine Sekunde später legte sich eine Hand um ihren Arm, und ein vertrauter männlicher Duft hüllte sie ein.

„Hallo, Sylvie.“

Sie drehte sich um und starrte in die leuchtend grauen Augen von Andrew O’Shea.

Seit Sylvie das Haus von Ben Campbell betreten hatte, war Andrew ihr unauffällig gefolgt. Ben, einem alten Freund aus Internatstagen, war er zufällig über den Weg gelaufen. Zuerst hatte er die spontane Einladung zum Barbecue ablehnen wollen, aber dann war Sylvies Name gefallen. Ben hatte von seiner Schwester erzählt und zu Andrews Verblüffung dabei seine Exverlobte erwähnt.

Andrew ließ sich nichts anmerken und fragte wie beiläufig, ob es sich um die Konditorin handelte, die kürzlich in einem Artikel über die Weinauktion in Jackson Hole genannt worden war. Als Ben es bejahte, lenkte Andrew das Gespräch wieder auf die Grillparty und erfuhr, dass Sylvie auch kommen würde.

Jetzt war er froh, dass er die Einladung angenommen hatte.

Sie sah so hübsch aus wie immer, auch wenn ihr Haar jetzt anders war.

Sie tarnte ihr Erstaunen mit einem höflichen Lächeln, das nichts verriet. „Andrew. Was für eine Überraschung. Ich habe gar nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen.“

„Ben und ich sind zusammen zur Schule gegangen.“ Verlegen schob er die Hände in die Hosentaschen und befahl seinem klopfenden Herzen, sich zu beruhigen. Es half nicht, dass sie das gleiche Parfüm trug wie früher, ein leichter Zitrusduft, der ihn an Orangenhaine und leidenschaftliche Nächte denken ließ. Noch Tage, nachdem sie ihn verlassen hatte, war der Duft in seinem Kissen gewesen.

Sie hatte ihm geschrieben, dass sie ihre Verlobung löste, und der Schmerz über die SMS – die verdammte SMS – saß noch tief. Aber im Moment vermischte er sich mit einem Zorn, den er nur mühsam bändigte.

„Ich gehe besser wieder hinein.“ Sie wirbelte herum und wäre geflüchtet, wenn seine Reflexe nicht so gut wären.

Er hielt sie fest. „Lauf nicht weg. Nicht wieder.“

Sylvie riss ihren Arm los.

Als er die Tränen in ihren großen violetten Augen sah, wich er einen Schritt zurück und hob die Hände. Er würde seine Antworten bekommen, das stand fest. Er konnte warten.

„Ja, wir müssen reden.“ Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihre Hand zitterte leicht. „Aber wir feiern Noahs und Josies Verlobung, und ich möchte ihnen nicht den Abend verderben.“

Andrew musste an die letzte Party denken, auf der Sylvie und er gewesen waren. Es war keine offizielle Verlobungsparty gewesen, aber seine Eltern hatten sie eingeladen, damit auch die entfernteren Familienmitglieder Sylvie kennenlernen konnten. Alles war elegant und geschmackvoll gewesen, und Sylvie hatte jede Minute gehasst. Sie hatte angeboten, eine Torte zu backen, aber seine Mutter hatte abgelehnt, um den Caterer nicht zu kränken.

Sylvie und er hatten den wahren Grund gekannt. Seine Mutter befürchtete, dass Sylvies Torte allzu unkonventionell ausfallen würde. An dem Abend hatte er nicht zu Sylvie gehalten. Damals war es ihm nicht wichtig erschienen, aber inzwischen war ihm klar, wie sehr er sie enttäuscht hatte.

„Morgen?“, fragte sie.

„Zum Mittagessen.“

Du meine Güte, gingen sie zivilisiert miteinander um.

Sie nickte.

Er nahm sein Smartphone heraus. „Gib mir deine Nummer.“

Sylvie blickte zum Haus. „Ich rufe dich an.“ Sie zögerte. „Es sei denn, du hast eine neue Nummer.“

„Nein.“ Er schaute ihr in die Augen. „Aber du hast deine geändert.“

Sie zuckte mit der Schulter. Als er sie erwartungsvoll ansah, diktierte sie ihm ihre Nummer. Er tippte sie ein und las sie ihr vor.

Ihre Augen verrieten, wie angespannt sie war, aber ihre Stimme klang unbeschwert. „Wie es aussieht, sind wir wieder verbunden.“

Sie waren sogar mal sehr eng verbunden gewesen, bis sie die Verbindung abrupt gekappt hatte. Mit einer einzigen SMS. Eine Handvoll Worte, mit denen sie ihm mitteilte, dass sie ihn nicht liebte, ihn nicht heiraten konnte und ihn nicht wiedersehen wollte.

Ja, sie waren verbunden gewesen. Jetzt nicht mehr.

Sylvie biss in einen saftigen Hamburger mit Avocado-Relish und Pfefferschinken und fragte sich, ob sie träumte. War sie wirklich gerade Andrew begegnet?

„Dein Freund ist echt heiß.“ Josie stellte sich zu ihr, hakte sich bei ihr ein, nahm einen Schluck Margarita und sah sie an. „Warum hast du mir nie von ihm erzählt?“

Sylvie legte den Hamburger auf den Teller zurück und winkte ab. „Der einzige heiße Mann, über den wir heute Abend reden sollten, ist dein Verlobter.“

Josies Blick wurde verträumt. „Hättest du jemals geglaubt, dass ich mit einem Neurochirurgen zusammen sein werde?“

„Du hast mal gesagt, ich soll dich ohrfeigen, wenn du einen zweiten Blick auf einen Arzt wirfst. Dann gehst du plötzlich mit Noah aus, und jetzt heiratest du ihn auch noch.“

„Das Herz will eben, was es will.“ Josie seufzte glücklich. „Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen, Sylvie. Ich denke einfach nicht daran, dass er Arzt ist.“

Sylvie schmunzelte, obwohl ihr eigentlich nicht dazu zumute war. Als sie mit Andrew zusammen gewesen war, hatte sie zu ignorieren versucht, dass er nicht nur Arzt, sondern millionenschwerer Erbe von O’Shea Sports war. Sie hatte sich vorgemacht, dass eine Promenadenmischung aus dem falschen Teil der Stadt zu einem Bostoner Rassehund passte.

„Was ist los?“ Josie legte eine Hand auf ihre Schulter. „Sag’s mir.“

Sylvie rang sich ein geübtes Lächeln ab, „Ich denke gerade daran, was ich diese Woche erledigen muss. Beim Frauenchor ist der Caterer in letzter Minute ausgefallen, und ich muss einspringen. Jeder Auftrag ist willkommen, aber als One-Woman-Show …“

„Kann ich helfen?“

„Ich schaffe es schon.“ Vorausgesetzt, Andrew O’Shea kehrte nach Boston zurück. In die Welt, in die er gehörte.

Nach einer rastlosen Nacht stand Sylvie früh auf und nahm sofort ihr Handy zur Hand. Sie starrte aufs Display. Sie wollte Andrew nicht anrufen. Wenn sie die Tür zur Vergangenheit öffnete, würde sie sich den Gefühlen ausliefern, die sie in den letzten Monaten so mühsam unterdrückt hatte.

Aber sie konnte ihn nicht einfach ignorieren. Schließlich liebte … hatte sie ihn einmal geliebt.

Außerdem war da noch der Ring. Er gehörte ihr nicht. Andrew hatte ihn ihr als Symbol ihres Versprechens geschenkt.

Heute würden sie beide Frieden schließen. Sie würde ihm den Diamanten zurückgeben und diesen Teil ihres Lebens endgültig hinter sich lassen. Mitten in der Nacht davonzulaufen war feige gewesen. Es erinnerte sie daran, was ihr Vater getan hatte, als sie vier Jahre alt gewesen war. Und ihre Mutter neun Jahre später. Aber bei denen hatte es keine SMS gegeben. Ihre Eltern waren einfach verschwunden, und sie hatte nie wieder von ihnen gehört.

Sie rief Andrew an und verbrachte den Rest des Vormittags damit, ihr Outfit für das Treffen zusammenzustellen, was fünfmaliges Umziehen erforderte. Etwas später betrat sie das Coffee Pot Café und entdeckte Andrew an einem kleinen Tisch am Fenster.

Als er sie bemerkte, stand er auf. Immer ein Gentleman.

Sylvie winkte ihm zu. Beim Näherkommen registrierte sie, dass er – auch das wie immer – makellos gekleidet war. In dunkler Hose und grauem Button-down-Hemd sah er elegant aus.

Plötzlich erschienen ihr schlichter Bauernrock und das Spitzentop viel zu lässig. Aber sie hob das Kinn und sagte sich, dass sie nicht in Boston, sondern in Jackson Hole war. Das hier war das Coffee Pot Café, nicht einer seiner exklusiven Clubs.

Er zog ihr einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Du siehst hübsch aus.“

Sylvie setzte sich. „Ich habe nicht erwartet, dass es hier so voll ist.“

Andrew nickte nur.

Sie unterhielten sich über das Wetter, bis die Kellnerin an den Tisch trat. Sylvie bestellte einen Salat, den sie vermutlich nicht essen würde. Sie war viel zu nervös.

„Was ich in der Zeitung über dich gelesen habe, war beeindruckend“, sagte er und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Sie strich über ihr beschlagenes Wasserglas. „Hast du mich so gefunden?“

„Wo du bist, wusste ich schon eine Woche, nachdem du Boston verlassen hattest.“

Verblüfft sah sie ihn an. „Warum bist du nicht sofort hergekommen?“

Andrew trank einen Schluck Wasser. „Deine SMS hat keinen Zweifel daran gelassen …“ Er zögerte. „Du hast geschrieben, dass du mich nicht wiedersehen wolltest.“

„Das mit der SMS tut mir leid.“ Hätte er so kurz und knapp mit ihr Schluss gemacht, wäre sie am Boden zerstört gewesen. „Wirklich. Ich dachte, wenn du eine längere Erklärung gewollt hättest, wärest du mir gefolgt. Aber das bist du nicht.“

„Audrey ist am Morgen nach der Party zusammengebrochen. Ich war im Krankenhaus, als ich deine Nachricht bekommen habe.“ Erst dort hatte er erfahren, dass seine gute Freundin aus Kindertagen an Krebs erkrankt war.

Andrew schwieg, als die Kellnerin ihre Getränke servierte.

Zwei Tische entfernt begann ein Baby zu weinen.

Andrew schaute auf den Kaffee, den er nicht wollte, und fühlte, wie er immer zorniger wurde. Das schrille Weinen des Babys ging ihm auf die Nerven. Er rieb sich die Stirn, hinter der es schmerzhaft zu pochen begann. Ein vollbesetztes Café am späten Sonntagvormittag war kein Ort für ein ernsthaftes Gespräch.

Er hätte nicht nach Jackson Hole kommen dürfen.

Er sollte jetzt gehen. War es überhaupt noch wichtig, warum sie ihn damals verlassen hatte? Sie hatte es getan, und das ließ sich nicht ungeschehen machen.

Andrew holte tief Luft. „Das …“

Sylvie legte eine Hand auf seine. „Das mit Audrey tut mir leid“, sagte sie. „Sie war ein wunderbarer Mensch.“

„Du weißt, dass sie Krebs hatte?“, fragte er überrascht. „Dass sie gestorben ist?“

Ihr Blick wurde noch trauriger. „Ich habe den Nachruf im Globe gelesen.“

Audrey war eine begnadete Musikerin aus einer prominenten Bostoner Familie gewesen und viel zu jung verstorben.

Andrew musste lächeln. „Als wir dreizehn … oder vierzehn waren, haben wir einen Pakt geschlossen. Wenn wir mit dreißig noch nicht verheiratet sind, gehen wir zusammen zum Altar.“

In dem Jahr, in dem Sylvie ihn kennengelernt hatte, war er dreißig geworden.

„Du hast sie nicht geheiratet.“

„Audrey war für mich wie eine Schwester. Wir waren nie mehr als gute Freunde.“

Sie starrte auf ihren Kaffee. Das Baby war wieder still.

„Andrew, ich …“

„Erzähl mir von deinem Leben hier“, unterbrach er sie brüsk.

Ihre Augen wurden groß, und sie trank einen großen Schluck, bevor sie antwortete. „Schon in der Ausbildung wusste ich, dass ich meinen eigenen Betrieb eröffnen wollte. Mein Handwerk bedeutet mir sehr viel. Es ist eine Leidenschaft. Ich bin Künstlerin, nicht nur Konditorin.“

Er hatte gewusst, wie gern sie Torten backte … kreierte. Er hatte auch gewusst, dass sie ihren Beruf liebte. Aber eine Leidenschaft? Dass sie ihn offenbar nicht vermisste, traf ihn. „Einen Betrieb zu gründen erfordert Kapital.“

Sein scharfer, kalter Ton ließ sie zusammenzucken. Aber dann lächelte sie matt. „Du hast meine Backstube nicht gesehen. Sonst wüsstest du, dass man sich auch ohne viel Geld selbstständig machen kann.“

Sollte er ihr erzählen, dass er sich ihre Backstube angesehen hatte? Von außen wirkte Crazy Cakes nicht gerade einladend. Nur eine Tür mit einem Schild, kein Fenster.

Nein, er durfte nicht zu viel Interesse zeigen. „Ist sie in der Nähe?“

„Nicht weit von hier.“

Die Kellnerin stellte ihre Speisen auf den Tisch. Sylvies Blick wanderte von ihrem Salat zu seinem Schinkenomelett.

„Mach schon“, sagte er lächelnd.

Sie griff nach ihrer Gabel. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

Er spießte ein Stück Schinken auf und wedelte damit vor ihrer Nase. „Du weißt, dass du es willst.“

Sie zögerte nur kurz, bevor sie es ihm abnahm und hineinbiss. „Ich wollte keinen Schinken mehr essen.“

„Ich habe dich in Versuchung geführt.“

„Manche Dinge sind eben unwiderstehlich.“

Erinnerte sie sich daran, wie sie ihm gesagt, er sei unwiderstehlich?

Das Baby begann wieder zu weinen, aber Andrew nahm es kaum wahr. Er hatte ganz vergessen, wie hübsch Sylvie war, mit dem kupferfarbenen Haar, den großen violetten Augen, dem herzförmigen Gesicht. Kein Wunder, dass er sich in sie verliebt hatte.

Plötzlich begriff er, warum er nach der Trennung nicht einfach so hatte weiterleben können wie vor ihrer Beziehung. Sie war anders als alle Frauen, die er sonst noch kannte. Allein das hatte ihn fasziniert. Ganz zu schweigen von ihrer Schönheit und ihrem einzigartigen Stil.

Sie hat dich sitzen lassen. Daran ist nichts besonders.

Andrew zog eine Augenbraue hoch. „Kannst du von den Torten leben?“

Sylvie schob den letzten Bissen Schinken in den Mund, kaute ohne Hast und schluckte ihn herunter. „Ja, warum nicht? Ich backe sie für Hochzeiten und andere festliche Anlässe. Seit einiger Zeit beliefere ich einige Cafés und Restaurants in Jackson Hole. Der Küchenchef im Spring Gulch Country Club und ich verhandeln gerade über einen Vertrag. Ich komme zurecht.“

„Das alles ist sehr weit von Back Bay entfernt.“

„Das war deine Welt.“ Sie hatte sich in dem Bostoner Nobelviertel nie zu Hause gefühlt.

„Es hätte auch deine werden können.“

„Nein.“ Sie setzte sich auf und sah ihm in die Augen. „Da irrst du dich. Es hätte niemals meine werden können.“

2. KAPITEL

Sylvie entschied, dass es ein Fehler gewesen war, sich im Coffee Pot zu treffen. Erstens war es ein viel zu öffentlicher Ort für ein ernsthaftes Gespräch, und zweitens wollte sie gar nicht mit Andrew reden. Wozu auch?

Es war nicht seine Schuld, dass sie beide aus verschiedenen Welten stammten. Sie hatte naiverweise geglaubt, dass Liebe genug war. Aber die Liebe hatte ihre Eltern nicht zusammengehalten. Und die Liebe hatte ihre Mutter nicht dazu gebracht, bei ihrem Kind zu bleiben, obwohl Sylvie außer ihr keine Familie gehabt hatte.

Sie war nur ins Café gekommen, um ihm den Ring zurückzugeben. Ein eindeutiger Bruch mit der Vergangenheit würde ihr erlauben, nach vorn zu schauen. Nur nach vorn. Sie griff in die Tasche.

Bevor sie den Ring herausholen konnte, legte Andrew ihr eine Hand auf den Arm. „Du brauchst noch nicht zu bezahlen. Wir essen noch. Außerdem lade ich dich ein.“

„Es war ein Fehler“, sagte sie nur.

„Du wirst immer besser darin, wegzulaufen. Pass auf, sonst wird es zur Gewohnheit.“

Sie ließ den Ring wieder ins Innenfach fallen. „Ich verstehe einfach nicht, wozu dieses Treffen gut sein soll.“

„Du schuldest mir eine Erklärung.“ Bevor Andrew mehr sagen konnte, rief jemand Sylvies Namen. Dann seinen.

Sie drehte sich um. Ben und Poppy Caldwell steuerten ihren Tisch an.

„Was macht ihr zwei denn hier?“, fragte Poppy.

„Wir essen“, antwortete Sylvie, obwohl sie keinen Bissen mehr herunterbekam.

Poppys Lachen war leise und heiser, so perfekt wie ihr schlichtes rotes Etuikleid und die kastenförmige Jacke. Dies war eine Frau, die perfekt in Andrews Welt gepasst hätte, eine Frau mit Klasse.

Als Josie ihr erzählt hatte, dass Poppy Sozialarbeiterin war, hatte sie es nicht glauben können. Model? Absolut. Sozialarbeiterin? Niemals.

Durchaus vorstellbar war allerdings, dass Benedict, in dunkelbrauner Hose, elfenbeinfarbenem Hemd und italienischen Loafern, mit Andrew zur Schule gegangen war.

„Sylvie und ich kannten uns, als sie in Boston gewohnt hat“, erwiderte Andrew lächelnd. „Wir dachten uns, wir erneuern unsere … Freundschaft.“

Sein kurzes Zögern vor dem letzten Wort ärgerte Sylvie. Es deutete an, dass es zwischen ihnen mehr als Freundschaft gegeben hatte. Poppy und Ben wechselten einen wissenden Blick.

„Dann war es ja gut, dass ich dir über den Weg gelaufen bin und dich zum Barbecue eingeladen habe“, sagte Ben.

„Ich hatte ohnehin vor, Sylvie aufzuspüren. Aber dass wir einen gemeinsamen Freund haben, war überraschend.“

Sylvie bezweifelte, dass Dr. Benedict Jackson, einer von Jackson Holes führenden Orthopäden, sie als Freundin betrachtete, aber sie widersprach nicht.

„Ein paar von uns treffen sich hier, während die Kinder in der Sonntagsschule sind. Wir haben hinten einen großen Tisch“, sagte Poppy und ging zur Seite, damit die Kellnerin Andrews Kaffeebecher auffüllen konnte. „Wir haben Sylvie schon oft dazu eingeladen“, sagte sie zu ihm. „Aber sie gibt uns jedes Mal einen Korb. Jetzt sind wir wenigstens gleichzeitig im Café, das ist ein Fortschritt.“

Sylvie lächelte. Sie mochte die Sozialarbeiterin. Die, mit denen sie als Jugendliche zu tun gehabt hatte, waren auf ihre Regeln und Bestimmungen fixiert gewesen. Poppy dagegen schien sich wirklich für ihre Schützlinge zu interessieren.

„Setzt euch doch zu uns“, drängte Poppy.

„Danke für die Einladung“, erwiderte Andrew, „aber wir haben viel nachzuholen.“

Wir? Hatte er wirklich wir gesagt? Als wären sie beide auch außerhalb des Coffee Pot zusammen. Und warum drückte er jetzt auch noch ihre Hand?

Nein. Nein. Nein.

Als sie die Hand wegzuziehen versuchte, schlossen sich seine Finger fester um ihre, bis Ben und Poppy sich verabschiedeten und weitergingen.

Kaum waren sie allein, zog Sylvie ihre Hand unter seiner hervor. „Was sollte das denn?“

Anstatt zu antworten, nahm er die Serviette vom Schoß und warf sie auf den Tisch. Er hatte sein Essen kaum angerührt. „Ich bin fertig. Was ist mit dir?“

„Ich auch.“ Sie starrte auf ihren Salat und wehrte sich gegen den unerwarteten Ansturm der Gefühle. Andrew hatte ihr mal sehr viel bedeutet … und es wäre so einfach, sich wieder in ihn zu verlieben.

Sie würde den Ring zurückgeben. Dann hätte sie keinen Grund mehr, ihn zu sehen.

„Andrew.“ Sie schluckte schwer. „Ich habe deinen Ring behalten. Das war falsch. Ich entschuldige mich dafür.“

Eine Sekunde lang wirkte er verwirrt, als hätte er den Drei-Karäter vergessen, doch dann winkte er ab, als wäre der Ring unwichtig. „Ich habe ihn dir geschenkt. Er gehört dir.“

„Du hast ihn mir zur Verlobung geschenkt“, beharrte Sylvie. „Aber …“

„Der verdammte Ring ist mir egal.“ Abrupt stand er auf und warf Geld auf den Tisch. „Aber mir ist nicht egal, warum du mich verlassen hast. Lass uns bei dir darüber reden.“

Sylvie erhob sich ebenfalls, während die Umsitzenden sie beide neugierig ansahen. Sie hatte ein Geschäft – ein neues Geschäft – in Jackson Hole und wollte nicht, dass man über sie tuschelte.

Daher rang sie sich ein Lächeln ab. „Gute Idee“, sagte sie so unbeschwert wie möglich.

Auf dem Weg aus dem Café ertrug sie seine Hand am Rücken, doch als sie kurz darauf vor einer geschlossenen Versicherungsagentur standen, wirbelte sie herum. „Was ist das für ein Spiel, das du mit mir treibst? Was willst du von mir?“

Er fuhr sich durchs Haar, stieß den Atem aus, antwortete jedoch nicht.

„Ich gebe dir den Ring zurück. Dann sind wir miteinander fertig.“ Sie öffnete ihre Handtasche, aber wieder hielt er sie fest.

„Nicht hier.“ Er nahm ihren Arm und eilte weiter. „In deiner Backstube.“

War er immer so herrisch gewesen? Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Plötzlich blieb er stehen und stützte sie, als sie das Gleichgewicht verlor. „Nein, vielleicht sollten wir besser zu dir nach Hause gehen. Wo wohnst du?“

Ihr Herz begann zu klopfen. Etwas in seinem Tonfall, an seinem Gesichtsausdruck brachte Erinnerungen an ihre Kindheit zurück. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beine gehorchten nicht.

Sein Blick wurde sanfter. „Das hier ist schwieriger, als ich dachte.“

„Ich wohne hinter der Backstube.“ Sie setzte sich in Bewegung. Je früher sie ihm den Ring gab und seine Fragen beantwortete, desto besser.

Andrew holte sie ein, berührte sie aber nicht wieder. „Findest du es gut, an deinem Arbeitsplatz zu wohnen?“

„Es hat seine Vorteile.“

Sie liefen schweigend nebeneinander her.

„Die Mieten in Jackson Hole sind astronomisch hoch“, sagte Sylvie schließlich. „Das war mir nicht klar, als ich hergezogen bin.“

„Wie bist du auf Jackson Hole gekommen?“

„Ich kannte es ja.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es als magischen, wunderschönen Ort in Erinnerung.“

Sie sah ihm an, dass er es nicht vergessen hatte. Kurz, nachdem sie ein Paar geworden waren, hatten sie spontan ein Wochenende hier verbracht. Er hatte ihr Skilaufen beigebracht. Und wie man richtig Schneeball warf.

Wieder schwiegen sie.

Als sie wenig später die kobaltblaue Tür von Crazy Cakes aufschloss, war Sylvie sich noch immer nicht sicher, worauf sie sich da eingelassen hatte.

Du schuldest es ihm.

„Spartanische Einrichtung.“

Sie drehte sich zu Andrew um.

In dem winzigen Raum, in dem sie ihre Kunden empfing, standen ein kleiner runder Tisch und zwei Stühle.

„Was passiert, wenn du mehr als einen Besucher hast?“

„Dann muss jemand stehen.“ Sie lächelte. „Außerdem entscheiden sie sich dann schneller, was sie wollen.“

„Wo sind die Backöfen?“

Offenbar erwartete er eine Besichtigungstour. Na ja, die würde nicht lange dauern. Ihre Mieträume waren kleiner als sein begehbarer Kleiderschrank. Sie betrat die Backstube, stolz auf die großen professionellen Öfen und die blitzsauberen Arbeitsflächen. Das hier gehörte alles ihr. Ihr und der First National Bank von Jackson.

„Beeindruckend.“ Er klang, als würde er es ernst meinen. „Wo ist deine Wohnung?“

„Wohnung würde ich es nicht nennen“, sagte sie lachend, als er ihr durch eine weitere Tür folgte.

An der Wand des postkartengroßen Raums stand ein schmales Doppelbett. Die einzigen anderen Möbel waren eine Mikrowelle auf einem Ständer und ein Stuhl, der seine beste Zeit hinter sich hatte. „Klein, aber mein.“

Es gelang ihm nicht, zu verbergen, wie entsetzt er war. Er räusperte sich. „Das ist … alles?“

„Nein, es gibt noch mehr.“

Er lächelte erleichtert.

„Dahinter liegt mein Dreiviertelbad.“ Sie zeigte auf eine Tür. „Wie du siehst, ist es gar nicht so winzig, wie es scheint.“

Verwirrt starrte er sie an. „Warum lebst du so?“

„Die Mieten in Jackson Hole sind unbezahlbar. Hier ist es warm und trocken und … behaglich.“

Und bequemer, als im Wagen zu schlafen.

„Du warst schon immer sehr optimistisch.“

Sylvie blinzelte. Das hatte noch niemand zu ihr gesagt. Stimmte es? Oder hatte er sich auch darin in ihr getäuscht?

Plötzlich wurde ihr bewusst, wie eng es hier war. Und sie und Andrew waren allein. Sein Duft war subtil und teuer, im Neonlicht schimmerte sein Haar wie Nerz, und sie dachte daran, wie es gewesen war, es durch die Finger gleiten zu lassen. Weil es immer so makellos wirkte, hatte sie es jedes Mal, wenn sie miteinander geschlafen hatten, absichtlich zerzaust. Splitternackt, im Bett, mit dem Hauch eines Eintagesbarts, hatte er nicht wie ein Arzt oder Erbe des drittgrößten Sportartikelherstellers der USA ausgesehen. Damals hatte es sich angefühlt, als wären sie auf gleicher Höhe. Es war einfach gewesen, all die Unterschiede zwischen ihnen zu vergessen.

Zu einfach.

„Sylvie.“ Seine Stimme war leise und heiser, voller Wärme.

Sie hob den Blick. Er stand so dicht vor ihr, dass sie jede seiner schwarzen Wimpern erkennen konnte, die seine strahlend grauen Augen einrahmten.

„Ich habe mir vorgenommen, das hier nicht zu tun“, flüsterte er.

Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr fast schwindlig wurde. „Was nicht zu tun?“, fragte sie atemlos.

„Das hier.“ Er zog sie an sich und küsste sie.

Andrew hatte Sylvie nur kurz küssen wollen. Aber dann kam es ihm so vor, als wäre er seit drei Monaten durch eine Wüste gelaufen und hätte endlich eine Wasserquelle gefunden. Er überlegte nicht mehr, sondern genoss es einfach, ihren schlanken Körper an seinem zu fühlen. Plötzlich war alles wieder gut und richtig. Als sie die Hände in seinen Nacken legte und die Finger in sein Haar schob, explodierte das Verlangen in ihm wie ein Feuerwerk. Ihr leises Aufstöhnen goss Öl in die Flammen, die in ihm aufloderten. Er konnte nicht aufhören, sie zu küssen, erst zärtlich, dann immer leidenschaftlicher.

Ihre Nähe war ihm so vertraut, dass er alles vergaß, was sie trennte. Er ließ eine Hand unter ihr Shirt und über die warme Haut ihres Rückens gleiten. Als sie sich an ihn schmiegte, schob er die Hände langsam nach oben und vorn. Erst kurz vor den Brüsten hielt er inne, aber als sie sich in seinem Griff wand, umschloss er die kleinen Rundungen und streichelte sie mit den Daumen.

Ihr Kopf fiel nach hinten.

Er schob das locker sitzende Shirt hoch, beugte sich vor und küsste eine Brust.

Sie schrie leise auf und krallte die Finger in sein Haar. „Ja, Andrew. Oh ja.“

Mehr brauchte er nicht. Keine Minute später lag ihre Kleidung verstreut auf dem Boden, und sie fielen zusammen auf ihr Bett. In Andrews Kopf schrillte eine Alarmglocke, aber er nahm es kaum wahr.

Wie betrunken von ihrem Duft, ihrem ganzen Körper, war er sich nicht mehr sicher, ob er hätte aufhören können, selbst wenn ein rotes Stoppschild vor seinen Augen aufgetaucht wäre. Er wollte auch nicht aufhören, und als er in sie eindrang, umschloss ihr Körper ihn, als wären sie füreinander geschaffen.

Andrew beherrschte sich, denn das hier sollte so lange wie möglich dauern, für Sylvie, für sie beide.

Er verlangsamte das Tempo, küsste ihren Hals, strich mit der Zungenspitze über die empfindliche Stelle hinter dem Ohr und hörte erfreut, wie sie lustvoll aufseufzte. Als sie wenig später aufschrie und zum Höhepunkt kam, ließ auch Andrew sich gehen und folgte ihr dorthin, wo nichts und niemand sie beide trennen konnte.

Sylvie hatte noch nie eine außerkörperliche Erfahrung gemacht. Aber als sie auf dem Bett lag, Andrew warm und nackt neben sich, fragte sie sich, ob dies eine gewesen war. Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie so etwas wie inneren Frieden.

Sie streichelte seinen Nacken. Sie hatte seinen Körper immer geliebt, die breiten Schultern, die festen Muskeln an den Oberarmen, die schmalen Hüften und kräftigen Beine. Sie hatte ihn vermisst. Diese Nähe hatte ihr gefehlt, das konnte sie sich jetzt eingestehen. Was war daran schlimm? Schließlich geschah das hier nicht wirklich, und sie durfte es ohne schlechtes Gewissen genießen.

Seufzend küsste sie seinen Hals. Vor Andrew hatte es nur einen Mann gegeben, einen Jungen auf der Highschool. Es war ein Fehler gewesen, und danach hatte sie jahrelang intime Beziehungen gescheut. Bis Andrew die Bäckerei betreten hatte, in der sie beschäftigt gewesen war.

Sylvie erinnerte sich an den Tag, als wäre es gestern gewesen. Sein Anblick hatte Gefühle in ihr ausgelöst, die sie fast sprachlos machten. Am nächsten Tag kam er wieder. Und am übernächsten. Nach einer Woche flirteten sie miteinander. Dann gingen sie zusammen essen.

Es war der Beginn eines freien Falls, den sie nicht aufhalten konnte.

Hätte sie damals doch nur gewusst, was sie jetzt wusste. Hätte sie trotzdem mit ihm geschlafen?

Sie seufzte und merkte, dass sie nicht tief einatmen konnte.

„Ich zerquetsche dich.“ Die tiefe Stimme ertönte dicht an ihrem Ohr, und der Druck an ihrem Körper verschwand, zusammen mit der wohltuenden Wärme.

Sylvie blinzelte und tastete mit zitternder Hand nach der nackten Schulter neben ihrer. Erst jetzt begriff sie, dass er keine Erscheinung, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut war.

Ich habe mit Andrew geschlafen.

Verzweifelt schob sie ihn von sich. Zu ihrer Verblüffung fiel er vom Bett und landete mit dumpfem Aufprall auf dem Boden.

Sie hatte ganz vergessen, wie schmal ihr Bett war. Hastig stützte sie sich auf einen Arm und schaute über die Kante.

Lächelnd setzte Andrew sich auf. „Ein Wort hätte genügt, und ich wäre freiwillig aufgestanden.“

„Du bist wirklich hier.“

„Was sonst?“

Sie errötete. „Es hat sich wie ein Traum angefühlt.“

Ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte, vielleicht auch nicht deuten wollte, huschte über sein Gesicht. Wortlos erhob er sich und zog sich an.

Sie tat es ebenfalls.

„Der Sex war immer gut bei uns.“ Er knöpfte das Hemd zu.

Sie streifte die Schuhe über. „Stimmt.“

Er nahm auf dem wackligen Stuhl Platz. „Sag mir, warum du gegangen bist.“

Sylvie ließ sich auf die Bettkante sinken. „Ich habe dir eine SMS geschickt.“

„Wir waren verlobt, und du hast mir eine SMS geschickt.“ Der kalte, zornige Unterton war nicht zu überhören.

„Mir blieb keine andere Wahl.“ Sie hob das Kinn. „Ich hatte Angst, dass ich einknicke, wenn wir uns treffen.“

„Hattest du die?“

Sein eisiger Tonfall ließ sie frösteln. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Der Andrew O’Shea, den sie kannte, war immer umgänglich gewesen. Ein lockerer Typ mit einem unbeschwerten Lächeln.

Jetzt lächelte er nicht.

„Meinst du nicht, nach allem, was wir zusammen hatten, warst du mir mehr schuldig als eine Textnachricht?“ Er spuckte das letzte Wort aus, als hätte es einen bitteren Nachgeschmack.

„Ich war nicht die Frau, für die du mich gehalten hast. Du hast dich in jemanden verliebt, den es nicht gab … nicht gibt.“

Er beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. „In einer Hinsicht hast du recht.“ Er sah sie an. „Ich kenne dich nicht. Die Frau, die ich zu kennen glaubte, hätte mich nicht ohne jede Erklärung verlassen.“ Abrupt richtete er sich wieder auf. „Du schuldest mir eine Erklärung.“

Ja, vielleicht war es gut so. Sie mussten sich aussprechen, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Das Problem war nur: Wie viel sollte sie ihm erzählen?

Er kniff die Augen zusammen. „Die Wahrheit, Sylvie.“

Ihr Lachen verriet, wie nervös sie war. „Soll ich auf die Bibel schwören?“

„Mach dich nicht darüber lustig.“

Sie fühlte sich unglaublich erschöpft. Und traurig. Sie straffte die Schultern und atmete tief durch. Was war daran falsch, ehrlich zu sein? Aber wenn sie ihm erzählte, dass sie das Gespräch zwischen ihm und seinem Vater gehört hatte, würde sie vielleicht einen Keil zwischen die beiden treiben. Nein, sie brauchte ihm nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. Nur genug, um der Trennung einen Sinn zu geben.

„Du warst anders als jeder Mann, den ich kannte.“

„So viele kanntest du nicht.“

Wieder errötete sie. „So habe ich das nicht gemeint.“

Andrew wusste, wie unerfahren sie gewesen war. Ein einziges Mal mit einem siebzehnjährigen Jungen zählte nicht. Als sie und Andrew miteinander geschlafen hatten, war es für sie wie das erste Mal gewesen.

„Ich meinte die Männer, mit denen ich aufgewachsen bin.“ Sie lächelte wehmütig. „Du hast mich … umgehauen.“

Er erwiderte das Lächeln nicht.

Sie befeuchtete ihre Lippen. „Jemandem wie dir … war ich noch nie begegnet.“

„Das klingt, als wäre das etwas Schlechtes.“

„Ich habe hart gekämpft, um die Highschool und meine Berufsausbildung zu schaffen. Ich war immer stolz darauf. Aber wenn wir zusammen waren, kam es mir vor, als wäre es … zu wenig.“

Andrew hatte ihre Arbeit bewundert, aber sie wusste, dass es in seinen Augen nicht mehr als ein Hobby gewesen war. Das war nicht allein seine Schuld. Sie hatte ihm nicht deutlich genug gemacht, wie viel der Beruf ihr bedeutete. Sie wusste nicht genau, warum sie ihm nie erklärt hatte, dass sie all die einsamen Jahre, in denen sie allein gewesen war, nur dank ihrer Kunst – das Backen – überstanden hatte.

„Du meinst, ich hätte deine Leistung nicht anerkannt?“

„Nicht du.“ Es ihm jetzt vorzuwerfen wäre sinnlos. „Vergiss es.“

„Meine Familie?“, fragte er nach.

Sie dachte an seine Eltern. Obwohl sie nicht gerade begeistert gewesen waren, dass er sich mit einer Frau verlobte, die nicht ihren Kreisen entstammte, waren sie freundlich gewesen.

„Es lag nicht daran, was jemand gesagt oder getan hat.“ Sie legte eine Hand aufs Herz. „Es lag an mir selbst. Auch wenn es wie ein Klischee klingt, ich habe mich gefühlt wie ein viereckiger Klotz, der in ein rundes Loch gehämmert wird.“

Andrew stützte das Kinn auf die Finger. „Davon hast du kein Wort gesagt, jedenfalls nicht zu mir.“

„Der Abend mit deiner Familie und deinen Freunden hat mir klargemacht, dass du zu jemandem wie … na ja, wie Audrey passt.“ Sylvie schloss die Augen und wehrte sich gegen den Schmerz. Obwohl sie Audrey Cabot noch nicht lange gekannt hatte, hatte sie sie gemocht und für eine Freundin gehalten.

„Sie war eine gute Freundin, mehr nicht.“

Sein Blick verriet, wie hart ihn Audreys Tod getroffen hatte.

„Du kannst mir wirklich glauben, dass zwischen uns nie etwas war“, fügte er hinzu.

„Ich weiß.“ Sie hatte ihm geglaubt, als er jegliches romantische Interesse an Audrey geleugnet hatte, aber das änderte nichts daran, dass die beiden ein ideales Paar abgegeben hätten. „Ich habe Audrey nur erwähnt, weil sie für mich immer dein …“

Sie suchte nach dem richtigen Wort.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Mein Typ war?“

„Genau. Ich gebe zu, dass die Chemie zwischen uns gestimmt hat. Jedenfalls, wenn es um Sex ging. Vielleicht haben wir uns deshalb nicht genug Zeit gelassen. Du kanntest mich doch eigentlich überhaupt nicht.“

Aber wessen Schuld war das? Sie hatte ihm gar nicht erlaubt, sie richtig kennenzulernen.

Er rieb sich das Kinn, und sein eben noch verwirrter Blick wurde nachdenklich.

„Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Frau, die ich liebe, mich so abrupt verlässt … und mir dann eine SMS schickt.“ Sein Lachen war ohne jeden Humor. „Nicht einmal einen Abschiedsbrief war ich dir wert.“

Sie hatte ihm nicht wehtun wollen. Sie liebte ihn und wollte nur das Beste für ihn. Leider hatte jeder außer ihm schnell eingesehen, dass sie nicht das Beste für ihn war.

„Ich bin froh, dass ich nach Jackson Hole gekommen bin und wir geredet haben“, sagte er.

Sylvie nickte.

„Ich bin auch froh, dass wir Sex hatten.“

Sie neigte den Kopf zur Seite.

„Es hat mich daran erinnert, wie stark die Chemie zwischen uns war.“ Er lächelte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Zweifellos hat der tolle Sex uns dazu verleitet, zu glauben, dass zwischen uns mehr war, als tatsächlich existierte.“

War es das, was sie gewollt hatte? Sollte er begreifen, dass ihre Verlobung ein Fehler gewesen war? Warum verspürte sie plötzlich das Bedürfnis, ihm zu widersprechen und darauf zu bestehen, dass sie mehr als nur guten Sex gehabt hatten?

„Klingt logisch“, log sie.

Er fluchte leise, stand auf und ging hin und her.

Auch sie stand auf. „Sieht aus, als könnten wir die Geschichte damit abschließen.“

Mit einem höflichen Lächeln wartete sie darauf, dass er zustimmte. Dann würde sie ihm den Ring zurückgeben, er würde Lebwohl sagen und gehen.

Doch das tat er nicht.

Er sah ihr ins Gesicht. „So fühlt es sich vielleicht für dich an. Das Problem ist nur, ich will dich immer noch.“

Sie holte tief Luft, um ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen, und schwieg.

„Ich glaube, wir brauchen drastischere Maßnahmen.“ Er machte einen Schritt auf sie zu, nahm ihre Hand und führte sie an seinen Mund.

„Was für … Maßnahmen schweben dir vor?“

„Immersionstherapie.“

Sylvie musste lachen. „Wie bei Leuten, die ins Ausland gehen, um eine Fremdsprache zu lernen?“

„In diesem Fall tauche ich in dein Leben ein. Offenbar kenne ich dich noch nicht richtig, Sylvie. Ich will dein wahres Ich kennenlernen, dann fällt es mir vielleicht leichter, auf dich zu verzichten.“

Sie sollte Andrew erlauben, in ihr Leben einzutauchen? Die Vorstellung erschreckte Sylvie. Die Monate seit ihrer Abreise aus Boston waren schwierig gewesen. Es hatte Tage gegeben, an denen sie am liebsten die Decke über den Kopf gezogen hätte und im Bett geblieben wäre.

Trotzdem war sie überzeugt, dass es richtig gewesen war, ihn zu verlassen. Auf Dauer wäre sie mit ihm so unglücklich geworden, wie ihre Mutter mit ihrem Vater. Irgendwann hätten sie einsehen müssen, dass sie einfach zu verschieden waren. Und bis dahin wäre Andrews Beziehung zu seinen Eltern irreparabel beschädigt gewesen.

Sylvie erinnerte sich an die harten Worte, die zwischen ihm und seinem Vater gefallen waren. Die beiden hatten sie nicht bemerkt, und insgeheim hatte sie Franklin O’Shea recht gegeben. Sie und Andrew passten tatsächlich nicht zusammen, und es wäre wirklich ein Wunder, wenn ihre Ehe länger als ein Jahr oder zwei halten würde. Wie sein Vater glaubte auch sie, dass Andrew sich ohne sie in eine Frau aus seinen Kreisen verliebt hätte.

Sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht. Er wartete noch immer auf eine Antwort.

„Okay.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ein paar Tage …“

„So lange, wie es braucht.“

„Aber nicht für immer.“

Er schmunzelte. „Nein, nicht für immer. Ich muss am 1. Oktober wieder in Boston sein. Ich habe mir drei Wochen freigenommen.“

Drei Wochen mit Andrew. Sie überlegte. „Was müsste ich tun?“

„Du selbst sein.“

Das klang einfach. Drei Wochen. Siebenundzwanzig Tage ihres Lebens. Angesichts ihrer gemeinsamen Geschichte war das nicht zu viel verlangt. Aber sie waren fast sofort im Bett gelandet. Erwartete er, dass sie so weitermachten? „Ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir Intimkontakte auf ein Minimum reduzieren.“

„Wenn du es so willst.“

„Es wäre das Beste, meinst du nicht?“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, wünschte Sylvie, sie könnte die Frage zurücknehmen. Es war allein ihre Entscheidung, ob es ihm nun gefiel oder nicht.

„Einverstanden“, sagte er nach einem Moment.

„Ich werde arbeiten müssen, während du hier bist.“ Sie betrat die Backstube.

Andrew folgte ihr und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. „Ich helfe dir packen.“

„Wovon redest du?“, entgegnete sie erstaunt.

„Ich wohne im Haus eines Freunds in Spring Gulch. Er nutzt es nur während der Skisaison. Du bleibst bei mir.“

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie verschränkte die Arme. „Unnötig und unmöglich.“

Er zog eine Augenbraue hoch.

„Unnötig, weil wir tagsüber Zeit zusammen verbringen können.“ Sie stieß den Atem aus. „Unmöglich, weil … es nun mal so ist.“

Er lächelte. „Falls du dich erinnerst, wir haben in Boston nicht zusammengelebt.“

Dafür hatte es gute Gründe gegeben. Sylvie hatte mit einer Freundin in einem winzigen Apartment in der Nähe der Bäckerei gewohnt, Andrew bei seinen Eltern, bis seine hochpreisige Eigentumswohnung in den Millennium Towers renoviert war. Natürlich hatte er sie eingeladen, in seine Suite in der Villa der O’Sheas zu ziehen, aber sie hatte abgelehnt.

„Vielleicht wäre uns diese Situation erspart geblieben, wenn wir mehr Zeit miteinander verbracht hätten“, dachte er laut nach.

„Das können wir nicht wissen. Aber ich kann nicht in Gulch Springs wohnen. Es liegt zu weit draußen“, beharrte sie.

„Lass uns im Freien darüber reden.“ Er hielt ihr die Eingangstür auf. „Der Tag ist zu schön, um ihn eingesperrt zu verbringen.“

„Ich ziehe nicht zu dir“, murmelte sie und drängte sich an ihm vorbei.

Auf den Bürgersteigen wimmelte es von Touristen. Frauen in Caprihosen und Männer in Cargoshorts bummelten durch die Läden. Als sie durch den kleinen Park in der Mitte der Stadt schlenderten, staunte Sylvie einmal mehr darüber, wie schnell sie sich hier heimisch gefühlt hatte. Vielleicht lag es daran, dass die Einwohner von Jackson Hole Menschen schätzen, die ihren eigenen Weg gingen. Oder daran, wie kunstbegeistert sie waren. Überrascht hatte Sylvie festgestellt, wie viele Maler, Bildhauer und Schriftsteller hier lebten. Außerdem war Jackson Hole eine sportliche Stadt, in der viele Leute Ski liefen, joggten und Rad fuhren, wenn das Wetter es zuließ. Selbst Sylvie, die nie besonders sportlich gewesen war, hatte kürzlich angefangen, die Gegend auf den Wanderwegen und mit dem Mountainbike zu erkunden.

Ja, Jackson Hole war jetzt ihre Heimat, auf eine Weise, wie Boston es niemals hätte sein können.

„Sag mir, was du gegen Spring Gulch hast“, bat Andrew plötzlich.

„Nichts.“ Der Vorort gehörte zu den schönsten Teilen von Jackson Hole. „Es ist sehr hübsch dort. Bestimmt ist auch das Haus deines Freunds hübsch.“

Sie fand es noch immer schwer zu glauben, dass jemand ein Haus in einem so teuren Viertel kaufte, aber nicht das ganze Jahr darin wohnte.

An Andrews Wange zuckte ein Muskel. „Du warst einverstanden, Zeit mit mir zu verbringen.“

„Ich fange um drei Uhr morgens mit dem Backen an. Ich möchte nicht mitten in der Nacht so weit fahren. Bei mir muss ich nur aufstehen, die Tür öffnen und bin in der Backstube.“

„Das verstehe ich.“

„Deine Immersionstherapie muss ja nicht bedeuten, dass man nachts unter einem Dach schläft. Vielleicht ist es sogar besser.“

„Ich stimme dir zu, dass es nicht gut wäre, wenn du mitten in der Nacht allein nach Jackson Hole fahren müsstest“, sagte er.

Sylvie freute sich so sehr über ihren kleinen Sieg, dass sie seine nächsten Worte fast überhört hätte.

„Ich fahre dich.“

Verblüfft starrte sie ihn an. „Das wäre zu viel verlangt.“

„Finde ich nicht.“

Über den Broadway gingen sie zurück in Richtung der Backstube.

„Das war in Boston unser Problem“, begann er mit fester Stimme. „Wir haben nicht genug Zeit für uns gehabt.“

„Wir haben die meiste Zeit im Bett verbracht.“

Er lächelte. „Stimmt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Eine Beziehung ist mehr als Sex.“

„Ich muss los, Sylvie.“ Sein Blick war ernst. „Gilt unser Deal?“

Sie hatte in ihrem Leben viele Fehler gemacht, aber Andrew war der größte. Sie hatte ihn nicht verletzen wollen und wollte es wiedergutmachen.

„Lass uns morgen mit der Therapie beginnen“, sagte sie und schüttelte seine ausgestreckte Hand. „Heute Abend muss ich auf eine Party.“

3. KAPITEL

Sylvie lächelte, als Josie abrupt stehen blieb und einen zweiten Blick auf das Gemälde eines heranstürmenden Büffels im Museum of Wildlife Art warf. Erst nach einem Moment drehte sie sich wieder zu Sylvie um.

„Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Josie, noch immer verdutzt. „Du warst mal mit dem leckeren Dr. Andrew O’Shea verlobt?“

Sylvie nickte.

„Und du hast dich von ihm getrennt. Das verstehe ich zwar nicht, aber das ist deine Sache. Danach bist du hergezogen. Jetzt hat er dich dazu gebracht, die nächsten drei Wochen mit ihm zu verbringen …“ Josie machte eine Pause. „Das ist der Punkt, an dem ich nicht mehr mitkomme.“

„Andrew ist überzeugt, je mehr Zeit er mit mir verbringt, desto klarer wird ihm, dass er mich nicht mag.“ Sylvie ließ sich nicht anmerken, wie weh die Vorstellung tat. „Ich glaube, er hofft insgeheim, dass er mich hassen wird.“

„Der Mann ist immer noch scharf auf dich.“

„Die Chemie zwischen uns hat immer gestimmt“, gab sie widerwillig zu.

„Tut sie es noch?“

„Lass uns später darüber reden, ja?“

„Ich möchte jetzt darüber reden.“

„Später.“ Sylvie ignorierte den flehenden Blick ihrer Freundin. „Die Baisers gehen zur Neige.“

Josie seufzte. „Ich dachte wirklich, du hättest mehr als genug mitgebracht.“

Auf dem weiß gedeckten Tisch standen verschiedenste Petits Fours. Sie entsprachen zwar nicht gerade Sylvies künstlerischen Ambitionen, aber sie bekam schließlich Geld dafür. Heute Abend warb der Frauenchor um neue Mitglieder und hatte dafür das Museum gemietet.

„Diese Frauen sind wie Heuschrecken“, fuhr Josie fort.

„Psst.“ Sylvie stieß sie in die Seite. „Wenn sie mit dem Singen anfangen, vergessen sie hoffentlich das Essen und konzentrieren sich auf die Musik.“

Auf dem Weg in die Küche, um Nachschub zu holen, warf Josie ihr einen neugierigen Blick zu. „Eins möchte ich noch wissen: Wenn du in das Haus ziehst, das Andrew in Spring Gulch gemietet hat, heißt das, du schläfst mit ihm?“

„Josie.“

„Ich finde, das ist eine berechtigte Frage.“

Sylvie verschaffte sich etwas Zeit, indem sie ein Silbertablett mit mehreren Dutzend Baisers in verschiedenen Farben belegte. „Er hat es nicht gemietet. Es gehört einem Freund.“

Josie folgte ihr zurück in den Veranstaltungsraum. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Willst du mit ihm schlafen?“

„Das ist nicht vorgesehen.“

„Ist es nie.“ Josie lächelte. „Noah Anson war der Letzte, mit dem ich schlafen wollte. Und was ist daraus geworden? Ich kann die Hände nicht von ihm lassen.“

„Und ich meine nicht von dir.“

Die tiefe Stimme ließ sie beide herumfahren.

Josie kicherte wie ein Teenager.

Sylvie rutschte das Herz in die Hose, als ihr Blick auf den Mann neben Noah fiel.

Fast hätte sie auch gekichert.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte Josie erfreut. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich dich heute Abend sehe.“

Noah legte den Arm um sie und zog sie an sich. „Ich bin diesem Burschen über den Weg gelaufen.“ Er zeigte mit dem Daumen auf Andrew. „Wir haben uns unterhalten und beschlossen, herzukommen und herauszufinden, ob ihr Hilfe braucht.“

„Sieht nach einer wilden Party aus“, sagte Andrew.

Leiser Gesang mischte sich in das gedämpfte Lachen der Ladys.

„Die Sweet Adelines werben um neue Mitglieder. Unser Frauenchor“, erklärte sie. Warum war Andrew hier? Sie hatten vereinbart, dass die „Immersion“ erst morgen beginnen sollte.

„Wie lange müsst ihr noch bleiben?“, fragte Noah.

Bevor Sylvie antworten konnte, dass Josie es freistand, jederzeit zu gehen, eilte Kathy Randall herbei. „Spielt eine von Ihnen Klavier?“

Josie schüttelte den Kopf.

„Leider nicht“, erwiderte Sylvie. „Gibt es ein Problem?“

„Bei solchen Veranstaltungen singen wir immer mit Klavierbegleitung.“ Kathy zeigte auf den Flügel. „Aber Suzanne Duggan ist erkältet. Sie ist die Einzige von uns, die die bekannten Songs spielen kann, die die Gäste sich wünschen.“

„Ich kann helfen.“ Andrew trat vor und gab ihr die Hand. „Ich glaube, wie kennen uns noch nicht. Andrew O’Shea. Ich bin mit Sylvie befreundet.“

„Sie spielen Klavier, Mr. O’Shea?“

„Bitte nennen Sie mich Andrew.“ Er schenkte ihr das Lächeln, bei dem Sylvie immer weiche Knie bekam. „Ich habe lange nicht mehr gespielt, aber es wird schon klappen.“ Er gab nicht an – das wäre nicht sein Stil. Er war einfach nur selbstbewusst.

Kathy umarmte ihn. „Sie sind ein Lebensretter.“

„Ich helfe gern.“

„Alle mal herhören.“ Kathy bedeutete ihm, ihr zum Flügel zu folgen. „Wir haben einen Pianisten.“

Applaus hallte von den Wänden wider, an denen Gemälde von Elchen, Bisons und majestätischen Bergen hingen.

Josie beugte sich zu Sylvie. „Ist er gut?“

Sylvie lächelte nur. Sie hatte ihn nie spielen gehört.

Andrew spielte ein paar Takte und lächelte Kathy zu. „Was soll ich als Erstes spielen?“

„Augenblick.“ Sie wirbelte herum und klatschte in die Hände.

Sofort wurde es still.

„Ladys, dieser Teil des Programms gibt uns die Gelegenheit, unsere Stimmen aufzuwärmen und dabei etwas Spaß zu haben. Ich wünsche mir den ersten Song.“ Kathy drehte sich zu Andrew um und bat ihn um „Friends in Low Places“.

Sylvie staunte, als Andrew in die Tasten griff und den Country-Klassiker anstimmte. Eigentlich war sie nur als Caterer hier, aber als Kathy sich lächelnd bei ihr einhakte, stimmte sie in den Hit von Garth Brooks ein. Danach wünschte sich jemand „Country Roads“, und wieder sang sie mit. Nach einem halben Dutzend Lieder klatschte Kathy wieder in die Hände und verkündete, dass dieser Programmpunkt zu Ende war.

Andrew erhob sich unter tosendem Applaus.

Als Sylvie nach den Desserts sehen wollte, hielt Kathy sie auf.

„Sie haben eine wunderschöne Altstimme, meine Liebe. Hätten Sie nicht Lust, sich unserem Chor anzuschließen?“

Verblüfft sah Sylvie sie an. Sollte das ein Scherz sein?

„Ich glaube, sie meint es ernst.“ Andrew stellte sich zu ihr. „Du hast wirklich eine schöne Stimme.“

„Ich bin geschmeichelt.“ Sie trat von einem Fuß auf den anderen. „Aber mein Geschäft muss an erster Stelle stehen.“

„Natürlich.“ Die Chorleiterin nickte verständnisvoll. „Aber je mehr Sie sich an unserem Gemeinschaftsleben beteiligen, desto bekannter werden Sie. In Jackson Hole werden Caterer meistens nach persönlichen Kontakten ausgesucht.“

„Sie hat recht“, sagte Andrew, als Kathy davonging.

„Ich habe keine Zeit zum Singen. Was tust du überhaupt hier?“

Als er mit den Fingern, die vor weniger als vierundzwanzig Stunden auf ihrem Körper gespielt hatten, mehrere Liebeslieder intoniert hatte, war ihr weh ums Herz geworden. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, mit ihm glücklich zu werden!

Es war nicht fair, dass er hier auftauchte und sie daran erinnerte, was sie verloren hatte. Aber das Leben war nun mal nicht fair, das hatte sie schon vor langer Zeit lernen müssen.

„Hier ist es besser.“

Blinzelnd registrierte sie, dass er mit ihr in einen winzigen Raum voller Kunstwerke der amerikanischen Ureinwohner gegangen war. Andrew stand so dicht vor ihr, dass sie den dezenten Duft seines Rasierwassers riechen und die goldenen Punkte in seinen grauen Augen erkennen konnte.

„Hier können wir reden“, sagte er. „Ich bin vorhin Noah über den Weg gelaufen.“

„Nur weil er hergekommen ist, um Josie zu sehen, musstest du ihn doch nicht begleiten. Männer sind keine Wölfe. Sie treten nicht im Rudel auf.“

Er lächelte. „Noah hat erwähnt, dass seine Verlobte dir heute Abend hilft. Er wollte nachsehen, ob er euch zur Hand gehen kann.“

„Das erklärt noch immer nicht, warum du hier bist.“

„Er wusste, dass ich nichts zu tun habe. Und da wir beide in nächster Zeit häufig zusammen gesehen werden, dachte ich mir, es würde seltsam wirken, wenn ich nicht mitgehe.“

Das klang logisch.

„Ich wusste gar nicht, dass du so gut singen kannst.“

„Ich bin selbst überrascht“, gab Sylvie zu.

Er schmunzelte.

Plötzlich spürte sie wieder, wie sehr er sie anzog. Obwohl sie deutlich gemacht hatte, dass Sex nicht zur „Immersionstherapie“ gehörte, war sie erneut versucht, gegen ihre eigene Regel zu verstoßen.

Er legte die Hände auf ihre Schultern und zog sie an sich.

„Sylvie, wir haben bald keine …“

Josie blieb abrupt stehen und lächelte verlegen.

Hinter ihr grinste Noah und sah sich demonstrativ in dem kleinen Raum um. „Den Ort muss ich mir merken.“

Josie musterte sie beide. „Wenn du gerade beschäftigt bist …“

Sylvie löste sich von Andrew und hoffte inständig, dass sie nicht errötete. Warum war es in Museen immer so verdammt warm? „Wir sind fertig.“

„Kann ich dir helfen?“, fragte er.

„Danke, ich habe alles unter Kontrolle.“ Schön wär’s, dachte sie, als sie ihn beim Hinausgehen streifte und es zwischen ihnen knisterte.

Am nächsten Morgen stand Sylvie extra früh auf, um zu backen. Zum Labor Day hatten die meisten Restaurants, Cafés und Coffeeshops, die sie belieferte, mehr Torten und Pasteten als sonst geordert. Als sie fertig war, belud sie Ethel mit den Kartons und machte sich an ihre Runde.

Sie fragte sich, warum Andrew noch nicht aufgetaucht war. Hatte es mit dem Patienten in Boston zu tun, der ihn gestern Abend angerufen hatte? Immer wieder musste sie daran denken, wie seine Finger über die Tasten des Flügels geflogen waren. Und dann war da noch der „Fast-Kuss“ in dem kleinen Ausstellungsraum …

Autor

Kathryn Jensen

Kathryn Jensen lebt in Maryland. Glücklicherweise genau zwischen den zwei spannenden Städten Washington, D.C. und Baltimore. Aber der Mittelatlantik war nicht immer ihr zu Hause. Zu den vielen Ländern, in denen sie gelebt hat, zählen unter anderen Italien, Texas, Connecticut und Massachusetts. Viele Länder, die sie auch bereist hat, haben...

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