Cora Collection Band 64

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DIE MILLIONEN-DOLLAR-BRAUT von CHANTELLE SHAW
Wo soll Luca bloß eine Braut für eine Scheinehe hernehmen? Da fällt dem italienischen Millionär die Lösung buchstäblich in die Arme: in Gestalt der hinreißenden Athena, praktischerweise schon im Hochzeitskleid …

SINNLICHE KÜSSE AUF CAPRI von KATE HARDY
Es kann nicht schlimmer werden, da ist Claire sicher! Doch sie irrt sich – denn sie hat nicht nur das Hochzeitskleid ihrer Freundin verloren, jetzt sorgt der smarte Sean auch noch in ihrem Herzen für Chaos …

VERFÜHRT VOM GRIECHISCHEN MILLIARDÄR von CAROL MARINELLI
Erst die Hochzeit, dann die Katastrophe! Noch im Brautkleid erfährt Connie, dass sie betrogen wurde. Sie flieht – doch ihre Hochzeitsnacht auf der griechischen Trauminsel verbringt sie trotzdem nicht allein …


  • Erscheinungstag 14.04.2023
  • Bandnummer 64
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517102
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Chantelle Shaw, Kate Hardy, Carol Marinelli

CORA COLLECTION BAND 64

1. KAPITEL

„Ich habe nachgedacht.“

„Wirklich?“ Luca De Rossi warf seiner blonden Bettgenossin einen skeptischen Blick zu. Giselle Mercier war sicherlich eine Schönheit und eine einfallsreiche Liebhaberin. Doch er bezweifelte, dass dem französischen Model mit den babyblauen Augen und der Vorliebe für teuren Schmuck gerade eine Lösung eingefallen war, wie man den Weltfrieden herstellen oder Krebs heilen konnte.

Sein Verdacht erhärtete sich, als sie nun ihre linke Hand emporreckte, um den riesigen Diamantring an ihrem Finger im Licht der Morgensonne funkeln zu lassen.

„Ja. Ich will nicht auf einem Standesamt heiraten, sondern in einer Kirche. Oder in einer Kathedrale.“ Giselle betrachtete die eleganten Türme des Mailänder Doms, die sich hinter der Fensterfront des Penthouse abzeichneten. „Und ich will ein Hochzeitskleid. Überleg doch nur, was für eine tolle Publicity das für De Rossi Designs wäre“, schnurrte sie. „Die Presse würde sich um die Fotos reißen! Ein Hochzeitskleid, für seine Braut persönlich entworfen vom Kreativchef von DRD!“

„Die Presse wird gar nicht über unsere Hochzeit berichten“, entgegnete Luca kurz angebunden. „Du scheinst zu vergessen, dass unsere Ehe nicht von Dauer sein wird. Ich brauche dich nur für ein Jahr. Danach werden wir uns scheiden lassen, und du wirst eine Million Pfund bekommen, wie vereinbart.“

Giselle warf die Decke zurück und entblößte ihren nackten, makellos gebräunten Körper. Lasziv schlang sie ein Bein über Lucas Hüften. „Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch“, murmelte sie. „Die letzte Nacht war toll, chéri. Ich glaube, das mit uns könnte etwas ganz Besonderes werden.“

Einen Fluch unterdrückend schwang Luca die Beine aus dem Bett. Klar, der Sex war gut gewesen. Aber Sex bedeutete ihm nichts. Sex bedeutete nie etwas …

Er hatte keine Ahnung, wie Giselle darauf kam, dass ihre Beziehung auch nur ansatzweise etwas „Besonderes“ war. Sie hatten eine Abmachung getroffen, von der sie beide etwas hatten, mehr nicht. Dass Giselle jetzt auf einmal die Regeln ändern wollte, ging ihm gehörig gegen den Strich.

Ungeduldig durchquerte er das Zimmer und sah aus dem Fenster, während seine Geliebte den Blick hungrig über seinen nackten sonnengebräunten Po und seine muskulösen Oberschenkel gleiten ließ. Lucas volles schwarzes Haar, das sich im Nacken lockte, glänzte im Sonnenlicht.

Noch nie hatte Giselle einen so guten und unermüdlichen Liebhaber wie Luca De Rossi gehabt. Kein Wunder, dass die Klatschmagazine ihn den „italienischen Hengst“ nannten. Er war nicht nur berühmt für seine zahlreichen Affären mit weiblichen Promis, die seine Entwürfe auf dem roten Teppich trugen, sondern auch für sein Talent, Kleider zu designen, die Frauen wirklich tragen konnten, ganz egal, was für eine Figur sie hatten.

Luca war also nicht nur sündhaft sexy, sondern auch stinkreich. Und er brauchte dringend eine Ehefrau, um die Villa De Rossi behalten zu können, den palastartigen Familiensitz am Ufer des Comer Sees. Das Ganze hing mit dem Testament seiner Großmutter zusammen. Wenn Luca nicht bis zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag verheiratet war, würde die Villa De Rossi verkauft werden.

Giselle hatte keine Ahnung von den Details, und sie waren ihr auch egal. Entscheidend war nur, dass Luca sie gebeten hatte, seine Frau zu werden. Ihre Abmachung würde ihr ein hübsches Sümmchen einbringen. Und ein paar Extras, wie zum Beispiel diesen Diamantring, den sie auch behalten durfte, wenn sie und Luca wieder getrennte Wege gingen.

Doch Giselle hatte nicht die Absicht, irgendwohin zu gehen. Auch wenn eine Million Pfund mehr waren, als sie je mit ihrer Modelkarriere verdienen würde, hatte sie beschlossen, ihren künftigen Ehemann so lange wie möglich zu halten. Wenn er ihr schon nach einem Ehejahr eine Million zahlte, würde nach zwei oder drei Jahren bestimmt viel mehr herausspringen. Und sollten sie ein Kind bekommen, würde Luca den Unterhalt und die Privatschulen zahlen müssen.

Die Zukunft sah wirklich verheißungsvoll aus.

„Luca?“, säuselte sie verführerisch. „Warum kommst du nicht zurück ins Bett?“

Luca ignorierte ihre Aufforderung. Er fand die Situation so frustrierend, dass er am liebsten mit einer Faust gegen die Fensterscheibe geschlagen hätte. Er lehnte die Stirn gegen das Glas und blickte hinunter auf die Galleria Vittorio Emanuele II, Mailands berühmte Einkaufspassage.

Trotz der frühen Morgenstunde strömten bereits zahlreiche Menschen durch die mit Glaskuppeln überdeckten Gänge, in denen man sämtliche Top-Modemarken bekommen konnte. Das von Luca vor fünfzehn Jahren gegründete Modelabel DRD, De Rossi Design, war inzwischen ein weltweiter Erfolg und sein Logo ein Garant für erstklassige Haute Couture und Prêt-à-porter-Mode. Es war die perfekte Ergänzung zu den exklusiven Lederschuhen, Handtaschen und Accessoires, für die De Rossi Enterprises einst so berühmt gewesen war.

Luca hatte das ehrwürdige, aber marode Familienunternehmen vor dem Bankrott gerettet. Ihm war es zu verdanken, dass es inzwischen jährlich über eine Milliarde Pfund abwarf, doch trotzdem hatte er nie einen Dank von seinen Großeltern bekommen, als sie noch am Leben gewesen waren.

Er ging zurück zum Bett und sah Giselle stirnrunzelnd an. Das Letzte, was er wollte, war, dass sie sich einbildete, etwas Besonderes für ihn zu sein oder dass ihre Beziehung von Dauer sein würde.

Als er Giselle kurz nach der Verlesung des schockierenden und skandalösen Testaments seiner Großmutter auf einer Party kennengelernt hatte, war sie für ihn zunächst nur irgendeine Blondine gewesen. Erst als sie ihm unter Tränen anvertraut hatte, dass man sie aus ihrem Model-Vertrag entlassen hatte und sie nicht wusste, wie sie die nächste Miete bezahlen sollte, war Luca die perfekte Lösung für seine Probleme eingefallen. Er hatte Geld und brauchte eine Ehefrau, und Giselle brauchte Geld.

Es war alles ganz einfach.

Allerdings konnte er keine Ehefrau gebrauchen, welche die Situation mit irgendwelchen Gefühlen verkomplizierte, die er sowieso nicht erwidern konnte.

„Der Juwelier, bei dem du den Ring gekauft hast, hat auch eine dazu passende Kette im Schaufenster.“ Giselle arrangierte sich so auf den Kissen, dass ihre Brüste provokativ vorragten. „Es wäre toll, ein Set zu haben.“ Schmollend schob sie die Lippen vor, als Luca ihren Versuch ignorierte, ihn wieder aufs Bett zu ziehen. „Warum ziehst du dich an? Es ist doch Wochenende. Du musst doch heute nicht arbeiten, oder?“

Luca verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass er sein erfolgreiches Modelabel nicht mit einem geregelten Bürojob aufgebaut hatte. In den letzten fünfzehn Jahren hatte er tagtäglich rund um die Uhr geackert, um die Marke De Rossi wieder bekannt zu machen. Und zum Lohn versuchte ihn seine Großmutter jetzt noch aus dem Grab heraus zu erpressen …

Großmutter Violetta hat von mir verlangt zu heiraten, also werde ich heiraten, dachte Luca grimmig, während er seine künftige Braut betrachtete. Doch es würde nur eine Scheinehe sein, ein geschäftliches Abkommen, auf das er sich nur Rosalie zuliebe einließ. Ihr Wohlergehen stand für ihn an erster Stelle.

„Ich muss nach England“, erklärte er Giselle, während er sich rasch anzog. Hose, Jackett und Hemd waren exquisit geschnitten und passten wie angegossen. Der großgewachsene, schlanke Luca war selbst das perfekte Model für sein eigenes Label. „Ich bin zu Gast bei einer Society-Hochzeit“, fügte er hinzu.

Giselle sah plötzlich nicht mehr sexy, sondern gekränkt aus. „Warum nimmst du mich nicht mit? Wer heiratet denn?“

„Charles Fairfax. Ich kenne ihn noch vom College. Er heiratet die Schwägerin meines Freundes Kadir, der Sultan von Zenhab.“

„Du bist mit einem Sultan befreundet?“ Giselle riss überrascht die Augen auf. „Der ist doch garantiert magareich. Werde ich ihn kennenlernen, wenn ich deine Frau bin?“

Nicht wenn ich es vermeiden kann, dachte Luca. Kadir war sein bester Freund. Vermutlich würde er die Gründe für Lucas Heiratspläne sogar nachvollziehen können, aber eigentlich wollte Luca ihn lieber nicht einweihen. Er war nicht gerade stolz auf seine künftige Scheinehe.

Luca war ein mit allen Wassern gewaschener Zyniker, doch bei der Hochzeit von Kadir und seiner schönen englischen Frau Lexi hatte Luca die beiden für einen Moment glühend beneidet um ihr offensichtliches Liebesglück. Ihm selbst würde solch ein Glück wohl immer verwehrt bleiben …

„Wer ist denn diese Schwägerin des Sultans, die dein Freund Charles heiratet?“ Giselle blätterte ein Hochglanzmagazin durch, das sie mitgebracht hatte, weil Luca im Penthouse nur Bücher hatte. „Ist sie ein Promi?“

„Eher unwahrscheinlich.“ Luca erinnerte sich noch lebhaft an Athena Howards saphirblaue Augen, ihr ovales Gesicht und ihr entschlossenes Kinn, das auf eine gewisse Sturheit schließen ließ. Er hatte damals seiner Pflicht als Treuzeuge Genüge getan, sich mit Athena fotografieren lassen und mit ihr getanzt. Sie war ungemein zierlich und so klein, dass sie ihm kaum bis zur Brust reichte. Natürlich war Luca sofort aufgefallen, dass Athena ihrer blonden Schwester überhaupt nicht ähnelte, und so war er nicht sehr überrascht gewesen, als sie erwähnte, dass es sich bei ihr und Lexi um Adoptivgeschwister handelte.

Luca fiel wieder ein, wie sehr ihr Parfüm – ein altmodischer Rosenduft – bei einem Spaziergang in den Palastgärten seine Sinne betört hatte. Er wusste selbst nicht, warum er Athena Howard plötzlich geküsst hatte. Und noch viel weniger wusste er, warum er diesen Kuss einfach nicht vergessen konnte …

Giselles Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Warum kann ich denn nicht mitkommen?“, fragte sie gekränkt. „Man könnte denken, dass du dich nicht mit mir sehen lassen willst.“

„Nun ja, ich kann wohl kaum mit jemandem auf einer Hochzeit auftauchen, der nicht eingeladen wurde.“

Das wütende Aufblitzen von Giselles Augen war ein Alarmzeichen. Lucas Verlobte war zwar eher mit Schönheit als mit Intelligenz gesegnet, aber sie wusste genau, dass er in zwei Wochen fünfunddreißig wurde. Ohnmächtige Wut überwältigte ihn bei der Erkenntnis, dass alles, was ihm etwas bedeutete, in den Händen dieser hirnlosen Tussi lag. Mühsam rief er sich ins Gedächtnis, dass das Ganze nicht Giselles Schuld war. Sie war die Lösung für seine Probleme, nicht die Ursache.

„Warum gehst du nicht zum Juwelier und kaufst dir die Kette, während ich weg bin?“ Er ließ eine Kreditkarte auf das Bett fallen.

Giselle schnappte danach. „Dann könnte ich gleich die passenden Ohrringe dazu kaufen.“

„Warum nicht?“, fragte Luca trocken.

Fünf Minuten später war er bereits auf dem Weg zu der Limousine, die ihn zu seinem Privatjet bringen sollte.

Unerklärlicherweise musste er wieder an zwei saphirblaue Augen denken, doch er zuckte die Achseln. Athena Howard würde in ein paar Stunden Mrs. Charles Fairfax sein. Nur wegen seiner Freundschaft zu Kadir würde er dieser Hochzeit überhaupt beiwohnen!

Stirnrunzelnd dachte er an Kadirs Anruf zurück.

„Lexi ist todunglücklich, dass wir wegen der bevorstehenden Geburt nicht zu Athenas Hochzeit fliegen können“, hatte sein Freund ihm anvertraut. „Wir wären dir beide sehr dankbar, wenn du an unserer Stelle hingehen und mit Athena reden würdest. Lexi macht sich nämlich große Sorgen, dass ihre Schwester einen Fehler macht. Du weißt ja selbst, was für ein unsympathischer Kerl Charlie ist! Sollte Athena einen glücklichen Eindruck machen, brauchst du dich nicht einzumischen. Solltest du jedoch herausfinden, dass sie Zweifel hegt …“

„Was dann?“, hatte Luca nachgehakt.

„Dann sorg dafür, dass die Hochzeit nicht stattfindet. Ich weiß auch nicht wie, aber irgendetwas wird dir schon einfallen.“

Athena fand, dass sie wie ein gigantischer Windbeutel aussah, als sie sich im Spiegel ihres Schlafzimmers in der Woodley Lodge betrachtete, dem Landhaus von Lord und Lady Fairfax. Leider war es jetzt zu spät, sich darüber zu ärgern, dass sie sich zu diesem unvorteilhaften Kleid mit riesigem Reifrock und Puffärmeln hatte überreden lassen.

„Du wirst vor fünfhundert Gästen in die Aristokratie einheiraten“, hatte ihre Mutter gesagt. „Da brauchst du ein Kleid, das Aufsehen erregt.“

Bei der Vorstellung, wie ihr fünfhundert Gäste dabei zusahen, wie sie den Gang zum Altar entlangschritt, wurde Athena schlecht. Bitte, bitte, lieber Gott, lass mich nicht über meinen Rock stolpern und Charlies Missfallen erregen!

Hoffentlich hatte er heute bessere Laune als gestern. Es war ihr schrecklich unangenehm gewesen, Rotwein auf dem cremeweißen Samtteppich seiner Eltern zu verschütten. Lady Fairfax hatte zwar gesagt, dass ihr das nichts ausmachte, doch danach hatte sie die Lippen missbilligend zusammengepresst. Und Charlie hatte sich total aufgeregt und Athena vorgeworfen, sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufzuführen.

Athena biss sich auf die Unterlippe. Manchmal konnte Charlie ganz schön verletzend sein – fast so, als seien ihre Gefühle ihm egal. Während ihrer einjährigen Verlobungszeit hatte sie sich große Mühe gegeben, auf seinen Dinnerpartys die anmutige und elegante Gastgeberin zu spielen, aber sie war nun mal ungeschickt, vor allem wenn sie nervös war. Charlie kritisierte sie deswegen ständig.

Athena warf einen sehnsüchtigen Blick auf den wolkenlosen Septemberhimmel vor dem Fenster. Der Tag war so schön, und sie hatte Stunden davon damit verschwendet, sich das Haar kunstvoll hochstecken zu lassen. Ihre Frisur war so steif wie ein Helm, und die Make-up-Künstlerin hatte sie so stark geschminkt, dass sie sich maskiert vorkam. Die Frau im Spiegel war ihr fremd. Irgendwann im Laufe der Hochzeitsvorbereitungen hatte Athena Howard sich in jemanden verwandelt, den sie nicht wiedererkannte.

Sie versuchte sich einzureden, dass es ganz normal war, vor der eigenen Hochzeit nervös zu sein, doch was sie empfand, war schon fast Panik – ein Gefühl, das sie einfach nicht abschütteln konnte. Verzweifelt ließ sie sich auf die Bettkante sinken.

Warum nur heiratete sie in einem Viertausend-Pfund-Kleid, das ihr gar nicht stand? Mit dem Geld hätte sie wunderbar das indische Waisenhaus unterstützen können, für das sie sich schon seit Langem engagierte. Sie hatte keine extravagante Hochzeit gewollt. Aber ihre Wünsche hatten ja noch nie jemanden interessiert.

Typisch für sie, es immer allen rechtmachen zu wollen – ihren Eltern, Lady Fairfax, Charlie. Das war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie nicht auf ihr Bauchgefühl gehört hatte. Ihr Instinkt hatte sie vor dieser Ehe gewarnt, doch sie hatte ihre Bedenken bisher verdrängt. Erst der Anruf ihrer Schwester gestern Abend hatte sie damit konfrontiert.

„Liebst du Charles Fairfax wirklich von ganzem Herzen? Und liebt er dich?“, hatte Lexi gefragt. „Wenn du nicht beide Fragen bejahen kannst, solltest du die Hochzeit absagen.“

„Das kann ich doch nicht machen!“

Wieder stieg ein Gefühl der Panik in Athena auf. Durch das Fenster sah sie das riesige Festzelt auf dem Rasen. Dutzende von Kellnern in weißen Jacketts eilten mit Tabletts voller Champagnergläser umher. Der Empfang würde am Nachmittag nach der Trauung in der Dorfkirche stattfinden. Am Abend würde es ein Festessen für fünfhundert Gäste geben, gefolgt von einem gigantischen Feuerwerk. Jetzt noch die Hochzeit abzusagen kam nicht infrage. Außerdem redeten Athenas Eltern seit Monaten von nichts anderem, und ihr Vater hatte ihr zum ersten Mal in ihrem Leben gesagt, dass er stolz auf sie war.

Athena musste wieder an Lexis Worte denken. Liebst du Charles Fairfax wirklich von ganzem Herzen?

Vor ihrem inneren Auge sah sie Lexi und Kadir auf deren Hochzeit. Ihr Glück war so offensichtlich gewesen, dass man es förmlich mit Händen hatte greifen können, und als Athena die Liebe in Kadirs Augen für seine Braut gesehen hatte, waren ihr die Tränen gekommen. Charlie hatte sie nie so angesehen! So, als sei sie das für ihn Kostbarste auf der Welt …

Athena biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. Ihre Beziehung war eben anders, versuchte sie sich zu beruhigen. Charlie arbeitete sehr hart, da war es kein Wunder, dass er oft müde und gereizt war. Und da er während der Woche in London wohnte und sie bei ihren Eltern in Reading, sahen sie sich nur an den Wochenenden, entweder in London oder in der Woodley Lodge. Doch auch dann waren sie nur selten allein, weil Charlies Freund Dominic so oft da war. Manchmal hatte Athena den Eindruck, dass sie Charles nur im Weg war und er viel lieber mit Dominic in seinen Club gehen würde.

Dann war da noch das Thema Sex – oder vielmehr der nicht vorhandene Sex. Sie hatte sich nie dazu überwinden können, Charlie zu erzählen, was ihr mit achtzehn Jahren zugestoßen war – das Thema war viel zu persönlich und zu beschämend. Zu ihrer Erleichterung hatte Charlie ihr versichert, mit dem Sex bis nach der Hochzeit warten zu wollen, aber es machte ihr zunehmend zu schaffen, dass es zwischen ihr und ihrem zukünftigen Mann keinerlei erotisches Knistern gab.

Lexi und Kadir hatten auf ihrer Hochzeit kaum die Hände voneinander lassen können. Später hatte Lexi ihr dann auch anvertraut, dass sie ihr Baby, das nun jeden Tag zur Welt kommen konnte, vermutlich während ihrer Hochzeitsnacht empfangen hatte …

Schon Charlies Küssen fehlte etwas Wesentliches – was Athena vermutlich nie erkannt hätte, wenn es damals nicht zu diesem unvergesslichen Kuss mit Kadirs Trauzeugen gekommen wäre! Sie schloss die Augen und versuchte, das Gesicht Luca De Rossis aus ihrem Gedächtnis zu verbannen – seine markanten Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen, der gebogenen Nase und dem zu einem zynischen Lächeln verzogenen Mund. Leider bekam sie ihn seit ihrer Begegnung in Zenhab nicht mehr aus dem Kopf.

Sie hatte gewusst, dass er ein Playboy war. Ihre heftige körperliche Reaktion auf ihn war ein Schock für sie gewesen. Noch nie zuvor war sie einem so aufregenden Mann begegnet. Er hatte Empfindungen in ihr geweckt, von deren Existenz sie bis dahin keine Ahnung gehabt hatte! Oder hatte sie ihre Sinnlichkeit seit ihrem achtzehnten Lebensjahr einfach nur erfolgreich unterdrückt?

Athena hatte seinen unerwarteten Kuss während eines Mondscheinspaziergangs in den Palastgärten tatsächlich für ein paar Sekunden erwidert, bevor sie sich von Luca losgerissen hatte. Wieder zurück in England hatte sie versucht, ihn zu vergessen, aber manchmal spürte sie im Traum wieder seine Lippen auf ihren …

Was machte sie da eigentlich? Warum dachte sie an den Kuss eines notorischen Playboys, dem sie vermutlich nie wieder begegnen würde, wo sie in Gedanken doch bei ihrem künftigen Mann sein sollte?

Athena sprang auf und ging rastlos auf und ab. Natürlich hatte Lucas Kuss nichts zu bedeuten gehabt, aber er hatte ihr bewusst gemacht, dass bei ihrer Beziehung mit Charlie etwas Entscheidendes fehlte. Sie hatte diese Bedenken bisher nur immer verdrängt, weil die Hochzeitsvorbereitungen schon so weit fortgeschritten waren und sie ihre Eltern nicht schon wieder hatte enttäuschen wollen. Es war schlimm genug, dass sie nicht zu der erfolgreichen Akademikerin geworden war, die sie sich immer gewünscht hatten.

Sie hatte sich einzureden versucht, dass sie das Richtige tat, aber in diesem Moment hatte sie das Gefühl zu ersticken. Ihre Panik wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, bis sie die Wahrheit erkannte.

Nein, ich liebe Charlie nicht von ganzem Herzen.

Zittrig einatmend versuchte sie, sich zu beruhigen. Vielleicht wäre es das Beste, mit Charlie zu reden. Er würde ihr seine Liebe versichern, und alles würde wieder gut werden. Es sollte zwar Unglück bringen, wenn der Bräutigam die Braut vor der Trauung im Hochzeitskleid sah, aber sie musste ihn einfach aufsuchen und sich von ihm beruhigen lassen.

Charlies Schlafzimmer befand sich in einem anderen Flügel des Hauses. Als Athena den Korridor entlangeilte, stieß sie fast mit Baines zusammen, dem Butler der Fairfax.

„Master Charles hat strikte Anordnung erteilt, dass er beim Ankleiden nicht gestört werden will“, sagte er kühl.

Normalerweise ließ Athena sich immer von Baines einschüchtern, doch sie widerstand dem Impuls, zurück auf ihr Zimmer zu gehen. „Danke, Baines, aber ich muss meinen künftigen Mann sprechen.“

Der Butler sah sie an, als wolle er protestieren, doch dann nickte er nur steif und ging weiter.

Kurz darauf blieb Athena vor Charles’ Tür stehen und holte tief Luft. Als sie gerade anklopfen wollte, hörte sie Stimmen von der anderen Seite der Tür.

„Das ist vorerst das letzte Mal, dass wir uns sehen können. Ich muss jetzt erst mal ein paar Monate die Rolle des ergebenen Ehemanns spielen.“

„Sieht ganz so aus“, hörte sie eine zweite gedehnte Stimme. „Das wird ganz schön hart für uns. Du sagst, Athena will sofort ein Kind?“

„Klar, sie ist ganz versessen auf ein Baby.“ Charlie lachte. „Sie ist die ideale Ehefrau, da sie weder besonders intelligent noch ehrgeizig ist. Ich werde zwar ein paar Drinks brauchen, bevor ich mit ihr schlafen kann, aber mit etwas Glück wird sie hoffentlich schnell schwanger, und ich muss sie nie wieder anrühren, weil sie zu beschäftigt mit dem Balg sein wird. Dann können wir beide dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.“

Athenas Hände zitterten so heftig, dass sie es kaum schaffte, die Türklinke hinunterzudrücken. Machte Charlie einen Witz? Warum sagte er so schreckliche Dinge über sie? Sie hatte inzwischen die zweite Stimme erkannt. Das konnte doch unmöglich …

Sie stieß die Tür so heftig auf, dass sie in den Angeln quietschte.

„Athena!“, rief Charlie erschrocken. Ein bleiernes Schweigen breitete sich im Zimmer aus.

„Tja, jetzt ist die Katze wohl aus dem Sack“, bemerkte der zweite Mann irgendwann trocken.

„Ich verstehe nicht …“, sagte Athena mit erstickter Stimme, aber natürlich verstand sie – auch wenn sie „nicht besonders intelligent“ war. Charlies Hut und Krawatte lagen auf dem Fußboden, genauso wie der graue Anzug, den er bei der Hochzeit tragen sollte. Er selbst lag mit seinem Freund Dominic im Bett. Der Trauzeuge war ebenfalls nackt – abgesehen von seinem neckisch schief sitzenden Zylinder.

„Um Himmels willen, Athena, was machst du hier?“ Charlie sprang aus dem Bett und streifte sich hastig seinen seidenen Morgenrock über.

Welche Ironie, dass ich meinen Verlobten ausgerechnet jetzt zum ersten Mal nackt sehe, dachte Athena und unterdrückte einen Anflug von Hysterie. „Ich muss mit dir reden.“ Ihre bisherigen Zweifel wegen ihrer Hochzeit waren kein Vergleich zu ihrer Schockstarre jetzt. „Charlie … mir … mir ist bewusst geworden, dass ich dich nicht heiraten kann. Und das hier …“, ihr Blick flog zu Dominic, „… bestätigt meine Bedenken.“

„Sei nicht albern! Natürlich wirst du mich heiraten“, entgegnete Charlie scharf. Er ging auf sie zu und packte sie an einem Arm. „Du kannst jetzt unmöglich einen Rückzieher machen. Meine Mutter kriegt einen Herzinfarkt. Und stell dir erst die Reaktion deiner Eltern vor“, fügte er listig hinzu, den Finger geschickt auf ihren wunden Punkt legend. „Alles wird gut, Athena. Dom und ich …“ Er zuckte die Achseln. „Es hat nichts zu bedeuten. Das ist nur … eine Affäre.“

„Nein, ist es nicht. Ich habe euch gehört, als ich vor der Tür stand. Was ich nicht verstehe, ist, warum du mich heiraten willst, wenn du doch genau weißt, dass du …“ Hilflos verstummte sie.

„… dass ich schwul bin?“, ergänzte Charlie für sie und lachte spöttisch. „Genau deshalb brauche ich ja eine Frau – um einen Anschein von Ehrbarkeit zu wahren. Homosexuelle werden immer noch diskriminiert. Wenn meine Neigung herauskommt, könnte das meine Karriere ruinieren. Und mein Vater würde den Skandal so kurz nach seiner Herzoperation vielleicht nicht überleben. Wenn ich jedoch heirate und einen Erben produziere, mache ich meine Eltern glücklich und sichere mir ganz nebenbei auch noch mein Erbe.“

„Aber du kannst doch nicht für den Rest deines Lebens mit einer Lüge leben – und mich auch noch mit hineinziehen“, protestierte Athena. „Klar, ein Coming-out muss schwierig sein, aber du solltest offen dazu stehen, wer du bist.“

Trotz ihres Schocks empfand sie fast so etwas wie Mitgefühl für Charlie. Es kränkte sie jedoch tief, dass er von ihr erwartete, dabei mitzuhelfen, seine sexuelle Orientierung zu vertuschen. „Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten.“

„Du musst!“ Charlie festigte seinen Griff um ihren Arm.

Sie schüttelte den Kopf. „Mir wurde heute Morgen bewusst, dass ich dich nicht liebe und dass auch du mich nie geliebt hast. Lass mich los, Charlie.“

„Du musst mich heiraten!“, wiederholte er verzweifelt. „Du willst doch Kinder? Wer sonst wird eine fünfundzwanzigjährige Jungfrau heiraten, die sexuell total gehemmt ist?“

Athena wurde blass. „Das ist gemein, Charlie. Können wir das hier nicht wie Freunde beenden?“

Charlie wurde rot vor Wut. „Du blöde Kuh! Wenn du mich nicht heiratest, wirst du alles ruinieren!“

Athena wollte nur noch weg hier. Irgendwie fand sie die Kraft, sich von Charlie loszureißen. Als sie in den Korridor hinausfloh, hallte seine Stimme hinter ihr her.

„Ich habe es nicht so gemeint! Komm zurück, Athena, lass uns reden! Uns fällt schon eine Lösung ein!“

Sie rannte in ihr Zimmer, verschloss die Tür und lehnte sich schwer atmend dagegen. Charlie und Dominic! Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Es hatte verräterische Anzeichen gegeben, aber sie hatte einfach angenommen, dass die beiden sehr enge Freunde waren. Kein Wunder, dass Charlie mit dem Sex so bereitwillig gewartet hatte!

Ihr wurde schlecht. Was sollte sie jetzt nur tun? Mit welcher Begründung konnte sie die Hochzeit absagen, vorausgesetzt, sie fand überhaupt den Mut, nach unten zu gehen und Lord und Lady Fairfax gegenüberzutreten? Sie wollte Charlie nicht bloßstellen. Sein Verhalten ihr gegenüber war zwar unverzeihlich gewesen, aber es widerstrebte ihr, ihn zu verraten. Außerdem war es Charlies Aufgabe, die Katze aus dem Sack zu lassen.

Oh Gott, was für ein Chaos!

Ihr Blick fiel auf das Telefon. Sie spielte mit dem Gedanken, ihre Schwester anzurufen. Lexi würde wissen, was zu tun war. Auf der anderen Seite wäre es nicht fair, ihr so kurz vor der Geburt ihres Babys Sorgen zu bereiten. Und Lexi würde sich Sorgen machen.

Als Athena Stimmen im Korridor hörte, öffnete sie die Tür einen Spalt. Ihre Eltern kamen gerade aus dem Gästezimmer gegenüber. Ihr Vater sah in Frack und Zylinder sehr elegant aus, und ihre Mutter trug einen breitkrempigen Hut mit lila Seidenrosen.

„Wer hätte gedacht, dass unsere Tochter mal ein Mitglied des Königshauses heiraten würde?“, fragte Veronica Howard.

„Charlie ist nur entfernt mit der königlichen Familie verwandt“, dämpfte ihr Mann ihren Enthusiasmus. „Aber es stimmt, Athena macht eine gute Partie.“

Rasch schloss Athena die Tür wieder. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fand es schrecklich, ihre Eltern schon wieder enttäuschen zu müssen. Sie war die einzige Howard, die es nicht auf eine Universität geschafft hatte, wie ihr Vater nicht müde wurde zu betonen. Und das konnte sie nur wiedergutmachen, indem sie diese Hochzeit durchzog und Charlie heiratete, schwul oder nicht.

Doch es gab noch eine andere Option. Ich könnte einfach verschwinden, flüsterte eine Stimme in Athenas Hinterkopf. Aber das wäre total feige, widersprach eine andere Stimme in ihr sofort. Was sollte sie nur tun?

Athenas Eltern unterhielten sich immer noch im Korridor. Athenas einziger Fluchtweg war das Fenster, doch ihr Schlafzimmer befand sich im ersten Stock. Andererseits war das Haus mit Efeu berankt, der stark genug aussah, um sie zu tragen …

Rasch nahm sie ihre Tasche mit ihrem Handy und ein paar Kleinigkeiten, die sie für die Hochzeitsnacht eingepackt hatte. Das gewagte schwarze Spitzennegligé würde sie jetzt wohl nicht mehr brauchen …

Sie öffnete das Fenster und beugte sich heraus. Es schien gar nicht so hoch zu sein. Entschlossen schwang sie ein Bein über die Fensterbank, doch als sie sich am Efeu festhielt und einen Blick zu Boden warf, wurde ihr plötzlich schwindlig. Sie erstarrte vor Angst.

Großer Gott!

„Lass los, ich fang dich auf.“

Die männliche Stimme kam Athena vage bekannt vor, doch sie konnte sie nicht einordnen. Zu ihrem Schreck spürte sie, wie sich der Efeu von der Mauer löste. Athena stieß einen lauten Schrei aus – und fiel.

2. KAPITEL

Als Athena benommen die Augen aufschlug, sah sie in zwei bernsteinfarbene Wolfsaugen mit schwarz umrandeter, goldgesprenkelter Iris.

„Athena.“ Die volltönende männliche Stimme, die wie durch einen Nebel in ihr Bewusstsein drang, klang so dunkel wie Molasse, und der sexy italienische Akzent jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Du musst ohnmächtig geworden sein. Bist du deshalb aus dem Fenster gefallen?“

Blinzelnd fokussierte sie den Blick auf das markante gebräunte Gesicht vor ihr. „Luca?“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, in wessen Armen sie da lag.

„Ich habe dich aufgefangen“, erklärte er.

Jetzt wusste Athena wenigstens, warum sie nicht mit zerschlagenen Knochen auf dem Kiesweg lag. Ausgerechnet Luca De Rossi war ihr Retter? Sie hatte das Gefühl, dass der Albtraum, in dem sie steckte, immer schlimmer wurde.

Leider war es nicht nur ein Traum, denn Luca fühlte sich nur allzu real an.

Sie lag mit einer Wange eng an seiner Brust. Der würzige Duft seines Aftershaves stieg ihr zu Kopf und weckte Erinnerungen an jene Mondnacht in den Palastgärten von Zenhab. Daran, wie Luca den Kopf gesenkt und sie geküsst hatte. Ihr wurde ganz heiß, als sie daran zurückdachte. „Was machst du hier?“, fragte sie errötend.

„Charles Fairfax hat mir eine Einladung geschickt. Ich kenne ihn noch aus Eton.“ Verwirrt runzelte Luca die Stirn. „Mein Name müsste doch eigentlich auf der Gästeliste stehen.“

„Die habe ich nie gesehen.“ Tränen stiegen Athena in die Augen. „Ist das zu fassen? Ich weiß noch nicht mal, wer zu meiner eigenen Hochzeit eingeladen ist!“

Luca hatte Athena gerade noch rechtzeitig vor ihrem Aufprall aufgefangen, sodass sie keine Gehirnerschütterung haben konnte, aber er fand, dass sie trotzdem wirres Zeug redete. Ungeduldig setzte er sie ab. Sie schwankte ein bisschen, und ihr Gesicht war fast so blass wie ihr Kleid.

Der Designer in ihm schauderte, als er das unförmige Kleidungsstück betrachtete. Der Rock war so riesig wie ein Fallschirm. Luca hob den Blick zum Fenster und presste missbilligend die Lippen zusammen. Athena hätte sich schwer verletzen können, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. „Ganz schön dämlich, sich vor ein offenes Fenster zu stellen, wenn man gerade das Bewusstsein verliert.“

Dämlich trifft es in der Tat, dachte Athena bitter. Als ihr einfiel, dass Charlie sie als „nicht besonders intelligent“ bezeichnet hatte, wand sie sich innerlich vor Verlegenheit. „Ich bin nicht ohnmächtig geworden, sondern ich bin aus dem Fenster geklettert, weil ich wegwollte. Ich kann Charles unmöglich heiraten!“

Luca beobachtete über Athenas Schultern hinweg, wie eine Gruppe Kellner mit der riesigen Eisskulptur eines Schwans kämpfte, um sie ins Festzelt zu tragen. Käfige mit weißen Tauben standen bereit, um während des Empfangs freigelassen zu werden. Die Hochzeit versprach die reinste Zirkusnummer zu werden, und die Frau vor ihm sah in dem lächerlichen Make-up und dem furchtbaren Kleid fast aus wie ein Clown. Er erkannte die zurückhaltend und unauffällig gekleidete Athena Howard aus Zenhab kaum wieder.

„Hier.“ Er reichte ihr ihre Brille, die vor ihrer Landung in seinen Armen durch die Luft geflogen war.

„Danke.“ Sie setzte die Brille auf und blinzelte ihn durch die dicken Gläser an.

„Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du in Zenhab eine Brille getragen hättest.“

„Normalerweise trage ich Kontaktlinsen, aber ich war in den letzten Wochen so mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass ich ganz vergessen habe, welche nachzubestellen.“

Athena kam sich mal wieder völlig unzulänglich und unfähig vor. „Wenn du nur nicht so eine Tagträumerin wärst“, hatten ihre Eltern früher immer geklagt. „Wenn du aufhören würdest, alberne Geschichten zu schreiben, und dich stattdessen auf deine Hausaufgaben konzentrieren würdest, wärst du auch besser in Mathe.“

Beim Gedanken an ihre Eltern wurde Athena noch elender zumute. Sie hatte es nie geschafft, ihre Erwartungen zu erfüllen, und jetzt war sie noch nicht mal fähig, einen Mann zu finden. Erst recht keinen wie Luca De Rossi, dachte sie, als sie verstohlen sein markantes Gesicht und seine bronzen schimmernde Haut betrachtete. Er sah sie unter halb geschlossenen Lidern an. Die Lippen hatte er zu einem zynischen Lächeln verzogen, das ihn distanziert wirken ließ und zugleich verdammt sexy machte.

Ein Lieferwagen mit dem Namen einer Pyrotechnik-Firma fuhr vor dem Haus vor. Bei der Vorstellung, dass Lord und Lady Fairfax Tausende Pfund für das Abschluss-Feuerwerk ausgegeben hatten, bekam Athena Panik. „Ich muss hier weg“, sagte sie.

Luca dachte an Kadirs Bitte, die Hochzeit zu verhindern, falls Athena Bedenken hatte. Dass sie gerade ihren Hals riskiert hatte, um der Ehe mit Charlie Fairfax zu entkommen, ließ eindeutig auf Letzteres schließen. „Mein Wagen steht neben dem Pförtnerhaus. Wenn wir jetzt gehen, wird uns vielleicht niemand bemerken.“

Zögernd hob Athena den Blick zu Charlies Schlafzimmerfenster am anderen Flügel des Hauses. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, eine Bewegung dahinter wahrzunehmen, aber vermutlich bildete sie sich das nur ein, denn im nächsten Augenblick war nichts mehr zu sehen. Sie war innerlich hin- und hergerissen. Sollte sie Luca folgen, einem Mann, dem sie erst ein Mal begegnet war, der jedoch ein guter Freund ihres Schwagers war? Oder sollte sie bleiben und sich dem Chaos stellen, das ausbrechen würde, sobald sie verkündete, dass die Hochzeit nicht stattfinden würde?

„Worauf wartest du noch?“, riss Luca sie aus ihren Gedanken.

Athena folgte ihm den Weg entlang zu einem futuristisch aussehenden Sportwagen. „Da pass ich nie im Leben rein“, sagte Athena mit einem skeptischen Blick auf ihr voluminöses Kleid.

„Dreh dich um.“ Rasch hob Luca den Saum ihres Rocks und löste die Bänder ihres bereiften Unterrocks.

Athena keuchte erschrocken auf, als Luca ihren Unterrock abstreifte und dabei ihre Beine berührte. „Was machst du da?“

Sie errötete bei dem Gedanken an ihre Halterstrümpfe, die nur von einer breiten weißen Spitzenborte gehalten wurden. Luca hielt ihre linke Hand, um sie zu stützen, als sie aus dem Petticoat stieg. Ohne das steife Untergestell war ihr Kleid weniger voluminös, sodass es ihr gelang, sich auf den Beifahrersitz zu quetschen. Luca stopfte den Rest des Rocks in den Wagen und schlug die Tür zu, bevor er sich hinters Steuer setzte, den Motor startete und losfuhr.

„Wo soll ich dich hinfahren?“

Zu ihrem Schreck wurde Athena bewusst, dass ihr darauf keine Antwort einfiel. Bisher hatte sie noch nicht über ihre Flucht hinausgedacht.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“ Luca fiel es schwer, seine Ungeduld zu zügeln. Großer Gott, er hatte auch so schon genug Probleme! Eine entflohene Braut war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte! Giselle hatte ihm nämlich vorhin per SMS mitgeteilt, dass sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, in Venedig zu heiraten. Venedig! Warum mussten Frauen die Dinge nur immer unnötig kompliziert machen?

„Ich kann nicht nach Hause“, antwortete Athena kläglich. „Ich wohne noch bei meinen Eltern, und die wollen bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn sie herausfinden, was ich getan habe.“

„Hast du nicht eine Freundin, bei der du für eine Weile unterkommen kannst? Vielleicht jemanden von der Arbeit?“

Athena hatte kaum noch Kontakt zu ihren alten Freunden, seitdem sie in Charlies Kreisen verkehrte. „Ich habe gerade keinen Job“, gestand sie. Zu ihrem Schreck wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, womit sie sich ernähren sollte. Die paar Hundert Pfund auf ihrem Sparkonto würden kaum für die Miete reichen. Sie musste sich dringend eine Stelle als Kindergärtnerin suchen.

„Und was machst du so den ganzen Tag, wenn du nicht arbeitest?“, fragte Luca. Er musste an Giselle denken, deren einzige Beschäftigung aus Shoppen zu bestehen schien. Seltsam, als er Athena bei Kadirs und Lexis Hochzeit begegnet war, war sie ihm gar nicht wie eine Müßiggängerin vorgekommen. Irgendwie hatte sie ihm ganz gut gefallen, auch wenn sie nicht sein Typ war. Er stand eher auf Blondinen mit endlos langen Beinen – nicht auf zierliche Brünette mit großen saphirblauen Augen, in denen man ertrinken konnte.

Er hatte jedenfalls nicht die Absicht gehabt, sie zu küssen, als sie in den Palastgärten spazieren gegangen waren. Wahrscheinlich war der Mond daran schuld gewesen. Athena hatte ihn so scheu angelächelt, und dann war es einfach passiert. Er wusste selbst nicht, warum.

„In den letzten Monaten habe ich ein paar Kurse für französische Küche, Blumenarrangements und die Vorbereitung von Dinnerpartys belegt“, entgegnete Athena steif. Wenigstens würde sie jetzt nie wieder einen Pilz füllen müssen.

Ihr stockte der Atem, als Luka den Wagen vor einer scharfen Kurve abbremste, um eine Kolonne geschmückter silberner Limousinen vorbeizulassen – offensichtlich auf dem Weg zur Woodley Lodge, um Braut und Bräutigam sowie einige Gäste zur Kirche zu fahren.

Athena wurde schlecht. Oh Gott, was habe ich getan? Ob Charlie seinen Eltern die Neuigkeit schon mitgeteilt hatte? Was würden ihre Eltern sagen, wenn sie erfuhren, dass sie weggelaufen war? Als sie an den mit violetten Seidenrosen bedeckten Hut ihrer Mutter dachte und daran, wie stolz ihr Vater auf sie gewesen war, brach sie verzweifelt in Tränen aus. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so elend gefühlt.

„Hier“, sagte Luca mürrisch und schob ihr ein Taschentuch in die Hände.

Noch nie hatte er eine Frau so heftig weinen sehen. Er war bislang eher an Krokodilstränen gewöhnt. Frauen scheinen ein untrügliches Gespür dafür zu haben, wann sie auf die Tränendrüse drücken müssen, um etwas zu erreichen. Aber das hier war anders. Athena war offensichtlich am Boden zerstört. Er griff ins Handschuhfach und nahm einen Flachmann heraus. „Trink ein paar Schluck Brandy, dann geht’s dir besser.“

„Ich trinke keinen Alkohol“, schluchzte sie.

„Dann ist jetzt ein guter Zeitpunkt, damit anzufangen.“

Athena war zu harmoniebedürftig, um zu widersprechen. Vorsichtig trank sie einen Schluck Brandy und spürte, wie sich ein wohliges Gefühl der Wärme in ihren Adern ausbreitete. „Du fragst dich bestimmt, warum ich Charlie nicht heiraten will, oder?“

„Ehrlich gesagt, nein. Kadir hat mich gebeten, mich bei dir zu erkundigen, ob du glücklich bist, und die Hochzeit zu verhindern, falls nicht. Die Gründe interessieren mich nicht.“

„Was? Kadir hat dich gebeten, die Hochzeit zu verhindern?“

Luca wandte Athena das Gesicht zu. Zu seiner Erleichterung hatte sie wieder etwas Farbe in den Wangen. „Lexi war anscheinend nicht davon abzubringen, dass du einen Fehler machst, und Kadir würde alles für seine Frau tun – erst recht so kurz vor der Entbindung.“

Luca hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, doch weder Kadir noch Athena schienen über die Hochzeit hinausgedacht zu haben. Er beschloss, sie mit in sein Hotel zu nehmen, weil ihm nichts Besseres einfiel. Wenn sie sich wieder zusammengerissen hatte, würde sie vielleicht aus seinem Leben verschwinden, und dann konnte er sich endlich auf seine eigenen Probleme mit Giselle konzentrieren.

Athena trank noch einen Schluck Brandy, der sie angenehm schläfrig machte. Erschöpft von ihren Tränen schloss sie die Augen, eingelullt vom Schaukeln des Wagens …

Ein durchdringendes Hupen riss sie aus dem Schlaf. Zu ihrer Verwirrung stellte sie fest, dass sie sich schon in London befanden. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie vierzig Minuten lang geschlafen hatte.

Schlagartig kehrten die Erinnerungen zurück. Sie war von ihrer eigenen Hochzeit geflohen – laut der Klatschpresse der „Hochzeit des Jahres“. Und ausgerechnet Luca De Rossi hatte ihr die Flucht in seinem Sportwagen ermöglicht.

Sie ließ den Blick zu seinen dunklen Händen auf dem Lenkrad gleiten. Aus irgendeinem Grund jagte ihr der Anblick einen Schauer der Erregung über den Rücken. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie er sie berührte, dunkle Haut auf ihrer nackten hellen …

Sie schluckte. „Wo sind wir?“

„In Mayfair. Ich nehme dich mit in mein Hotel. Dann hast du etwas Zeit, dir zu überlegen, wie es weitergehen soll.“ Luca reichte ihr wieder ein Taschentuch. „Da. Du solltest dir das Gesicht abwischen, bevor wir reingehen.“

Athena bekam einen Schreck, als sie die Sonnenblende nach unten klappte und ihr mit Mascara verschmiertes Gesicht sah. Sie sah aus wie ein Halloweenmonster.

Während sie versuchte, den Schaden so gut es ging zu beseitigen, parkte Luca den Wagen in der Tiefgarage seines Hotels. Als sie mit dem Fahrstuhl in der Lobby ankamen, eilte Athena hastig zur Damentoilette, um den neugierigen Blicken der anderen Gäste zu entgehen.

Sie ließ warmes Wasser ins Waschbecken laufen und wusch sich das Make-up ab, bevor sie ihre Haarnadeln entfernte und sich das Haarspray aus dem Haar bürstete. Als sie ihr Handy in den Tiefen ihrer Tasche klingeln hörte, zuckte sie erschrocken zusammen. Beim Anblick des Namens ihrer Mutter auf dem Display verkrampfte sich ihr Magen …

In der Hotellobby wippte Luca ungeduldig mit einem Fuß. Während er auf Athenas Rückkehr wartete, las er sich die neuesten Nachrichten von Giselle durch: Ich habe meine vier Nichten gebeten, auf unserer Hochzeit die Brautjungfern zu sein und habe total niedliche Kleider für sie gefunden. Der Nachricht war ein kitschiges Foto eines kleinen Mädchens in Schäferkostüm beigefügt. Luca knirschte innerlich mit den Zähnen. Giselle stellte seine Geduld ganz schön auf die Probe.

In einer weiteren Nachricht ließ sie durchblicken, dass sie genau wusste, wer hier am längeren Hebel saß: Ich hoffe doch, du hast nichts dagegen. Denk daran, dass du schon in zwei Wochen fünfunddreißig wirst. Die Warnung war eindeutig: Tu, was ich sage, sonst …

Tja, was sonst? dachte Luca grimmig. Er hielt es eigentlich für unwahrscheinlich, dass seine dämliche Braut wegen ein paar Brautjungfern eine Million Pfund aufs Spiel setzen würde, aber so kurz vor dem Ziel wollte er lieber kein Risiko eingehen.

Sein Handy klingelte. Beim Anblick des Namens auf dem Display runzelte Luca irritiert die Stirn. Der Anrufer war der Bruder seiner Großmutter, der Vizepräsident von De Rossi Enterprises, Emilio Nervetti.

Emilio kam ohne Umschweife zur Sache: „Die ungeklärte Führungssituation belastet die Firma. Ich werde den Vorstand ersuchen, ein Misstrauensvotum gegen dich einzulegen. Du weißt genau, dass du deinen Posten als Vorstandsvorsitzender verlieren wirst, wenn du nicht binnen zwei Wochen heiratest, und bisher machst du keinerlei Anstalten.“

„Du irrst dich“, erwiderte Luca kalt. „Ich werde nächste Woche heiraten. Ich bleibe also Vorstandsvorsitzender und darf auch weiterhin den Namen De Rossi für mein Modelabel verwenden.“

Ein gereiztes Schweigen folgte. „Der Vorstand nimmt dir vielleicht ab, dass du dein Playboy-Dasein zugunsten eines solideren Lebenswandels aufgibst, aber ich bin da nicht so zuversichtlich. Du hast die lockere Moral deiner Mutter geerbt. Und weiß der Himmel was für Gene dir dein Vater vererbt hat, wer auch immer er war.“

Kommentarlos beendete Luca das Telefonat, dann stieß er einen heftigen Fluch aus. Der Seitenhieb seines Großonkels auf seine Abstammung hatte ihn tief getroffen. Ich bin der rechtmäßige Erbe, dachte Luca grimmig, so sehr meine Großeltern sich auch dagegen gesperrt haben.

Lucas Großvater Alberto De Rossi hatte nicht den gleichen Unternehmergeist gehabt wie sein Vater, der Firmengründer Raimondo De Rossi, aber wenigstens war er ein zuverlässiger Vorstandsvorsitzender gewesen. Da er keinen Sohn gehabt hatte, hatte er seiner Tochter Beatrice eine wichtige Position im Vorstand verschafft – mit katastrophalen Folgen.

Beatrice hatte lieber Partys gefeiert als gearbeitet, und ihr skandalöses Privatleben hatte dem Namen De Rossi großen Schaden zugefügt. Irgendwann war Alberto der Kragen geplatzt, und er hatte seinen illegitimen Enkel als Nachfolger eingesetzt – unter dem Vorbehalt, dass Luca das Erbe nur mit dem Einverständnis seiner Großmutter Violetta antreten konnte, und das auch erst nach ihrem Tod.

Alberto hatte nie viel von Lucas Entscheidung gehalten, neben Betriebswirtschaft auch Modedesign zu studieren. Doch bereits mit zwanzig Jahren war es Luca gelungen, auf der New York Fashion Week seine erste Kollektion zu präsentieren, mit großem Erfolg. Sein Label DRD hatte dem Markennamen De Rossi zu neuem Ruhm verholfen, doch jetzt stand er davor, alles zu verlieren. All seine harte Arbeit und sein Erfolg hatten Großmutter Violetta nichts bedeutet – und dafür gab es nur einen Grund: Luca war ein uneheliches Kind. In den Augen seiner Großeltern war er damit kein echter De Rossi.

Luca biss die Zähne zusammen. Er hatte alles getan, um die Anerkennung seiner Großeltern zu erlangen, aber es war ihm nie gelungen, ihre Liebe zu gewinnen. Nach Albertos Tod war Violetta immer fordernder geworden und hatte Luca zunehmend unter Druck gesetzt zu heiraten und einen Erben zu zeugen. Ein legitimer Erbe von dem bastardo war anscheinend besser als gar keiner.

Sogar nach ihrem Tod versuchte sie, ihren Enkel per Testament zu kontrollieren. Leider würde Luca sich ihrem Willen beugen müssen, wenn er die Villa De Rossi nicht verlieren und aus der Firma vertrieben werden wollte. Und wenn er nicht auf das Recht verzichten wollte, den Namen seiner Familie als Designermarke weiterzuführen.

Luca verzog verächtlich die Lippen. Das Testament seiner Großmutter war ihr letzter Rachefeldzug gewesen. Sie hatte es nie verwinden können, dass Luca den Namen De Rossi trug.

Im Grunde war es Luca egal, ob er das Mitspracherecht bei De Rossi Enterprises verlor, und sein Modelabel konnte er jederzeit umbenennen – ein Neuanfang wäre sogar eine reizvolle Herausforderung. Doch es gab einen wichtigen Grund, sich dem Willen seiner Großmutter zu beugen: seine geliebte Tochter Rosalie, die er um jeden Preis beschützen wollte – auch wenn er dafür mit seinem Stolz bezahlen musste.

Sein Handy kündigte den Eingang einer weiteren Nachricht an, vermutlich wieder von Giselle. Dio, er musste dringend nach Italien zurück! Vielleicht würde er seine künftige Frau mithilfe von Sex zumindest so lange ruhigstellen können, bis sie den Heiratsvertrag unterschrieben hatte!

Als er den Blick hob, sah er Athena aus der Toilette kommen. Ohne Make-up wirkte sie sehr jung. Ihr Haar reichte fast bis zur Taille und schimmerte in einem satten Kastanienbraun. Er konnte erkennen, dass sie wieder geweint hatte. Ihre Augen hinter den Brillengläsern waren rot umrandet. Ob sie inzwischen bedauerte, Charles Fairfax nicht geheiratet zu haben?

Aber eigentlich interessierte ihn das gar nicht.

Wieder ein Text von Giselle. Er musste sie dringend zurückrufen – aber was sollte er solange mit Athena machen? In ihrem Hochzeitskleid zog sie schon die Blicke der anderen Hotelgäste auf sich.

Lucas Blick fiel auf einen Kellner, den er aus der Hotelbar kannte. „Miguel, das hier ist Miss Athena Howard. Würden Sie sie bitte mit in die Bar nehmen und ihr einen Cocktail machen?“ Er lächelte Athena flüchtig zu. „Ich muss mal kurz telefonieren und komme gleich nach.“

Zu Athenas Erleichterung war die Bar nur schwach besucht. Sie versteckte sich hinter einem großen Farn, um neugierigen Blicken aus dem Weg zu gehen. Sie brauchte dringend neue Kleidung, aber die Vorstellung, mit ihrem Hochzeitskleid in der Oxford Street shoppen zu gehen, war nicht gerade verlockend.

„Wissen Sie schon, was Sie trinken wollen?“

„Also …“ Unschlüssig betrachtete Athena die Getränkekarte. Auf keinen Fall wollte sie den Kellner um einen Sex on the Beach bitten! „Können Sie mir etwas Fruchtiges und Erfrischendes empfehlen?“

„Wie wär’s mit Apple Blossom?“

Das klang harmlos. „Danke, gern.“

Kurz darauf kehrte der Kellner mit einem hübschen goldfarbenen Getränk zurück, das mit Zitronenscheiben dekoriert war. Athena trank einen Schluck. Der Cocktail schmeckte nach Apfel und etwas, das sie nicht einordnen konnte. Er durchwärmte sie angenehm.

Unglücklich dachte Athena an das Telefonat mit ihrer Mutter zurück. Veronica Howard hatte ihrer Tochter wie immer keine Chance gegeben, etwas zu sagen, sondern hatte sofort mit ihrer Tirade losgelegt:

„Wie konntest du den armen Charles praktisch vorm Altar stehen lassen und mit einem italienischen Playboy durchbrennen? Was hast du dir nur dabei gedacht, Athena? Hast du auch nur einmal daran gedacht, wie demütigend es für deinen Vater und mich war, als Lady Fairfax uns alles erzählt hat? Der arme Charles ist am Boden zerstört.“

„Moment mal … Luca ist nicht …“, hatte Athena ihre Mutter vergeblich zu unterbrechen versucht. „Woher weißt du von Luca?“ Mit dieser Frage hatte sie eigentlich nur erfahren wollen, woher ihre Mutter wusste, dass Luca ihr bei der Flucht geholfen hatte, aber wie so oft hatte sie sich missverständlich ausgedrückt.

„Charles hat dich dabei beobachtet, wie du mit diesem Luca in einem Sportwagen davongefahren bist“, antwortete Veronica schrill. „Er hatte dich wohl schon seit einiger Zeit im Verdacht, dich hinter seinem Rücken mit jemand anderem zu treffen, hatte aber gehofft, dass sich das nach der Hochzeit mit ihm erledigt haben würde. Du kannst dir ja vorstellen, wie erschüttert der Ärmste war, als er herausfand, dass du ausgerechnet mit seinem alten Schulfreund eine Affäre hast.“

„Ich habe mit niemandem eine Affäre! Charlie ist derjenige, der …“ Athena stockte. Es lag ihr auf der Zunge, ihrer Mutter den wahren Grund zu verraten, warum sie Charlie nicht heiraten wollte, doch sie brachte es nicht übers Herz, sein persönlichstes Geheimnis auszuplaudern. „Du musst Charlie dazu bringen, seinen Eltern den wahren Grund zu verraten.“

„Ich muss jetzt erst mal dem Fotografen vom High Society Magazine erklären, warum es in der nächsten Ausgabe keine Fotoserie von deiner Hochzeit geben wird“, hatte ihre Mutter kühl entgegnet. „Dein Vater und ich werden nie darüber hinwegkommen!“ Und mit diesen Worten beendete sie das Telefongespräch …

Kaum hatte Athena ihren Drink geleert, brachte der Kellner auch schon den zweiten. Ihre Tränen verdrängend nippte Athena daran. Ihre Eltern – vor allem ihre Mutter – hatten ihr noch nie zugehört. Schulisch hatte sie ihre Eltern mit mittelmäßigen Leistungen enttäuscht, und erst nachdem sie mit Ach und Krach das Abitur geschafft hatte, hatten ihre Eltern die Hoffnung aufgegeben, dass sie auf akademischem Gebiet Karriere machen würde.

Auch mit Athenas Ausbildung zur Kindergärtnerin – einem Beruf, der ihr unheimlich viel Freude machte – waren ihre Eltern nicht zufrieden gewesen. Immer wieder drängten sie ihre Tochter, doch zumindest Lehrerin zu werden.

Vielleicht hatte Athena ihren Eltern auch deswegen nie erzählt, dass ihr Latein-Nachhilfelehrer sie sexuell belästigt hatte, als sie achtzehn gewesen war. Dabei litt sie noch immer unter der Erinnerung an dieses schreckliche Erlebnis!

Sie konnte ihren Eltern jetzt unmöglich anvertrauen, dass Charlie mehr auf seinen Trauzeugen stand als auf sie. War sie wirklich so unattraktiv, dass kein Mann sie wollte? Charles hatte ihr vorgeworfen, sexuell gehemmt zu sein, und er hatte recht. Ein Schluchzen unterdrückend trank Athena den Rest ihres Cocktails aus, der sofort durch einen neuen ersetzt wurde. Sie hatte längst den Überblick verloren, der wievielte es war, doch in diesem Augenblick war es ihr auch völlig egal.

Durch die Tür der Bar konnte sie Luca De Rossi telefonieren sehen. Er sah so unverschämt gut aus, dass ihm sämtliche an ihm vorbeigehende Frauen begehrliche Blicke zuwarfen, doch ihm schien das gar nicht aufzufallen. Oder er war daran gewöhnt. Ein Mann wie Luca brauchte sich keine große Mühe zu geben. Ein Lächeln von ihm, und die Frauen schmolzen dahin – so wie sie selbst, damals in Zenhab.

Athena musste wieder an seinen Kuss in den Palastgärten denken, den sie instinktiv erwidert hatte, an das Glitzern des Wassers im Mondlicht, an Lucas erregende Gegenwart. Bis heute hatte sie keine Ahnung, warum er sie überhaupt geküsst hatte.

Sie sah ihm entgegen, als er die Bar betrat und auf sie zukam. Der anthrazitgraue Anzug stand ihm fantastisch. Er sah verdammt attraktiv aus … und sehr gefährlich. Sie würde ihn jetzt direkt fragen, warum er sie auf der Hochzeit ihrer Schwester geküsst hatte!

Athena stand auf. Alles schien um sie herum zu schwanken, und der Fußboden fühlte sich seltsam schief an. Sie war erstaunlich selbstsicher – so als hätten sich all ihre Hemmungen plötzlich in Luft aufgelöst. Sogar Charlies grausame Bemerkung, dass kein Mann eine fünfundzwanzigjährige Jungfrau wollte, machte ihr nichts mehr aus. Luca De Rossi, Sexgott und notorischer Frauenheld, hatte sie geküsst, und es war gar nicht so unwahrscheinlich, dass er sie wieder küssen wollte.

Als sie über den Saum ihres Kleides stolperte und Luca sie auffing, strahlte sie ihn glücklich an. Er war ihr Held, ihr wundervoller Ritter. „Ich glaube, ich bin etwas beschwipst“, sagte sie. „Obwohl ich nicht weiß, warum. Ich hatte nur ein paar Cocktails, die Apple Bosoms heißen.“ Sie kicherte. „Ups. Apple Blossoms, meinte ich.“

In Lucas Armen begannen ihre Brüste sehnsüchtig zu kribbeln und unter dem steifen Mieder ihres Kleides wurden ihre Brustknospen plötzlich ganz hart. „Wie dem auch sei, da ist Apfelsaft drin.“ Warum war ihre Zunge plötzlich so schwer?

„Und Calvados und Wodka“, ergänzte Luca trocken, während er versuchte, Athenas Arme von seinem Hals zu lösen. Gott sei Dank hatte sie aufgehört zu weinen, aber dafür war sie jetzt sternhagelvoll, und ihr Hochzeitskleid zog noch immer die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich.

„Ich glaube, ich bringe dich auf mein Zimmer und bestell dir einen starken Kaffee“, sagte er betont locker. Hoffentlich konnte er sie unauffällig aus der Bar befördern. Athena schwankte und wäre gestürzt, wenn er sie nicht wieder aufgefangen hätte. „Santa Madonna!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Allmählich riss ihm der Geduldsfaden. Ihm blieb offensichtlich nichts anderes übrig, als sie zu tragen.

„Gute Idee“, lallte Athena, als er sie auf den Arm nahm. „Bring mich nach oben, Luca, und küss mich, so wie in Zenhab.“

3. KAPITEL

Athena fühlte sich, als würde jemand ihren Kopf mit einem Presslufthammer bearbeiten. Sie verzog das Gesicht und zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Da sie ihre Brille nicht aufhatte, konnte sie gerade genug sehen, um zu wissen, dass sie sich in einem fremden Zimmer befand.

Sie hatte schrecklichen Durst. Vorsichtig drehte sie den Kopf und sah ein Glas Wasser auf dem Nachttisch stehen.

Sie lag also in einem Bett. Aber wessen Bett?

Vage Erinnerungen stiegen in ihr auf. Charlie und sein Trauzeuge zusammen im Bett … ihre verrückte Idee, aus dem Fenster zu klettern, ihr Schreck, als der Efeu riss und sie abstürzte… der Freund ihres Schwagers, Luca De Rossi, der sie gerade noch rechtzeitig auffing. Luca hatte ihr auch bei der Flucht von ihrer Hochzeit geholfen – zumindest hatte er sie in dieses Hotel gebracht. Sie erinnerte sich noch vage an die Hotelbar und daran, dass Luca gesagt hatte, er würde sie nach oben bringen und ihr Kaffee bestellen.

Das hieß, dass das hier Lucas Zimmer sein musste … und sie in … Lucas Bett!

Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als ihr einfiel, dass er ihr das Kleid ausgezogen hatte. Oh Gott! Ihr Gesicht brannte vor Scham. „Nimm mich, Luca. Ich gehöre dir“, hatte sie gesagt, als sie in Unterwäsche vor ihm gestanden hatte. An das, was danach passiert war, hatte sie keine Erinnerung mehr.

Vorsichtig drehte sie den Kopf auf die andere Seite und sah zu ihrer Erleichterung, dass sie allein war. Den zerwühlten Seidendecken nach zu urteilen war im Bett jedoch viel passiert.

Athenas Herz setzte einen Schlag aus.

Großer Gott, hatte sie womöglich Sex mit Luca gehabt und konnte sich nicht mehr daran erinnern? Er war ein notorischer Frauenheld, und sie hatte sich ihm praktisch an den Hals geworfen. Vielleicht hatte er ihr Angebot ja angenommen. Aber das würde sie ja wohl kaum vergessen haben, oder?

Als sie sich aufsetzte und ihr die Decke runterrutschte, stellte Athena fest, dass sie noch immer den weißen Push-up-BH trug, mit dem sie Charlie in ihrer Hochzeitsnacht hatte verführen wollen. Sie verzog das Gesicht und spähte unter die Decke. Sie trug auch den dazu passenden Spitzentanga, was bedeutete, dass sie noch Jungfrau war. Gott sei Dank!

„Guten Morgen“, hörte sie plötzlich eine heisere Stimme.

Athena drehte ruckartig den Kopf, bereute die rasche Bewegung jedoch sofort, weil ihr sofort schwindlig wurde. Luca saß auf einem Sessel neben dem Bett, von Kopf bis Fuß in edles Schwarz gekleidet. In dem engen Pullover sah er geradezu verboten gut aus!

Athena hob den Blick zu seinem Gesicht und stellte fest, dass er sich noch nicht rasiert hatte – was ihn nur umso männlicher und attraktiver wirken ließ. Sein Lächeln war allerdings noch zynischer als sonst, und sein abschätziger Blick aus bernsteinfarbenen Augen machte sie furchtbar nervös. „Hast du auch hier geschlafen?“, platzte sie heraus.

Er zog die schwarzen Augenbrauen zusammen. „Was glaubst du?“, fragte er trügerisch sanft.

Ihr verstohlener Blick auf die zerknüllten Decken verriet, was sie befürchtete. Luca verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und stieß einen heftigen Fluch aus. „Unterstellst du mir etwa, deinen Zustand ausgenutzt zu haben? Das ist eine Beleidigung!“

Athena schluckte. „Tut mir leid … aber ich habe vergessen, was passiert ist, nachdem du mich in deine Suite gebracht hast … und ich muss doch wissen, ob du … ob wir …“

Er sprang mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze auf und beugte sich über Athena, während er zugleich die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes aufstützte. „Das hier ist dein eigenes Bett, meine Suite hat zwei Schlafzimmer. Außerdem muss ich mal ein paar Dinge klarstellen“, sagte er grimmig. „Erstens: Hätten wir Sex gehabt, würdest du dich daran erinnern. Zweitens schlafe ich nur mit Frauen, die bei Bewusstsein sind, und drittens …“, Lucas Wolfsaugen blitzten gefährlich auf, „… kann ich es nicht leiden, manipuliert zu werden, Miss Howard.“

„Was meinst du damit?“, fragte sie mit dünner Stimme.

Sein Gesicht war so dicht vor ihr, dass sie auch ohne Brille fast seine Wimpern zählen konnte. Er sah aus, als würde er gleich explodieren. Trotzdem fühlte Athena sich in seiner Gegenwart weniger unwohl als in der anderer Männer. Im Gegenteil, seine Gegenwart, seine Körperwärme und sein männlicher Geruch waren äußerst erregend.

Ihr wurde heiß. Zwischen ihren Beinen machte sich plötzlich ein sehnsüchtiges Pulsieren bemerkbar, und ihre Brüste begannen zu kribbeln. Die Intensität ihres Verlangens erschreckte sie, doch insgeheim war sie auch erleichtert, dass sie noch zu normalen körperlichen Reaktionen imstande war. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn Luca sich jetzt auf sie legte und sie wild und leidenschaftlich küsste? Unwillkürlich fuhr Athena sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

Als Luca sich versteifte, wurde ihr bewusst, dass er ihre Gedanken erraten hatte. Ruckartig richtete er sich auf. „Das meine ich damit“, sagte er schroff und warf einen Stapel Zeitungen aufs Bett.

Athena blinzelte ihn verwirrt an. Ihre rasenden Kopfschmerzen ignorierend setzte sie sich auf. „Was steht da drin? Ich kann ohne Brille nicht lesen. Danke“, fragte sie, als Luca ihr ihre Brille in eine Hand drückte.

Sie setzte die Brille auf und keuchte erschrocken auf, als ihr Blick auf ein Foto fiel, auf dem sie Luca in der Hotelbar die Arme um den Hals schlang und dämlich grinste. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden versunken.

Braut lässt Dandy für italienischen Playboy sitzen! lautete die Schlagzeile, gefolgt von einem Artikel, in dem stand, dass der ehrenwerte Charles Fairfax ein gebrochenes Herz hatte, nachdem seine Verlobte Athena Howard eine Stunde vor ihrer Prunkhochzeit mit einem alten Schulkameraden des Bräutigams aus Eton durchgebrannt war, dem berühmten Modedesigner Luca De Rossi.

„Oh mein Gott“, stammelte Athena. Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. „Woher wissen die Journalisten, dass du mich...

Autor

Chantelle Shaw
Chantelle Shaw ist in London aufgewachsen. Mit 20 Jahren heiratete sie ihre Jugendliebe. Mit der Geburt des ersten Kindes widmete sie sich ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, ein Vollzeitjob, da die Familie bald auf sechs Kinder und verschiedene Haustiere anwuchs.

Chantelle Shaw entdeckte die Liebesromane von Mills & Boon,...
Mehr erfahren
Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
Mehr erfahren
Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands.

Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester...
Mehr erfahren