Das Ganze gleich nochmal

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Am liebsten hätte die FBI-Agentin Carley Mills ihren neuen Auftrag gleich abgelehnt. Andererseits lässt auch ihr die Frage, warum sich ihr Kollege Witt Davidson so lange nicht gemeldet hat, keine Ruhe. Seine Spur führt sie auf eine Ranch am Rio Grande, wo Witt unter dem Namen Houston Smith seit einigen Monaten arbeitet. Auch Carley nimmt dort einen Job an und stellt zu ihrem Entsetzen fest, dass Witt sie nicht erkennt. Kann es wirklich sein, dass er sich an keine ihrer leidenschaftlichen Stunden erinnert? Immer wieder muss sich Carley mühsam beherrschen, ihn zärtlich zu streicheln, ihn zu berühren, um in ihm die Lust neu zu wecken, die sie so stark miteinander verband. Ganz behutsam versucht sie, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, denn eins ist ihr in den Wochen auf der Ranch klar geworden: Sie will nie wieder auf Witt verzichten ...


  • Erscheinungstag 30.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746148
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich soll mein Kind auf einen Einsatz mitnehmen?“, fragte Carley Mills empört ihren Boss. „Haben Sie völlig den Verstand verloren?“

„Ich bitte Sie! Es handelt sich doch nicht um einen Einsatz. Wollen Sie mir vielleicht zuhören, bevor Sie voreilige Schlüsse ziehen?“, entgegnete Reid Sorrels, viel beschäftigter Chef des FBI-Büros in Houston und Leiter der „Operation Wiegenlied“, und kam gleich zur Sache. „Sie wissen doch ganz genau, dass ich mein Patenkind niemals in Gefahr bringen würde.“ Er ließ sich auf einen der beiden Stühle vor Carleys Schreibtisch fallen.

Carley blieb stehen, fest entschlossen, keinesfalls nachzugeben. Dabei ging ihr durch den Kopf, wie sehr sie sich doch in den letzten anderthalb Jahren verändert hatte. Das Verschwinden von Witt Davidson, ihrem Partner und Geliebten, hatte sie dermaßen mitgenommen, dass ihr jeglicher Widerspruchsgeist abhandengekommen war, ganz davon zu schweigen, dass sie es mit ihrem energischen Vorgesetzten hätte aufnehmen können.

Witt hatte sich in Luft aufgelöst. Früher hatte Carley sich für stark gehalten. Sie war überzeugt gewesen, im Leben mit allem fertig zu werden und anderen bei Problemen und emotionalen Krisen beistehen zu können. Nicht zu wissen, was aus dem Vater ihres Kindes geworden war, hatte sie jedoch fast zerstört.

Sicher, Witt hatte nie ausdrücklich gesagt, dass er sie liebte, und er hatte auch kein Interesse daran gezeigt, eine Familie zu gründen. Andererseits hatte er aber auch nicht gewusst, dass er bereits eine hatte. Carley hatte ihm nichts verraten. Sie hatte absolut sicher sein wollen, dass Witt etwas an ihr lag. Darum wollte sie mit der Eröffnung ihrer großen Neuigkeit warten, bis sich die Gelegenheit bot, endlich einmal ihre Arbeit zu vergessen und ungestört mit ihm allein sein zu sein.

Doch dann verschwand Witt in jener schicksalhaften Nacht im August während eines wichtigen Einsatzes am Lake Houston. Er lächelte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor er ein verdächtiges Fahrzeug überprüfte, und dann war er fort, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Zwischen ihnen hatte bereits eine ziemlich feste Beziehung bestanden. Witt wollte sich allerdings nicht endgültig binden. Das war ihr bekannt. Trotzdem war sie überzeugt gewesen, ihn dazu bringen zu können, ihr seine Liebe einzugestehen. Obwohl sie Witt für einen anständigen Mann hielt, der nicht so einfach weglief, nagten nach seinem Verschwinden Zweifel in ihr.

„Hören Sie mir überhaupt zu, Carl?“, fragte Reid.

Carley drängte die Erinnerungen zurück, konzentrierte sich auf das anstehende Problem und ging um den alten und verschrammten Schreibtisch herum, bis sie vor ihrem Boss stand. Mit dreiunddreißig war er nur wenige Jahre älter als sie, übertraf sie jedoch bei Weitem an Erfahrung und Stärke.

Sie lehnte sich an den Schreibtisch und lächelte dem Mann zu, der ihr unzählige Male beigestanden hatte. „Natürlich würden Sie Cami nie absichtlich in Gefahr bringen. Es kann aber doch nicht gut für sie sein, wenn sie aus der gewohnten Umgebung gerissen und in einen entlegenen Teil des Wilden Westens verschleppt wird.“

„Sie hören mir einfach nicht zu. Diese Gegend an der Grenze zwischen Texas und Mexiko ist absolut zivilisiert“, versicherte er und strich sich durch das frisch geschnittene, kastanienbraune Haar. „Die Ranch, auf der die Kinder leben, liegt nur fünfzig Kilometer von McAllen entfernt, und das ist eine Stadt mit hunderttausend Einwohnern und keine Tagesfahrt von hier entfernt.“

„Toll! Aber was, um alles in der Welt, soll ich bloß auf einer Ranch machen? Ich war noch nie auf einer.“

„Verdammt, Carley, ich habe Sie gebeten, mir endlich zuzuhören! Es handelt sich bei dieser Ranch im Prinzip um ein Waisenhaus. In der heutigen Zeit vermeidet man allerdings diesen Ausdruck. Sie sind in Kinderpsychologie ausgebildet, und dort sucht man einen Kinderpsychologen. Sie werden kaum merken, dass Sie sich auf einer Ranch aufhalten.“

Seufzend stellte Carley sich auf die nächste einschneidende Veränderung in ihrem Leben vor. Kurz vor Camis Geburt war sie von sämtlichen verdeckten Ermittlungen abgezogen worden. Bis heute setzte das FBI sie nur für Schreibtischarbeit ein. Sie musste für die mexikanischen Babys, die durch die Operation Wiegenlied gerettet worden waren, sämtliche Papiere beschaffen und dafür sorgen, dass die Kinder in ihre Heimat zurückkehren konnten. Aber jetzt auf einmal wollte das FBI sie zur Überwachung der Grenze einsetzen? Und sie sollte Cami mitnehmen? Das war schlicht und einfach unglaublich.

„Das Kinderheim wird vom texanischen Kirchenrat betrieben, und diese Häuser leiden ständig unter Geldmangel.“ Reid beobachtete sie scharf, während er weiter ins Detail ging. „Die Mittel reichen nie, um alle Kinder zu versorgen. Darum betreibt die Kirche eine Rinderranch und eine Zitrusfarm, um die Finanzen des Heims aufzustocken.“

„Und was genau soll ich nun dort machen?“

„Sie sollen mit den Kindern arbeiten. Das können Sie am besten. Bei den Zöglingen handelt es sich um Ausgestoßene. Die Babys wurden ausgesetzt und können erst zur Adoption freigegeben werden, wenn man die Eltern gefunden hat und sie ihr Einverständnis erklärt haben. Bei den älteren Kindern handelt es sich entweder um jugendliche Straftäter, die rehabilitiert werden sollen, oder um Behinderte. Sie können sich also vorstellen, dass alle unter emotionalen Problemen leiden.“

Reid kannte sie nur allzu gut und wusste, wie er mit ihr umgehen musste. Schon jetzt stellte sie sich diese hilfsbedürftigen Kinder vor, die dringend ihre Fürsorge benötigten. „Was hat das mit der Operation Wiegenlied zu tun?“

„Die Aktivitäten konzentrieren sich auf den Grenzbereich.“ Reid lächelte flüchtig. „Wie Sie wissen, führt eine Spur der internationalen Babyhändler in die Gegend von McAllen. Halten Sie einfach die Augen und Ohren offen. Einer unserer Agenten ist schon dort, Manny Sanchez. Zur Tarnung arbeitet er als Assistent eines Tierarztes. Dadurch kommt er entlang des Rio Grande mit den Leuten auf Farmen und Ranches zusammen. Dank seiner Informationen haben wir Dutzende von ‚Kojoten‘ gefasst, als sie Babys über die mexikanische Grenze schafften.“

Reid veränderte die Haltung auf dem für ihn zu kleinen Stuhl.

„Manny hat vor einiger Zeit ein unter den illegalen Einwanderern kursierendes Gerücht aufgeschnappt. Demnach stammen einige der Babys in diesem Heim von jenseits des Flusses. Manny hat zwar fast täglich zusammen mit dem Tierarzt das Vieh auf der Ranch versorgt, aber wir brauchen jemanden im Heim, der Zugang zu den Kindern und den Akten hat.“

Carley war klar, dass sie aus der Sache nicht mehr herauskam. „Und wie erhalte ich diese Stelle?“

„Die haben Sie schon. Ich bin mit einem Mitglied des Kirchenrats befreundet. Der fest angestellte Psychologe hatte einen familiären Notfall. Der Verwalter des Heims erwartet Sie und Cami. Er weiß übrigens nicht, wer Sie wirklich sind. Für ihn sind Sie eine Psychologin und eine alleinerziehende Mutter, die dringend Arbeit braucht. Der Vorsitzende des Kirchenrats hat sich für Sie verbürgt.“

„Großartig. Und wann …“ Sie verstummte, als sie einen merkwürdigen Blick ihres Chefs auffing.

„Da ist noch etwas Wichtiges.“

Aha, hatte sie es doch geahnt! Carley wartete gespannt darauf, was jetzt kam.

Reid stand auf und wandte ihr den Rücken zu. „Manny Sanchez hat vor fünf Jahren bei El Paso mit Ihrem früheren Partner Witt bei einem verdeckten Einsatz zusammengearbeitet. Die beiden sahen einander damals nur für wenige Minuten, aber …“

Carley blieb fast das Herz stehen. „Es geht um Witt? Gibt es endlich eine Spur?“ Sie packte Reid an den Schultern und drehte ihn zu sich herum. „Reden Sie doch endlich!“

„Ganz ruhig.“ Reid räusperte sich und kehrte wieder den Chef hervor. „Special Agent Charleston Mills, Sie wissen, dass das FBI nicht ruht, bis wir herausgefunden haben, was aus Davidson wurde. Jeder FBI-Agent auf der gesamten Welt hält ständig nach ihm Ausschau. Keiner unserer Leute geht einfach verloren.“ Reid löste behutsam Carleys Hände von seinen Schultern und hielt sie fest. „Manny war der Meinung, dass einer der Männer auf der Ranch Davidson verblüffend ähnlich sieht.“

Carley wurde schwindelig. „Aber …“

Reid stützte sie und führte sie zu einem Stuhl. „Möchten Sie einen Schluck Wasser?“

Sie schüttelte den Kopf, brachte jedoch kein Wort hervor.

„Wir haben Davidson aufgrund der Fingerabdrücke identifiziert, aber er benutzt nicht seinen richtigen Namen. Und er hat Manny nicht erkannt.“

„Warum haben Sie ihn nicht zurückgeholt? Wird er dort gegen seinen Willen festgehalten? Kann er deshalb nicht zugeben, wer er ist?“

Reid zuckte mit den Schultern. „Das ist unwahrscheinlich. Können Sie sich etwa vorstellen, dass es jemandem gelingt, Davidson gegen seinen Willen festzuhalten?“

Carley lächelte schwach und schüttelte den Kopf. Unzählige Fragen gingen ihr durch den Kopf.

„Sehen Sie, ich kann es mir genauso wenig vorstellen.“ Reid lehnte sich an den Schreibtisch, so wie Carley das vorhin getan hatte. „Außerdem hat Manny berichtet, dass dieser Mann kommen und gehen kann, wie er möchte. Er hält offenbar den Laden in Schwung.“

„Was hat das zu bedeuten? Wenn es wirklich Witt ist, wieso kehrt er dann nicht zu uns zurück?“ Wie konnte Witt ihr und dem FBI so etwas antun?

„Wir haben bei seinen Mitarbeitern auf der Ranch vorsichtig Erkundigungen eingezogen. Davidson hat offenbar das Gedächtnis verloren und weiß nicht, wer er ist. Amnesie ist tatsächlich die einzige logische Erklärung. Bevor ich ihn hierher zurückhole und behandeln lasse, sollten Sie versuchen, ihm zu helfen, sein Gedächtnis wieder zu erlangen. Sie sind dafür perfekt geeignet. Schließlich sind Sie Psychologin, und Sie lieben ihn.“

Carley verschlug es erneut die Sprache. Witt hatte das Gedächtnis verloren? Der starke, unbesiegbare Witt brauchte ihre Hilfe?

„Viel Zeit kann ich Ihnen nicht geben“, warnte Reid. „Wir verlegen unsere Operation in die Nähe des Kinderheims. Carley, helfen Sie Witt und bringen Sie ihn zu uns zurück. Bleiben Sie mit uns in Verbindung, und wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an mich.“

Vierundzwanzig Stunden nach der Unterredung mit Reid stellte Carley sich Gabe Diaz vor, einem ungefähr sechzigjährigen Mann mit grauem Haar und freundlich wirkenden Augen hinter dicken runden Brillengläsern. Gabe, ein ehemaliger Pfarrer, war der Verwalter des Heims. Er hieß sie herzlich willkommen und zeigte ihr das Hauptgebäude.

Carley hatte sich vom Automobilklub die Strecke auf der Karte gelb einzeichnen lassen. Trotzdem hatte sie während der Fahrt oft gedacht, sich rettungslos verfahren zu haben. Niemand konnte in einer dermaßen abgelegenen und trostlosen Gegend leben.

Von wegen zivilisiert!

Während der äußerst anstrengenden sechsstündigen Fahrt hatte sie ständig an Witt gedacht. Er sah gut aus und wirkte so nett, dass er der perfekte verdeckte Ermittler war. Verbrecher ahnten oft nicht, welche Gefahr von ihm ausging. Er besaß aber auch eine sanfte Seite, wie sie nur zu genau wusste. Beinahe wäre sie von der Straße abgekommen, als sie sich an seine Zärtlichkeiten und verführerischen Küsse erinnerte.

Stundenlang hatte sie nicht einmal eine Tankstelle gesehen. Von Zeit zu Zeit hatte sie am Straßenrand gehalten und Cami zu trinken gegeben oder sie gewickelt. Endlich erreichte sie eine größere Stadt.

McAllen lag an einer Biegung des Rio Grande an der Grenze zwischen Texas und Mexiko. Hier lebten über hunderttausend Menschen. Überall gab es Geschäfte, Schulen und Kirchen. Alles wirkte neu und sauber. Leider führte die Straße zum Heim weiter nach Westen in die Einöde.

Zuerst war Carley am Rio Grande entlanggefahren, bis sie die Abzweigung zur Ranch fand. Eine geteerte Zufahrtsstraße, die Carley endlos lang erschien, führte schließlich zu mehreren Häusern und Ställen. Das zweistöckige Hauptgebäude war von Bäumen umgeben, der Parkplatz war asphaltiert. An einem alten Pfosten hing ein hölzernes Schild mit der Aufschrift „Casa de Valle“. Das bedeutete „Haus im Tal“.

„Ich muss mit einer der Betreuerinnen sprechen“, sagte Gabe und holte Carley mit seinen Worten in die Gegenwart zurück. „Bringen Sie Cami in den Tagesraum, und sehen Sie sich dann selbst um. Die älteren Kinder passen bei uns auf die kleineren Kinder auf. Sie werden sehen, das machen sie sehr gut.“

Carley überließ Cami einem reizenden Mädchen, brachte das Gepäck nach oben in das ihr zugewiesene Zimmer und verzichtete darauf, sich umzuziehen, bevor sie das Haus wieder verließ. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie vorgehen sollte, war sie fest entschlossen, Witt noch heute Nachmittag aufzuspüren.

Zuerst war sie von Reids Behauptung, Witt würde unter Amnesie leiden, schockiert gewesen. Doch dann hatte sie sich sehr schnell darauf eingestellt, sich die übliche Ausrüstung und die nötigen Informationen beschafft. Von ihrer Ausbildung her wusste sie noch einiges über Gedächtnisverlust, doch sie wollte Witt – sofern er es tatsächlich war – so gut wie möglich helfen.

Aus dem Internet hatte sie alles heruntergeladen, was sie zu diesem Thema finden konnte. Und sie hatte einen ihrer früheren Professoren angerufen. Das Ergebnis war nicht ermutigend. Die meisten Menschen, die unter Amnesie litten, erlangen ihr Erinnerungsvermögen innerhalb weniger Wochen oder höchstens einiger Monate zurück – oder nie. Die Vorstellung, Witt nach so langer Zeit zu finden, ihn aber nie wirklich zurückzubekommen, belastete sie.

„Vielleicht bewirkt der Schock über das Wiedersehen mit Ihnen, dass er sich wieder an alles erinnert“, hatte der Professor gesagt. Hoffentlich war es tatsächlich so einfach! Und er hatte ihr geraten, nichts zu erzwingen, das Gedächtnis müsse von allein zurückkehren. „Lassen Sie ihm Zeit. Schließlich ist es schreckend, sein ganzes früheres Leben zu verlieren.“

Der Professor hatte leicht reden. Er hatte mit der Sache ja nichts zu tun. Viel schwerer war es, wenn man jemanden liebte, der einen völlig vergessen hatte.

Auf dem Gelände zwischen dem Haupthaus und den Nebengebäuden rührte sich an diesem heißen Nachmittag nichts. Vielleicht hielten in dieser Gegend alle Menschen nach dem Mittagessen eine Siesta.

„Entschuldigung, Ma’am, suchen Sie etwas?“ Ein Cowboy in Jeans und kariertem Hemd und mit einem Strohhut auf dem Kopf tauchte aus dem Schatten eines Stalls auf und kam auf sie zu.

„Ja, ich suche jemanden.“

„Und wen? Sie sehen nicht so aus, als würden Sie jemanden von hier kennen, wenn ich das sagen darf, Ma’am.“

Carley trug noch immer den Hosenanzug und die flachen Schuhe, die sie für die Fahrt gewählt hatte. In dem Aufzug passte sie tatsächlich nicht auf eine Ranch. Sie hätte wenigstens eine Jeans anziehen können, doch im Moment hatte sie ein ganz anderes Problem. Sie erinnerte sich nicht mehr, welchen Namen Witt angeblich benützte. Dafür fiel ihr ein anderer Name ein, den Reid erwähnt hatte.

„Kennen Sie den Assistenten des Tierarztes, Manny … den Nachnamen weiß ich nicht.“

„Ja“, erwiderte der Cowboy. „Er ist gerade bei den Hengsten im Stall. Soll ich ihn holen?“

Das war auch keine Lösung. Wieso hatte sie sich nicht vorher alles genauer überlegt? „Ich …“

¿Qué pasa, amigo? Was ist los?“

Carley wirbelte beim Klang der vertrauten Stimme herum. Sie hatte gedacht, auf alles vorbereitet zu sein, doch der Anblick des Mannes, der sie bei Tag und bei Nacht verfolgt hatte, warf sie um.

„Dem Himmel sei Dank.“ Sie schwankte, und im nächsten Moment drückte Witt sie an sich und stützte sie.

Carley hatte längst die Hoffnung aufgegeben, Witts Arme jemals wieder zu fühlen, doch jetzt spürte sie die harten Muskeln und die Wärme, die er ausstrahlte. Hoffnung keimte in ihr auf.

Doch Witt sah sie an, als wäre sie eine Fremde, und die Hoffnung erlosch.

„Geht es Ihnen nicht gut, Ma’am? Ist Ihnen schwindelig? Haben Sie nicht genug getrunken? Sie sollten nicht ohne Hut in die Sonne gehen.“ Er wich einen Schritt zurück und hielt sie nur noch am Arm fest. „Soll ich Sie ins Haus bringen? Sie brauchen ein Glas Wasser.“

Was sie brauchte, waren sein Anblick und seine Nähe. Beides hatte ihr viel zu lange gefehlt.

Doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Das Zusammentreffen mit Witt hatte bei ihm keine Erinnerungen ausgelöst. Sie hingegen dachte an seine unwiderstehlichen Küsse und seine Leidenschaft, seine Finger auf ihrer Haut und das Verlangen, das er in ihr ausgelöst hatte. Die Sehnsucht nach ihm war so groß, dass ihr erneut schwindelig wurde.

„Brauchst du Hilfe, Houston?“, fragte der Cowboy.

„Nein“, wehrte Witt ab. „Geh wieder an die Arbeit. Ich komme hier schon klar.“ Er beugte sich zu Carley. „Wir schaffen das doch, oder?“, fragte er leise, und sein Atem strich warm über ihre Wange.

Einen Moment fragte sie sich, ob er den Gedächtnisverlust nur vortäuschte. Nein, das war ausgeschlossen. Der Mann, den sie liebte, konnte nicht so tun, als würde er sie nicht kennen. Als sie nicht antwortete, führte er sie energisch zum Hauptgebäude.

„Also …“ Es hatte keinen Sinn, den Namen zu benützen, den er vergessen hatte. „Cowboy, Sie schaffen es bestimmt.“ Allerdings war sie nicht sicher, ob sie es schaffte, sich in seiner Nähe zu beherrschen.

Als Witt mit ihr die Küche erreichte, hatte Carley sich wieder einigermaßen im Griff. Eines nach dem anderen, sagte sie sich. Zuerst musste sie erfahren, wie er sich jetzt nannte.

Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Glas Wasser, das er ihr reichte. „Ich bin Carley“, sagte sie betont. „Carley Mills. Wie heißen Sie?“

„Carley? Hübscher Name für eine so zierliche Lady.“

Sie erwiderte sein Lächeln, obwohl es ihr schwer fiel.

„Ich bin Houston, Houston Smith, Ma’am. Ich leite die Ranch und kümmere mich um die Pferde und die Rinder.“

Er schlug unvermittelt einen kühlen, höflichen Ton an, als wäre ihm eingefallen, dass Fremde Ärger bringen konnten – selbst „zierliche“ Fremde. Es brach ihr fast das Herz. Hoffentlich schaffte sie es, sich zu beherrschen und ihn nicht mit ihren Hoffnungen und Wünschen zu überfallen.

„Was führt denn eine so zarte Blume wie Sie in unsere Gegend, Carley?“, erkundigte er sich und deutete auf die zwölf Stühle am Küchentisch.

„Ich bin alles andere als zart … Houston.“ Sie blieb stehen und trank einen Schluck Wasser. Die Kehle war wie zugeschnürt, Carley war schwindelig, und sie fühlte sich schwach. Als ehemalige Weltklasseschwimmerin von gut eins siebzig war sie bisher nicht „zierlich“ oder „zart“ genannt worden, doch jetzt hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

„Ich soll im Casa de Valle den Psychologen vertreten“, erklärte sie.

„Sie sind Seelenklempnerin?“

„Ich habe den Doktor in Kinderpsychologie.“

„Soll ich Sie dann Dr. Carley nennen?“

„Manche Leute sagen tatsächlich Doktor zu mir, aber Carley ist mir bei Ihnen lieber.“

„Alles klar. Was haben Sie vorhin draußen in der …“

Houston verstummte, als auf dem Korridor ein Mädchen rief: „Miss Mills?“ Sie brachte die ein Jahr alte Cami herein. „Ach, da sind Sie ja, Ma’am.“

Sobald Cami ihre Mutter erkannte, hörte sie auf zu weinen und rief: „Mommy!“

Cami nahm dem Mädchen ihre Tochter ab. „Ganz ruhig, Kleines, deine Mom ist ja da.“

„Tut mir leid, Miss Mills, ich habe mich bemüht, aber sie wollte nicht schlafen. Dann hat sie auch noch zu weinen angefangen, und ich konnte sie nicht beruhigen.“

„Mach dir deshalb keine Gedanken, Rosie“, tröstete Carley das Mädchen. „Die Umgebung und die Leute hier sind ihr fremd. Du hast das schon richtig gemacht.“ Carley wischte ihrer Tochter die Tränen von den Wangen, konnte sie aber auch nicht beruhigen. „In ein paar Tagen wird sie sich eingewöhnt haben, und bis dahin bringst du sie eben zu mir, wenn sie schreit.“

„In Ordnung. Ich muss wieder zurück. Soll ich sie mitnehmen?“, fragte Rosie mutig.

„Nein, danke.“ Carley musste schreien, um Cami zu übertönen. „Morgen versuchen wir es wieder. Vorerst behalte ich sie bei mir.“

Rosie lächelte erleichtert und zog sich hastig zurück.

Carley blickte Cami in die Augen, bis es der Kleinen zu viel wurde und sie nur noch leise weinend das Gesicht an die Schulter ihrer Mutter drückte. Carley streichelte ihren Rücken und wandte sich dann dem Mann zu, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte.

„Was ist, Houston?“, fragte sie gespannt. Witt sah seine Tochter zum ersten Mal. Er hatte nie erfahren, dass er Vater wurde, doch die Ähnlichkeit zwischen ihm und der Kleinen war nicht zu übersehen. War ihm das aufgefallen? Hatte der Anblick seiner Tochter eine Erinnerung ausgelöst?

2. KAPITEL

„Das ist Ihre Tochter?“, fragte der Mann, der früher Witt Davidson gewesen war.

„Ja. Sie heißt Camille nach ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters.“ Wie oft hatte Carley sich vorgestellt, was Witt zu seiner Tochter sagen würde.

„Ein hübscher Name für ein hübsches kleines Mädchen.“

In ihren Träumen war das anders gelaufen. „Danke. Wir nennen sie Cami.“ Nur mit Mühe hielt Carley die Tränen zurück.

Beim Klang von Witts Stimme beruhigte Cami sich, und als sie ihren Namen hörte, hob sie den Kopf und betrachtete den Fremden. Sie begann zu strahlen und zeigte auf ihn. „Da!“

Carley drückte Camis Hand an die Brust. „Nicht zeigen, Schätzchen. Das macht man nicht.“

Houston Smith kniff die Augen zusammen und betrachtete das Kind, das ihn seinerseits aufmerksam musterte. Irgendetwas an der Kleinen kam ihm bekannt vor.

Seit er im Rio Grande Valley lebte, hatte er sich damit abgefunden, dass ihm alles und jeder irgendwie bekannt vorkam. Bei Carley Mills und ihrem Kind war das Gefühl allerdings besonders stark ausgeprägt.

Gabe und Doc Luisa hatten ihn darauf hingewiesen, dass man ohne Gedächtnis sehr leicht einen Feind für einen Freund halten konnte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Carley ihm feindlich gesonnen war, aber irgendetwas stimmte mit ihr nicht.

Was machte eine elegante und dem Aussehen nach aus einer Großstadt stammende Frau in einem Kinderheim im südlichen Texas? Ihre Kleidung kostete wahrscheinlich mehr, als sie hier in einem halben Jahr verdiente. Und was hatte sie in diesen Sachen vorhin im Freien gesucht? Das hatte sie bisher nicht erklärt.

Trotzdem fühlte Houston sich unerklärlicherweise zu ihr hingezogen. Als er ihr vorhin den Arm um die Schultern gelegt hatte, um sie zu stützen, hätte er sie am liebsten an sich gezogen und sie leidenschaftlich geküsst. Nur mit Mühe hatte er sich zurückgehalten.

Bisher war er stets höchst vorsichtig gewesen und war sich selbst gegenüber ebenso wachsam wie gegenüber anderen. Dr. Luisa hatte ihn halb tot neben der Straße zu einer Farm gefunden. Sie waren beide überzeugt, dass ihn jemand hatte umbringen wollen. Wenn das stimmte, konnte der Täter noch immer hinter ihm her sein. Stellte diese Frau womöglich eine Gefahr für ihn dar?

Das Kind streckte die Ärmchen nach ihm aus. „Nehmen … nehmen …“

Carley versuchte, ihre Tochter abzulenken. „Nein, Schätzchen, der Mann kann dich jetzt nicht nehmen. Das darfst du nicht von Fremden verlangen, Cami. Das kann gefährlich sein.“

Houston lächelte der Kleinen zwar zu, aber er hätte sie ohnedies nicht angefasst. Bei ihrem Anblick beschlich ihn Unbehagen, ohne dass er den Grund dafür erkannte.

Carley wandte sich verlegen an ihn. „Tut mir leid, sonst ist sie sehr schüchtern, wenn sie jemanden nicht kennt. Aber vielen Dank dafür, dass Sie sie beruhigt haben. Ich hätte sonst warten müssen, bis sie von selbst still ist.“ Ihr forschender Blick steigerte sein Unbehagen noch. „Sie können gut mit Kindern umgehen.“

„Nein.“ Er wich einen Schritt zurück. „Die Kleine sieht Ihnen ähnlich, vor allem wenn sie lächelt.“

Autor

Linda Conrad
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