Das Herz der stolzen Highland-Prinzessin

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"Was machen Sie denn hier?" Fassungslos flüstert Eleanor es dem Dinnergast im Haus ihrer Verwandten zu. Nie hätte sie gedacht, dass sie den attraktiven Schotten in London wiedersieht! Vor wenigen Wochen hat er ihr in ihren geliebten Highlands einen skandalösen Kuss geraubt. Sie hielt ihn für einen Schäfer - doch tatsächlich ist Logan McKnight der Ziehsohn des Premiers. Ein erbitterter politischer Feind des Earls, mit dem Ellie verlobt ist! Sie sollte Logan meiden, aber das Verlangen zwischen ihnen brennt lichterloh. Mit jeder heimlichen Liebesstunde in seinen Armen wird der Gedanke unerträglicher, schon bald dem Earl das Ja-Wort zu geben …


  • Erscheinungstag 01.12.2020
  • Bandnummer 360
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749279
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nachtrag zum Letzten Willen und Testament

von Archibald Hamish Craig

Wie an anderer Stelle festgelegt, soll das Gestüt Hearthmere einschließlich der dazugehörigen Ländereien, der Rinder und Schafe sowie der gleichnamigen Pferdezucht meiner geliebten Tochter Eleanor Elizabeth Craig zufallen.

Da meine Tochter noch ein unmündiges Kind ist, setze ich meinen jüngeren Bruder William bis zu ihrer Volljährigkeit als Vormund für sie und als Treuhänder für Hearthmere ein. Sollte er die Aufgabe, deren Einzelheiten in gesonderten Dokumenten aufgeführt sind, annehmen, wird es erforderlich sein, dass er und seine Familie ihren Wohnsitz auf Hearthmere nehmen, um Eleanor ein Zuhause zu bieten. Sofern sie es wünscht – und nur dann –, können mein Bruder und seine Familie auf Hearthmere wohnen bleiben, nachdem Eleanor die Volljährigkeit erreicht hat.

In Anerkennung seiner Dienste und jenen seiner Ehefrau wird bis zu Eleanors Mündigkeit ein jährliches Entgelt ausgesetzt, dessen Höhe in gesonderten Dokumenten festgelegt ist.

Es ist mein Wunsch und Wille, dass Eleanor, die von Geburt an mutterlos war, in einer Familie aufwächst, die sie liebt und wertschätzt.

Familie ist das Allerwichtigste.

1. KAPITEL

Hearthmere, Schottland,

September 1868

Wenn es dir lieber ist, fahre ich nicht. Wenn du Angst hast, ganz allein auf Hearthmere zu bleiben, kann ich den Besuch verschieben.“

Eleanor Craig maß ihren Vetter mit einem prüfenden Blick. Meinte er sein Angebot ernst? Jeremy gehörte nicht zu den Menschen, die auch nur irgendetwas aus Uneigennützigkeit taten.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Angst, Jeremy. Abgesehen davon bin ich hier von fünfundzwanzig Leuten umgeben. Ich wäre nicht allein, selbst wenn ich es wollte.“

„Ja, aber es sind Diener.“

Eleanor verbiss sich eine scharfe Erwiderung. Ihr Cousin betrachtete Diener nicht als Menschen. Was im Grunde genommen nicht ihm anzulasten war, sondern ihrer Tante. Diese vertrat eine solche Ansicht und gab sie bei jeder Gelegenheit zum Besten.

Sie sind nicht wie wir. Eleanor seufzte innerlich. Wie oft hatte sie sich die Bemerkung schon anhören müssen?

„Es sind Angestellte, die auf Hearthmere arbeiten.“ Sie gab sich Mühe, nicht gereizt zu klingen. „Sie waren meinem und deinem Vater treu ergeben.“

„Warum auch nicht? Sie können sich schließlich einiges herausnehmen. Es ist niemand da, der ihnen vorschreibt, was sie zu tun haben.“

„Mrs. Willett leistet großartige Arbeit.“

„Mrs. Willett ist nur die Haushälterin.“

Jeremy hatte keine Lust gehabt, sie nach Schottland zu begleiten; eine Tatsache, die er nun, ein paar Stunden nach ihrer Ankunft, kaum mehr zu verbergen vermochte. Als er verkündet hatte, dass er nach Edinburgh fahren wollte, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Wenigstens würde er ihr nicht mehr ständig in den Ohren liegen wegen irgendwelcher Kleinigkeiten.

„Ich finde, du solltest fahren“, sagte sie fest. „Deine Freunde besuchen. Wie lange würdest du fortbleiben?“

„Eine Woche. Vielleicht zwei.“

Zwei Wochen ohne Jeremy. Was für ein Segen!

Hearthmere war ein Schmuckstück von einem Haus, doch ihm fehlte die luxuriöse Ausstattung, die ihr Cousin gewohnt war.

„Ich bestehe darauf, dass du fährst“, setzte sie ermunternd hinzu.

„Mutter wäre nicht begeistert, wenn ich dich hier zurückließe. Allein.“

Er sah sie abwartend an, fast so, als rechne er damit, dass sie ihrer Tante postwendend schreiben und sie davon in Kenntnis setzen würde, dass er die ihm auferlegte Beschützerrolle schnöde fallen gelassen hatte und seinem Vergnügen nachgegangen war.

Eleanor lächelte. „Ich bin nicht allein, Jeremy. Und mir ginge es viel besser, wenn ich wüsste, dass du genauso viel Spaß hast wie ich. Ich werde Tante Deborah kein Wort davon sagen.“

Er schüttelte den Kopf. „Wie du es in diesem morschen alten Kasten aushalten kannst, ist mir ein Rätsel.“

Abermals verbiss sie sich eine scharfe Erwiderung. Hearthmere war vierhundert Jahre lang das Heim der Familie Craig gewesen, und als ein Craig sollte Jeremy eigentlich mehr Verständnis zeigen, auch wenn er gern so tat, als hätte er nicht ebenfalls schottisches Blut in den Adern.

Zugegeben, es gab einiges, das repariert werden musste, doch das Haus atmete Geschichte. Man musste nur die Stammeshalle betreten, um vom Geist lang verblichener Craigs umgeben zu sein. Oder die Gärten, die vor Hunderten von Jahren geplant und angelegt worden waren. Und die Ringmauer, Teil der ursprünglichen Burg, die als Schutzwall vor feindlichen Clans wie auch den Engländern errichtet worden war und heutzutage den Burghof vor den eisigen Westwinden schützte.

Eleanor freute sich schon Monate im Voraus auf ihren jährlichen Besuch in Schottland. Sie kam nicht nur hierher, um nach dem Haus und der Dienerschaft zu sehen, sondern vielmehr, um ihre Seele zu erfreuen. Sie träumte davon, wieder auf Hearthmere zu wohnen, so wie seinerzeit, ehe ihre Tante alles auf den Kopf gestellt hatte und mit ihren Kindern und ihr nach London umgezogen war.

„Es bleibt unter uns“, beruhigte sie Jeremy noch einmal. „Niemand sonst wird davon erfahren.“

„Bist du sicher?“ Jeremy war praktisch schon auf dem Weg aus dem Salon.

Sie nickte. „Mach dir um mich keine Sorgen. Mir geht es gut.“

Mit ein bisschen Glück hatte er nicht bemerkt, wie erleichtert sie war. Vom Temperament her glich Jeremy seiner Mutter. Er fand immer etwas zu bemängeln und auszusetzen, sowohl an den Verhältnissen als auch an den Menschen. Genau wie seine Mutter schien er es zu genießen, wenn er sich beschweren konnte, ohne auch nur zu ahnen, wie ermüdend es war, ihm zuzuhören.

Sie würde froh sein, wenn er fort war. Je länger, je lieber.

„Dann bin ich also in zwei Wochen zurück.“ Er straffte sich. „Rechtzeitig, um dich nach Hause zu bringen, Eleanor.“

Nach Hause? In England hatte sie sich nie heimisch gefühlt und in London schon gar nicht. Doch das behielt sie für sich. Mit den Jahren hatte sie gelernt, wann es besser war zu schweigen.

„Fährst du morgen früh?“

„Lieber schon heute Nachmittag. Das Wetter ist gut, obwohl man in Schottland keine Prognosen wagen kann. Einen Moment ist es sonnig, im nächsten wird man nass bis auf die Knochen.“

Genauso kam ihr das englische Wetter vor, doch auch das behielt sie für sich.

Jeremy ging gern darüber hinweg, dass sein Vater hier aufgewachsen war. Seit sie nach England gezogen waren und erst recht nachdem seine Mutter wieder geheiratet hatte, schien er entschlossen, seine Abstammung zu vergessen.

Hamilton Richards, sein Stiefvater, war ein Industrieller, der sein Vermögen in der Seifenherstellung verdiente; Seifen jeder Sorte und Art, die er in alle Welt exportierte. Er war kinderlos und hatte sie alle freundlich und großzügig bei sich aufgenommen. Seitdem distanzierten Jeremy und seine Schwester Daphne sich immer nachdrücklicher von ihren schottischen Wurzeln.

Eleanor sah ihrem Cousin hinterher, als er den Salon verließ. Wahrscheinlich hatte er längst Anweisung gegeben, sein Gepäck in der Kutsche zu verstauen. Die Unterhaltung mit ihr war nur ein Alibi. Jeremy hatte keine Skrupel, sie allein zu lassen. Sein Vergnügen war ihm wichtiger als das Wohlergehen der Menschen in seiner Umgebung.

Jeremys Leben hätte vielleicht anders ausgesehen, wäre Hamilton nicht so reich gewesen. In seinem Alter würde er vielleicht irgendeiner Art von Beschäftigung nachgehen, statt den größten Teil seiner Zeit mit Glücksspiel und Trinkgelagen zu verbringen. Leider hatte Hamilton nichts dagegen, Jeremys Ausschweifungen zu finanzieren.

Daphnes Ehemann war nicht annähernd so reich wie Hamilton, und so kam es immer wieder vor, dass sie der imposanten Londoner Stadtresidenz einen Besuch abstattete, Hamilton zu einem Vieraugengespräch in seine Bibliothek bat und das Haus mit einem selbstgefälligen Lächeln verließ. Wenn alles gut ging, würde Hamiltons Vermögen sich als größer erweisen als die Gier der Craig-Kinder.

Auch Eleanor hatte von Hamiltons Großzügigkeit profitiert. Ihre Tante war sehr dafür gewesen, ihr die Reise nach Schottland zu verbieten. Erst Hamilton hatte Deborah überreden können, Eleanor die Erlaubnis zu geben.

„Lass sie das Anwesen besuchen“, hatte er begütigend gesagt. „Immerhin wird sie bald ihren eigenen Haushalt gründen.“

Eleanor war ihm dankbar. Sein Eingreifen hatte es ihr erspart, ihren Anwalt einzuschalten, der seinerzeit auf der Abmachung bestanden hatte.

„Sie ist Schottin, Mrs. Craig“, hatte er ihrer Tante in Erinnerung gerufen. „Wenn Sie nicht bereit sind, auf Hearthmere zu bleiben, wie es die Verträge mit Ihrem Gatten vorsahen, muss Miss Craig die Möglichkeit haben, in regelmäßigen Abständen ihr Elternhaus besuchen zu können.“

Ihre Tante hatte sich echauffiert, und nach einer Weile war ihr der Anwalt ins Wort gefallen.

„Wenn Sie Ihrer Nichte nicht gestatten, Hearthmere einmal im Jahr für vier Wochen zu besuchen, entfällt die Grundlage für das Jahresgehalt, das bis zu Miss Craigs Volljährigkeit an Sie überwiesen wird. Es geht um einen Monat pro Jahr. Wo also liegt das Problem?“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Eleanor nicht gewusst, dass ihre Tante und ihr Onkel dafür bezahlt worden waren, sich um sie zu kümmern. Die letzten vier Jahre hatte sie Schottland jeweils für einen Monat besuchen dürfen, auch nachdem Deborah wieder geheiratet hatte. Jedenfalls bis zu diesem Jahr, in dem der Aufenthalt von einem Monat auf lediglich zwei Wochen verkürzt worden war.

Die Zeit in Schottland hatte immer etwas Bittersüßes, weil sie am Ende wieder nach England zurückkehren musste.

„Du kannst dort nicht bleiben, Eleanor“, pflegte ihre Tante bei ihrer Rückkehr zu sagen. „Dein Lebensmittelpunkt ist hier, in London.“

Nur weil sie keine Wahl hatte in dieser Angelegenheit.

Es war jedes Mal dasselbe, wenn Eleanor wieder nach Hearthmere kam, ob in Begleitung von Jeremy oder mit ihrer Tante und deren Gatten. Dann wünschte sie sich sehnlichst, allein gelassen zu werden, um es genießen zu können, wie das Haus und sie sich aufs Neue aneinander gewöhnten, wie es sie willkommen hieß nach elfmonatiger Abwesenheit.

Sie hatte noch nie ein Gespenst gesehen, obwohl es von Gespenstern in den schottischen Sagen nur so wimmelte. Die Idee, dass es auf Hearthmere spukte, gefiel ihr, und erst recht die Vorstellung, dass ihr Vater einer der Geister war. Oft malte sie sich aus, dass sie wieder zu seinen Füßen saß wie als Kind, als er ihr die Legenden von ihren Vorfahren erzählt hatte, den mutigen Männern und den tapferen Frauen, die auf der Burg gelebt und geliebt und sie verteidigt hatten. In ihrer Fantasie wanderte sie mit ihm durch das Haus, besichtigte die Räume, die sie ein ganzes Jahr lang nicht betreten hatte. Seine Bibliothek. Das Gewächshaus, das ihr Urgroßvater für seine Gemahlin erbaut hatte. Die Vogelvoliere und anschließend die Kapelle. Beim Anblick der Buntglasfenster und des Deckengewölbes hielt sie auch heute noch jedes Mal, wenn sie durch die schwere zweiflügelige Eingangstür trat, den Atem an.

In den Monaten in London fühlte sie sich nur halb lebendig, wartete ungeduldig darauf, wieder nach Hause zu kommen. Wenn sie dann auf Hearthmere war, begann sich etwas in ihr zu rühren, und sie fühlte sich, als würde sie langsam erwachen. Sie war nicht Deborah Richards’ Nichte. Sie war Eleanor Craig, die Tochter Archibald Craigs aus dem Clan Craig. Sie kannte ihre Geschichte, angefangen von der zerfetzten Kriegsflagge in der Stammeshalle bis zu dem Schwert unter der Decke, von dem sie früher geglaubt hatte, es sei verrostet. Ihr Onkel hatte sie schließlich aufgeklärt.

„Es ist Blut, Eleanor. Einer unserer barbarischen Vorfahren erschlug damit einen Feind. Oder vielleicht erstach er ihn auch. Unwichtig, daher jedenfalls stammt das Blut auf der Klinge.“

Sie vermisste ihren Onkel. Er war vor fünf Jahren auf dem Weg vom Haus zu den Stallungen tot zusammengebrochen. Kaum drei Wochen später hatte seine Witwe ihre beiden Kinder und Eleanor genommen und war mit ihnen nach London zurückgekehrt.

Wäre ihr Vater nicht bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen und ihr Onkel ebenfalls gestorben, sie hätte in Schottland bleiben können, anstatt nach England ziehen zu müssen. Aber es war töricht, sich zu wünschen, die Zeit zurückdrehen zu können.

Sie war die Einzige in der Familie, die es vorgezogen hätte, wenn alles so geblieben wäre, wie es einmal gewesen war. Ihre Tante wirkte über die Maßen glücklich, und Daphne und Jeremy schätzten die Vorteile, die sie dank des zweiten Ehemannes ihrer Mutter genossen.

Sobald Jeremys Kutsche auf die Hauptstraße eingebogen war, raffte Eleanor ihre Röcke mit beiden Händen, eilte aus dem Salon und durch den Korridor, die Treppe hinauf in das Gemach, das sie schon als Kind bewohnt hatte.

Da sie die Herrin von Hearthmere war, so hatte ihre Cousine Daphne ihr einmal gesagt, hätte sie eigentlich die geräumige Ecksuite beziehen sollen. Eleanor lächelte leicht. Vielleicht würde sie es eines Tages tun.

Leise schloss sie die Tür hinter sich, trat an den Schrank und tastete an der linken Seite herunter, genau wie ihr Vater es ihr beigebracht hatte. Das Möbelstück war mit einem Geheimfach ausgestattet – wie es sie auf Hearthmere zuhauf gab. Auch ihr Sekretär hatte eine geheime Schublade und ebenso der massive Schreibtisch ihres Vaters in der Bibliothek.

Das Fach war nicht groß, aber geräumig genug, um ihren Reitrock darin unterzubringen. Nicht den, der zu ihrer Garderobe gehörte und von einer der besten Schneiderinnen Londons angefertigt worden war, sondern einen, den sie sich mit zehn Jahren selbst genäht hatte – aus einem ihrer alten Röcke, bei dem sie zwei Längsnähte gelegt und den Stoff dazwischen auseinandergeschnitten hatte. Nur ihr Vater war eingeweiht gewesen, und er hatte sie von ganzem Herzen unterstützt.

„Damensättel sind gefährlich“, hatte er gesagt. „Sie bieten keinen Halt und sind zu nichts nütze. Die Klatschbasen müssen ja nicht wissen, dass du im Herrensitz reitest.“

Sie waren jeden Morgen kurz nach der Dämmerung ausgeritten. Jahrelang hatte der Tag mit dieser belebenden Anregung begonnen, doch mit elf hatte sie erkennen müssen, dass die Zeit vorbei war und nie wieder zurückkehren würde.

Heute würde sie ausreiten wie damals mit ihrem Vater, so, wie sie es bei jedem ihrer jährlichen Besuche tat.

Stehend zog sie das Oberteil ihres Reitkostüms an und anschließend den geänderten Rock und die Stiefel. Die Kette und den Hut mit dem Schleier ließ sie liegen. Immerhin hatte sie keinen Ausritt vor, wie man ihn in den Londoner Parks zu unternehmen pflegte, sondern einen Querfeldeingalopp, bei dem sie und die Stute sich ordentlich verausgaben konnten.

Auch in der Wandvertäfelung in ihrem Wohnzimmer gab es ein Geheimfach. Sie drückte auf eine bestimmte Stelle und als die Tür aufsprang, klemmte sie die Fingerspitzen in den Spalt und öffnete sie ganz.

Hearthmere war eine Fundgrube an Geheimnissen, und Eleanor kannte sie alle. Ihr Vater hatte sie ihr an ihren Geburtstagen eines nach dem anderen enthüllt. Von den geheimen Gängen und Treppen wusste sie, seit sie zehn war. Sie brauchte keine Laterne und keine Kerze. Die Schießscharten der alten Burg spendeten ausreichend Licht.

Sie stieg die Treppe hinunter, lauschte. Es gab einen Ausgang, der in die große Vorratskammer führte, doch er war zu nahe bei der Küche. An den Vormittagen befanden sich die meisten der Dienstboten im Wirtschaftstrakt, und das Letzte, woran ihr lag, war, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen und alle zu erschrecken. Stattdessen nahm sie den nächsten Ausgang, der in einen Vorraum der Bibliothek führte. Bei der Tür blieb sie erneut lauschend stehen und wartete, als sie Schritte auf der anderen Seite hörte, dann trat sie nach draußen.

Sie verließ das Haus und schaffte es bis hinter den Melkschuppen, ehe sie jemandem begegnete. Zwei Jungen, die ihr entgegenkamen, winkten, und sie winkte zurück.

Dann drehte sie sich um. Hearthmere thronte auf einer Anhöhe vor dem Horizont. Die beiden Flügel des Gebäudes erinnerten an ausgebreitete Arme, die jeden willkommen hießen, der sich dem Haus näherte. Vor langer Zeit hatte dort oben eine Festung gestanden, der Stammsitz der ersten Craigs.

Der graue Feldstein, aus dem das Haus errichtet war, hatte die Farbe des Londoner Nebels. Die weiß gestrichenen Fensterrahmen sahen aus wie Dutzende, stets wachsame Augen. Die vielen Schornsteine erinnerten an Orgelpfeifen, doch statt Tönen stießen sie Rauch aus, besonders der Kamin, der zur Küche gehörte. Das Haus lebte und atmete von selbst, ohne dass sie eingriff, bot denen, die dort arbeiteten und das Erbe ihres Vaters in Ehren hielten, Schutz. Fremde waren gern gesehen, und Reisende erhielten eine warme Mahlzeit und manchmal auch ein Nachtlager. Archie Craig hätte es so gewollt.

Alles in allem war Hearthmere autark. Ein beträchtlicher Teil des Ackerlandes wurde nicht für den Besitzer bewirtschaftet, sondern war an Kleinbauern verpachtet, und die verbleibende Nutzfläche diente der Viehhaltung.

Auf Hearthmere waren fünfundzwanzig Menschen beschäftigt, einige davon im Haus, die meisten jedoch auf dem Gestüt.

Ein Gefühl von Stolz stieg in Eleanor auf, als ihr Blick über die weitläufige Anlage glitt. Sie war Schottin und würde es immer sein, gleichgültig wie lange sie in England lebte. Ihr Vater war ein Craig wie schon sein Vater vor ihm – und alle anderen in jener langen Linie, die Hunderte und Aberhunderte von Jahren in die Vergangenheit zurückreichte.

Familie ist das Allerwichtigste. Wie oft sie ihren Vater den Satz hatte sagen hören! Es war ihr unerklärlich, dass Deborah und ihre Kinder ihre schottischen Wurzeln so leicht hinter sich lassen konnten.

Sie würde Hearthmere niemals hinter sich lassen.

2. KAPITEL

Auf der Kuppe des Berges blieb Eleanor stehen und genoss die Aussicht. Unten im Tal lag der große Stall mit über fünfzig Boxen. Das Gebäude war eine Nachahmung des Herrenhauses, bis hin zu dem grauen Feldstein und den weißen Fensterrahmen. Dahinter erstreckten sich Koppeln und Weiden, Schütten und Reitplätze. In einiger Entfernung lag die ovale Sandbahn, die ihr Vater angelegt hatte, um die Pferde zu trainieren.

Vollblüter aus dem Gestüt Hearthmere waren für ihr graues Fell bekannt und hatten The Oaks, das Epsom Derby und die meisten anderen englischen Pferderennen gewonnen. Ihre Siegeszeiten waren aufsehenerregend, und die Vollblüter aus Hearthmere galten als die beste Züchtung überhaupt. Anfragen nach Pferden kamen aus der ganzen Welt, aber Eleanors Vater und ihr Onkel hatten nur Käufer in Betracht gezogen, die ihnen persönlich bekannt waren. Die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Pferde waren für beide Männer von vorrangiger Wichtigkeit gewesen.

Die Gewinne – jedes Jahr höher als im vorigen – führte der Verwalter in seinem monatlichen Rechenschaftsbericht auf. Die Einkünfte wurden für Modernisierungen in den Ställen verwendet und ebenso für den Ankauf weiterer Zuchtpferde. Wenn ein Fohlen zur Welt kam, erhielt Eleanor Nachricht, und natürlich wurde das wichtige Ereignis in den schweren Aktenordner ihres Vaters eingetragen, den sie insgeheim bezeichnete, wie sie ihn als wohlerzogene junge Dame eigentlich nicht nennen sollte, nämlich sein Zuchtbuch. Einen so anstößigen Begriff zu benutzen wäre in gemischter Gesellschaft undenkbar gewesen, aber genau genommen dufte sie ohnehin vieles von dem, was sie wusste, nicht wissen – leider, denn sonst hätte sie vielleicht mit den langweiligeren unter ihren Verehrern ab und zu eine schwungvolle Unterhaltung über Pferdewetten führen können.

Michael zeigte keinerlei Neigung zum Glücksspiel, was wahrscheinlich ein Vorteil war bei einem zukünftigen Ehemann. Aber er interessierte sich auch nicht für ihr Erbe, und das störte sie. Obwohl sie das Thema bei zahlreichen Gelegenheiten angesprochen hatte, schien er über Hearthmere und das Gestüt nicht reden zu wollen.

Sie war ihrem Verlobten auf einem Ball vorgestellt worden. Jenny Woolsey, mit der sie sich angefreundet hatte, weil sie die gleichen Gesellschaften besuchten, hatte sie auf ihn aufmerksam gemacht. Die Ärmste war immer zu eng geschnürt und pflegte zu schwitzen, wenn sie aufgeregt war.

Vielleicht weil sie von den anderen jungen Damen – und von aussichtsreichen Heiratskandidaten – gemieden wurde, vielleicht aber auch, weil sie von Natur aus aufmerksam war, erkannte Jenny die meisten Gäste bei den zahlreichen gesellschaftlichen Zusammenkünften, die sie besuchten, auf Anhieb wieder. Sie erinnerte sich an den Titel eines Gentleman, wenn er einen hatte, und wusste genau, auf welche Summe sich den Gerüchten zufolge sein Jahreseinkommen belief. Michael war ihr gleich aufgefallen.

„Da, sieh nur, Eleanor. Der Earl of Wescott“, hatte sie aufgeregt geflüstert. „Er ist erst kürzlich aus der Karibik wiedergekommen.“

Nach einem flüchtigen Blick in seine Richtung hatte Eleanor dem jungen Mann nicht mehr viel Beachtung geschenkt. Immerhin war er ein Earl, und ein so hohes Ziel hatte sie sich nicht gesteckt. Und doch war sie seit dem Ende der Saison mit Michael verlobt. Eine ganz andere Zukunft lag plötzlich vor ihr.

„Eleanor, mein Liebes. Was für ein schlaues Ding du doch bist!“ Deborahs Worte fielen ihr ein, in denen eindeutig Bewunderung mitgeschwungen hatte. „Der begehrteste Junggeselle von ganz London, vielleicht von ganz England, und du gewinnst ihn für dich!“

Ihre Tante hatte nie sonderlich viel Aufmerksamkeit für sie erübrigt, geschweige denn Lob. Die Situation überforderte Eleanor, und die Geschwindigkeit, mit der alles passierte, erst recht. Michael führte ein Gespräch unter vier Augen mit Hamilton, und als Nächstes feierte man sie für ihren Charme, ihre Haltung und ihre Anmut.

Ganz abgesehen davon, dass sie der Gegenstand von Mutmaßungen und nicht enden wollenden Gerüchten war, wo immer sie auftauchte.

Als Eleanor sich auf den langen Rückweg hinunter zu den Stallungen machte, fielen ihr die Veränderungen auf, die im zurückliegenden Jahr vorgenommen worden waren. Dank der monatlichen Berichte des Verwalters war sie in allen Einzelheiten darüber informiert; über den neuen Zaun um die Nordweide etwa oder die Anlage des Reitplatzes für das Training der Fohlen.

Das Büro von Mr. Contino lag in der Mitte des langgestreckten Stallgebäudes. Sie nickte einer Reihe von Arbeitern zu, die sie kannte, blieb stehen und wechselte ein paar Worte mit ihnen, ehe sie schließlich ihren Weg fortsetzte.

„Guten Morgen, Mr. Contino.“

Für gewöhnlich erschien sie bei dem Stallmeister nicht unangemeldet. Er schätzte es nicht, überrascht zu werden, und wenn ihm etwas nicht passte, pflegte er seinem Ärger in seiner Muttersprache Luft zu machen. Sie konnte kein Italienisch, war jedoch ziemlich sicher, dass Mr. Contino sie so manches Mal wüst beschimpfte.

Er stammte aus der Gegend von Genua und war ein Experte, wenn es um Pferde ging. Jedenfalls hatte ihr Vater das behauptet. Den Bilanzen zufolge, die sie von ihrem Verwalter erhielt, hatte Mr. Continos Sachverstand dem Gestüt in den Jahren nach dem Tod ihres Onkels einen Erfolg nach dem anderen beschert.

Mit William war der Stallmeister nie sonderlich gut ausgekommen, für ihren Vater hingegen hatte er echte Zuneigung gehegt. Archibald und er waren praktisch Tag und Nacht in den Stallungen zu finden gewesen, abends meist bei einer Flasche Wein, tagsüber mit dem unvermeidlichen Becher Kaffee bewaffnet – schwarz, stark, ohne auch nur einen Tropfen Sahne.

Mr. Contino hätte Räumlichkeiten im obersten Stock des Hauses bewohnen können, doch er zog es vor, sich in der Kammer über seinem Büro einzurichten.

„Weil er gern nahe bei den Pferden ist“, hatte ihr Vater ihr erklärt.

Eleanor fragte sich, wie Mr. Contino den Stallgeruch aushielt, doch dann kam ihr der Gedanke, dass es sich damit wahrscheinlich genauso verhielt wie mit Daphnes Parfüm. Nach einer gewissen Zeit nahm man gar nicht mehr wahr, dass es entsetzlich roch und sogar alles, was man aß, danach schmeckte.

„Was wollen Sie?“ Der Stallmeister sprach mit deutlichem Akzent. Er klang gereizt. Doch so war Mr. Contino. Er klang immer gereizt.

„Mit Ihnen sprechen.“ Eleanor trat in den Raum.

Er hatte das Büro aufgeräumt, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Seinerzeit hatten Zaumzeug und andere Arbeitsutensilien auf dem Schreibtisch verstreut gelegen, nun hing alles ordentlich an Haken an der Wand. Auf den beiden Besucherstühlen türmten sich weder Decken noch Sättel – auch das ungewöhnlich. Zwei dicke Kladden lagen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Mr. Contino musterte sie finster und legte seinen Federhalter ab.

„Sie sind spät dran.“

„Wie meinen Sie das?“

„Normalerweise kommen Sie im Juli“, führte er ungeduldig aus. „Jetzt ist es September. Was hat Sie aufgehalten?“

Eleanor lächelte. „Beinahe wäre ich gar nicht gekommen. Und wie es aussieht, bin ich nur für zwei Wochen hier, nicht einen ganzen Monat.“

Eine ganze Weile lang sagte Contino nichts, und die Bemerkung, die er dann machte, überraschte Eleanor nicht. Der Stallmeister hatte Deborah nie leiden können.

„Ihre Tante?“

Eigentlich nicht. Michael hatte entschieden, dass sie dieses Jahr nur zwei Wochen bleiben sollte.

„Er ist dein zukünftiger Ehemann, Eleanor“, war sie von Deborah belehrt worden. „Wenn Michael will, dass du nur zwei Wochen in Schottland bleibst, ist das ein Wunsch, den du nicht unberücksichtigt lassen kannst.“

Noch waren sie und Michael nicht verheiratet. Und was sie von der Vorstellung halten sollte, dass er ohne ihre Mitsprache berechtigt war zu entscheiden, wo sie sich hinbegeben und wie lange sie irgendwo bleiben durfte, wusste sie nicht. Wenn sie ihrer Tante glaubte, war es das, was eine Ehe ihr bescheren würde. Eine verheiratete Frau konnte den Anweisungen ihres Ehemannes nicht zuwiderhandeln. Ihr blieb keine andere Wahl, als erfinderisch und raffiniert zu werden. Sie musste heucheln, um ihre Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen.

Eine kluge Frau tat offenbar gut daran, sich in Scheinheiligkeit zu üben. Eleanor hätte nicht sagen können, ob sie damit einverstanden war, selbst wenn alle es so machten.

Mr. Contino wies auf einen der Besucherstühle. Eleanor nahm Platz und fasste sich ein Herz.

Es ist besser, unangenehme Dinge gleich zu erledigen, mein Mädchen, statt sie vor sich hingären zu lassen. Diesen Rat ihres Vaters pflegte sie zu beherzigen.

„Ich heirate“, sagte sie einfach.

Mr. Contino war der Erste auf Hearthmere, den sie darüber informierte. Dabei konnte sie sicher sein, dass das Personal längst Bescheid wusste. Irgendwie fanden die Angestellten wichtige Informationen immer heraus, und etwas Wichtigeres als diese Nachricht gab es nicht. Nicht wegen ihr. Sie war sich ihrer vergleichsweise gewöhnlichen Bedeutung sehr wohl bewusst. Aber ihre Verlobung mit einem Aristokraten rückte sie aus der Unscheinbarkeit ins Rampenlicht.

„Einen Earl.“ Sie verstummte und setzte nach einem Moment seufzend hinzu: „Was der Sache einiges Gewicht verleiht. Aber ich hatte nie damit gerechnet, die Aufmerksamkeit eines Titelträgers auf mich zu ziehen.“

„Gleich und gleich gesellt sich gern“, erwiderte der Stallmeister schulterzuckend. „So ist es unter Tieren und unter den Menschen ebenfalls.“

Eleanor wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie war kein Mitglied des Adels. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie wirklich Countess werden wollte. Daphne schon, aber das war eine andere Geschichte. Wenn jemand Countess hätte sein sollen, dann Daphne.

„Wir haben Ihren Onkel überlebt“, sagte Mr. Contino in ihre Gedanken hinein. „Wir werden auch einen Ehemann überleben.“

Obwohl ihr Onkel auf Hearthmere aufgewachsen war, hatte er nicht das geringste Interesse an der Pferdezucht gehabt und unglaublich törichte Entscheidungen gefällt, die sie und der Stallmeister hinter seinem Rücken hatten ausbügeln müssen. William Craig war für sein Steckenpferd – Gedichte schreiben – besser geeignet gewesen.

Eleanor stand auf. „Kann ich mir Maud satteln?“

„Sie steht bereit für Sie.“ Der Stallmeister erhob sich ebenfalls. Obwohl sie ihn um Haupteslänge überragte, war er ihr immer größer erschienen, hauptsächlich wegen seiner Persönlichkeit. „Wir haben sie ausreichend bewegt in der Zeit Ihrer Abwesenheit, Miss Eli.“

Dass er sie mit dem Kosenamen ansprach, den ihr Vater ihr gegeben hatte, ließ beinahe ihr Lächeln ersterben. Niemand sonst nannte sie so.

„Danke, Mr. Contino.“

Der Stallmeister nickte knapp.

Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Büro und begab sich zur Box der Stute.

Maud war ein Garron, ein Highlandpony, das ursprünglich angeschafft worden war, um mit einem der Araberhengste des Gestüts verpaart zu werden. Ihr Vater hatte auf ein Zuchtergebnis mit attraktiven Eigenschaften wie Schnelligkeit und fügsamem Temperament gehofft. Unglücklicherweise war Maud nie trächtig geworden, doch anstatt das Pferd zu verkaufen, hatte er es Eleanor geschenkt.

Maud war ein großes Tier, kastanienbraun, mit hohem Widerrist und stabilem Rücken. Sie hatte weit auseinander stehende Augen und einen klugen, wissenden Blick. Ihr Kopf war schön geformt und ihre Mähne lang, ebenso der Schweif, der fast bis zum Boden reichte.

Die Stute war nicht mehr jung, doch sie zeigte keine auffälligen Anzeichen von Alterung. Obwohl Eleanor sie gerne mit nach London genommen hätte, wusste sie, dass die Stadt nicht der richtige Ort für das Tier war. Auf Hearthmere, wo es keine Menschenmassen und keinen Lärm gab, der sie hätte erschrecken können, war Maud entschieden besser aufgehoben.

Eleanor verließ den Stall und schlug den Weg nach Osten ein. Sie ließ es langsam angehen, damit Maud und sie Zeit hatten, sich wieder an ihre übliche Strecke zu gewöhnen.

Mit den Schafen hatte sie nicht gerechnet.

Normalerweise wurden die Herden des Gestüts auf die südlichen Weiden getrieben, nicht in östliche Richtung, doch dann erkannte Eleanor, dass es sich gar nicht um die schwarzgesichtigen schottischen Schafe von Hearthmere handelte. Diese hier hatten weiße, längliche Gesichter und kurze, spitz zulaufende Ohren. Vielleicht hätte sie sich den letzten Bericht des Verwalters genauer durchlesen sollen. War mit der Aufzucht einer anderen Rasse begonnen worden?

Sie erwog, umzukehren, aber sie wollte vorwärtskommen. Also versuchte sie Maud durch die weiße blökende Wolke zu lenken, die sich jedoch nicht für sie teilte. Im Gegenteil, die Tiere drängten sich dichter um das Pferd, und es kam nicht einen Schritt voran.

Maud war alles andere als erbaut von den Tieren, die rücksichtslos gegen ihre Beine stießen. Zweimal machte sie einen Satz zur Seite. Eleanor saß ab und ergriff die Zügel, um die Stute zu Fuß aus der Herde herausführen statt vom Sattel aus.

Sie hatte geglaubt, die Schafe würden ihr aus dem Weg gehen, wenn sie sich zwischen sie schob. Das Gegenteil war der Fall. Die Tiere schienen es zu genießen, sie herumzuschubsen und ihr Missfallen mit einem irritierend hohen, klagenden Blöken kundzutun.

Plötzlich lichtete sich das weiße Meer und sie sah sich einem schwarz-weißen Hund mit einem mächtigen Halsband und einem eindrucksvollen Fang gegenüber. Wie die Herde schien er wenig begeistert von ihrem Anblick, aber im Gegensatz zu den Schafen war er zum Angriff bereit.

3. KAPITEL

Logan McKnight wusste schon lange, dass Schafe keine friedlichen Tiere waren. Auch wenn sie sich bewegten wie eine flauschige Wolke auf Beinen, so waren sie doch nicht ruhig. Im Gegenteil, sie waren laut, störend laut. Sie blökten im Chor und dann einzeln. Und gerade wenn man sich an den Rhythmus ihres Lärms gewöhnt hatte, änderten sie ihn.

Was er nicht gewusst hatte, war, dass sie spuckten.

Ein paar von den Mutterschafen hatten ihn vom ersten Tag an feindselig betrachtet und anscheinend beschlossen, dass ihm etwas fehlte. Ohne Vorwarnung spuckten sie ihn an, wenn er ihnen zu nahe kam. Nun hielt er Abstand zu ihnen.

Gott sei Dank hatte er Peter und Paul. Ohne die beiden Border Collies hätte er keine Ahnung gehabt, wo die Herde sich in diesem Augenblick befand. Jedenfalls nicht auf dem Weg zum oberen Tal, so viel war sicher. Eher wohl auf halber Strecke zu den Hebriden.

Einige Zeitgenossen von ihm – hätten sie die Unvernunft besessen, ihn in seiner derzeitigen Rolle zu entlarven – wären sich einig gewesen, dass er sich versteckte. Er zog es vor, seinen Aufenthalt weit fort von London als Forschungsreise zu betrachten. Er brauchte diese Woche im Hochland, unter Umständen auch zwei, um seine Gedanken zu klären und vielleicht auch zur Läuterung seiner Seele.

Solange die Schafe den Hunden gehorchten, konnte er mitlaufen und so tun, als wüsste er, was er tat. Abends trieben die Hunde die Herde zusammen und bewachten sie, einer zu Logans Füßen, der andere in einiger Entfernung.

Anfangs hatte er das Alleinsein wie Balsam für seine angegriffenen Nerven empfunden. Seit einiger Zeit jedoch lechzte er förmlich nach dem Klang einer menschlichen Stimme – nicht seiner eigenen, wenn er die bevorstehende Rede einübte. Die Hunde reagierten nicht darauf, doch die Schafe gaben ihrem Missfallen Ausdruck.

Ihm war tagelang kein menschliches Wesen begegnet. Auch hatte er keine Zeitung zu Gesicht bekommen, doch dafür war er dankbar. Er hatte wenig Lust, über sich selbst zu lesen.

Dennoch war es keine verschwendete Zeit, denn er hatte Muße gehabt, um nachzudenken. Zuerst waren ihm die Ereignisse in Abessinien nicht aus dem Kopf gegangen, doch dann hatte er sich an seine Kindheit erinnert, an die Freiheit jener Zeit. Es war Jahre her, dass er sich so sorglos gefühlt hatte.

So nahe war er diesem Gefühl schon lange nicht mehr gekommen, wenn er Old Ned vertreten hatte, während der alte Schäfer einen kranken Verwandten besuchte.

Einer der Hunde bellte. Logan wandte sich um. Stocksteif stand Peter mitten auf dem Weg und knurrte ein Pferd und seinen Reiter an.

Eleanor bewegte sich nicht. Sie konnte spüren, dass Maud genauso angespannt war wie sie selbst. Sicher, die Stute wurde jeden Tag bewegt, aber auf einer umzäunten Koppel und nicht in offenem Gelände. Das Auftauchen der Schafe und nun auch noch des Hundes war so unerwartet und erschreckend für sie, dass sie mit ihrer gewohnten Nervosität reagierte.

Der Hund ließ sie nicht aus den Augen.

„Alles, was ich will, ist an dir vorbeigehen“, informierte Eleanor den Collie. „Du brauchst mich nicht anzusehen, als wäre ich dein Mittagessen. Geh zur Seite.“

Der Hund hörte nicht auf zu knurren. Im Gegenteil, er kam ein paar Schritte auf sie zu. Hätten die Schafe sich nicht so dicht um sie gedrängt, sie wäre zurückgewichen.

„Ich meine es ernst“, sagte sie mit mehr Nachdruck. „Husch!“

„Er macht nur seine Arbeit.“

Eleanor sah auf. Vor ihr stand ein Mann mit einem Wanderstab und einem Rucksack und musterte sie neugierig.

„Mit einem Husch werden Sie ihn nicht dazu bewegen, Sie vorbeizulassen“, setzte er ruhig hinzu.

Seine Bemerkung machte sie verlegen, und gleichzeitig spürte sie Ärger in sich aufsteigen. Letzteres zu Recht, wie sie fand.

„Wir befinden uns auf einer öffentlichen Straße“, wandte sie ein. „Schafe haben hier keinen Vorrang.“

„So ist es.“

„Sorgen Sie also dafür, dass die Tiere den Weg freimachen, damit ich vorbeikomme.“

„Wäre es nicht einfacher für Sie, die Herde zu umrunden?“ Sein Akzent war eindeutig schottisch. Stärker als ihrer nach fünf Jahren in London.

Er lächelte sie an. Sehr charmant, doch sie mahnte sich, davon nicht mehr Notiz zu nehmen als nötig.

Obwohl er ein weißes Hemd trug, das am Halsausschnitt offenstand und dessen Ärmel hochgerollt waren, sah er nicht aus wie ein Schäfer. Zum einen hatte er keinen Bart, und außerdem war sein schwarzes Haar kurz geschnitten. Abgesehen von seiner Kleidung, insbesondere den locker sitzenden Hosen mit den zahlreichen Flecken, von denen einer ein Blutfleck zu sein schien, sah er genauso aus wie die Gentlemen, die ihr während ihrer beiden Saisons vorgestellt worden waren.

Sie war nicht gewillt, dem Äußeren eines Fremden über Gebühr Aufmerksamkeit zu schenken, aber dieser Schäfer machte es einem schwer, ihn zu ignorieren. Seine Erscheinung hatte etwas Ungehobeltes mit dem vom Wind zerzausten Haar, den kantigen Zügen, einer Nase, die beinahe zu groß war für sein Gesicht, und den noch immer zu einem Lächeln nach oben gebogenen Lippen. Sein Kinn war markant und schien sie zu warnen, dass die Begegnung nicht so ausgehen würde, wie sie es sich vorstellte. Auch wirkte er nicht im Mindesten verlegen angesichts der Situation.

Ob er nicht wusste, dass sie seine Dienstherrin war?

„Unsere Schafe werden nie hier entlanggetrieben“, ließ sie ihn stirnrunzelnd wissen. „Sie müssen vom Weg abgekommen sein.“

„Tatsächlich?“

„Tatsächlich. Sie sollten den Fehler umgehend korrigieren. Niemand braucht davon zu erfahren.“

„Nein?“

Sie schüttelte den Kopf und wartete ungeduldig darauf, dass er etwas wegen des Hundes unternahm. Jedes Mal, wenn sie nicht aufpasste, kam das Tier näher. Sie musste es im Auge behalten, sonst würde es bald unmittelbar vor ihr stehen.

„Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben.“

Jeder, der auch nur einen Funken Verstand besaß, würde sich vor einem knurrenden Hund in Acht nehmen, besonders wenn er so groß und wild war wie dieser. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, tauchte plötzlich ein zweiter Hund auf. Er umkreiste Maud und sie und kam immer näher.

„Rufen Sie sie bitte zurück.“ Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht schwankte. „Sofort!“

„Erteilen Sie Menschen, die Sie nicht kennen, immer Befehle? Bis jetzt habe ich drei gezählt.“

„Ich bin Ihre Dienstherrin“, informierte sie ihn kühl. „Eleanor Craig of Hearthmere.“

„Ach, wirklich? Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Eleanor Craig of Hearthmere, aber meine Dienstherrin sind Sie nicht.“

„Oh doch, und das da sind meine Schafe. Und nun schaffen Sie die Tiere aus dem Weg.“ Eleanor vermied es, den Blick auf die Hunde zu richten. Stattdessen konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schäfer. Zu ihrer Überraschung verblasste sein Lächeln.

„Sie haben wirklich Angst, nicht wahr?“

Sie hätte gern behauptet, dass sie keine Angst hatte, aber das wäre ihr lachhaft erschienen angesichts der Tatsache, dass sie am ganzen Körper zitterte.

„Werden Sie sie aus dem Weg schaffen?“

Er pfiff. Nur zwei Töne, und beide Hunde machten kehrt und liefen zu ihm. Warum hatte er das nicht gleich getan, wenn es doch so einfach war? Warum hatte er es für notwendig erachtet, sie in solche Angst zu versetzen?

„Miss Craig, es sind nicht Ihre Schafe. Sie gehören dem Duke of Montrose. Um genau zu sein, befinden Sie sich auf seinem Land.“

Sie hatte eine längere Strecke zurückgelegt, als ihr bewusst war.

„Sind Sie sicher, dass es nicht meine Schafe sind?“

„Ja.“

„Also sind Sie auch nicht mein Angestellter.“

Er lächelte. „So ist es.“

Sie war herrisch und fordernd aufgetreten, und dieser Schäfer sorgte mit wenigen Worten dafür, dass sie sich klein und mickerig fühlte.

„Werden Sie Ihre Schafe nun zur Seite treiben, damit ich vorbeikomme?“

Eine ganze Weile lang musterte er sie wortlos. Halb erwartete sie schon, dass er ihr weitere Fragen stellen würde, doch stattdessen kam er ein paar Schritte auf sie zu, die Hunde an seiner Seite. Unwillkürlich spannte sie sich an, und er blieb stehen.

„Haben Sie grundsätzlich Angst vor Hunden oder nur vor diesen hier?“

„Bei der Größe der beiden scheint mir Vorsicht angeraten.“

„Sie haben einen falschen Eindruck von ihnen. Es sind ausgesprochen freundliche Hunde.“

Bei ihm vielleicht. Ihr erschienen sie nicht sehr freundlich.

Sie schüttelte schweigend den Kopf. Maud hinter ihr hatte sich ein wenig beruhigt. Die Stute war wie ein lebendes Bollwerk gegen die restlichen Schafe.

Der Schäfer gab den Hunden einen Befehl, und sie machten Platz, als er weiterging.

„Bitte tun Sie etwas, dass die Hunde verschwinden.“

Zu ihrer Verwunderung legte er den Wanderstab nieder und setzte den Rucksack ab, dann trat er hinter sie. Als sie ihm einen Blick über die Schulter zuwarf, lächelte er wieder.

„Vertrauen Sie mir, Miss Eleanor Craig of Hearthmere.“

Welche Veranlassung hätte sie dazu? Er war ein Fremder für sie, und obendrein ziemlich herablassend.

Als er ihr die Hände um die Taille legte, entfuhr ihr ein Laut, der sich verdächtig nach einem Kreischen anhörte. Die Hunde sprangen auf, spitzten die Ohren.

„Was machen Sie da?“

„Ich beweise Ihnen, dass die beiden Ihnen nichts tun wollen.“

„Aber Sie?“

„Reden Sie keinen Unsinn!“

„Unsinn? Lassen Sie mich bitte los.“

„Warten Sie, gleich. Eine Minute, um mehr bitte ich Sie nicht.“

Er stand viel zu dicht, und seine Hände lagen immer noch um ihre Taille. Als tanzten sie miteinander, nur dass Eleanor sich kein merkwürdigeres Paar vorstellen konnte.

„Rufen Sie sie“, befahl er ihr ruhig.

„Was?“

„Rufen Sie die Hunde. Peter und Paul. Rufen Sie sie.“

„Das werde ich nicht tun.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lächerlich.“

„Sie warten darauf, dass Sie sie rufen.“

Sie riskierte einen Blick auf die Hunde. Die beiden ließen sie keinen Moment aus den Augen.

„Ich werde sie nicht rufen. Ich will, dass sie fortgehen. Ich will, dass Sie fortgehen. Lassen Sie mich bitte los.“

„Sie zittern.“ Er ließ die Hände sinken und trat zurück.

Sie drehte sich um.

„Sie sind ein abstoßender Mensch.“

„Man hat mir schon Schlimmeres nachgesagt, Miss Craig.“

Sie ging über die Bemerkung hinweg. „Und Ihre Hunde sind bösartig.“

Sein Lachen war eine Beleidigung. „Nur, wenn man ihren Schafen etwas tut. Dann würde selbst ich nicht für Peter und Paul garantieren.“

„Peter und Paul! Angst und Einschüchterung sollten sie heißen.“

„Sie kennen sich mit Hunden nicht sehr gut aus, habe ich recht, Miss Craig?“

„Jedenfalls weiß ich, wann ein Hund wohlerzogen ist.“

„Peter und Paul sind sehr wohlerzogen, aber es sind Hütehunde. Keine Schoßtiere, die man mit Leckereien füttert.“

„Ich möchte nichts mit ihnen zu tun haben“, versetzte sie störrisch.

Zu ihrer Verwunderung lächelte er wieder. Wusste er, wie attraktiv er war, wenn er lächelte? Sie nahm es an, genauso wie er sich der Tatsache bewusst war … Sie rief sich zur Ordnung. Was hatte er eigentlich an sich? Sie war versucht, es als Ungeschliffenheit zu bezeichnen, doch das traf es nicht. Irgendwie konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er ein Kämpfer war. Ein Krieger. Er erinnerte sie an einen Schotten aus alter Zeit. Sie konnte sich ihn gut in einem Kilt vorstellen, mit blankem, nur von einem Tartan verhüllten Oberkörper. Statt des Wanderstabs würde er eine Keule oder ein Schwert tragen, an dem noch Blut klebte von einer kürzlichen Schlacht.

Wölfe würden die Begleiter dieses Kriegers sein, kaum zu unterscheiden von den Hunden, die ihn jetzt begleiteten. Statt von Schafen sah sie ihn von Clansleuten umgeben, die zu ihm aufschauten als ihrem Anführer.

Sich einen Schäfer als Anführer von Kriegern vorzustellen – lächerlich. Vielleicht aber auch nicht, wenn sie in Betracht zog, was sie während ihrer beiden Saisons gelernt hatte. Männer ähnelten Schafen, fügten sich allen möglichen gesellschaftlichen Regeln, die auf den ersten Blick idiotisch wirkten. Einige jedoch gingen ihren eigenen Weg. Wie der Mann vor ihr.

Zu welcher Sorte gehörte Michael?

Die Frage wirkte wie ein Schwall kaltes Wasser. Wie konnte sie nur! Über einen anderen Mann nachzusinnen, während doch ihr Verlobter derjenige hätte sein sollen, um den all ihre Gedanken kreisten.

4. KAPITEL

Zu ihrer Verwunderung streckte der Schäfer die Hand aus und streichelte Maud über die Nase. Die Stute schien seine Aufmerksamkeit zu mögen, was Eleanor überraschte, da Maud den meisten Menschen gegenüber sehr zurückhaltend war.

„Ein schönes Tier.“

„Sie stammt aus dem Stall meines Vaters.“

„Ihr Vater versteht etwas von Pferden.“

„Er lebt nicht mehr“, sagte sie schlicht. „Aber die Pferde aus dem Gestüt Hearthmere sind weltbekannt.“

Der Schäfer sah sie an, fing ihren Blick und hielt ihn, bis sie beiseitesah. Seine Augen hatten einen warmen Braunton. In ihren Tiefen funkelte ein Anflug von Humor. Fand er die Situation erheiternd? Anscheinend ja. Und ihre Angst? Auch sie schien ihn zu belustigen.

„Ich bin kein Reiter.“ Er fuhr fort, Maud zu streicheln. „Ich habe mir nie Zeit dafür genommen.“

Sie unterließ es, zu erwähnen, dass er als Schäfer gar nicht das Geld hatte, sich ein Pferd zu kaufen. Abgesehen davon, wofür sollte er es brauchen? Seine Füße trugen ihn, wohin er wollte.

„Ich glaube nicht, dass Ihre Schafe die Anwesenheit eines Pferdes begrüßen würden.“ Sie streifte die Hunde mit einem Blick. „Peter und Paul hätten sicher auch etwas dagegen.“

Es war wirklich besser, so rief sie sich zur Ordnung, wenn sie seinem Lächeln keine Beachtung mehr schenkte. Es hatte die eigenartige Wirkung, sie von innen heraus zu wärmen.

„Wie heißt sie?“ Er strich der Stute über den Hals.

„Maud.“ Und obwohl er nicht danach gefragt hatte, klärte sie ihn über die Herkunft des Namens auf. „Wie in dem Gedicht von Tennyson.“

„Ihrem Verhalten nach hat sie noch nie mit Schafen zu tun gehabt.“

Eleanor zögerte. Sie wollte wirklich keine freundliche Unterhaltung mit dem Mann führen. Stattdessen hätte sie sich längst auf den Weg machen sollen.

„Normalerweise wird sie auf dem Gestüt bewegt, auf einer kleinen Koppel.“

Der Schäfer sah sie an. Wahrscheinlich lag es an seiner streitbaren Art, dass sie sich auf einmal so merkwürdig fühlte. Oder daran, dass ihr bei dem Ritt tüchtig warm geworden war. Genau. Da hatte sie ihre Erklärung für das berauschende Prickeln, das sie auf einmal durchströmte.

„Ich hatte nicht damit gerechnet, einer schönen Frau auf einem außergewöhnlichen Pferd zu begegnen.“

Wie konnte er es wagen, derart intime Dinge zu äußern? Es war der Gipfel der Unhöflichkeit, und gleichzeitig vermochte sie nichts gegen den feinen Wonneschauer zu tun, der sie bei seinen Worten überlief. Sie war ganz bestimmt nicht schön, was bedeutete, dass er ihr absichtlich schmeichelte, sicher weil er etwas Ruchloses im Schilde führte.

Er pfiff, und die Hunde sprangen auf. Eleanor spannte sich an, als sie sie zu umkreisen begannen, ein Hund auf jeder Seite. Mit geschickten Bissen hier und da und einem Knurren in Richtung eines riesigen Mutterschafs teilten sie die Herde, und die Straße war frei.

„Darf ich Ihnen in den Sattel helfen?“

Sie wandte sich nicht um, als sie seine Stimme hörte. Sicher war es das Beste, wenn sie ihn gar nicht zur Kenntnis nahm.

„Wahrscheinlich finden Sie einen Felsbrocken, der hoch genug ist, oder eine Mauer. Aber es wäre mir lieber …“ Er verschränkte die Finger, sodass seine Hände einen Korb bildeten. „… wenn Sie einfach Ihren Fuß hier hineinstellen würden, damit ich Sie auf das Pferd heben kann.“

Selbst seine Art zu reden war skandalös. Man erwähnte Körperteile nicht in gemischter Gesellschaft.

Sie musterte ihn misstrauisch. Er beugte sich vor.

„Wäre es so nicht einfacher?“

Ja, aber sie war hin- und hergerissen zwischen Stolz und einer wachsenden Verlegenheit. Andererseits war es besser, seine Hilfe anzunehmen, als Maud den ganzen Weg nach Hause am Zügel zu führen und zu wissen, dass er sie beobachtete. Maud war zu groß und der Steigbügel zu hoch, als dass sie ohne Hilfe auf das Pferd gekommen wäre.

Sie nickte knapp und stellte ihren Fuß auf seine verschränkten Hände. Aus der Nähe wirkte er noch einschüchternder, noch größer und stärker.

Im Handumdrehen saß sie im Sattel.

Er kam an ihre Seite, legte die Hand auf den Schaft ihrer Stiefelette, berührte fast ihr Bein. Ihr nacktes Bein.

„Ich finde es gut, dass Sie im Herrensitz reiten.“ Er nickte gedankenvoll. „Damensättel erschienen mir schon immer höchst lächerlich. Gefährlich obendrein.“

Er trat näher, hob die Hand und umfasste ihr Handgelenk, beinahe so, als wolle er sie gefangen nehmen.

Sie riss sich los und sah ihn an.

„Kennt Ihre Grobheit keine Grenzen, Schäfer?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Miss Eleanor Craig of Hearthmere.“

Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte antworten können. Dieser unsägliche Mensch machte sie sprachlos.

„Sie haben keine Manieren.“

„Vielleicht sollten Sie bleiben und mir schickliches Benehmen beibringen.“ Er hob die Brauen. „Oder haben Sie immer noch zu viel Angst vor den Hunden?“

„Ich hatte keine Angst“, log sie ohne mit der Wimper zu zucken.

„Dann eben nicht.“

Sie maßen einander mit Blicken, und es war, als würden sie Hunderte Worte wechseln, wenn auch ohne sie auszusprechen. Eine stumme Unterhaltung, voller Neugier seinerseits und voller Verwirrung bei ihr.

Eleanor rief sich zur Ordnung. Sie würde nach Hause reiten und sämtliche Gedanken an den Schäfer und das Zwischenspiel mit ihm aus ihrem Kopf verbannen. Übrig bleiben würde nicht mehr als ein Traum, eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Etwas, von dem sie sich später fragen würde, ob es tatsächlich passiert war.

„Leben Sie wohl, Miss Eleanor Craig.“

Sie kannte niemanden, der sie jemals so irritiert, so durcheinandergebracht hatte. Ein Schäfer, der nicht wie einer redete. Ein Mann, der ihr viel zu überschwängliche Komplimente machte und sie bewundernd betrachtete. Der sie viel zu vertraulich berührt hatte und kein bisschen Reue erkennen ließ.

Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn stehen und trieb Maud zu einem scharfen Galopp an, entschlossen, dem Mann nie wieder über den Weg zu laufen.

Sie war wütend auf ihn, und Logan konnte es ihr nicht verdenken. Die mysteriöse Miss Craig hatte etwas tief in seinem Innern zum Leben erweckt. Er wollte wissen, wie sie hinter der Fassade tadelloser Höflichkeit wirklich war. Noch nie hatte er den Drang verspürt, eine Frau zur Weißglut zu bringen, und dass er es bei ihr getan hatte, erstaunte ihn.

Er hatte nicht gelogen. Sie war schön, aber zu Frauen ihres Typs fühlte er sich nicht hingezogen. Zum einen war sie nicht blond, und er stand auf blonde Frauen. Außerdem hatte ihre Erziehung offenbar die Einhaltung sämtlicher Regeln von Anstand und Schicklichkeit zum Ziel gehabt. Zugegeben, ihm war die gleiche Erziehung zuteil geworden, aber er wälzte sich lieber im Dreck, als sich vorzumachen, es gäbe keinen Dreck. Er mochte streitlustige Menschen, die aussprachen, was sie dachten, und keine Angst hatten vor einem offenen Wort, wenn sie einem die Meinung sagten. Er mochte Ernsthaftigkeit und Menschen, die die Wahrheit sagten. Menschen wie Miss Craig dagegen versteckten sich hinter Konventionen und Belehrungen.

Es hatte ihr nicht gefallen, von ihm angefasst zu werden. Nicht dass er es vorgehabt hatte, aber er war fasziniert gewesen von dem Aufblitzen von Zorn in ihren schönen blauen Augen. Eine solche Reaktion hatte er selten erlebt, doch andererseits war er auch nicht bekannt dafür, Frauen zu ärgern.

Er kannte die Craigs of Hearthmere. Archibald Craig, bei dem es sich wahrscheinlich um Eleanors Vater handelte, war vor ein paar Jahren gestorben. Die Familie betrieb einen Zuchthof, aber Logan konnte sich nicht mehr erinnern, für welche Art Tiere.

Eleanor. Der Name passte zu ihr. Sie hatte das Aussehen einer Eleanor mit ihren patrizischen Gesichtszügen. Dass sie im Herrensitz ritt, hatte ihn im ersten Moment erstaunt, doch er hatte schnell erkannt, was für eine ausgezeichnete Reiterin sie war. Eleanor war im Sattel zu Hause, weit mehr als er.

Wenn sie neben ihrem Pferd stand, überragte er sie um mehr als Haupteslänge. Wäre er daran interessiert gewesen, sie zu küssen, sie hätte die perfekte Größe für ihn gehabt.

Bei dem Gedanken lächelte er. Was hätte die ach so anständige Miss Eleanor Craig wohl getan, wenn er sie in seine Arme gerissen hätte? Zweifellos entsetzt aufgekreischt und ihm ein Ohrfeige verpasst. Oder ihn heruntergeputzt, weil er nach Schafen roch.

Logan wandte sich um und machte sich auf den Weg den Berg hinauf. Die Hunde folgten ihm. Mit einer Reihe von Pfiffen ließ er sie wissen, was sie zu tun hatten.

Sie war kalkweiß geworden bei der Vorstellung, sich Peter oder Paul zu nähern. Die beiden Collies waren gut abgerichtet, und er hatte nicht gelogen. Solange Miss Craig die Schafe nicht bedrohte, betrachteten die Hunde sie als Freund.

In zwei Tagen traf sein Sekretär ein, und dann würde er nach London zurückkehren. Dass er Miss Craig wiedersah, stand zu bezweifeln, aber merkwürdigerweise verspürte er Enttäuschung bei der Erkenntnis. Andererseits hatte er im Augenblick nicht die Zeit für eine Frau. Er hatte nicht einmal die Zeit, über eine Beziehung nachzudenken.

Eine Schande eigentlich. Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht um Miss Eleanor Craig bemüht. Nur um ihre schönen blauen Augen wütend blitzen zu sehen.

5. KAPITEL

Hatten Sie einen angenehmen Vormittag, Miss Eleanor?“

Eleanor unterdrückte einen Seufzer. Leider war Mrs. Willett ihr über den Weg gelaufen, ehe sie es geschafft hatte, auf ihr Zimmer zu gelangen.

Clara Willett war von Deborah eingestellt worden. Zwei ihrer Freundinnen hatten die Haushälterin empfohlen. Dass Mrs. Willett als gebürtige und überzeugte Engländerin bereit war, in einem weit abgelegenen Haushalt in Schottland zu arbeiten, hatte zwei Gründe: Sie wurde außerordentlich gut bezahlt, und sie war verliebt in Mr. Contino. Über die Bezahlung wusste Eleanor offiziell Bescheid, weil sie die Ausgaben vierteljährlich abzeichnete, doch von der Liebesaffäre durfte sie eigentlich nichts wissen.

Eines der Zimmermädchen hatte sie letztes Jahr ins Vertrauen gezogen, und seitdem waren Eleanor viele verräterische Hinweise aufgefallen. Manchmal bemerkte man etwas nicht, obwohl man es direkt vor Augen hatte, und es brauchte einen Außenstehenden, der einen darauf aufmerksam machte.

Mrs. Willett gehörte zu den Frauen, deren Alter sich nur schwer schätzen ließ. Ihr Haar war nicht wirklich blond, aber auch nicht dunkel. Sie hatte ein rundes, aber keineswegs dickes Gesicht, und das Auffälligste an ihr waren ihre hellblauen Augen. Sie pflegte die Lippen stets leicht zu spitzen, so, als wolle sie um keinen Preis den Anschein erwecken, von etwas angetan zu sein.

Unter dem Oberteil ihrer dunkelblauen Dienstmontur verbarg sich ein üppiger Busen. Eleanor war nicht sicher, ob ihre Tante die Uniform eingeführt hatte oder ob es eine persönliche Präferenz von Mrs. Willett war, aber man sah die Haushälterin nie anders als in dem strengen Kleid mit den weißen Manschetten und dem weißen Kragen. Gelegentlich trug sie eine Brosche, und manchmal einen Spitzenkragen, doch meistens war es einer aus praktischer Baumwolle.

Wenn die Haushälterin und Mr. Contino tatsächlich eine stürmische Liebesaffäre hatten – dem Zimmermädchen zufolge war die Beziehung schockierend leidenschaftlich –, dann spielte sie sich bewunderungswürdig diskret ab. Die beiden jagten einander nicht des Nachts durch die Korridore von Hearthmere, und wenn Mrs. Willett von Mr. Contino redete, was nicht sehr häufig vorkam, nannte sie ihn beim Nachnamen und schlug einen äußerst frostigen Ton an. Wenn er umgekehrt von ihr sprach, dann stets als „der Haushälterin“. Nach außen hin war das Verhältnis der beiden schicklich und einwandfrei.

Und solange auf dem Gestüt alles glattlief und die Pferde ihres Vaters in ausgezeichnetem Zustand waren, gab es keinen Grund, die Affäre auch nur zu erwähnen.

„Ja, danke, Mrs. Willett.“ Es war Eleanor unangenehm, dass sie so derangiert aussah, aber sie hatte Maud selbst gestriegelt, als eine Art Entschuldigung für die aufregende Begegnung mit der Schafherde, und ihr anstößiger Reitrock war schmutzig geworden. Sie hatte den – freilich unbewiesenen – Verdacht, dass Mrs. Willett Briefe an Tante Deborah schrieb und sie über alles, was Eleanor in den vier Wochen ihres Aufenthalts in Schottland sagte und tat, auf dem Laufenden hielt, auch über Änderungen, die sie vornahm, und Hinweise, die sie hinsichtlich zukünftiger Pläne gab.

Sie wandte sich zum Gehen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.

„Wo genau fängt eigentlich das Land des Duke of Montrose an?“

Ihre Erinnerung an den Verlauf der Grenze von Hearthmere schien verrutscht zu sein, wenn sie auf das Land des Dukes geraten war. Vielleicht hätte sie die Frage besser dem Verwalter stellen sollen, doch der Mann wohnte nicht auf dem Gestüt, sondern reiste einmal im Monat von Edinburgh an.

„Ich weiß es nicht genau, Miss Eleanor. Ist es wichtig?“

Eleanor schüttelte den Kopf. „Nein. Aber der Duke beschäftigt einen bemerkenswerten Schäfer. Einen selten ungehobelten Mann.“

„Der alte Ned?“ Die Haushälterin wirkte erstaunt.

„Alt? Nein, als alt würde ich ihn nicht bezeichnen.“

„Old Ned, wie sie ihn hier nennen, war schon da, als ich nach Hearthmere kam, Miss Eleanor. Er hat ein paar Jahre auf dem Buckel, aber er ist immer noch mit seinen Schafen und den Hunden unterwegs.“

Autor

Karen Ranney
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