Das Wort eines Gentlemans

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Miss Clarissa Fortesque hat ein Vermögen geerbt - nun will ihr geldgieriger Vormund sie zur Heirat zwingen. Um der Zwangsehe zu entgehen, fasst Clarissa einen kühnen Plan: Sie bietet dem verarmten Ehrenmann Hugh Richfield 10.000 Pfund an, wenn er sie zum Schein heiratet! Überraschend stimmt der ehrenwerte Gentleman zu, mit ihr durchzubrennen. Auf dem Weg ins schottische Gretna Green kommen die beiden sich näher als gedacht … Doch Clarissas Vormund ist jedes Mittel recht, um die Hochzeit zu verhindern!


  • Erscheinungstag 06.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778392
  • Seitenanzahl 100
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, September 1815

„Gib auf!“, sagte er höhnisch und lachte sie aus. „Oder schrei das ganze Haus zusammen! So oder so gehörst du mir.“ Er packte sie bei den Oberarmen. Sein keuchender, nach Zigarren stinkender Atem streifte ihr Gesicht, während sie sich wehrte. „Aber du lässt dir lieber zeigen, wer das Sagen hat, was?“, knurrte er.

Clarissa schlug gegen seine breite Brust, wand sich heftig, damit er sie nicht küssen konnte, und biss die Zähne zusammen, um nicht um Hilfe zu rufen. Niemand durfte sie hören. Niemand durfte nach draußen kommen, andernfalls war sie verloren. Und genau das wollte er natürlich.

Verzweifelt trat sie ihm gegen die Schienbeine, erreichte damit aber nur, dass ihr die Zehen wehtaten. Durch den weichen Stoff ihres Rockes hindurch spürte sie, dass er hart war. Instinktiv riss sie das Knie hoch und traf seine empfindlichste Stelle.

Trenton jaulte auf, ließ sie los und krümmte sich, wobei er erbärmlich stöhnte.

Clarissa rannte den schmalen Gehweg entlang und betete, dass sie es ins Haus schaffte, ohne dabei gesehen zu werden.

Mit verrutschter Frisur und unordentlicher Kleidung floh sie durch die geöffneten Türen, die von den kleineren Ballsälen nach draußen führten, und hoffte inständig, dass niemand in ihre Richtung sah. Es war noch früh. Noch waren nicht alle Gäste da, und vielleicht konzentrierten sich die Angekommenen darauf, die anderen am Eingang zu begrüßen. Wie um alles in der Welt war sie nur auf die Idee gekommen, draußen auf der Terrasse auf Richfield zu warten?

Sie erreichte eine kleine Tür, die zur Dienstbotentreppe führte, ging rasch hindurch und wagte es nicht, ihre Schritte zu verlangsamen noch über die Schulter zu blicken. Keuchend und außer Atem rannte sie zum Schlafzimmer, das ihr die Dicksons freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatten, ging hinein und drehte den Schlüssel um.

Lange blieb sie – den Rücken gegen die Tür gelehnt, die Handflächen dagegen gedrückt – dort stehen. Ihre Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Aber sie konnte nicht lange bleiben. Sie konnte sich nicht den ganzen Abend verstecken. Man würde sie vermissen.

Clarissa nahm sich rasch zusammen und trat von der Tür weg. Mit zitternden Händen ordnete sie hastig Kleidung und Haar und atmete tief durch, um sich – so gut es eben ging – zu beruhigen. Wenn sie gleich hinunterging und am Fest teilnahm, würde Trenton hoffentlich gegangen sein. Niemand würde von dem Zwischenfall erfahren. Und wenn der Plan funktionierte, den sie sich am Tag zuvor ausgedacht hatte, und die Verbindung mit ihrem niederträchtigen Cousin nicht zustande kam, würde es auch so bleiben.

Es klopfte an der Tür. Verzweifelt sah sich Clarissa nach einem Fluchtweg um. Das Fenster lag zu weit oben, um herausspringen zu können. Zum Nebenzimmer gab es keine Verbindungstür. Sie saß in der Falle. Der Türknopf wurde gedreht und dann wie wild gerüttelt.

„Clarissa Fortesque, öffne sofort die Tür! Warum ist sie verschlossen? Bist du krank?“

Phyllis. Gott sei Dank! Clarissa legte eine Hand auf ihr klopfendes Herz und atmete erleichtert aus. Phyllis Dickson war zwar die beste Freundin auf der ganzen Welt, aber nicht einmal sie durfte wissen, was gerade beinahe passiert war. Beinahe konnte genügen, um den gesamten Plan scheitern zu lassen.

„Einen Augenblick bitte“, rief Clarissa ihrer Freundin zu, sah ein letztes Mal in den Spiegel und ging, um die Tür zu öffnen.

„Wo warst du?“, wollte Phyllis wissen. „Ich habe dich überall gesucht und konnte dich nirgendwo finden. Genauso wenig habe ich deinen Cousin Trenton irgendwo gesehen. Mutter hätte ihn für heute Abend nicht einladen dürfen. Ich will gar nicht davon reden, wie er dich bei deinem Onkel erschreckt hat. Er ist ein überheblicher Langweiler.“

Schlimmer als ein Langweiler, dachte Clarissa. Und ja, er hätte niemals eine Einladung erhalten dürfen. Doch Lady Dickson hatte darauf bestanden, den einzigen Verwandten Clarissas einzuladen, der in der Lage war, am diesem Fest teilzunehmen. Clarissa steckte eine Haarnadel ordentlich fest, zog ihre Handschuhe zurecht und durchwühlte das Durcheinander auf ihrem Ankleidetisch nach ihrem Fächer.

„Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist, Liebes? Du siehst ziemlich blass aus.“ Während sie durch den oberen Korridor gingen, der zur großen Treppe führte, hakte sich Phyllis bei Clarissa unter.

Clarissa rang sich ein Lächeln ab.

„Mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin nur nach oben gegangen, um andere Schuhe anzuziehen. Die blauen sind mir vorne zu eng. Könnten wir meinen flegelhaften Verwandten für einen Moment vergessen und zu den anderen gehen?“, fragte sie fröhlich und lächelte Phyllis zu, als sei nichts Ungehöriges geschehen. „Du weißt ja, dass ich mich um wichtige Dinge kümmern muss.“ Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie sich ausschließlich auf die Treppenstufen konzentrierte und sich sogar mit einer Hand am Geländer festhielt.

„Sag die Wahrheit, Clarissa! Hat dein Cousin heute Abend mit dir gesprochen?“, drängte Phyllis. Noch immer lag ein Ausdruck von Besorgnis auf ihrem hübschen Gesicht. „Hat er dir gedroht oder etwas anderes zu dir gesagt? Wir könnten es Vater erzählen.“

Clarissa ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, während sie sich der Tür zum Ballsaal näherten, in dem sich die Gäste versammelt hatten.

„Das ist nicht nötig. Trenton hat nur darauf gedrängt, ich solle meine Ansicht über seinen Antrag ändern.“

„Aber das wirst du nicht, oder?“

Clarissa lachte und warf Phyllis einen schiefen Blick zu.

„Das habe ich mir gedacht. Trotzdem hättest du in Sichtweite bleiben und ihm nicht die Möglichkeit geben sollen, mit dir allein zu sein. Der Himmel weiß, was er sich erlauben könnte!“

„Ist Richfield schon da?“, fragte Clarissa und lenkte vom Thema ab, um sich ihrer Freundin am Ende nicht doch anzuvertrauen und um ihren Trost zu bitten.

„Ja. Dort drüben! Er hat Harry und die Jungen dabei. Aber ich wünschte, er wäre nicht gekommen. Du kannst doch nicht ernsthaft daran denken, ihm einen Heiratsantrag zu machen, Clarissa. So etwas Ungeheuerliches zu tun passt nicht zu dir.“

„Ich habe beschlossen, lieber der Hammer zu sein als der Nagel.“

Oh Gott, und da war er also! Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Ihre Schuld, dachte sie mit einem reuevollen Lächeln, während sie auf ihn zuging.

Er stand auf der anderen Seite des Saals und unterhielt sich mit seinen Freunden, die in ihrer Abendgarderobe einfach blendend aussahen. Allesamt waren sie attraktiv wie die Sünde – und hatten die ein oder andere sicher auch schon begangen.

„Sicher eine gute Idee, aber selbst für dich ein zu wagemutiger Schachzug“, erklärte Phyllis mit einem deutlichen Kopfschütteln.

„Ich muss gestehen, dass es mir lieber wäre, keine solch drastischen Maßnahmen ergreifen zu müssen. Aber mir bleibt keine andere Wahl. In dem Augenblick, indem Onkel James den Geist aufgibt, werde ich unter Trentons Vormundschaft gestellt. Das könnte inzwischen jeden Tag geschehen, und ich muss etwas tun, bevor diese Situation eintritt.“

Das klang nicht besonders mitfühlend, fiel Clarissa auf, und sie bereute ihre Unverblümtheit schon. Doch sie kannte ihren Onkel nicht besonders gut. Die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens hatte er abgeschieden verbracht. Sie hatte ihn nur zwei Mal getroffen und das auch nur ganz kurz. Sie war ihm dennoch außerordentlich dankbar, dass er die Macht, die er über sie besaß, in den zehn Jahren, in denen sie Waise war, nicht ausgeübt hatte, obwohl sie rechtmäßig unter seiner Aufsicht stand.

Wenn er es gewollt hätte, hätte er ihr Leben so einrichten können, wie es ihm behagte, solange sie zu jung war, um sich dagegen aufzulehnen. Doch er hatte nichts dergleichen getan. Stattdessen hatte er sie weiter zur Schule gehen lassen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Onkel James total vergessen hatte, dass sie überhaupt existierte. Gott sei Dank!

Unglücklicherweise hatte die Hopewell Female Academy, auf der sie nach Abschluss der Schule geblieben war und eine Lehrerstelle angenommen hatte, im vergangenen Monat aus Geldmangel schließen müssen. Und nun war sie also hier, ohne Anstellung, ohne Heim und mit einem Vormund, der jederzeit sterben konnte.

Von der Erbschaft, die ihr ihre Eltern hinterlassen hatten, würde sie keinen roten Heller sehen, bis sie jemanden geheiratet hatte, der für sie Anspruch auf das Geld erhob und es verwaltete. Ihr Cousin Trenton hatte ihr außerordentlich deutlich gemacht, um wen es sich bei diesem Mann handeln würde.

„Ich verstehe ja, dass du es eilig hast.“ Phyllis seufzte. „Aber willst du wirklich ihn heiraten?“ Sie wies mit dem Kopf in die Richtung des Mannes, von dem sie sprach. „Du weißt, was Harry über ihn sagt. Aus Richfield sei ein Irrer geworden, der keinerlei Zurückhaltung kennt. Er fühlt sich nur wohl, wenn er in Gefahr ist. Sie sagen über ihn, er tue alles, um eine Mutprobe zu bestehen oder ein Kunststück zu vollbringen, wenn es darum geht, eine Wette zu gewinnen. Wenn du es schon tun musst, dann suche dir wenigstens einen Erwachsenen dafür aus.“

Clarissa lächelte und strich sich mit der Kante ihres spitzenbesetzten Fächers übers Kinn, während sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Sie war jetzt deutlich ruhiger. Trenton hatte das Fest offenbar verlassen.

„Aber das ist doch das Schöne daran, Phyllis. Richfield wird mehr damit beschäftigt sein, sich etwas Aufregendes zu suchen, als sich um Investitionen zu kümmern, glaubst du nicht auch? Einen Mann wie ihn würde es tödlich langweilen, sich mit den Angelegenheiten seiner Frau zu befassen.“

Phyllis schien das zu bezweifeln.

„Harry ist tief beeindruckt vom Mut dieses Mannes; er verehrt ihn beinahe. Trotzdem hat er mich mehrere Male rundweg vor ihm gewarnt. Dir ist sicher aufgefallen, dass Harry ihn bis heute Abend noch nicht zu uns eingeladen hat. Obwohl er Richfield schon immer sehr mochte, könnte ich mir vorstellen, dass Harry mit Mutter über diese Einladung gestritten hat.“

Clarissa zuckte die Achseln.

„Ich wünschte, wir hätten mit ihr über die Einladung für Trenton gestritten.“

„Das habe ich gemacht. Aber Mutter hat gesagt, es gehöre sich, ihn zu fragen. Du hast mich schwören lassen, keinem Menschen zu sagen, was er vorhat.“

„Hm. Es ist ja nichts passiert.“ Aber fast wäre vorhin etwas passiert. Wenn jemand sie und Trenton auf der Terrasse gesehen hätte … Sie schob den Gedanken beiseite und widmete sich erneut der Frage, ob Richfield hier willkommen war oder nicht. „Ich kann Harry verstehen, Phyllis. Als Verehrer würde Richfield nicht zu dir passen. Aber er ist genau das, wonach ich suche.“

Phyllis hob die Schultern.

„Ich weiß allerdings nicht, warum es dir mit einem Ritchfield, der dein Erbe durchbringt, besser gehen sollte als mit einem Trenton, der das Recht besitzt, es zu tun.“

„Hugh Richfield wäre immerhin meine Entscheidung. Wenn mein Vermögen in der Lage ist, mir einen Ehemann zu kaufen, dann möchte ich diejenige sein, die diesen Einkauf tätigt.“

„Wenn du glaubst, man könne ihn wie ein Jagdpferd bei Tattersalls erwerben, wie – um Himmels willen – willst du ihm dann je vertrauen? Ich bezweifle, ob er seit seinem Abschied von der Armee überhaupt ein Einkommen hat. Den Gerüchten zufolge hat sein älterer Bruder den Reichtum der Familie vergeudet.“

Clarissa nickte.

„Das weiß doch jeder. Also sollte Richfield bei der Aussicht, eine wohlhabende Frau für sich gewinnen zu können, vor Freude einen Sprung machen. Solange ich meine Börse nur selbst in Händen halten kann, ist es mir recht, wenn er mich deswegen heiratet. Außer ihm kenne ich keinen Mann, der mir erlauben würde, mich um meine geschäftlichen Angelegenheiten selbst zu kümmern. Aber er wird mich machen lassen.“ Sie konnte den Blick einfach nicht von Richfield abwenden.

„Er mag zwar ungestüm und töricht sein“, gab sie zu, „aber er ist dennoch ein Gentleman. Ich habe ihn einmal sagen hören, dass er sich an sein Wort gebunden fühle und ihm Ehre alles bedeute. Sie sei das einzige Gut, das für einen Mann von Bedeutung sei. Bevor wir heiraten, werde ich ihn versprechen lassen, dass alles, was mir gehört, auch weiterhin mir gehören soll. Natürlich abgesehen von der Summe, die ich ihm als Ausgleich für den Verlust seines Junggesellentums geben werde. Er wird sein Wort halten.“

„Du hast ihn nicht ein einziges Mal gesehen, seit du fünfzehn warst“, wandte Phyllis belustigt ein. „Und wie alt war er damals? Nicht einmal zwanzig? Inzwischen ist er ein Mann und kein grüner Junge mehr voller Ideale. Woher willst du wissen, dass er sein Versprechen halten wird – für den Fall, dass er es dir überhaupt gibt.“

„Ich weiß es eben“, versicherte Clarissa ihrer Freundin und klang sehr viel zuversichtlicher, als sie sich fühlte. Sie unterdrückte den Anflug von Zweifel. „Nun, wie soll ich es anstellen, ihn allein sprechen zu können? Es muss unbedingt heute Abend sein, sonst verlässt mich mein Mut.“ Und mit ihm die einzige Gelegenheit, wenn sich Trenton durchsetzte. „Hilfst du mir?“

Phyllis stöhnte leise.

„Wenn du darauf bestehst, bleibt mir wohl keine andere Möglichkeit. Na, komm!“

„Nein“, sagte Clarissa und blieb stehen. Direkt auf ihn zuzugehen, während die anderen dabei waren, dazu war sie doch zu schüchtern. „Ich werde hier warten. Und du sagst ihm, dass ich ihn unter vier Augen sprechen will.“

Das Treffen, das Phyllis’ Eltern an diesem Abend in Dickson House ausrichteten, war relativ klein. Außer der Familie waren nur zwanzig Gäste geladen, um Harrys glückliche Rückkehr nach dem Sieg bei Waterloo spontan zu feiern.

So viele Männer wurden vermisst. Tausende waren tot. Clarissa fragte sich, ob wohl jemand Hugh Richfields wundersame Rückkehr gefeiert hatte. Falls nicht, schien ihn das nicht zu kümmern. Noch immer stellte er diese lässige Eleganz zur Schau, die er schon als Junge gehabt hatte. Auch sein amüsiertes Lächeln hatte sich nicht geändert. Wenn überhaupt, hatte er beides in den vergangenen Jahren noch vervollkommnet.

Clarissa wusste, dass sie im Gegensatz zu ihm eine andere geworden war. Sie war bedeutend selbstbewusster als früher. Es hatte großer Anstrengung bedurft, um ihre Schüchternheit zu besiegen. Sie musste dafür sorgen, dass sie nicht wieder die Oberhand gewann.

Clarissa wartete ungeduldig, während ihre Freundin weiterging, um das Vorhaben in Gang zu setzen. Phyllis blieb kurz stehen, um mit anderen Gästen zu plaudern, entschuldigte sich dann und ging wieder auf Hugh Richfield und seine Freunde zu.

John Barnard entfernte sich jetzt von der Gruppe. Er ging offenbar Lady Hermoine nach, der Erbin von Menchard, die mit Phyllis ebenfalls gut befreundet war. Hugh beugte sich vor und raunte Cole Fletcher etwas zu, der prompt laut zu lachen begann. Harry Dickson drehte sich zur Seite und rollte übertrieben erschrocken mit den Augen.

Phyllis’ Bruder Harry hielten alle für einen guten Kerl. Aber er war nicht die Sorte Mann, die Clarissa heiraten wollte. Er war zu verantwortungsbewusst, fühlte sich zu sehr zuständig. Außerdem betrachtete er sie mit den Augen eines Bruders.

Cole Fletcher war ebenfalls kein Heiratskandidat. In jungen Jahren hatte er erkennbar zärtliche Gefühle für Phyllis gehegt und tat es offenbar immer noch. Damit blieb nur noch Richfield übrig, wenn sie einen Mann wählen wollte, über den sie überhaupt etwas wusste. Es war nicht gerade so, dass sie viel über ihn wusste, aber sie hatte beschlossen, dass das, was sie wusste, reichen musste.

Die traurige Wahrheit war, dass sie in ihrem Leben überhaupt noch nicht vielen Männern begegnet war. Für sie hatte es kein großes Debüt gegeben. Keine Bälle, keine Vorstellung am Königshof, keine Verehrer. Abgesehen von Phyllis’ freundlichen Einladungen hatte es überhaupt kein gesellschaftliches Leben gegeben.

Wie fröhlich die jungen Männer heute Abend aussahen! Sie schienen sich um nichts und wieder nichts Sorgen zu machen. Soldaten, die die Franzosen gerade in Waterloo besiegt hatten, froh, am Leben zu sein, strotzend vor Selbstbewusstsein, weil alle anwesenden Frauen sie beachteten und alle Männer sie bewunderten.

Clarissa beneidete sie um ihre Sorglosigkeit. Sie fragte sich kurz, ob Hugh Richfield das überhaupt würde aufgeben wollen, um eine ernste alte Jungfer von zweiundzwanzig Jahren zu heiraten. Nun, sie würde es bald wissen.

Gerade in diesem Augenblick erreichte Phyllis die Männer und lächelte entzückt, als sich zuerst Hugh und dann Cole mit ausgesuchter Höflichkeit über ihre Hand beugten. Harry machte offenbar eine witzige Bemerkung, während er sich vorbeugte, denn wieder lachten alle. Phyllis kicherte und tippte ihrem Bruder mit dem Fächer leicht auf die Schulter.

Sie waren ein durch und durch schönes Paar, diese Dickson-Sprösslinge, hell wie der Mai, mit einer ähnlichen Frohnatur. Man musste sie einfach lieben. All ihre Freunde – ausgenommen Richfield und Clarissa – hatten einen ähnlichen Charakter. Oh, auch er war so ein goldener Typ, aber es gab da auch eine gewisse geheimnisvolle Aura, die ihn von den anderen unterschied.

Vielleicht war es das, was sie so an ihm anzog, dieser Unterschied. Ihr eigenes dunkles Aussehen – braune Augen und eine Haarfarbe wie Kohle, dazu eine Haut, die dazu neigte, in der Sonne dunkel zu werden – machte sie, wenn sie mit ihnen zusammen war, besonders. Sie hatte nie richtig zu den anderen gepasst.

Clarissa gestand sich, dass sie eine Schwäche für Hugh Richfield entwickelt hatte, von der sie nicht recht wusste, ob sie sie inzwischen überwunden hatte. Das war eine der Erklärungen, warum sie sich entschieden hatte, ihn zu heiraten, doch sicher nicht der wichtigste Grund. Sie war zu klug, um ihre Gefühle die Wahl treffen zu lassen.

Nein, sie hatte Hugh ausdrücklich wegen seines Ehrgefühls ausgewählt, aber noch mehr wegen seiner Sorglosigkeit und totalen Gleichgültigkeit, jemanden beeindrucken zu wollen. Angesichts seines jetzigen Rufs würde er über Verantwortung nicht besonders erfreut sein und ihr deshalb die Kontrolle nicht entreißen.

Hugh sah außerordentlich gut aus, jetzt sogar noch besser als damals, als er der Held ihrer Mädchenträume gewesen war. Also musste sie auf der Hut sein. Allein bei seinem Anblick hatte sie das Bedürfnis zu seufzen, wie sie es als Mädchen getan hatte, als sie noch in ihn vernarrt gewesen war. Sie wünschte sich, nahe genug bei ihm stehen zu können, um diese bernsteinfarbenen Augen zu sehen, die immer – jetzt fiel es ihr wieder ein – vor Vergnügen geblitzt hatten.

Als habe er ihre Gedanken gehört, drehte er sich um und sah ihr quer durch den Saal direkt in die Augen. Ihr Herz hämmerte wie die Faust eines ungeduldigen Besuchers, der an eine Tür pochte.

Autor

Lyn Stone
Lyns Ausflug in die Romanliteratur begann in den 90-ern. Am Valentinstag des Jahres 1996 unterschrieb sie ihren ersten Vertrag mit dem kanadischen Verlag Harlequin. “Blumen, Süßigkeiten, Küsse und auch noch ein Buchverkauf! Es wird nie wieder so einen Tag wie diesen geben!“sagt sie begeistert
Lyn studierte Kunst und arbeitete in Europa,...
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