Der Kuss im Kristall

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London, 1818: In Alethea brennt der Wunsch nach Gerechtigkeit: Ihre Tante, die bekannte Wahrsagerin Madame Zoe, wurde ermordet! Der einzige Hinweis auf den Täter ist eine kostbare Schmucknadel, die einen Raben zeigt. Mutig gibt Alethea sich fortan als Madame Zoe aus, um den Schurken herbeizulocken. Kann sie so die Geheimnisse der Vergangenheit lüften? Kristall und Karten geben Alethea aber nicht preis, wohin die Zukunft sie führt: Der attraktive Rob McHugh, Earl of Glenross, weckt mit einem Kuss ihre Leidenschaft - und einen schrecklichen Verdacht! Denn der Rabe ist das Zeichen des Earls und ziert jedes seiner Schmuckstücke …


  • Erscheinungstag 10.10.2009
  • Bandnummer 265
  • ISBN / Artikelnummer 9783862951642
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London, 3. Dezember 1818

„Tot? Madame Zoe ist tot?“

Alethea Lovejoy nickte und lief im Salon ihrer Tante Grace Forbush hin und her. Sie spürte einen Kloß in der Kehle. Es würde noch schlimmer kommen, aber das wusste die Mittwochsliga noch nicht, jene Gruppe unerschrockener Damen, die im Geheimen um Gerechtigkeit für Frauen kämpfte, die schlecht behandelt wurden.

„Wann?“, fragte Annica Sinclair, Lady Auberville, blinzelte mit ihren dunkelgrünen Augen und stellte ihre Teetasse ab.

„Gestern Morgen. Ich bin nicht sicher, wie lange sie schon dalag, aber dann wurde sie gefunden. Sie – sie …“ Alethea hielt inne, um sich gegen den Schmerz zu wappnen. Sie durfte ihrem Kummer nicht nachgeben. Sie musste sich zusammennehmen, sonst würde sie nicht mehr aufhören können zu weinen.

„Setz dich, Liebes“, sagte ihre Tante Grace und wartete, bis die Nichte sich auf eine Stuhlkante gehockt hatte, ehe sie das Wort ergriff. „Madame Zoe war noch am Leben, als Alethea in ihrem Salon über dem ‚La Meilleure Robe‘ erschien. Sie tat ihren letzten Atemzug in ihren Armen. Dann eilte Alethea nach unten zu Madame Marie, und Marie, die wusste, dass Alethea meine Nichte ist, schickte mir eine Nachricht.“

„Wie entsetzlich für dich, Alethea“, stieß Lady Sarah Travis hervor. „War sie denn krank?“

„Es war Mord“, erklärte Alethea. „An der Schläfe und am Bauch hatte sie Wunden, die stark bluteten, und ich sah auch Blutergüsse am Hals. Der Angreifer muss sie für tot gehalten haben, als er ging.“

Charity Wardlows Tasse klirrte auf der Untertasse. Daher stellte sie beides schnell hin, ehe sie etwas verschütten konnte. „Mir wird immer ganz komisch, wenn irgendwo ein Mord geschieht. Wenn ich mir nur ausmale, welches Gerede das wieder verursachen wird! Die bekannteste Wahrsagerin des ton – gestorben durch die Hand eines Mörders!“

„Der ton muss davon nichts erfahren, Charity. Jedenfalls jetzt noch nicht“, sagte Grace.

„Aber die Konstabler werden …“

Grace schüttelte den Kopf. „Man wird nichts davon berichten. Wir haben es ihnen nicht gemeldet. Alle hielten Madame Zoe für eine französische Immigrantin – eine Frau, die am Rande der Gesellschaft lebte und nicht weiter wichtig war. Und das zu glauben ist besser als die Wahrheit.“

„Was ist die Wahrheit?“, fragte Lady Annica und beugte sich vor.

Grace zögerte nur einen Moment, ehe sie antwortete: „Dass Madame Zoe eine englische Adlige war, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen, ihre Identität jedoch verbergen musste, um ihrer Familie die Schande zu ersparen.“

Alethea errötete ein wenig. Wie peinlich es doch war, die sprichwörtliche „arme Verwandte“ zu sein. Und welch ein Skandal, dass die Familie davon lebte, den ton zu beschwindeln!

„Du kanntest sie? Persönlich?“, fragte Sarah.

„Sie hieß Henrietta Lovejoy“, erklärte Grace. „Aletheas unverheiratete Tante väterlicherseits.“

Bis sie diese Worte ausgesprochen hörte, war es Alethea gelungen, die Endgültigkeit der Ereignisse zu leugnen. Tante Henrietta war fort. Gestorben. Getötet. Heimlich beerdigt in einem Klostergarten. Alethea spürte, dass die Blicke aller auf sie gerichtet waren. Der Verlust trieb ihr die Tränen in die Augen. Energisch räusperte sie sich. Später. Mit dem Schmerz würde sie sich später abgeben.

„Wie schrecklich für dich, Alethea, und für dich auch, Grace.“ Annica erhob sich und umarmte beide Frauen herzlich. „Aber wenn ihr nicht die Behörden verständigt …“ Die Frage schien in der Luft zu schweben.

„Wir warteten, bis es dunkel wurde, dann mieteten wir eine Kutsche und brachten Henriettas Leich… – ihre sterblichen Überreste zu den Nonnen nach St. Ann’s. Unter dem Namen einer Nonne wurde sie heute Morgen mit allem Respekt begraben“, erklärte Grace. „Nur Alethea und ich waren anwesend.“

Charity schlug die Beine übereinander.„Was ist mit ihren Freunden und ihrer Familie? Sie werden sich nach ihr erkundigen.“

„Ich fürchte nicht, Charity“, entgegnete Grace und seufzte ein wenig. „Henrietta bewegte sich nicht in den Kreisen der Londoner Gesellschaft, und der Kontakt zu ihren Freunden in Wiltshire ist schon vor langer Zeit abgebrochen. Sie glaubte, nur so könnte sie ihre Anonymität als Madame Zoe aufrechterhalten. Fünf Jahre lebte sie nun schon als Wahrsagerin, und nur Madame Marie, Alethea und ich kannten ihre wahre Identität. Selbst Bennett und Dianthe wissen nichts über ihre Tätigkeit.“

Alethea hob resolut das Kinn und sagte: „Ich habe darüber nachgedacht, was jetzt zu tun ist. Wie man – wie man …“

„Gerechtigkeit für deine Tante erwirken könnte?“, vermutete Annica.

Alethea nickte und machte sich auf einen Sturm der Entrüstung gefasst. Denn genau diese Frage war der heikle Punkt. „Der Mörder kann nicht sicher sein, dass Tante Henrietta tot ist, denn als er ging, lebte sie noch. Ich habe vor, in ihrer Verkleidung aufzutreten und ihn zu entlarven.“

„Was? Nein! Das kannst du nicht machen!“, riefen die Damen wie aus einem Munde.

Annica und Sarah tauschten besorgte Blicke.

„Madame Zoe war die führende Wahrsagerin Londons. Alle wichtigen Leute haben ihren Salon aufgesucht. Wie willst du den gesamten ton täuschen?“, fragte Sarah.

Alethea seufzte. „Tante Henrietta und ich, wir haben beide von einer Zigeunerin, die einmal auf dem Anwesen der Lovejoys weilte, das Lesen von Tarotkarten gelernt. Ich habe mich darüber lustig gemacht, aber die alte Frau sagte mir, dass der Zauber echt wäre und dass ich es eines Tages verstehen würde“, meinte sie. „Damals war es nur ein Spiel, aber es hat Spaß gemacht, und ich erinnere mich noch immer an die Bedeutung der einzelnen Karten. Ich werde Tante Henriettas Witwenkleidung anlegen und leise und mit französischem Akzent sprechen. Früher oder später wird der Mörder zurückkehren müssen.“

„Um dich umzubringen“, sagte Charity. „Das ist zu gefährlich. Er wird im Vorteil sein, denn er weiß, dass Zoe ihn identifizieren kann. Aber du wirst ihn nicht erkennen. Ach, wenn wir doch nur irgendeinen Hinweis hätten!“

Alethea blickte auf ihre geschlossene Faust. „Einen habe ich zumindest schon. Ich fand das hier auf dem Boden neben ihr.“ Sie öffnete ihre Hand und zeigte einen schwarzen Raben aus Onyx, der auf einer goldenen Nadel saß. Seine Augen waren aus Diamanten. Die Damen beugten sich vor, um den Gegenstand zu betrachten.

„Erstaunlich“, bemerkte Annica. „Und wenn ich mich nicht täusche, auch sehr wertvoll. Der Mörder wird Zoe suchen, aber auch seine verlorene Nadel.“

„Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie er sich Zutritt zu Zoes Räumlichkeiten verschaffen konnte“, rätselte Charity. „Ich dachte, man müsste stets über ihren Agenten einen Termin vereinbaren. Ein Mann mit Namen Mr. Evans.“

„An jenem Abend hatte Tante Henrietta keine Termine. Entweder der Mörder traf sie zufällig in ihrem Salon an, oder er verfolgte sie, bis sie allein war.“ Aletheas Stimme klang brüchig vor Kummer und Zorn.

Grace schob eine Strähne ihres haselnussbraunen Haares zurück und nickte. „Wir hoffen, der Mörder ist so verwirrt durch Zoes Überleben, dass er einen Fehler begehen wird. Und wir können sicher sein, dass er nicht nach Miss Alethea Lovejoy aus Little Upton, Wiltshire, Ausschau halten wird. Aber wenn Alethea als Zoe in dem Salon über Madame Maries Schneidergeschäft ihre Dienste anbietet, wird sie zweifellos in Gefahr sein. Vielleicht sollte eine von uns sich in dem kleinen Ankleidezimmer verstecken, wann immer Alethea sich dort befindet.“

„Ich habe eine Idee!“, rief Charity aus. „Wir sollten Mr. Renquist bitten, in Zoes Salon einen Glockenzug zu installieren, der in La Meilleure Robes Nähstube unten läutet. Dann kann Alethea Hilfe herbeiholen, sobald etwas nicht stimmt.“

Alethea entsann sich, dass Mr. Renquist, der Ehemann von Madame Marie, Chefermittler der Mittwochsliga war und eine Legion der Bow Street Runners unter seinem Befehl hatte. Es tröstete sie, ihn in Rufweite zu wissen. Vielleicht würde sie auf diese Weise überleben.

Lady Annica sah Alethea eindringlich an. „Wenn du darauf bestehst, das zu tun, Alethea, dann hast du unsere volle Unterstützung. Ich werde überall herumerzählen, dass Madame Zoe einen Unfall hatte und durch eine Kopfverletzung teilweise das Gedächtnis verlor. Vielleicht wird das den Mörder glauben machen, dass Madame Zoe ihn nicht verraten kann.“

„Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl“, setzte Grace an. „Wir geben dir freie Hand, aber nur bis Ende des Monats, Alethea. Danach müssen wir die Behörden benachrichtigen. Eine solche Untat darf nicht ungesühnt bleiben.“

Alethea holte tief Luft. Sie war froh, mit dem Beistand der Mittwochsliga rechnen zu können, auch wenn sie nur wenig Zeit hatte. Nun war Eile geboten. „Ich werde sofort anfangen.“

1. KAPITEL

London, 12. Dezember 1818

Konnte es einen größeren Gegensatz geben als den zwischen diesen Gerüchen und Geräuschen und dem engen Verlies in Afrika, dem er soeben entronnen war? Lord Robert McHugh, vierter Earl of Glenross, zog seinen Überrock aus und reichte ihn dem Lakaien. Die Luft war erfüllt von dem Duft nach Immergrün, vermischt mit dem köstlicher Kanapees und heißen gewürzten Weins. Aus dem angrenzenden Raum waren leise Orchestermusik und höfliches Gemurmel zu hören. Neben ihm versuchte Lord Ethan Travis noch immer, die Gründe darzulegen, warum Robert davon absehen sollte, heute Abend diese Soiree zu besuchen.

„Dazu bist du noch nicht bereit, McHugh. Du bist erst seit vierzehn Tagen wieder in London. Lass dir noch etwas Zeit, ehe du …“

„Ich habe keine Zeit, Travis“, erwiderte Robert, der von seinen Freunden meist „Rob“ oder einfach nur „McHugh“ genannt wurde. „Die habe ich in Algier vertan.“

„Du musst dich erst wieder mit der Gesellschaft vertraut machen. Wenn du hereinstürmst, wo man auf Zehenspitzen gehen sollte …“

„Meinst du, die Gesellschaft sollte sich erst mit mir vertraut machen?“ Rob lächelte angesichts der Besorgnis des Freundes.

Ethan warf ihm einen verzweifelten Blick zu. „Wenn ich du wäre, würde ich mich zu einem Barbier begeben. Deine Locken sind länger als die Byrons. Und deine Gefühle so schroff wie ein Wintertag. Diplomatie war noch nie deine starke Seite. Unter diesen Umständen kann dir niemand einen Vorwurf machen, aber warum willst du dich dem Gerede aussetzen, dem Mitleid …“

Mitleid? Dagegen musste Rob etwas tun. Er wollte lieber gehasst werden als bemitleidet. „Woher die Besorgnis, Ethan? Das Außenministerium hat mich seit meiner Rückkehr isoliert. Zwei Wochen lang haben sie mich wieder und wieder befragt, um jedes noch so kleine Quäntchen Information zu erhaschen, das ich während meines, äh, Aufenthalts im Palast des Dey vielleicht aufgeschnappt habe. Es ist zu früh, als dass du Beschwerden über mich gehört haben könntest.“

„Dazu soll es auch gar nicht erst kommen.“

„Hat sich jemand über mein Benehmen beklagt?“, fragte Rob.

„Wenn du willst, kann dein Benehmen mustergültig sein, Rob. Für deinen Ruf gilt das nicht. Und du hast kaum etwas dagegen unternommen. Es ist geradezu legendär, wie entschlossen du ein Ziel ins Auge fasst und wie wenig du dich dabei von deinem Gewissen leiten lässt. Aber hätte ich das erlebt, was du in den letzten Jahren und vor allem in diesen letzten sechs Monaten durchmachen musstest, dann wäre ich noch nicht dazu fähig, mit Debütantinnen zu kokettieren und höfliche Konversation zu betreiben.“

Rob drängte die Erinnerungen zurück. Es durfte nicht passieren, dass die Geister der Vergangenheit ihn an dem hinderten, was er heute vorhatte. „Deine Sorge ist unbegründet, Ethan.“

„Ich weiß, du willst diese Madame Zoe finden und zur Strecke bringen, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Rob.“

„Einen besseren wird es nicht geben“, erwiderte er. „Aber habe keine Angst. Ich werde keine Szene machen. Ganz im Gegenteil. Ich werde meine Absichten geheim halten. Es ist dumm, ins Horn zu blasen und so den Fuchs zu verjagen.“

Ethan räusperte sich. „Mrs. Forbush ist eine enge persönliche Freundin meiner Frau. Heute Abend wird sie ihre Nichte Miss Dianthe Lovejoy der Gesellschaft präsentieren. Wenn irgendetwas missrät, wird sie außer sich sein.“

„Du bedauerst doch nicht, mir eine Einladung verschafft zu haben?“, fragte Rob. „Was sollte schon missraten?“

„Gütiger Himmel, McHugh. Kannst du nicht ernst sein?“

Rob lachte freudlos. „Hat dich das Außenministerium gebeten, mich zu bewachen? Du hörst dich an wie Lord Kilgrew. Er drängte mich, mir Ruhe zu gönnen, ehe ich meinen – meinen Verpflichtungen nachgehe.“ Rob zupfte an den Locken in seinem Nacken und gestattete sich einen leisen Seufzer. In einem Punkt musste er Ethan wohl recht geben – er hätte sich das Haar schneiden lassen sollen.

Aber Ethan Travis hätte sich keine Sorgen machen müssen. Während der Monate, die Rob im Gefängnis von Algier verbracht hatte, war es ihm gelungen, seinen Zorn gegenüber jenen, die ihn auf diesen Weg geführt hatten, zu mäßigen. Ohne diese Selbstbeherrschung wäre er wie ein Feuersturm durch die Londoner Gesellschaft getobt auf der Suche nach der Information, die er brauchte.

Ethan hatte eine Überraschung für seinen Freund. „Weißt du, dass dein Bruder“, begann er in dem Versuch, Roberts Aufmerksamkeit auf ein weniger empfindliches Thema zu lenken, „deine gesellschaftlichen Mängel wieder ausgleicht? Seit seiner Ankunft in London vor sechs Wochen beeindruckt er die ganze Stadt. Und weißt du, dass er im ‚Limmer’s‘ wohnt?“

„Douglas ist in London?“ Das war in der Tat eine Überraschung. Während Roberts zweiwöchiger Befragung hatte das Außenministerium keine Nachrichten von außen durchdringen lassen.

Ethan nickte. „Dein Anwalt schickte nach ihm, als wir erfuhren, dass der Dey dich zum Tode verurteilt hat und du nicht – nicht zurückkommen würdest.“

„Ich hoffe, er bringt nicht die Erbschaft durch.“ Rob grinste. „Weiß er, dass ich am Leben bin?“

„Noch nicht. Aber innerhalb der nächsten Stunde sollte ihn meine Nachricht erreichen. Sei gewarnt – er hat sich verlobt.“

„Das hat er? Innerhalb eines Monats? Das ging aber schnell.“

„Sie wird dir gefallen, Rob. Es ist das Barlow-Mädchen. Erinnerst du dich an Beatrice?“

Während sie den Ballsaal der Forbushs anstrebten, nickte Rob. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, dann war Beatrice „Bebe“ Barlow eine zierliche hübsche Blondine von einundzwanzig Jahren. Ungefähr zwei Minuten lang hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt, bis er feststellte, dass sie ein wenig gewöhnlich war – etwas flatterhaft sogar. Doch diese leichte Oberflächlichkeit würde Douglas mögen, und Rob wünschte seinem Bruder alles Gute.

Er bemerkte die kurze Stille, die sich über die Versammlung legte, gefolgt von neugierigen oder mitleidigen Blicken, als er eintrat. Wie es schien, hatten die Neuigkeiten über den Ausgang seiner Mission und seine Flucht den ton noch vor ihm selbst erreicht. Nicht einmal ein Lichtblitz bewegte sich so schnell wie der Londoner Klatsch. Wie bedauerlich, dass sich das Außenministerium diese Kraft nicht für seine Zwecke zunutze machen konnte.

In der Nähe des Kamins blieb er stehen, um sich umzusehen. Nie konnte er sich in einem Raum aufhalten, ohne ihn nach Gefahren abzusuchen, nach Feinden oder Fallen, nach Ausgängen und Fluchtwegen – dafür hatte er zu lange mit dem Außenministerium zu tun gehabt und zu lange in einem ausländischen Gefängnis gesessen. Ethan klopfte ihm ermutigend auf die Schulter, ehe er davonging, um sich zu seiner Frau zu gesellen.

Und da, auf der anderen Seite des Raumes, in ein Gespräch mit einer bezaubernden Frau mit rötlichem Haar vertieft, stand seine Gastgeberin, Mrs. Grace Forbush, eine schöne Witwe Anfang dreißig – und genau die Frau, die ihm bei seiner Suche helfen konnte. Mrs. Forbush mir ihrem beliebten Freitagnachmittagssalon wusste alles, was im ton geschah. Jedenfalls alles Wichtige. Er setzte ein freundliches Lächeln auf und rief sich seine besten Manieren ins Gedächtnis, dann begab er sich in den Kampf.

Grace senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ich habe Angst um dich, Alethea. Du hast nur noch ein wenig mehr als zwei Wochen. Wenn du danach noch als Madame Zoe auftrittst, dann fürchte ich, dass etwas Schlimmes passieren wird.“

„Ich kann jetzt nicht aufhören, Tante Grace. Ich habe Mama und Papa verloren, und jetzt auch noch Tante Henrietta“, flüsterte Alethea zurück. Kaum vermochte sie noch zu sprechen, als sie daran dachte, wie viel auf dem Spiel stand. „Ich kann nicht noch jemanden verlieren. Ich glaube, das würde ich nicht überleben.“

Sie warf einen Blick zur Tanzfläche, wo sich ihre jüngere Schwester Dianthe am Arm eines heiratsfähigen jungen Lords im Walzertakt drehte. Ihr blondes Haar schimmerte im Kerzenlicht, und ihr hellblaues Kleid passte wunderbar zu ihren blauen Augen. Dianthe war in jeder Hinsicht eine außergewöhnliche Schönheit. Wenn sie sich vorteilhaft verheiratete, dann hatte Alethea eine ihrer Verpflichtungen erfüllt. Eine Angelegenheit weniger, um die sie sich kümmern musste. Dann war sie ihrem Ziel einen Schritt näher, die Familie gut versorgt zu wissen, wie sie es ihrem Vater auf dem Sterbebett versprochen hatte. Eine Aufgabe, die zu lösen er nicht in der Lage gewesen war.

Graces Besorgnis rührte sie, brachte ihre Entschlossenheit jedoch nicht ins Wanken. „Wenn der Mörder mich umbringen wollte, dann hätte er es längst getan. Lady Annicas Gerücht, dass Madame Zoe unter einem Gedächtnisverlust leidet, muss seine Befürchtungen zerstreut haben.“

Grace erstarrte, als sie über Aletheas rechte Schulter blickte. An ihrem Gesichtsausdruck war zu erkennen, wie überrascht sie war und auch, dass sie sich ein wenig unbehaglich fühlte.

„Mrs. Forbush, vielen Dank für die Einladung heute Abend.“

In der tiefen Stimme mit der leicht schottischen Klangfarbe lag etwas, das Alethea erschauern ließ. Sie drehte sich um und sah, wie der Sprecher sich über Graces Hand beugte und sie an seine sinnlichen Lippen hob. Dunkles Haar fiel ihm bis über die Stirn, und seine Augen waren grau. Als er sich aufrichtete, stellte sie fest, dass er über einen Meter achtzig groß war. Er hatte breite Schultern, ein fein geschnittenes Gesicht und wirkte trotz seiner Schönheit sehr männlich – und auf irgendeine Weise bedrohlich, wie Alethea für sich feststellte. Wieder erschauerte sie.

„Lord Glenross! Gütiger Himmel! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie – ich meine, ich bin entzückt, aber ich hatte nicht zu hoffen gewagt, Ihnen zu begegnen.“

Lord Glenross? Der Mann, über den der gesamte ton in den vergangenen zwei Monaten geredet hatte? Der Mann, der gerade erst aus einem algerischen Gefängnis entkommen war, nachdem er dort sechs Monate lang gesessen hatte und zum Tode verurteilt worden war? Ah, jetzt kannte sie den Grund für seine Ausstrahlung. Und für ihr Unbehagen. Sie wagte sich kaum vorzustellen, was man einem britischen Offizier in einem algerischen Gefängnis alles antun konnte.

Lord Glenross lächelte – zumindest glaubte Alethea, dass es ein Lächeln war. Es hätte aber ebenso gut eine Grimasse sein können. Seine Aufmerksamkeit war noch immer auf Grace gerichtet. „Nicht im Traum wäre es mir eingefallen, mir dies hier entgehen zu lassen.“

„Sie schmeicheln mir, Lord Glenross. Ich war ganz und gar nicht sicher, dass Sie eine Einladung unter den gegebenen Umständen begrüßen würden. Das heißt – ich dachte …“

Alethea konnte nicht aufhören, den Mann anzustarren. Während Grace sich weiter entschuldigte, wandte er sich ihr zu. Er ließ den Blick von ihren Augen über ihren Mund bis zu ihrem Hals wandern und ihn dann auf dem tiefen Ausschnitt ihres rosafarbenen Kleides ruhen. Aletheas Haut begann zu kribbeln. Als er ihr wieder ins Gesicht sah, schenkte er ihr ein Lächeln, bei dem zwei Grübchen in seinen Wangen erschienen, und Alethea konnte kaum noch atmen. Ohne dieses Lächeln wäre es einer Beleidigung gleichgekommen, wie er sie gemustert hatte. Sie wäre vielleicht geschmeichelt gewesen, hätte da nicht etwas Zynisches in seinem Blick gelegen. Als würde er etwas für sehenswert befinden, es aber nicht wertschätzen.

Dann räusperte er sich und schaute wieder zu Grace. „Vielen Dank, Mrs. Forbush, aber es geht mir gut“, meinte er.

Grace lächelte zweifelnd. „Ich bin froh, das zu hören. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, Mylord, dann sagen Sie es nur.“

Er schwieg so lange, dass Alethea bemerkte, wie genau er seine Antwort abwog – wie er sie innerlich formulierte. Das machte sie neugierig.

Dann zuckte er die Achseln. „Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, Mrs. Forbush, und frage mich, welche Kräfte uns einander über den Weg laufen ließen.“

Fasziniert von der Frage, wohin dieses Gespräch wohl führen mochte, nahm Alethea von einem vorbeigehenden Diener eine Tasse Rumpunsch entgegen und trank einen großen Schluck davon, während sie auf Lord Glenross’ weitere Erklärungen wartete.

„Das Leben ist rätselhaft, nicht wahr? Jeder Vorteil, den man erwirken könnte, wäre da von Nutzen, oder?“

„Ja, ganz meine Meinung“, sagte Grace. „Ich war schon immer der Ansicht, dass Wissen Macht ist.“

„Ich wusste, dass Sie dieser Meinung sind, Mrs. Forbush, und deshalb habe ich Sie aufgesucht, um Sie um Rat zu fragen, wie ich mit einer gewissen Madame Zoe in Kontakt treten könnte. Würden Sie mir in dieser Sache helfen?“

Vor Schreck hätte Alethea sich um ein Haar an ihrem Punsch verschluckt. Besorgt machte Lord Glenross einen Schritt nach vorn.

Grace war schneller und klopfte Alethea auf den Rücken, wobei sie ihr einen verzweifelten Blick zuwarf, ehe sie erwiderte: „Oh, Lord Glenross! Wie sollte ich so etwas wissen?“

„Sie wissen alles, was zu wissen sich lohnt, Mrs. Forbush. Oder Sie wissen zumindest, wie Sie es herausfinden können.“

Endlich kam Alethea zu Atem, und Grace widmete ihre Aufmerksamkeit wieder Glenross. „Nun ja, ich denke, ich könnte mich erkundigen, aber ich muss gestehen, Ihre Bitte erstaunt mich, Mylord. Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie zu jenen Menschen gehören, die mit Sehern verkehren.“

„Der ton ist der Überzeugung, Madame Zoe sei ein Phänomen, Mrs. Forbush. Vielleicht wird sie meine Zukunft vorhersagen.“ Seine Miene veränderte sich nicht, aber sein rechtes Auge zuckte kaum merklich. „Oder vielleicht ich ihre“, fügte er hinzu.

Alethea versuchte, ihre Fassung zurückzugewinnen. Madame Zoe? Männer wie Lord Glenross konsultierten keine Wahrsagerinnen. Er spielte irgendein Spiel, und nach allem, was ihr über diesen Mann erzählt worden war, konnte nichts Gutes daraus werden. Sie warf einen Blick zu Grace und fragte sich, was sie wohl auf eine solche Bitte erwidern würde.

„Ich werde mich darum kümmern, Mylord“, versprach Grace ihm schließlich. „Bis spätestens Montagmorgen werde ich die Information für Sie haben. Soll ich sie Ihnen ins Hotel schicken? Oder lieber in den Club?“

Alethea unterdrückte eine unwillige Bemerkung, als Glenross triumphierend lächelte. „In mein Hotel. Ich wohne im Pultney’s am Piccadilly.“ Nachdem das geklärt war, schaute er fragend in Richtung von Alethea und sah dann wieder Grace an.

„Oh, verzeihen Sie, Mylord“, rief sie. „Darf ich Ihnen meine Nichte vorstellen, Miss Alethea Lovejoy? Miss Lovejoy, dies ist Robert McHugh, Lord Glenross.“

„Lord Glenross“, flüsterte Alethea. Mit einiger Anstrengung brachte sie einen kleinen Knicks zustande und reichte ihm die Hand, die er nahm und an seine Lippen führte. Sie spürte die Wärme seiner Finger, und als er mit den Lippen leicht ihre Haut streifte, fühlte sie auch seinen warmen Atem.

„Miss Alethea Lovejoy?“, fragte er und wandte sich wieder an Grace. „Ich könnte schwören, dass es auf der Einladung hieß, Sie würden das Fest zu Ehren einer Miss Dianthe Lovejoy veranstalten.“

Grace winkte Dianthe zu, die gerade mit einem neuen, sehr stolz wirkenden Partner vorübertanzte. „Dianthe ist Aletheas Schwester.“

Lord Glenross warf Dianthe nur einen flüchtigen Blick zu, dann lächelte er Alethea an. „Miss Lovejoy, ich bin entzückt“, sagte er. „Sind Sie gerade erst in die Stadt gekommen?“

Aletheas Lippen waren vor Aufregung ganz trocken geworden. „Ich bin seit sechs Monaten in London, Mylord. Als Gesellschafterin von Mrs. Forbush.“

Wieder erhob Grace das Wort. „Seit sie in die Stadt ist, hat Alethea die Öffentlichkeit gemieden, Mylord. Sie bezeichnet sich als meine Gesellschafterin, aber sie ist meine angeheiratete Nichte und außerdem eine sehr liebe Freundin.“

„Ich freue mich, dass Sie sich heute in Gesellschaft aufhalten, Miss Lovejoy. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir den nächsten Walzer schenkten.“

Aletheas Herzschlag drohte auszusetzen. Wenn sie mit ihm tanzte, würde er dann ihre Verkleidung durchschauen, sobald sie ihm als Madame Zoe begegnete? Das konnte sie nicht riskieren. „Ich habe den nächsten Walzer bereits versprochen, Mylord“, schwindelte sie.

Sein Lächeln verdüsterte sich ebenso wenig wie seine Miene, doch sie merkte, dass sich irgendetwas geändert hatte. Er weiß, dass ich lüge.

„Ich verstehe“, murmelte er. „Ein andermal, Miss Lovejoy.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, verneigte er sich und entfernte sich in Richtung des Spielzimmers.

Es irritierte Alethea, dass sie eine Mischung aus Erregung und Furcht empfand bei der Vorstellung, Lord Glenross wiederzusehen. Sie seufzte ratlos. „Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn loszuwerden.“

Grace blickte sie zweifelnd an. „Wenn du möchtest, sage ich ihm, ich hätte nicht herausgefunden, wie man mit Madame Zoe in Kontakt tritt.“

Das wäre Zeitverschwendung. Wenn Glenross das Gewünschte nicht von Grace erfuhr, würde er diese Information von anderer Stelle einholen. Quälend langsam beruhigte sich Aletheas Herzschlag. Sie schüttelte den Kopf. „Schicke Glenross die Adresse meines Agenten, und ich werde Mr. Evans anweisen, sobald wie möglich einen Termin zu vereinbaren. Wie Shakespeare schon sagte: „Wär’s abgetan, so wie’s getan, dann …“

„… wär’s gut, man tät es eilig“, vollendete Grace das Zitat und nickte dann. „Eine ausgezeichnete Idee. Mr. Evans soll das übernehmen. Er ist die personifizierte Diskretion.“

Alethea atmete einmal tief durch und bedachte ihre Tante mit einem kleinen Lächeln. „Ich werde Lord Glenross einfach ein glückliches Schicksal vorhersagen, und damit hat sich die Angelegenheit dann hoffentlich erledigt.“

2. KAPITEL

Jemand war in seinem Zimmer – jemand, der dort nicht hingehörte. Mit dem Schlüssel in der einen Hand, mit der anderen am Türknauf, blieb Rob vor seinem Hotelzimmer stehen. Die kleinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.

Es war unwahrscheinlich, dass der Dey ihm Männer hinterhergeschickt hatte. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Und lieber würde er im Kampf sterben, als noch einmal die „Gastfreundschaft“ des Dey in Anspruch zu nehmen. Wochenlang war er nackt in einer Kiste eingeschlossen gewesen, die so klein war, dass er keine Hand rühren konnte, in seinem eigenen Schmutz, frierend in der Nacht und schwitzend am Tage. Ein guter Tag war es gewesen, wenn jemand aus Mitleid schmutziges Wasser über die Kiste gegossen hatte und ein paar Tropfen durch die Ritzen geflossen waren, um seinen schmerzenden Körper zu kühlen. An die schlechten Tage vermochte er sich noch nicht zu erinnern – an die Stunden, in denen er in einem feuchten Verlies an die Wand gekettet und ausgepeitscht worden war, während man ihm Fragen nach Informationen in die Ohren geschrieen hatte.

Aber er hatte noch Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres. Ihm wurde übel, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nein. Damit würde er sich später beschäftigen. Noch war er dazu nicht bereit.

Er holte tief Luft und drehte den Türknauf herum. Geräuschlos gab er nach. Die Tür war nicht verschlossen. Er war absolut sicher, dass er sie verschlossen hatte, ehe er zu Mrs. Forbushs Soiree ging.

Er bückte sich und zog einen Dolch aus seinem Stiefel. Diesmal würden sie ihn nicht lebend erwischen. Ein rascher Blick den Gang hinunter überzeugte ihn, dass er allein war.

Er umfasste den Dolch mit der Rechten und drückte die Tür auf. Ein matter Schein vom Kamin her verbreitete gerade genug Licht, um die Umrisse der Möbel auszumachen. Dann erregte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit, die aus der Richtung des Stuhls gegenüber dem Kamin kam.

Jeder seiner Muskeln war angespannt, als er weiterschlich. Mit angehaltenem Atem näherte er sich von hinten dem Stuhl, wohl wissend, dass der leichteste Luftzug genügen würde, um einen erfahrenen Dieb oder einen ausländischen Meuchelmörder in Alarmbereitschaft zu versetzen. In der Überraschung lag sein größter Vorteil.

Als er den Stuhl erreicht hatte, riss er den Kopf des Mannes zurück und presste ihm den Dolch an die Kehle, ehe der andere reagieren konnte. „Wer sind Sie?“, zischte Rob ihm ins Ohr.

„Himmel, Robbie! Ich bin’s, Douglas! Kennst du mich nicht mehr?“

Rob zog den Arm zurück und ließ seinen Bruder los. Die Knie wurden ihm weich vor Erleichterung. „Douglas! Was machst du denn hier?“

„Ich habe die Nachricht von Travis erhalten und bin seither immer einen Schritt hinter dir gewesen. Ich dachte, jetzt warte ich einfach dort auf dich, wo du wohnst. Ich habe das Mädchen überredet, für mich aufzuschließen.“

Rob wollte lieber nicht wissen, womit sein Bruder das Mädchen bestochen hatte. Douglas wusste, mit Frauen umzugehen, und hatte niemals Schwierigkeiten, von ihnen das zu kriegen, was er wollte. Rob schob den Dolch zurück in seinen Stiefel, als Douglas aufstand und ihn umarmte.

Gleich darauf löste sich sein Bruder, verlegen über diese Zurschaustellung von Gefühlen, von ihm und trat einen Schritt zurück. „Verdammt, Rob, sag mir, dass du nie wieder ins Ausland reist. Das halte ich nicht aus.“

„Ich werde es nicht tun“, versprach Rob. „Ich bin gekommen, um zu bleiben.“

„Das ist gut. Ich bin als Gutsherr nicht sonderlich talentiert.“ Douglas lief zum Sekretär und holte Robs Flasche mit Scotch heraus. Er schenkte sich selbst nach und füllte auch ein Glas für Rob. „Auf die Rückkehr des McHugh!“

Weder in Algier noch in dem Regierungskrankenhaus, in dem er seit seiner Rückkehr gewesen war, hatte es Whisky gegeben. Rob nahm einen großen Schluck, sehnte sich nach der Glut und der angenehmen Trägheit, die ihn erfüllen würde, sobald der Whisky seine Wirkung tat. Vielleicht würde er heute endlich einmal schlafen können. „Auf Douglas McHugh und seine schöne Dame.“

„Ah. Du hast es also gehört?“ Douglas grinste und ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. „Sie ist ein Engel. Rob. Ich verdiene sie gar nicht.“

„Ich habe Miss Barlow im letzten Jahr kennengelernt. Sie ist reizend, Douglas. Sie wird dir schöne Kinder schenken. Denk daran, dass das erste ein Junge sein sollte, wegen des Titels.“ Rob fragte sich, warum sein Bruder ausgerechnet Bebe Barlow ausgesucht hatte, wenn es viel appetitlichere Happen gab – wie die reizvolle Miss Alethea Lovejoy. Um sie würde er Douglas beneiden. Ja, Miss Lovejoy tat recht daran, ihm gegenüber vorsichtig zu sein. Er würde sie mit einem einzigen Bissen verschlingen.

„Ich werde meine Pflicht erfüllen, und zwar mit Vergnügen“, versicherte Douglas.

„Ich habe schon immer gesagt, was für ein tapferer Junge du bist“, neckte ihn Rob. „Du liebst sie also wirklich? Es geht nicht nur um die Zweckmäßigkeit?“

„Bebe ist mein Leben, Rob. Sie ist der Grund, warum ich atme.“ Douglas’ Miene wurde ernst, und er betrachtete seine Schuhe. „Tut mir leid, Rob. Ich wollte keine Erinnerungen wecken. Aber irgendwann wirst du wieder heiraten. Und du wirst den Erben zeugen, den du immer wolltest.“

„Das überlasse ich dir, Douglas. Dein Sohn wird den Titel der Glenross tragen.“ Douglas wusste nicht, dass Hamish kein McHugh gewesen war. Und Rob war der Meinung, es bestand kein Grund, ihm das jetzt zu verraten. Er hatte den Jungen lieb gewonnen und gelernt, Maeves Indiskretionen nicht zu beachten.

„Das glaubst du jetzt, Rob, aber irgendwann wirst du dir von einem hübschen Gesicht den Kopf verdrehen lassen und deine Einstellung ändern.“

„Mir fehlt der Mut zu einer weiteren Ehe.“ Und sein Bedarf daran, einen weiteren Betrug zu erleben, war mehr als gedeckt.

„Das war nicht deine Schuld, Mann. Maeve war diejenige, die darauf beharrte, ihre Schwester in Venedig zu besuchen. Sie war eine energische Frau und traf ihre Entscheidungen selbst.“

Douglas irrte sich. Für diese eine Entscheidung machte Rob nicht Maeve verantwortlich. Aber er wusste, wer dafür verantwortlich war – die verdammte Lügnerin, die angedeutet hatte, dass seine Frau in Venedig ihrem Schicksal begegnen würde. Dass sie dorthin gehen sollte, um dem Mann zu entfliehen, der sie zerstören würde – ihm. Rob würde Madame Zoe jagen, bis er sie als die Betrügerin bloßstellen konnte, die sie war, und dann würde er sie vernichten – ihr Selbstvertrauen, ihr Gewerbe, ihr Einkommen und – das würde ihm am meisten Vergnügen bereiten – ihren Ruf. Wenn er mit ihr fertig war, würde kein Mitglied der Gesellschaft sie mehr konsultieren.

Als er allein und mit entzündeten Wunden in einer Kiste gelegen und seine Flucht geplant hatte, war er innerlich getrieben gewesen von dem Gedanken an Rache. All die Monate im Verlies des Dey hatte er gewartet und das Gefühl gehabt, allmählich verrückt zu werden. Und er hatte Pläne geschmiedet. Madame Zoe würde dafür bezahlen, dass sie die McHughs zerstört hatte.

Am Montagmorgen stand Rob in dem Büro, das über einer Bank lag, und betrachtete betont gelangweilt seine Fingernägel, während Mr. Evans, Madame Zoes Agent, das Buch mit ihren Terminen durchblätterte und dabei deutlich zeigte, welche Gefälligkeit er ihm damit erwies. Tatsächlich war Rob alles andere als gelangweilt. Es war der 14. Dezember, und nach seiner Schätzung sollte er bis Weihnachten mit Madame Zoe fertig sein. Er inspizierte seine Umgebung und versuchte, sich vorzustellen, welche Frau jemanden wie Mr. Evans engagierte.

Das Büro wirkte in jeder Beziehung achtbar. An den Wänden waren bequeme Stühle aufgereiht, und der Schreibtisch war sauber, poliert und bescheiden. Mr. Evans selbst schien ein respektabler Mann zu sein, und Rob fragte sich, warum er so eine Schwindlerin vertrat.

In London erzählte man sich, Madame Zoe sei eine Frau mittleren Alters, die aus Frankreich immigriert war, eine Wahrsagerin vom französischen Hof, die den Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes vorhergesagt habe. Man munkelte, sie sei verwitwet und würde stets nur Schwarz tragen. Da sie immer verschleiert war, wusste niemand sie genau zu beschreiben. Einige vermuteten sogar, sie sei eine verarmte Adlige, die aus den französischen Kreisen in London stammte und sich in Schleier hüllte, damit man sie in jenen Kreisen nicht erkannte.

Schwindlerin oder nicht, es war klug gewesen von Madame Zoe, ihrem Gewerbe die Aura von Exklusivität zu verleihen. Ehe sie einen neuen Klienten zu Gesicht bekam, hatte ihr Agent die betreffende Person bereits kennengelernt. Erst dann wurde dem Klienten ein Termin gegeben, zusammen mit der Adresse, wo man sie finden konnte. Was für ein nettes kleines Arrangement.

Rob missfiel es außerordentlich, dass er von dem Wohlwollen dieses Mannes abhängig war, und er fragte unwirsch: „Sie erledigen also die gesamte Buchhaltung für Madame Zoe?“

Mr. Evans errötete. „Ich treffe Terminvereinbarungen für die Beratungen bei Madame Zoe. Ich bin ein Agent, kein Buchhalter. Sie ist außerordentlich beschäftigt, nun, da sich der gesamte ton während der Saison in der Stadt befindet.“

„Ich nehme jeden Termin an, den sie frei hat.“

Der Mann räusperte sich. „Bezahlung im Voraus.“

„Bezahlung im Voraus?“, wiederholte Rob, nur um sicherzugehen, dass seine Verärgerung nicht unbemerkt blieb. Welch Unverschämtheit – Bezahlung im Voraus zu verlangen für ein paar Lügen!

„Jawohl, Mylord. Ohne Ausnahme“, bekräftigte Mr. Evans.

„Und wenn sie mir nun nichts zu sagen hat?“

„Es gibt keine Garantien, Mylord. Und keine Erstattungen.“

Rob ließ den Mann nicht aus den Augen, wohl wissend, dass es irritieren musste, auf solche Weise beobachtet zu werden. Diese Technik benutzte er gelegentlich, wenn er jemandem ein Geständnis entlocken wollte. Der Feind fürchtete stets, sein Schweigen würde bedeuten, dass er etwas verheimlichte.

„Ein Termin wurde abgesagt“, erklärte Mr. Evans, nachdem er in dem kleinen Kalender aus Leder geblättert hatte. „Sie könnte Sie um drei Uhr heute Nachmittag treffen“, fügte er nach einem kurzen Moment des Schweigens hinzu. „Soll ich Sie in das Buch eintragen, Mylord?“

„Ja“, erwiderte Rob etwas schroffer, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Der Agent tauchte eine Feder ins Tintenfass und schrieb etwas auf. „Fünf Pfund bitte.“

Fünf Pfund! Obwohl es ihm widerstrebte, auch nur einen halben Penny zu zahlen, reichte Rob dem Mann die verlangte Summe und erhielt im Tausch dafür die Adresse.

Alethea stieg die steile Treppe hinauf, die von einer versteckten Tür im La Meilleure Robe zu einer Kammer in Madame Zoes Wohnung im zweiten Stock führte. Sollte ihr jemand gefolgt sein, so würde es aussehen, als hätte sie Madame Marie wegen einer Anprobe aufgesucht.

Oben auf der geheimen Treppe, dem Dienstbotenaufgang, der noch aus der Zeit stammte, da das Gebäude ein Privathaus gewesen war, und der nicht benutzt wurde, lauschte sie einen Moment lang, das Ohr an die Holzvertäfelung gelegt. Sie hatte immer ein wenig Angst, dass einer ihrer Kunden zu früh gekommen sein und sich mit Gewalt Zutritt verschafft haben könnte in dem Versuch, ihre wahre Identität aufzudecken. Oder schlimmer noch – dass der Mörder zurückgekehrt, in die Wohnung eingebrochen war und auf sie wartete. Diese Möglichkeit hatte Grace dazu veranlasst, darauf zu bestehen, dass Alethea einen kleinen, aber sehr scharfen Dolch bei sich trug. Beruhigt, als sie nichts hörte, öffnete Alethea die Geheimtür und schlüpfte hindurch in Zoes Salon.

Sie hob den schweren Vorhang, der das Hinterzimmer vom Hauptraum trennte, und trat zum Kamin, um ein Feuer zu entfachen. Danach machte sie den Schrank auf, in dem ihr Handwerkszeug aufbewahrt war: Ein Tarotkartenspiel, ein gewöhnliches Kartenspiel, eine Kristallkugel, eine Schüssel, um im Wasser zu lesen, astrologische Karten, Runen, Kerzen, Weihrauch und eine Reihe anderer Gegenstände, von denen sie nicht wusste, wozu sie gut waren. In der Annahme, dass Lord Glenross nichts Ungewöhnliches verlangen würde, nahm sie ein Kartenspiel und legte es auf den runden Tisch, der mitten im Zimmer stand.

Lord Glenross, Robert McHugh. Obwohl Eleganz und ein schlanker Wuchs gerade als schick galten, gefielen Alethea muskulösere Männer besser, und genau zu jenen zählte Glenross. Er war beinahe zu muskulös, um als gut aussehend zu gelten. Als sie ihm auf dem Fest ihrer Tante begegnet war, hatte sich die schmal geschnittene Jacke über seinen Schultern und seiner Brust in außerordentlich beunruhigender Weise gespannt. Die Aussicht, mit ihm allein zu sein, und sei es auch in Verkleidung, verursachte ihr kein geringes Unbehagen. Er kam ihr überlebensgroß vor. Er erfüllte einen Raum, beanspruchte ihn ganz für sich und benötigte dafür nicht mehr als ein Lächeln. Und seine Augen! Diese kühlen grauen Augen, die durch sie hindurchzusehen schienen. Wie gut, dass sie ihre Schleier hatte!

Ein Blick auf die Uhr, die auf dem schmalen Frisiertisch stand, trieb sie zur Eile an. Sie war zuvor bei einer Teegesellschaft gewesen. Es hatte eine lebhafte Diskussion über Byrons letzte Heldentaten gegeben, und Alethea war in der letzten Sekunde aufgebrochen, um sich nicht zu ihrem Termin zu verspäten. Sie zog sich aus und legte die Witwenkleidung aus schwarzem Crêpe de Chine an. Darüber trug sie eine graue Perücke mit einem schwarzen Seidenschleier, der ihr Gesicht verbarg.

Schließlich streifte sie ein paar weiße Seidenhandschuhe über, die ihre Hände verhüllten. Sie wusste, nichts konnte ihre Identität verraten.

Als sie Hufe klappern hörte, trat sie zum Fenster. Eine schwarze Kutsche hielt vor dem Haus, und die Tür ging auf. Es war kein Kunde für Madame Marie, sondern ihr Klient. Er kam früh. Alethea lächelte, dachte, er musste begieriger darauf sein, die Zukunft zu erfahren, als sie geglaubt hatte, und spähte durch die Spitzenvorhänge, während er im Haus verschwand. Wieder erstaunte es sie, dass ein Mann wie McHugh eine Wahrsagerin konsultierte. Sie entschied dann, die schweren Samtvorhänge nicht vor die Spitzengardinen zu ziehen.

Vorsichtshalber überprüfte Alethea noch einmal ihre Verkleidung in dem Spiegel über dem Kamin. Ja, die Schleier verbargen ihr Gesicht und machten es unmöglich, sie zu erkennen. Sie würde sicher sein. Gerade als sie weiße Kerzen anzündete und Sandelholz abbrannte, klopfte es an der Tür. Sie schob die kleine Messingscheibe beiseite, die über dem Türspion hing, und sah den Schotten. Er war allein. Einen Moment hielt sie inne, die Hand auf dem Riegel, während die Aufregung ihr beinahe die Kehle zuschnürte.

„Er ist nur neugierig“, flüsterte sie sich selbst zu, obwohl sie wusste, dass jeder Klient – vielleicht dieser? – Tante Henriettas Mörder sein konnte. Sie warf einen Blick auf den Klingelzug, tastete nach dem kleinen Dolch in ihrer Tasche, straffte die Schultern und schob den Riegel zurück.

Langsam öffnete sich die Tür, und eine schmale Frau erschien, ganz in Schwarz gekleidet. Hinter den schweren Schleiern war nicht einmal ihr Gesicht auszumachen. Obwohl er zu gern die Stoffe zurückgeschoben hätte, um ihre Züge zu sehen, bezwang Rob seine Ungeduld. Die Identität Madame Zoes war nur ein Teil seiner Probleme. Wer sie wirklich war, würde er in Erfahrung bringen können, wann immer es ihm beliebte. Erst aber musste er ihre Schwächen aufdecken, feststellen, wo sie verletzbar war, und den perfekten Weg finden, sie zu vernichten. Er schätzte, dass er dafür mindestens drei Besuche benötigen würde.

Entrez, M’sieur.“ Mit leiser, wohlklingender Stimme begrüßte sie ihn, bevor die verschleierte Frau einen Schritt zurückmachte, damit er hereinkommen konnte. Wenn das die Stimme einer alten Frau war, dann wollte er nicht mehr Rob McHugh heißen.

Rasch schaute er sich um und entdeckte dabei diverse Details, die ihm einiges verrieten. Der kleine Holzstapel neben dem Kamin zeigte ihm, dass der Raum immer nur für kurze Zeit benutzt wurde. Es gab wenig persönliche Gegenstände. Dies war nur ein Salon, die Wahrsagerin lebte hier nicht. Die Möbel waren geschmackvoll, wenn auch alt und abgenutzt. Vor dem einzigen Fenster, das zur Straße hinausging, hing ein leichter Spitzenvorhang, und kleine Grünpflanzen standen auf dem Sims. Um sich zusätzlich vor Blicken zu schützen oder geheimnisvolles Zwielicht zu schaffen, ließen sich noch blaue Samtvorhänge davor ziehen. Hinter einem Vorhang im Alkoven befanden sich vermutlich ein Sofa und ein Waschtisch, vielleicht auch ein Schrank oder eine Bügelpresse. Das einzige Zugeständnis an weibliche Eitelkeit war der alte Spiegel, der über dem Kamin hing.

Am bemerkenswertesten schien Rob der kleine dunkle Fleck auf dem fadenscheinigen Teppich unter dem Tisch in der Mitte zu sein. Tee? Wein? Blut? Sehr interessant. Und dann war da noch der diskret angebrachte Glockenzug an einem Haken neben dem Kamin. Wozu war er da?

M’sieur?“, fragte die Frau noch einmal.

„Madame Zoe? Habe ich mich verspätet?“

Mais non“, entgegnete sie. Als er an ihr vorbei ins Zimmer trat, stieg ihm ein leichter Duft von Maiglöckchen in die Nase. Süß und verführerisch. Auch sehr interessant.

Mit einer einladenden Bewegung zur Mitte des Raumes forderte sie ihn auf, sich zu setzen.

„Wissen Sie, wer ich bin?“, fragte er, ohne den Stuhl zu beachten.

Noch immer sprach sie leise und mit schwerem Akzent, doch jetzt klang ihre Stimme amüsiert. „Ich weiß alles, M’sieur.“

Er lachte belustigt. „Wer bin ich also?“

„Sie sind mein Drei-Uhr-Termin.“

Kluges Ding. Er schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich über mich lustig?“

Mais non, M’sieur.“ Sie umfasste die Rückenlehne des Stuhls ihm gegenüber. „Das wäre schlecht für das Geschäft, oder?“

„Es geht um mein Geschäft.“

„Also. Sie möchten wissen, was die Zukunft bereithält?“

„Ja, das möchte ich.“Voller Vorfreude hätte er sich am liebsten die Hände gerieben.

„Wie wünschen Sie Ihre Zukunft zu hören, M’sieur? Karten? Tarot? Teeblätter? Kristallkugel? Runen?“

Rob deutete auf das Kartendeck, das auf dem Tisch lag. „Karten.“

Lächelnd sah er zu, wie sie sich setzte und mit einer geheimnisvollen Handbewegung über das Kartendeck strich, als wollte sie den Geist der Wahrsagerinnen erwecken, ehe sie ihm die Karten hinschob. „Sie müssen mischen, M’sieur. Die Karten müssen Ihre Energie annehmen. Ihre – Essenz.“

Ohne sich niederzulassen, mischte Rob das Deck dreimal, ehe er es wieder quer über den Tisch zu ihr zurückschob. Dann legte sie die Karten mit dem Bild nach oben kreisförmig auf den Tisch und je eine Karte mit dem Bild nach unten auf jede davon. In der Mitte deckte sie eine Karte auf. Der Pikkönig.

Sie deutete darauf und sagte: „Das sind Sie, M’sieur.“

„Sind Sie sicher?“

Oui. Wäre das ein Tarotdeck, wären Sie der Schwerterkönig. Eine gute, starke Karte. Ein Krieger.“

War das Schmeichelei? Aus irgendeinem Grund glaubte er das nicht. „Schwerter, ja? Was tue ich?“

Sie deutete auf die Herzkönigin. „C’est moi.“

Noch ein Scherz? „Woher wissen Sie, dass Sie die Herzkönigin sind?“

„Sie ist Ihnen jetzt gerade nahe und besitzt die Gabe des Sehens. Kennen Sie noch so jemanden?“

Damit hatte sie ihn erwischt. „Nein“, gab er zu.

Voilà! Das bin ich.“ In ihrer Stimme lang etwas Triumphierendes, als hätte sie sich soeben selbst überrascht.

„Werden meine Zweifel Sie daran hindern, mir die Zukunft zu lesen?“

Madame Zoe lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. „Mais non, M’sieur. Machen Sie sich keine Sorgen. Die Karten sind so, wie sie sind. Aber ich spüre Ihre Zweifel. Sie glauben nicht daran, dass es möglich ist, die Zukunft vorherzusagen, oder?“

„Bitte lassen Sie sich nicht von meinen Bedenken behindern. Dies ist mein erster Besuch bei einer Wahrsagerin. Sie müssen mir meine kleinen Bedenken gestatten.“ Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen und zu überlegen, was sie sagen sollte. „Sie sind ein Krieger, M’sieur. Sie sind mit einem Plan hierher gekommen, einer Strategie. Sie möchten etwas wissen, aber sie wagen nicht, es laut auszusprechen.“

Er zog eine Braue hoch. Das war ein cleverer Schachzug. Obwohl es auch bei ihm zutraf, ließe sich dasselbe wohl über fast jeden behaupten, der eine Wahrsagerin besuchte. „Hmm. Muss ich es laut aussprechen, Madame, um eine Antwort zu erhalten?“

„Nein. Ich muss zugeben, es wäre leichter, aber es ist nicht nötig.“ Sie zeigte auf die Pikzehn. „Ich denke, es hat mit Rache zu tun. Ich sehe kein glückliches Ende, M’sieur. Rache ist ein zweischneidiges Schwert. Blut fließt auf beiden Seiten, n’est-ce pas? Man kann nicht sicher sein, wer verletzt wird.“

Bemerkenswert gut geraten, stellte er für sich fest. „Manchmal ist der Grund für die Rache das Risiko wert.“

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Mais non, M’sieur. Es gibt nur zwei Gründe für Rache, und beide sind dumm.“

„Und die wären …?“

L’amour ou l’argent, M’sieur.“

Natürlich. Liebe und Geld. Man musste keine Hellseherin sein, um das zu wissen. „Was glauben Sie, welches von beidem mein Motiv ist?“, fragte er und konnte nichts dagegen tun, dass die Worte herausfordernd klangen.

Ihre eigene Stimme blieb ganz ruhig. „Liebe. Sie sind kein Mann, der um Geld streitet.“

„Sie gehen sehr logisch vor, Madame. Sehr aufmerksam.“ Galt auch Aufmerksamkeit als Hellseherei? Sagte sie den Leuten einfach nur, was diese ihrer Meinung nach hören wollten? War sie nur eine feinsinnige Beobachterin?

„Nicht logisch, M’sieur. Ich sage nur, was in den Karten steht.“

„Unsinn!“ Er hatte nicht so aufgebracht reagieren wollen und ärgerte sich ein wenig über sich selbst.

Unter den Schleiern war ein halb ersticktes Lachen zu hören. „Es tut mir leid, dass Sie so denken. Néanmoins, Sie sind hier, damit ich Ihnen die Zukunft lese, und das werde ich tun.“ Wieder beugte sie sich sehr konzentriert über die Karten und legte die mit dem Bild nach unten zu einem besonderen Muster aus. „Sie und nur Sie allein können Ihre Zukunft bestimmen. Was ich Ihnen jetzt mitteile, ist nur das, was sein könnte – was vielleicht geschieht. Ihren Weg müssen Sie selbst wählen. Sie leiden an – wie sagt man hier? Chagrin d’amour?“

Es zuckte um seine Mundwinkel.

„Ein gebrochenes Herz?“ Sie blickte kurz von den Karten auf.

Hier wenigstens irrte Madame Zoe sich. Der Tod von Maeve und Hamish hatte ihm nicht das Herz gebrochen, es hatte ihn nur härter gemacht.

Oui, ein gebrochenes Herz. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen, M’sieur. Sie werden wieder lieben. Sie werden tiefer lieben.“ Sie deutete auf die Kreuzdame. „Sie war nicht Ihre grande passion. Ihre grande passion wartet noch auf Sie. Wenn …“

„Wenn?“

Sie zuckte die Achseln. „Wenn Sie den Schmerz überwinden. Wenn nicht, wird Ihr Wunsch nach Rache Sie und alle um Sie herum vergiften.“

Das war sehr nahe an der Wahrheit! Wie konnte sie das aus ein paar gewöhnlichen Karten herauslesen? „Sie missverstehen mich, Madame. Was Sie Rache nennen, das nenne ich Gerechtigkeit. Und was das Überwinden anbetrifft, so ist das leicht zu sagen, aber unmöglich zu tun.“

M’sieur, ich …“ Seufzend verstummte sie.

„Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, dann tun Sie das bitte“, forderte er sie auf.

Wieder beugte sie sich über die Karten und drehte weitere drei herum, dann noch einmal drei und hielt nur inne, um zu überprüfen, in welcher Reihenfolge sie lagen. „Gefahr. Ganz klar, es droht Gefahr. Sie befindet sich im Kreis um den König – um Sie, M’sieur. Leider kann ich nicht feststellen, ob die Gefahr dem König droht oder von ihm ausgeht. Vielleicht beides. Sie müssen sehr vorsichtig sein, M’sieur.“ Sie verstummte und beschäftigte sich wieder mit den Karten.

Verdammt. „Madame? Sind Sie eingeschlafen?“, fragte er, als die Stille anhielt.

Als sie antwortete, klang ihre Stimme sehr leise, und zum ersten Mal spürte er, dass sie etwas verheimlichte. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, M’sieur. Was Sie so bedrückt, wird sich bald aufklären.“

„Verraten Ihnen das die Karten?“

Durch den Schleier berührte sie ihre Stirn. „Ich – mir ist plötzlich nicht wohl, M’sieur. Ich werde meinen Agenten anweisen, Ihnen das Geld zurückzuzahlen.“

„Ich will kein Geld zurück, Madame. Ich will einen Blick in die Zukunft.“

Ihre Hand an der Stirn begann zu zittern, und Rob begriff, dass sie nicht versuchte, ihn loszuwerden. Sie litt tatsächlich. Er rutschte mit dem Stuhl ein wenig näher und war überrascht von sich selbst, weil er Besorgnis empfand. „Brauchen Sie Hilfe, Madame?“

Abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich brauche Ruhe. Ich kann Ihre Zukunft nicht erkennen, M’sieur. Da sind Schleier, Nebel …“

„Ah.“ Er nickte. „Die Zweifel, von denen Sie vorhin sprachen.“

Oui.“ Sie seufzte.

„Können Sie mir dann etwas über die Vergangenheit erzählen?“

Sie betrachtete die verbliebenen Karten, nachdem sie sie in einem Halbkreis auf dem Tisch ausgebreitet hatte. „Ihre Vergangenheit war sehr turbulent. Sie haben viel Schmerz erfahren, wie mir scheint. Es hat Betrug und Verrat gegeben. Sie vertrauen niemandem. Sie – Sie sind ein Mann voll starker Leidenschaften, auch wenn Sie das gut verbergen können. Sie sind klug, nachdenklich, umsichtig – gnadenlos, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. Leider, M’sieur, sind Sie nicht glücklich. Sie sind tief verletzt worden. Diese Dinge müssen Sie überwinden, wenn Sie wieder leben wollen. Gegenwärtig, M’sieur, lassen Sie die leichten Seiten des Lebens nicht zu. Nicht den Übermut, den Humor oder die Narrheiten. Sie haben nicht gelernt, dass Träume, wie unmöglich sie sein mögen, das Leben erst lebenswert machen, und wenn die Hoffnung stirbt, dann stirbt auch der Mensch. Sie haben noch nicht die Fähigkeit entwickelt, über die Absurditäten des Lebens zu lachen. Die Welt dreht sich nicht um Ihretwillen, M’sieur. Im Gegenteil. Sie dreht sich ganz von selbst. Die Zeit ist noch gnadenloser, als Sie es sind.“

Autor

Gail Ranstrom
Geboren und aufgewachsen ist Gail Ranstrom im Nordwesten der USA, in den Weiten von Montana. Schon damals hörte sie gerne Geschichten über vergangene Epochen und weit entfernte Länder, und dabei durfte natürlich auch Abenteuer, Spannung und Romantik nicht zu kurz kommen! Bevor sie jedoch selbst mit dem Schreiben anfing, machte...
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