Der Mann, der sie beschützte

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Judys Revier-Kollege Sully Steele hat sich vorgenommen, die Unschuld seines vermeintlich korrupten Vaters zu beweisen. Und so umwerfend und überzeugend Sully auch ist, Judith glaubt fest an das Gegenteil seiner Theorie. Wie kann sie für Recht und Ordnung eintreten, ohne dabei ihrem Partner zu schaden? Ihre Situation wird noch verfahrener, als sie mit dem unwiderstehlichen Sully im Bett landet …


  • Erscheinungstag 28.07.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745753271
  • Seitenanzahl 115
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Vor einem Monat

„Ihr Vater ist schuldig.“ Judith Hunt stand in perfekter Haltung in der Tür zu Sullivan Steeles Büro.

Hinter ihr lag der Mannschaftsraum, in dem das übliche Durcheinander eines New Yorker Polizeireviers herrschte. Judith trug ein graues Seidenkostüm, dessen Jackett die meisten Leute in dieser Hitze ausgezogen hätten. Der Blick aus dem Fenster zeigte die zerklüftete Skyline Manhattans im grellen Sonnenlicht.

„Sie wissen es“, fuhr Judith fort und musterte ihr Gegenüber misstrauisch. „Und ich weiß es, Steele.“

Steele, dachte Sully. Judith benutzte stets seinen Nachnamen, wahrscheinlich weil sie merkte, dass es ihm auf die Nerven ging. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie ihn mit dem Vornamen ansprach, sagte sie „Sullivan“, niemals „Sully“.

Sully stand hinter seinem Schreibtisch, schaute auf die verstreut darauf herumliegenden Akten und entdeckte den Kaffeebecher, den die Kollegen ihm letzte Weihnachten geschenkt hatten. „Für Captain Steele, den großen Beschützer“ stand darauf, in Anspielung auf seinen Spitznamen „der große Beschützer“. Bei der Überreichung war der Becher voller rot-grüner Kondome gewesen.

Im Gegensatz zu Judith besaßen seine Leute Humor. Erschrocken registrierte er, dass sie die Sachen auf seinem Schreibtisch begutachtete, und fragte sich, welche Schlüsse sie daraus über ihn zog. Aber zumindest zeigte der Aktenberg, wie beschäftigt er war, und der Becher, dass seine Männer ihn mochten.

Sully bedauerte lediglich, dass sie das Buddelschiff sah, denn das war zu persönlich. Er hatte diese Schiffe als Kind gebaut und einige aus der Sammlung, die sich zum Teil im Haus seiner Eltern und zum Teil in seinem Apartment befand, mit ins Büro genommen. Die englische Galeone in der Scotchflasche hatte fünf gesetzte Segel. Sie stammte aus dem späten sechzehnten Jahrhundert und besaß einen schlanken Rumpf und niedrige Decksaufbauten, die sich auf einem schieferfarbenen Achterdeck erhoben.

Judith hob eine Braue. „Ein Piratenschiff?“

Sully zuckte gespielt gelassen die Schultern. Denn gelassen war er in Judiths Nähe eigentlich nie. Warum das so war, wusste er nicht. Attraktive Frauen war sonst nichts Besonderes für ihn. Schon oft hatte sein Job ihn in das Haus von Schauspielerinnen und Models geführt.

„Ist das nicht passend?“, entgegnete er ruhig. „Schließlich ist mein Vater ein Gauner, oder?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ein Piratenschiff der passende Schmuck für den Schreibtisch des Captains eines Polizeireviers ist.“

„Ich finde den Jolly Roger äußerst passend, Miss Hunt.“

„Jolly Roger?“

„Jolie Rouge“, wiederholte Sully auf Französisch – es klang erotischer, wie er fand – und deutete auf das Schiff. „Die rote Flagge signalisierte, dass kein Pardon gegeben und jede Schlacht bis zum Tod gekämpft werden würde.“

„Ich nehme das als Warnung.“ Eine Sekunde verging. „Und danke für die Geschichtslektion.“

„Gern geschehen“, erwiderte er liebenswürdig. „Welcher Ort wäre besser geeignet als das Chefbüro eines Polizeireviers, um Widersacher so einzuschüchtern, dass sie kapitulieren? Das erspart Auseinandersetzungen.“

Judith wusste sehr wohl, dass er auf die Beinahe-Gefühlsausbrüche bei jedem ihrer Treffen anspielte, die in letzter Zeit weit häufiger stattgefunden hatten, als es Sully lieb gewesen wäre.

„Ist es das, was Sie versuchen?“, konterte sie mit einem herausfordernden Lächeln. „Mich einzuschüchtern?“

Wenn Sully es nicht besser gewusst hätte, hätte er glauben können, dass die Gereiztheit bei ihren Begegnungen darauf zurückzuführen war, dass Judith sich zu ihm hingezogen fühlte. Sie wäre nicht die erste Frau.

„Wäre das überhaupt möglich?“

„Nein. Falls Sie es also versuchen, Steele, wird es nicht funktionieren.“

Da war es schon wieder. Steele. Sully arbeitete mit Judith seit ihrer Versetzung vor einigen Jahren von der Rechtsabteilung der New Yorker Polizei zur DIE, der Dienststelle Interne Ermittlungen, zusammen, und jetzt fragte er sich zum x-ten Mal, was eine so schöne Frau so argwöhnisch gemacht hatte, dass sie ihre Zeit damit zubrachte, Kollegen Strafhandlungen nachzuweisen.

Aber das änderte nichts daran, dass sie tatsächlich schön war. Judith war knapp einen Meter achtzig groß. Das schulterlange Haar war so dunkel, dass es fast schwarz wirkte. Ihre Augen waren blau oder violett, das kam auf das Licht an, und darüber wölbten sich sanft geschwungene Brauen. Ihre Lippen, stets rot geschminkt, waren so bemerkenswert, dass es ihr den Spitznamen Lips eingebracht hatte. Natürlich sprach kein Polizist sie so an, aber Sully war nicht der Erste, der sich immer wieder fragte, wie es sein mochte, diese Lippen zu küssen.

Offensichtlich kämpfte sie gegen ihren Ärger an. „Haben Sie nichts mehr zu sagen?“

„Wozu?“, entgegnete Sully trocken und schob die Hände in die Taschen.

Er hatte die Hemdsärmel heruntergerollt, das Jackett wieder angezogen und den Schlips zugebunden, als er gehört hatte, dass Judith auf dem Weg zu seinem Büro war. Der Vormittag war nicht schlecht gewesen, doch am Nachmittag war es höllisch heiß geworden. Gerade hatte er ein Memo erhalten, in dem es hieß, dass die Stadt wegen der Hitze Spannungsabfälle befürchte und daher anordne, in den öffentlichen Gebäuden die Klimaanlagen herunterzufahren. Bis jetzt hatten sie in diesem Sommer Glück gehabt, doch sein Instinkt sagte Sully, dass dies der letzte angenehme Tag sein könnte. Momentan hatte er in seinem Jackett das Gefühl, gebacken zu werden. Nicht einmal Judiths kühler Blick verschaffte ihm Linderung.

„Was meinen Sie mit ‚wozu‘?“, fragte sie.

„Damit meine ich, dass Sie Ihr Urteil über Pop längst gefällt haben. Was gibt es da also noch zu diskutieren?“

Ihre rot geschminkten Lippen teilten sich leicht, gerade genug, dass ihre perfekten Zähne hervorblitzten. Mit ihren schmalen, sorgfältig manikürten Händen strich sie ihren grauen Seidenrock glatt. Eine Bewegung, die den Blick unwillkürlich auf ihre langen schlanken Beine lenkte. Was Judith vermutlich nicht beabsichtigt hatte. Wahrscheinlicher war, dass sie sich daran hatte hindern wollen, die Hände in die Hüften zu stemmen.

„Allein die Tatsachen zu diskutieren“, antwortete Judith, ohne sich der Wirkung auf Sully bewusst zu sein, „dürfte uns eine Weile beschäftigen.“

Sully hob den Blick von ihren Beinen. „Angesichts all der korrupten Polizisten, die Ihrer Meinung nach in der Stadt leben, dachte ich eigentlich, Sie seien auch ohne einen Besuch bei mir schon beschäftigt genug.“

„Ihr mangelndes Interesse an meinen Ermittlungen im Fall Ihres Vaters macht Sie verdächtig, Steele. Und falls Sie Ihren Vater schützen, muss die Dienststelle interne Ermittlungen annehmen …“

„Ich bin interessiert“, unterbrach er sie.

Er kam gerade von einer Familienzusammenkunft, was er Judith jedoch nicht erzählen würde. Seine Brüder Rex und Truman waren beide auch Polizisten und ebenso entschlossen wie er, das Rätsel um das Verschwinden ihres Vaters zu lösen.

„Und niemand aus meinem Polizeirevier ist bestechlich, Judith“, fügte er hinzu und benutzte ganz bewusst ihren Vornamen. Er freute sich zu sehen, dass es ihr ebenso unangenehm war wie ihm, wenn sie ihn Steele nannte. Sehr gut.

Sie nickte knapp. „Und falls es jemand doch sein sollte, werden wir es herausfinden.“

„Drohen Sie mir?“

Ihre Blicke trafen sich. „Sollte ich?“

„Tun Sie es?“

„Ich mache nur meine Arbeit.“

„Und darin sind Sie gut“, gestand er zähneknirschend ein.

„Wenn Sie glauben, Schmeicheleien könnten mich besänftigen, haben Sie mich gründlich unterschätzt.“

Das hatte er keineswegs. Er kannte Judiths Lebenslauf auswendig – so wie sie zweifellos seinen kannte. „Wir sollten in dieser Sache zusammenarbeiten.“

„Genau deshalb bin ich hier. Joe will …“

„Ihr Boss ist der Expartner meines Vaters. Joe Gregory und er waren zusammen auf der Polizeiakademie und später Partner in Hell’s Kitchen.“

Danach hatten sie Mafiabosse und Gangs in Chinatown verfolgt. Jahre später hatte Joe dann Augustus Steele in die Verwaltung des Polizeipräsidiums geholt.

„Joe weiß, dass er unschuldig ist“, sagte Sully.

Fall Judith etwas über die frühere Verbindung der beiden Männer gewusst hatte, behielt sie es für sich. „Das mag sein“, meinte sie skeptisch. „Aber Joe war derjenige, der mich hergeschickt hat, um Sie zu befragen. Er will, dass Ihr Vater gefunden wird …“

„Ich will Pop auch finden. Denn sobald er gefunden ist, wird er eine Erklärung liefern, die ihn von jedem Verdacht entlastet.“

„Und ich will ihn finden“, erklärte Judith kategorisch und schien mehr zu wissen, als sie preisgab, „um ihn anzuklagen.“

„In diesem Fall sind Sie mehr an einer Festnahme interessiert als an der Wahrheit“, warf Sully ihr vor. Er machte eine Pause und atmete tief durch. „Was für Informationen haben Sie, die Sie mir vorenthalten?“

„Keine.“

„Sie lügen.“

„Steele, Ihr Vater wurde gefilmt, wie er sieben Millionen Dollar abhob. Er hatte die Summe von dem Citicorp-Konto auf ein Konto bei People’s National überwiesen und sie in zwei Koffern abgeholt. Das Geld gehört dem Bürgerkomitee …“

„Das weiß ich.“ Glaubte sie etwa, er sei mit dem Fall nicht vertraut? „Es ist ein Fonds, in den Spenden der Bürger für die Polizei fließen. Pop ist für diese Spenden zuständig. Überweisungen und Übertragungen gehören zu seinem Job.“

„Richtig. Und normalerweise geht das Geld …“

„Ans Verteilungskomitee, das über die Verwendung entscheidet.“ Sein Revier hatte im letzten Jahr bei der Bewilligung neuer Streifenwagen ebenfalls davon profitiert. „Wieso wurde das Geld nicht investiert?“ So viel konnte Judith ihm wenigstens verraten. „Wieso war es für eine Barabhebung verfügbar?“

„Weil jemand geplant hatte, es zu stehlen.“

„Nicht mein Vater. Meine Brüder und ich sind überzeugt, dass Pop auf eine Veruntreuung im Polizeipräsidium gestoßen ist.“

„Ach, Sie glauben, dass jemand anderes als Ihr Vater das Geld stehlen wollte?“

Sully nickte und ignorierte Judiths Sarkasmus. „Wir glauben, dass Pop das Geld abgehoben und es anschließend versteckt hat, um so den Diebstahl zu verhindern.“

„Wieso hat Ihr Vater dann keinen Kontakt zu unserer Abteilung aufgenommen?“

„Möglicherweise ist jemand aus der Abteilung darin verwickelt.“

„Das ist jetzt wirklich weit hergeholt. Ihr Vater ist schuldig. Er hat sieben Millionen an öffentlichen Geldern gestohlen. Normalerweise hätte niemand sie ihn abheben lassen, doch vor einigen Jahren arbeitete er an einem Bankraub in dieser Filiale der People’s National, in den die Mafia verwickelt war, also glaubte der Bankangestellte, ihn zu kennen.“

„Er kannte ihn ja auch“, stellte Sully klar.

„Der Banker glaubte, er sei ehrlich“, konterte Judith.

„Pop ist ehrlich“, schoss er zurück.

Judith stieß ein leises Stöhnen aus, bei dem Sully sich fragte, ob sie so auch beim Liebesspiel klang. Falls man es bei einer Frau wie ihr überhaupt „Liebesspiel“ nennen konnte. Schließlich war sie in erster Linie kühl und brillant. Sie hatte als Beste ihres Jahrgangs ein Jurastudium abgeschlossen, und wie viele Überflieger war sie äußerst kontrolliert und fordernd. Vermutlich dehnten sich diese Merkmale auch aufs Schlafzimmer aus.

Möglicherweise gehörte sie aber auch zu dem Typ Frau, die stets völlig beherrscht war, bis sie sich plötzlich, von Leidenschaft überwältigt, total gehen ließ. Manchmal, wenn er daran dachte – was er selbstverständlich zu vermeiden versuchte –, stellte er sich harten, wilden Sex mit ihr vor. Dass ihr eleganter Rock hochgezerrt war und ihr Slip bis auf die Oberschenkel heruntergestreift … Dass ihre Knöpfe von der Bluse absprangen und feste kleine Brüste sich enthüllten …

„Vor ungefähr einer Stunde habe ich einen Augenzeugen getroffen, der Ihren Vater im Manhattan Jachtklub gesehen hat“, eröffnete sie ihm. „Man sah ihn letzte Nacht an Bord der ‚Destiny‘ gehen.“

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Fall. „Richtig. Das ist das Boot, das heute früh vor Seduction Island explodiert ist. Haben Ihre Informanten gesagt, er sei allein an Bord gegangen?“

Sie zögerte. „Die Zeugen erwähnten nicht, noch jemanden an Deck gesehen zu haben.“

„Hätte er das Boot allein steuern können?“

„Kann er mit Booten umgehen?“

„Soweit ich weiß, ja. Er angelt gern.“ Das war die einzige Aktivität in der freien Natur, die sein Vater mochte.

Judith nickte nachdenklich. „Wenn Ihr Vater angelt, hätte er mit dem Boot umgehen können. Es war zwar groß, aber zu handhaben, falls er sich auskannte. Ich werde mit einem Team auf die Insel reisen. Eine dortige Maklerin, Pansy Hanley, berichtet, die Explosion habe sie aufgeweckt. Möglicherweise erinnert sie sich an etwas. Die örtliche Polizei taucht bereits nach dem Wrack.“

Sully fuhr sich durch die Haare und dachte an die kleine Insel vor der Küste New Yorks. „Mein Bruder Rex ist auch auf dem Weg dorthin.“

Judith versteifte sich. „Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist schon schrecklich nett von mir, hierherzukommen und Ihnen zu erzählen, was los ist …“

„Sie sagten doch selbst, Joe habe Sie geschickt. Sie kamen her, um Informationen zu bekommen, nicht, um welche zu geben.“

„Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass ich hier bin und Sie über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setze.“

Ihr Ton sollte ihn wohl daran erinnern, dass sie das nicht tun musste. „Dann fahren Sie bitte fort.“

Eine Minute lang sagte Judith nichts. Sully nahm an, dass sie den Atem anhielt und bis zehn zählte.

„Ich werde nicht zulassen, dass Sie oder Rex oder Truman oder sonst jemand sich in meine Ermittlungen einmischt.“

Allmählich war er mit seiner Geduld am Ende. „Unser Vater ist verschwunden. Er befand sich an Bord eines Bootes, das explodiert ist. Unsere Familie muss wissen, ob es sich um ein Verbrechen handelt.“

„Trauen Sie mir nicht zu, meine Arbeit zu machen?“

Sully presste grimmig die Lippen zusammen. Wenn es jemanden gab, dem er zutraute, das Verschwinden seines Vaters aufzuklären, dann war sie es. Es hieß, sie sei die Beste. Aber das würde er ihr nicht auf die Nase binden. „Darum geht es nicht, Judith.“

Kühl erwiderte sie: „Sollten Sie Informationen zurückhalten, werde ich jeden von Ihnen wegen Beihilfe und Begünstigung eines Verdächtigen festsetzen.“

„Er ist unser Vater, kein Verdächtiger.“ Nur äußerlich ruhig fuhr Sully fort: „Mein Vater könnte tot sein, das ist Ihnen doch wohl klar, oder? Die ‚Destiny‘ ist explodiert.“

Judith nickte knapp. „Wir haben keine Leichen gefunden.“

Das wusste Sully bereits, würde es ihr aber nicht mitteilen. Einer seiner Quellen zufolge lag eine Sandbank vor der Küste so, dass sein Vater, wenn er bei der Explosion umgekommen wäre, dort angespült worden wäre.

Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Judith aus, als wolle sie zurückweichen, und als er vor ihr stehen blieb, stand sie unnatürlich bewegungslos da, als sei sie entschlossen, nicht zu reagieren. Sie mochte ja eine der schönsten Frauen sein, die er je gesehen hatte, aber ihr Verhalten war schlichtweg unerfreulich.

„Eines würde ich gern wissen“, murmelte er und kam noch ein Stück näher. Er atmete ihren Duft ein. Keine Frau hat das Recht, so schön zu sein oder so gut zu riechen, dachte er vage. Besonders keine Polizistin von der Dienststelle interne Ermittlungen. Und schon gar nicht eine Frau, die meinen Vater belangen will. Denn das macht sie zu meinem Feind.

„Was wollen Sie wissen, Steele?“, fragte sie.

„Was hat Sie zu so einem Eisblock gemacht?“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, und er musste gegen das plötzliche Bedürfnis ankämpfen, ihr Gesicht zu berühren.

Hat Judith Hunt viele Männer gehabt? fragte er sich, den Blick auf ihren erstaunlichen Mund gerichtet. Hatten viele diese Lippen geküsst? Trotz aller Spekulationen hatte er nie davon gehört, dass sie mit jemandem ausging. Sie kam stets allein zu den Veranstaltungen der New Yorker Polizei. Sie war nie verheiratet gewesen. Aber bestimmt bekam eine so attraktive Frau zahllose Angebote. Wahrscheinlich ging sie mit den höheren Tieren aus, Männer mit dicken Bankkonten und Chauffeur.

Einen Moment lang glaubte Sully fast, er mache Judith nervös. Ihre Lider flatterten ein wenig, doch als sie sprach, klang ihre Stimme fest.

„Ich bin kein Eisblock.“

„Ich sagte, mein Vater ist möglicherweise tot.“

„Das weiß ich. Und ich fühle mit Ihnen und Ihrer Familie. Das tue ich wirklich.“

Was wusste diese überkorrekte Frau denn davon, wie seine Mutter sich gerade fühlte? Wusste Judith, dass seine Mutter nur fünf Blocks von hier im Garten des Hauses, in dem er und seine Brüder aufgewachsen waren, voller Unruhe auf und ab ging? Oder dass Rex seinen Urlaub opferte für die verzweifelte Suche nach seinem Vater? Oder dass Truman am Telefon klebte und seine Kontakte befragte, während sie ihren kleinen Ausflug nach Seduction Island plante?

„Sie und Mitgefühl“, sagte er trocken. „Oh, Miss Hunt, ich bin sicher, dass Sie das wie alles andere hier haben.“

Ihre Miene verriet Wachsamkeit. „Und wie wäre das?“

„In vierfacher Ausfertigung.“

Sie hob das Kinn. Ihre nächsten Worte schienen sie Überwindung zu kosten. „Sie irren sich über mich.“

Der Ansicht war Sully nicht, doch er sagte nichts dazu. Stattdessen sahen er und Judith sich nur an. Eine ganze Weile, andere hätten den Blick längst abgewendet.

„Wenn Sie denken …“ Sie verstummte, und ehe er etwas sagen konnte, drehte sie sich um.

Schon im Gehen begriffen, schaute sie noch einmal über die Schulter. Es war etwas Eigenartiges daran. Denn sie schaute zurück wie eine Geliebte es tun würde, nicht eine Feindin. Als wolle sie sichergehen, dass er ihr nachsah. Und ihre roten Lippen waren leicht geöffnet, als wolle sie noch etwas zu ihm sagen.

Sully hob die Brauen. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Hunt?“

Judith schüttelte den Kopf. „Nein. Aber …“ Ihre Miene war nicht zu deuten. „Ich werde Ihnen in dieser Angelegenheit an Informationen zukommen lassen, was ich kann.“

In dieser Angelegenheit. Dass so von seinem Vater gesprochen wurde, war für Sully fast so beunruhigend wie die Tatsache, dass er ein Verdächtiger war. Sein Vater hatte es bis ins Polizeipräsidium geschafft. Und dorthin gehörte er auch!

„Wirklich“, beteuerte Judith. „Ich werde Sie informieren.“

Sully bezweifelte es, nickte aber trotzdem. „Ich werde Sie anrufen, falls er Kontakt zu mir aufnimmt.“ Was er höchstwahrscheinlich ebenso wenig tun würde.

„Ich freue mich schon darauf, von Ihnen zu hören“, sagte sie leise.

„Ja, das ist immer interessant. Und viel Spaß beim Segeln.“

Sie runzelte die Stirn.

„Auf Seduction Island“, erinnerte er sie.

„Das ist Arbeit, kein Urlaub.“

Er war nicht sicher, aber als sie sich abwandte, glaubte er ein leises „Verdammt, Steele!“ zu hören.

Das brachte ihn zum Lächeln. Er schaute ihr nach. Sie war wirklich sehr schlank und groß, und sie hatte eine ungemein schmale Taille, fast wie ein Junge.

Ihre Bewegungen waren sparsam, aber anmutig – von lässiger Eleganz. Judith Hunt würde in Sachen gut aussehen, die sie bestimmt nie anzog – in einem langen schwarzen Schlauchkleid, das bis zum Oberschenkel geschlitzt war, mit gewagtem Ausschnitt und mit Federboas, die ihre nackte Haut umspielten. Er dachte an ihr schönes Gesicht. Es hatte etwas Zeitloses. Wie alt sie wohl sein mochte? Fünfundzwanzig? Dreißig? Plötzlich wollte er das wissen. Nicht, dass er glaubte, sie würde es ihm jemals sagen.

Nachdem Judith längst außer Sicht war, zog Sully seufzend das erstickende Jackett aus und lockerte die Krawatte. „Kann dieser Tag noch schlimmer werden?“, murmelte er.

„Vermutlich, Captain.“ Seine rechte Hand, Nat McFee, trat ein. „Während Lips hier war, gab es einen Mord in der Bank Street und eine Karambolage mit drei Autos in der Seventh Avenue. Außerdem hat Tim Nudel einen Verdächtigen aus dem Raubüberfall auf den Kiosk letzte Woche festgenommen. Willst du mit ihm sprechen?“

Sully schüttelte den Kopf und zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück. „Nudel kann ihn verhören. Ich brauche eine Minute für mich.“ Vielleicht auch länger. Er musste die Begegnung mit Judith verarbeiten und darüber nachdenken, warum seine Familie in letzter Zeit so viel Pech hatte. „Seit Pop verschwunden ist, bin ich noch kein einziges Mal zum Luftholen gekommen.“

„Wieso machst du keinen Spaziergang?“, schlug Nat vor. Bevor er die Tür hinter sich schloss, fügte er hinzu: „Wieso verkriechst du dich nicht irgendwohin, wo die Klimaanlage funktioniert?“

Vielleicht werde ich das tun, dachte Sully. Er hängte das Jackett über die Sessellehne, setzte sich in seinen Schreibtischstuhl und krempelte nachdenklich die Hemdsärmel hoch. Sein Vater war verschwunden. Er konnte es kaum fassen. Doch es war ihm ernst mit dem, was er Judith gesagt hatte: dass sein Vater höchstwahrscheinlich auf ein Verbrechen gestoßen war. Wo auch immer er war, er würde so bald wie möglich, und zwar mit dem Geld, zurückkehren.

Aber seine Familie hatte auch Glück gehabt. Wie um sich zu vergewissern, öffnete er die Schreibtischschublade und nahm einen Brief heraus, den er vor ungefähr einem Monat geschrieben hatte.

„Erst vor einem Monat?“, murmelte er.

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor seit dem Tag, an dem seine Mutter verkündet hatte, dass sie fünfzehn Millionen Dollar in der New Yorker Lotterie gewonnen habe. Und sie hatte die noch verblüffendere Ankündigung gemacht, dass sie ihrem Mann nichts von dem Gewinn erzählen würde. Sollten ihre Söhne innerhalb der nächsten drei Monate nicht heiraten, wollte sie das Geld der Organisation zur Erhaltung des natürlichen Lebensraumes der Wildtiere auf den Galapagosinseln spenden. Darüber hinaus hatte sie es zur Bedingung gemacht, dass er, Rex und Truman ihren zukünftigen Frauen nichts von dem Geld erzählten, während sie sie umwarben.

„Die Galapagosinseln?“, hatte er ungläubig wiederholt, nachdem er und seine Brüder sich in sein ehemaliges Kinderzimmer zurückgezogen hatten, um die Angelegenheit zu besprechen.

„Versteh mich nicht falsch“, hatte sein jüngster Bruder, Truman, gesagt. „Ich habe nichts gegen Meeresschildkröten.“

Er hatte gelacht. „Ich auch nicht. Es sind die Meeresleguane, die mir auf die Nerven gehen.“

„Na, ich weiß nicht“, hatte ihr mittlerer Bruder Rex gescherzt. „Ich finde Pinguine nerviger. Die wirken auf mich wie Trauzeugen in einem zu engen Anzug.“

Dass sie heiraten würden, war ihnen total unwahrscheinlich vorgekommen, und es hatte tatsächlich so ausgesehen, als würden die Wildtiere von dem Lotteriegewinn profitieren. Doch jetzt hatte Truman, der Jüngste, Trudy Busey, einer Reporterin der „New York News“, einen Heiratsantrag gemacht. Noch erstaunlicher war, dass Truman geschworen hatte, seinen Anteil ohnehin dem Tierschutz der Galapagosinseln zu spenden, damit Trudy nicht dachte, er würde sie aus anderen Gründen als aus Liebe heiraten.

Autor

Jule Mc Bride
Mehr erfahren