Die Braut des Vagabunden

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London, 1666: Liebliche Klänge erfüllen das Herz der schönen Tuchhändlerin Temperance, seit sie den hinreißenden Lautenspieler Jack Bow in einer Taverne traf. Als in der Stadt ein Feuer ausbricht, flieht sie gemeinsam mit ihm vor den gefährlichen Flammen und verbringt eine leidenschaftliche Liebesnacht in seinen Armen. Doch früh am nächsten Morgen muss ihr Geliebter sie verlassen... Schon bald erhält sie die schreckliche Nachricht von seinem Tod. Nur sein Ring bleibt der verzweifelten Temperance - und sein Kind, das sie erwartet. In ihrer Not sucht sie Jacks Familie auf - und erlebt eine Überraschung...


  • Erscheinungstag 24.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766818
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Im Palast von Whitehall, London. April 1666

Ein junger Franzose sang ein Liebeslied. An einem großen Tisch spielten ein paar Höflinge Bassett um hohe Einsätze, wie üblich ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Der König hatte es sich bequem gemacht, entspannte sich, und die ebenso geistreichen wie zynischen Plaudereien seiner adligen Begleiter schienen ihn zu amüsieren.

Abseits davon stand der Earl of Swiftbourne. Er war beinahe ein halbes Jahrhundert zu alt, um dem Kreis geistreicher junger Männer anzugehören, die den König unterhielten, und zu bodenständig, um sein Vermögen am Spieltisch zu verwetten. Seinen Status bei Hofe verdankte er dem Umstand, dass er einer jener Männer um den Duke of Albemarle war, die Charles geholfen hatten, wieder auf den Thron zu gelangen. Es war Swiftbourne bewusst, dass die königliche Gunst sich wandeln konnte, doch er war es gewohnt, die Klippen zu umschiffen, die mit der Macht einhergingen. Gegenwärtig vertraute er darauf, dass seine Stellung gesichert war.

Ein paar Schritte von Swiftbourne entfernt versuchte ein aristokratischer Schürzenjäger, eine der Damen des Hofes zu verführen. An ihren Blicken meinte Swiftbourne zu erkennen, dass der Mann sein Ziel bald erreicht haben würde. Ohne das Paar weiter zu beachten, konzentrierte er sich auf die Gruppe, die den König umgab. Unter ihnen befand sich sein Enkel, John Beaufleur, der Duke of Kilverdale.

Kilverdale war beinahe sechsundzwanzig Jahre alt und stand in der Blüte seiner Jugend und Kraft, jeder Zoll ein Höfling mit seiner Perücke, dem Überrock aus Seidenbrokat und venezianischer Spitze. Zudem verfügte er über die Manieren und die Intelligenz, die nötig waren, um sich am Hofe König Charles’ II. zu behaupten. In dieser Umgebung gab es wenig, das heilig war, und ein adliger Poet konnte den Ruf eines Rivalen mit ein paar in Umlauf gebrachten anonymen Versen zerstören.

In der Vergangenheit war Kilverdale Ziel solcher Satiren gewesen, doch jetzt tat er nichts Skandalöseres, als den König um die Erlaubnis zu bitten, das Land zu verlassen.

„Ein Rückzug! Kilverdale sucht den Rückzug, weil ihn Rochesters Witz übertroffen hat!“, rief Fotherington aus.

Swiftbourne verkniff sich ein verächtliches Lachen. Der junge Rochester war ein guter Dichter und ein brillanter Gesprächspartner, Kilverdale hingegen war von ihm nicht beeindruckt. Swiftbourne war fest davon überzeugt, dass sein Enkel jedem der anwesenden Männer mit Wort und Degen Paroli bieten könnte, sollte es nötig sein.

„Ich muss meine Cousine aus einem englischen Konvent in Brügge abholen, Majestät“, sagte Kilverdale.

„Eine Nonne, um Himmels willen!“, warf Fotherington ein.

„Sie ist bei den Nonnen zu Gast“, korrigierte Kilverdale, weiterhin an den König gewandt.

„Während meiner Reisen stattete ich dem Konvent in Brügge selbst einen Besuch ab“, erwiderte Charles. „Richtet der Äbtissin meine Grüße aus.“

Kilverdale verneigte sich höflich. Wie so häufig war seine Miene ausdruckslos. Swiftbourne wusste, dass die englischen Nonnen auf dem Festland dem König während seines Exils eine große Hilfe gewesen waren. Möglicherweise hatte die Äbtissin mehr von ihm erwartet als ein paar Grüße.

„Ist sie eine Schönheit?“, fragte Fotherington. „Ich hörte Gerüchte, dass ihr Name Athena sei und Eure Mutter sie in ein Kloster schickte, weil sie so schön war.“

„Ihr müsst sie uns vorstellen“, verlangte der König, dessen Interesse plötzlich geweckt war.

„Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Majestät. Es wird ihr eine Ehre sein, an den Hof zu kommen – aber zuerst muss ich sie zu meiner Mutter bringen“, erwiderte Kilverdale. „Athena hat mehrere Jahre sehr zurückgezogen von der Welt gelebt. Sie muss sich erst allmählich wieder an die Gesellschaft gewöhnen.“

„Ist sie eine Erbin?“, fragte einer der Gecken, die in der Nähe herumlungerten.

„Das kommt auf den Mann an, der sie umwirbt“, sagte Kilverdale kühl.

Der Geck öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Es war allgemein bekannt, dass Kilverdales Titel – anders als der vieler anderer Adliger am Hofe König Charles’ – mit einem großen Vermögen verbunden war. Die Bedeutung seiner Worte war jedem klar – wenn er einen Bewerber um die Hand seiner Cousine billigte, dann würde er ihr eine Mitgift geben. Gefiel ihm der Mann nicht, würde er alles tun, um ihn von seiner Cousine fernzuhalten.

Natürlich war Kilverdales Cousine gleichzeitig Swiftbournes Enkelin, aber Swiftbourne beabsichtigte nicht, sich in Kilverdales Pläne einzumischen. Athena hatte sich im Konvent vor ihrem gewalttätigen Gemahl versteckt, doch kürzlich war sie Witwe geworden. Wie es schien, hatte Kilverdale beschlossen, dass es an der Zeit war für sie, nach England zurückzukehren und eine günstigere zweite Ehe zu schließen. Trotz seines Rufes, zuweilen etwas exzentrisch zu sein, fühlte der Duke sich stets verantwortlich für die Seinen. Swiftbourne war neugierig, wie erfolgreich sein Enkel sich als Heiratsvermittler betätigen würde. Was ihn selbst betraf, so hatte er sich bisher als recht zurückhaltend in Bezug auf eine Ehe erwiesen.

Kilverdale verabschiedete sich förmlich von dem König und wandte sich ab, um den Saal zu verlassen. Dabei sah er seinem Großvater zum ersten Mal direkt ins Gesicht.

Auch jetzt noch, nach fünfzehn Jahren, erschreckte es Swiftbourne, diesem unmittelbaren, harten Blick zu begegnen. Zuweilen war er überzeugt davon, dass Kilverdale ihn hasste, dann wieder war er sicher, dass hinter der höflichen Fassade unbändiger Zorn loderte. Und manchmal erhaschte er einen Blick auf den elfjährigen Jungen, dessen Welt durch ein paar knappe Worte auf den Kopf gestellt worden war. Vor allem diese Gelegenheiten empfand Swiftbourne als außerordentlich verstörend, auch wenn er seine Gefühle stets hinter der undurchdringlichen Maske des Diplomaten zu verbergen verstand.

„Mylord.“ Kilverdale blieb stehen, um seinen Großvater zu begrüßen. „Es freut mich zu sehen, dass Ihr bei bester Gesundheit seid.“

„Danke“, sagte Swiftbourne mit nur einer Andeutung von Ironie. „Es ist ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für eine Kanalüberquerung, jetzt, da wir sowohl gegen Frankreich als auch gegen Holland Krieg führen.“

Kilverdale hob eine Braue. „Ich denke, bei einer Konfrontation wird der Feind den größeren Schaden davontragen“, entgegnete er. „Guten Abend, Mylord.“

„Guten Abend.“ Swiftbourne sah Kilverdale nach. Zwei Söhne und ein Enkel waren bereits vor ihm dahingegangen. Er wollte nicht noch von dem Tod dieses Enkels erfahren müssen. Von allen Kindern und Enkelkindern war Kilverdale derjenige, der ihm am ähnlichsten war. Vierundsiebzig Jahre war Swiftbourne alt geworden, bei guter körperlicher und geistiger Gesundheit, und hatte sein Vermögen stets vergrößert. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Kilverdale durchaus in der Lage war, es ihm gleichzutun.

Auf seinem Weg nach draußen wurde Kilverdale mehrmals von verschiedenen seiner Freunde angesprochen – oder von jenen, die seine Freundschaft suchten. Leicht belustigt sah Swiftbourne zu, wie ein munteres Mädchen sich ihm beinahe vor die Füße warf in dem Bemühen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. So etwas geschah bei weitem nicht zum ersten Mal. Der junge, unverheiratete und reiche Duke war das Ziel ehestiftender Eltern und ehrgeiziger Töchter, seit er vor sechs Jahren nach England zurückgekehrt war.

Der nächste Versuch, sich ihm in den Weg zu stellen, geschah allerdings weitaus energischer. Der Earl of Windle verließ den Bassetttisch und stellte sich direkt vor Kilverdale hin. Selbst aus der Ferne konnte Swiftbourne den bedrohlichen Ausdruck in Windles Gesicht erkennen. Alle Welt wusste, dass das Vermögen des Earls sich in denkbar schlechter Verfassung befand. Seine Pläne konzentrierten sich darauf, einen reichen Gemahl für seine Tochter zu finden. Zuerst hatte er versucht, Kilverdale zu Eheverhandlungen zu überreden. Seit Kurzem aber ging er weitaus weniger subtil vor.

„Ich bin sicher, Euer Gnaden, Ihr habt noch genug Zeit, um etwas Wein mit mir zu trinken“, sagte Windle.

„Unglücklicherweise nicht. Bei Tagesanbruch muss ich nach Flandern aufbrechen“, erwiderte der Duke. „Ich …“ Er kniff die Augen zusammen, als Windle ihn am Ärmel packte.

„Es wäre mir ein Vergnügen, mit Euch gemeinsam bis zur Küste zu reisen, sodass wir unser Gespräch beenden können“, sagte er.

„Ich kann mich nicht erinnern, mit Euch ein Gespräch begonnen zu haben, das wir nicht mit einem schlichten ‚guten Abend‘ beenden könnten“, erwiderte Kilverdale und wandte sich ab.

„Meine Güte, Kilverdale, Ihr müsst ohnehin bald eine Gemahlin nehmen!“, rief Fotherington aus. „Warum nicht Windles Tochter?“ Er blickte zwischen den beiden Männern hin und her, wohl in der Hoffnung, durch seine Einmischung ein paar interessante Funken gezündet zu haben.

„Bei aller Höflichkeit gegenüber Lady Anne, aber ich bin bereits einer anderen versprochen“, gab Kilverdale zurück. „Gute Nacht, meine Herren.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus, ehe einer der Männer etwas sagen konnte.

Nach einem Moment der Überraschung bemerkte Swiftbourne, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Die Erklärung seines Enkels hatte ihn genauso überrumpelt wie alle anderen, aber seine Miene blieb ausdruckslos, als er sagte: „Erwartet nicht von mir, dass ich Kilverdales Geheimnisse enthülle, meine Herren. Zweifellos wird er weitere Erklärungen bieten, wenn es ihm zupasskommt.“

„Besitzt Ihr sein Vertrauen, Mylord?“, fragte Fotherington. „Mir war nicht bewusst, dass Ihr in der letzten Zeit mit ihm auf so gutem Fuße steht.“

Swiftbourne zog eine Braue hoch. „Es ist mir ein Vergnügen, Euch mitzuteilen, dass Kilverdale und ich mehr als nur in angemessener Weise vertraut miteinander sind, Sir“, sagte er, und es bereitete ihm besonderes Vergnügen zu sehen, wie Fotherington sich unter seinem eisigen Blick wand.

Am Bassetttisch gab es gerade einige Aufregung, weil einer der Spieler einen größeren Gewinn erzielt hatte. Das war das Zeichen für eine allgemeine Neuordnung der einzelnen Gruppen, und gleich darauf entdeckte Swiftbourne, dass der König neben ihm stand.

„An eine Braut gebunden oder an eine Geliebte?“, fragte Charles, und in seinen Augen funkelte es belustigt. „Beides wäre etwas Neues für Kilverdale – falls in dem, was er zu Windle sagte, überhaupt ein Körnchen Wahrheit steckte. Hoffen wir, dass er bald an den Hof zurückkehrt, sodass wir den nächsten Akt dieses Dramas genießen können.“

1. KAPITEL

London. Freitag, den 31. August 1666

Während Temperance dem Botenjungen durch die dunklen Straßen folgte, beobachtete sie aufmerksam ihre Umgebung. Es war beinahe Mitternacht, und die vielen geschäftigen Menschen, die sich tagsüber hier aufhielten, hatten sich längst nach Hause begeben. Gewöhnlich wäre sie so spät nicht unterwegs, doch den ganzen Sommer über waren ihre Geschäfte schlecht gegangen. Sich hier vielleicht einen Handel entgehen zu lassen, das konnte sie sich nicht leisten. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche aus der Dunkelheit und umklammerte fest den Stock in ihrer Hand. Ebenso fest hielt sie die sorgfältig verpackten Waren, die sie unter dem anderen Arm trug.

Abrupt blieb der Junge stehen und hob seine Fackel, um das Schild an der Taverne „Dog and Bone“ zu beleuchten. Das zähnefletschende Tier, das unter dem flackernden Schein sichtbar wurde, erschreckte Temperance so sehr, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

„Hier ist es“, sagte der Junge.

Erleichtert atmete Temperance ein. Auf den zweiten Blick hin erkannte sie, dass das Schild schlecht gemalt war, nicht absichtlich Furcht einflößend. Aber wie auch immer – sie wünschte, ihr Lehrjunge wäre an diesem Nachmittag nicht krank geworden. In den Augen eines möglichen Kunden hätte seine Gegenwart ihren Status erhöht.

Sie schob ihren Stock durch eine kleine Öffnung an der Seite ihres Rockes und hängte ihn an einen verborgenen Gürtel. Dann nahm sie eine Münze aus der Börse, die ebenfalls unter den Röcken versteckt war, und gab sie dem Jungen. Sie straffte die Schultern und öffnete endlich die Tür zur Taverne.

Eine dicke Wolke schlug ihr entgegen, es roch nach Wein, Tabak und zu vielen dichtgedrängten Menschen. Temperance trat ein und bemerkte sofort, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Die unangenehmen Gerüche hatte sie erwartet. Doch sie war nicht darauf vorbereitet, einer undurchdringlichen Wand aus Männerrücken gegenüberzustehen. Die Männer hatten sich um etwas geschart, das sie nicht sehen konnte, und hinderten sie daran, weiter in den Raum hineinzugehen. Einen entsetzlichen Moment lang glaubte sie, die anderen würden einen Kampf beobachten.

Ihr Gespür riet ihr zu gehen. Lieber wollte sie auf den Handel verzichten, als in einen Kampf verwickelt zu werden. Dann bemerkte sie jedoch, dass die Stimmung heiter war. Sie ging weiter und versuchte zu erkennen, was die Männer beobachteten. Groß genug war sie, um den meisten, die ihr die Sicht verdeckten, über die Schulter zu spähen. Nur standen die Männer in mehreren Reihen hintereinander, und immer wieder versperrten Köpfe ihr den Blick.

Schließlich klopfte sie einem der Männer auf die Schulter. Als er sich umdrehte, machte er vor Überraschung ganz große Augen. Gerade wollte sie ihn fragen, wo der Wirt zu finden sei, da grinste er und sagte: „Kannst nichts sehen, was, Mädchen? Dabei möchte ich wetten, dass dir das Zusehen mehr Vergnügen bereitet als den meisten von uns. Komm weiter.“ Er trat zur Seite, sodass sie an ihm vorbeigehen konnte.

Einen Moment lang zögerte sie. Es war unklug, sich in die Mitte einer Meute von Fremden zu begeben – ihre Neugier siegte aber schließlich. Sie murmelte einen Dank und nahm das Angebot an. Von ihrem neuen Platz aus erkannte sie, dass die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf einen Mann richtete, der neben dem kalten Kamin saß. Sie hatte gerade die Laute in seinen Händen erspäht, als er zu spielen begann. Sofort verstummte die Menge.

Zuerst konnte Temperance es nicht glauben. Was war das für ein Musikant, der so kurz vor Mitternacht eine Taverne voll trinkender Männer in seinen Bann zog? Doch sie war von der Musik genauso betört wie alle anderen. Sie reckte sich, um ihn besser sehen zu können, und erkannte einen Kopf mit schwarzem Haar und ein Stück von einem weißen Hemd, ehe sich jemand in den Weg stellte. Dann begann der Musikant zu singen. Zu ihrem Erstaunen überkam sie eine Gänsehaut. Seine Stimme rührte sie in einer so persönlichen und beunruhigenden Weise an, dass ein Teil ihres Selbst am liebsten davongelaufen wäre und sich versteckt hätte. Der restliche Teil wäre nur zu gern noch näher gegangen. Nie zuvor war ihr so etwas passiert. Ärgerlich wegen ihrer unerklärlichen Empfindungen, aber auch nicht in der Lage, der Wirkung, die der Sänger auf sie ausübte, zu widerstehen, schob sie sich nach vorn, bis sie vor allen anderen stand.

Sie presste ihr Bündel an ihre Brust und starrte den Sänger an. Sein schwarzes Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Im Schein der Kerzen schimmerte es wie das Federkleid eines Raben, aber es sah nicht so aus, als hätte jemals ein Barbier versucht, es zu bändigen. Seinen Mantel hatte er ausgezogen, und sein weißes Hemd trug er am Hals offen. Die Bewegungen seines sehnigen Halses während des Gesangs faszinierten sie. Es juckte sie in den Fingern, ihn zu berühren.

Als ihr diese unschicklichen Gedanken durch den Kopf schossen, errötete sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Viel half es nicht. Sie beobachtete, wie die Muskeln in seinen Unterarmen sich bewegten, als er die Saiten zupfte. Er hat geschickte Hände, dachte sie benommen, während sie zusah, wie seine flinken Finger sich schnell und sicher über den Hals der Laute bewegten. Es war gleichermaßen erregend und beunruhigend zuzusehen, wie er so gekonnt spielte. Im Raum schien es immer wärmer zu werden.

Da hob er den Kopf und betrachtete sein Publikum. Seine dunklen braunen Augen lagen tief unter schwarzen Brauen. Er hatte eine Adlernase, entsprechend hohe Wangenknochen, und die Bartstoppeln in seinem Gesicht waren mehr als einen Tag alt. Seine Stimme klang wie die eines gefallenen Engels und verlockte sie dazu, alle nur erdenklichen Sünden zu begehen, doch er besaß das Aussehen eines Vagabunden.

Sein Blick schweifte zuerst über sie hinweg und verhielt dann auf ihrem Gesicht. Er sah ihr in die Augen. Temperance stand da wie erstarrt. Er hatte sie angesehen. Sein Blick schien bis in ihr Herz zu dringen. Eine Woge der Verlegenheit erfasste sie.

Sie glaubte, einen winzigen Moment lang ein Zögern in seiner Stimme vernommen zu haben. Im nächsten Augenblick war sie aber überzeugt davon, sich das nur eingebildet zu haben, denn er sang selbstsicher weiter – und dabei verzog er die Lippen zu einem kleinen, aber eindeutig überheblichen Lächeln.

Sie erwachte aus ihrer Erstarrung. Zweifellos war er überzeugt davon, dass jede Frau bei seinem Gesang weiche Knie bekam. Bestimmt war er ein Schürzenjäger und Vagabund, der ohne Bedenken gebrochene Herzen hinter sich ließ. Temperance riss den Blick von ihm los, wütend und verlegen, weil sie für einen Moment seinem Zauber verfallen war. Ihr Bündel mit Waren umklammerte sie so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

Sie wollte den Musikanten nicht noch einmal ansehen, aber sie konnte nicht aufhören, ihm zuzuhören. Es war ein verwirrendes, quälendes Vergnügen. Sie wollte ihm zuhören, aber sie wollte nicht zu seiner Überheblichkeit beitragen, indem sie zeigte, dass ihr sein Lied gefiel. Sie betrachtete den Kamin neben ihm und tat so, als beachtete sie ihn gar nicht. Empörenderweise schien seine Stimme auf einmal belustigt zu klingen. Obwohl sich so viele Menschen in dem Schankraum drängten, war sie davon überzeugt, dass er für sie allein sang – und sie auslachte dabei. Es war unerträglich. Sie betrachtete den Kaminsims, hielt den Blick geradeaus gerichtet und hoffte, das Lied würde bald enden. Wie viele Strophen mochte es haben? Sang er überhaupt noch dasselbe Lied, mit dem er begonnen hatte? Oder war er zu einem anderen übergegangen, sodass er ihr Unbehagen beliebig ausdehnen konnte? Sie drehte sich um und sah ihn misstrauisch an.

Der Kerl hatte den Mut, sie anzugrinsen! Keine einzige Note ließen seine Finger aus, und seine Stimme folgte fehlerlos der Melodie – aber er grinste sie an!

Wie konnte er das wagen! Das Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu versetzen, war beinahe übermächtig.

Neben ihr lachte ein Mann.

„Jetzt singt Jack Bow nicht nur für ein Abendessen“, meinte er. „Gefällt er Euch, Mädchen? Ihr gefallt ihm mit Sicherheit.“

„Nein!“ Temperance wehrte entschiedener ab, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Sie sah, wie man sich zu ihr umdrehte, und einige der Männer lächelten.

Ihre Haut glühte. Sie vergaß, warum sie in die Taverne gekommen war. Sie wollte nur noch dieser peinlichen Situation entfliehen. Gerade als sie sich durch die Menge zur Tür drängen wollte, beendete der Musikant sein Lied.

Applaus und Pfiffe waren sein Lohn. Einige Männer riefen ihm zu, dass sie ihm ein Ale spendieren wollten. Für einen Moment verlor Temperance ihn aus den Augen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht die einzige Frau in der Taverne war, zu dieser späten Stunde allerdings wohl die einzige respektable. Und sie war nur deshalb hier, weil die Pest, die London im vergangenen Jahr heimgesucht hatte, so schlecht für das Geschäft gewesen war. Inzwischen hatte die Stadt fast wieder zur Normalität zurückgefunden, doch wenn Temperance ihr Geschäft wieder auf ein solides Fundament stellen wollte, dann brauchte sie jeden Handel, den sie abschließen konnte.

Wo war der Gentleman, dessen Diener sie hergebracht hatte, um auf seinen Herrn zu warten? Sie unterdrückte den Wunsch, nach dem Sänger zu sehen, und versuchte stattdessen herauszufinden, wo sich der Wirt aufhielt.

Am anderen Ende des Schankraums wurde eine Tür aufgerissen. Temperance konnte nicht erkennen, wer herauskam, aber dann hörte sie jemanden rufen: „Wo zum Teufel ist der Tuchhändler, nach dem ich geschickt habe?“

Temperance bahnte sich den Weg zu dem noch immer unsichtbaren Kunden. Als sie näher kam, erkannte sie, dass er gerade aus einem angrenzenden Raum kam und mindestens zwei Zoll kleiner war als sie.

Als sie vor ihm stehen blieb, sah er sie misstrauisch an.

„Ich wollte einen Tuchhändler, keine übergroße Dirne“, sagte er.

Temperance unterdrückte eine ärgerliche Antwort. Sein Erscheinungsbild war mindestens so wenig ansprechend wie ihres. Eigentlich sogar noch schlimmer. Es stimmte, sie war außergewöhnlich groß und keine auffallende Schönheit, aber zumindest war sie nüchtern, gepflegt und beleidigte nicht wissentlich Fremde.

„Ich bin der Tuchhändler“, sagte sie kühl. „Euer Diener sagte, Ihr braucht Leinen und Musselin.“

„Ihr habt so etwas?“ Aus rot geränderten Augen blickte er auf das Bündel unter ihrem Arm. „Zeigt her.“ Er ging zurück in den angrenzenden Raum, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Sie legte keinen besonderen Wert darauf, ihre Geschäfte in der Öffentlichkeit zu tätigen, genauso wenig gefiel ihr allerdings die Vorstellung, mit diesem Flegel vornehmer Abkunft allein zu sein – aber als sie den Raum betrat, sah sie, dass ein Freund bei ihm war.

„Hat das verdammte Gejaule endlich aufgehört, Tredgold?“, fragte der andere Mann.

Bei dieser Beleidigung des Musikers bebte Temperance vor Empörung. Gejaule? Mochte der Musikant mit den dunklen Augen auch arrogant sein wie der Teufel selbst, so besaß er doch die schönste Stimme, die sie je gehört hatte, und sein Spiel war bemerkenswert.

„Gebt mir das Leinen.“ Tredgold entriss ihr das Bündel mit Waren und wickelte es aus.

„Seid vorsichtig!“, protestierte Temperance noch, ehe der Musselin zu Boden fiel.

Der Kunde beachtete weder sie noch den Musselin. Er schüttelte das Leinen aus und wickelte es sich um den Kopf. Ungläubig sah Temperance zu, wie er die Arme ausbreitete und hin und her schwenkte. Schließlich begann er, zu stöhnen und zu seufzen. „Ooooh – aahhhh – ooh!“

Einen Moment lang starrte der Freund ihn mit offenem Mund an, dann umklammerte er seinen Kopf und kauerte sich auf seinem Stuhl zusammen.

„Oh! Oh, ich habe solche Angst. Oh, mein armes Herz! Oh, ich bin tot!“ Bei dem letzten dramatischen Ausruf ließ er sich zur Seite fallen und verschwand hinter dem Tisch und damit aus ihrem Blickfeld.

Beunruhigt und verwirrt, schlug Temperance das Herz schneller. Einen Moment lang glaubte sie, er wäre wirklich tot, dann erkannte sie, dass er auf einer hochlehnigen Bank gesessen hatte. Darauf hatte er sich einfach zur Seite fallen lassen. Jetzt lag er da und lachte, als hätte er den Verstand verloren.

„Glaubst du, es wird gehen?“, fragte Tredgold.

„Der alte Bock könnte vor Lachen sterben – aber nicht vor Furcht“, erwiderte sein Freund und setzte sich wieder auf. „Wer hat je von einem Geist mit braunen Samtarmen gehört? Wenn du dich ausziehst und dir das Leinen umwickelst, dann könntest du so tun, als wärest du aus dem Grab auferstanden. Das könnte gehen.“

„Hmm.“ Tredgold warf das Leinen über den Tisch, wo es sich mit verschüttetem Wein vollsaugte, und zog seinen Überrock aus. Einen entsetzlichen Moment lang fürchtete Temperance, er würde sich ganz entkleiden, aber zu ihrer Erleichterung schien er sich damit zufriedenzugeben, sein Experiment in Hemdsärmeln und Hose durchzuführen. In unordentlichen Falten schlang er sich das Leinen um den Körper.

„Gebt mir den Musselin, Weib“, befahl er und deutete auf die Stelle, wo der Stoff am Boden lag.

Temperance reichte ihm das Gewünschte und trat eilig zurück. Er wickelte ihn sich um den Oberkörper und wandte sich wieder dem Freund zu. „Was meinst du?“

„Ich habe noch niemals einen Toten in Rosa gesehen“, sagte der Freund und betrachtete die Weinflecke auf dem Leinen und dem Musselin.

„Das ist natürlich Blut“, erklärte Tredgold ungeduldig.

„Nicht in dieser Farbe. In rosa Musselin wirst du den alten Mann niemals zu Tode erschrecken.“

„Was wollt Ihr tun?“, fragte Temperance.

„Seinen Großvater zu Tode erschrecken“, erwiderte der Freund.

„Was?“

„Er ist fast neunzig. Erst wenn er stirbt, kann ich Anspruch auf mein Erbe erheben“, erklärte Tredgold.

„Ihr solltet Euch schämen!“, platzte Temperance heraus. „An so einem bösen Plan will ich nicht teilhaben. Gebt sofort das Leinen her!“

„Ich gebe es her“, schnaubte Tredgold. „So wird es nicht gehen. Ich muss mir etwas anderes ausdenken.“ Er warf den Stoff zu Boden, ließ sich auf einen Stuhl fallen und schenkte sich mehr Wein ein.

Temperance starrte auf den schmutzigen, zerknitterten Stoff, den sie jetzt nicht mehr verkaufen konnte.

„Für die Waren, die Ihr verdorben habt, müsst Ihr zahlen“, sagte sie und versuchte, ihren Ärger im Zaum zu halten.

Tredgold lachte. „Für diese nutzlosen Lumpen bezahle ich nicht.“

„Ich habe euch keine Lumpen gebracht. Ich brachte Euch feines Leinen und Musselin, wie Ihr es verlangt habt“, sagte Temperance. „Ihr wart es, die sie verdorben haben. Ihr müsst bezahlen.“

Hochmütig hob Tredgold die Brauen und ließ den Blick in beleidigender Art und Weise über Temperances Körper gleiten. Er zuckte die Achseln. „Schickt Euren Herrn, um das Geld einzufordern“, sagte er. Dann wandte er sich ab und kippte den Stuhl auf die Hinterbeine, als er nach dem Weinkrug griff.

So fest sie konnte, trat Temperance gegen das Stuhlbein, das sich ihr am nächsten befand. Mit einem Aufschrei fiel Tredgold hintenüber. Der Weinkrug flog durch die Luft, und der Inhalt ergoss sich über Tredgold und spritzte auf Temperances Röcke.

Der Krug schlug gegen die Tischkante und zersplitterte dann auf dem Boden.

Als er zu ihr hinaufblinzelte, stand Temperance über ihn gebeugt. Ihr Herz schlug wie rasend, aber sie war zu wütend, um sich zu fürchten.

„Ihr werdet mich bezahlen“, sagte sie. „Steht auf und gebt mir das Geld.“

Ein paar Sekunden lang starrte Tredgold sie an, bevor sein benommener Blick verächtlich wurde.

„Miststück!“, fuhr er sie an. „Ich werde Euch lehren …“

Sie trat einen Schritt zurück und griff durch den Schlitz in ihrem Rock nach dem Stock. Sie war größer als Tredgold, doch sie gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass sie auch stärker sein könnte.

Mühsam richtete Tredgold sich auf. Um sich schnell zu bewegen, war er zu benommen. Temperance hätte Zeit gehabt zu fliehen, aber weglaufen lag nicht in ihrer Natur. Sie verfluchte ihre Entscheidung, in die Taverne zu kommen, gleichzeitig hielt sie den Stock an ihrer Seite und ihre Aufmerksamkeit auf Tredgold und seinen Freund gerichtet.

Tredgold schüttelte den Kopf, und dann, ohne Vorwarnung, stürzte er sich auf sie.

Ihr blieb gerade genug Zeit, den Stock zu heben und in seinen Bauch zu stoßen. Fluchend wich er zurück. Dass sie bewaffnet war, hatte er nicht bemerkt.

Erleichtert holte Temperance Luft. Der erste Sieg ging an sie. Doch obwohl der Stock ihre Reichweite vergrößerte, war es ihr nicht gelungen, so viel Kraft in den Stoß zu legen, wie sie gehofft hatte. Tredgold war nicht verletzt, und jetzt war er gewarnt.

Da jetzt keine Notwendigkeit mehr bestand, den Stock zu verstecken, hielt sie ihn mit beiden Händen vor sich, bereit, sich gegen Tredgolds nächsten Angriff zu verteidigen.

Schneller, als sie es erwartet hatte, kam er auf sie zu, die Zähne zum Angriff gefletscht, beide Fäuste erhoben …

Im nächsten Augenblick wurde er herumgeschleudert und gegen die Kante des schweren Tisches geworfen. Knirschend rutschte der Tisch über den Boden, bis er gegen die Wand stieß. Der Musikant war Temperance zu Hilfe gekommen. Jetzt wartete er mit einem spöttischen Lächeln darauf, dass Tredgold wieder auf die Füße kam, der schwer atmend am Tisch lehnte, den Kopf über die verschränkten Arme gebeugt. Plötzlich stieß er einen wilden Schrei aus und fuhr herum, aber der Musikant wich dem Hieb mühelos aus. Noch einen weiteren Schlag blockte er ab, dann schickte er Tredgold mit einem einzigen Hieb auf den weingetränkten Boden.

Allmählich begann Temperance wieder ruhiger zu atmen, während sie langsam begriff, was vor sich ging. Sie wusste nicht, wann der Musikant in den Nebenraum gekommen war. Sie hatte ihn erst bemerkt, als er sie so schnell wie ein Blitz vor Tredgolds Angriff beschützt hatte. Jetzt starrte sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick und bewegte dabei gedankenverloren seine linke Hand, die, mit der er Tredgold den Hieb versetzt hatte. Abgesehen von dieser kleinen Bewegung, schien der kurze, gewalttätige Zwischenfall bei ihm keine Spuren hinterlassen zu haben.

Temperances Gedanken und Gefühle waren vollkommen durcheinander. Sie sollte die Taverne möglichst würdevoll verlassen, dennoch starrte sie den Musikanten weiterhin an. Zum ersten Mal sah sie ihn aufrecht stehen. Er war ein Stück größer als sie selbst. Es geschah so selten, dass sie aufblicken musste, um einem Mann in die Augen zu sehen, dass sie nicht damit aufhören konnte. Er wirkte schlank und sehnig, die breiten Schultern hingegen verrieten seine Kraft. Selbst in Hemd und Hose, mit unfrisiertem Haar und unrasiertem Kinn, war er der bestaussehende Mann, der ihr je vor die Augen gekommen war.

Er lächelte. „Was schuldet er Euch?“, fragte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf Tredgold.

„Die Bezahlung für das Leinen und den Musselin“, erwiderte Temperance und versuchte, sich zu konzentrieren. Obwohl sie noch halb benommen war von dem Schrecken, sollte der Musikant verstehen, dass sie eine respektable Händlerin war. „Er hat sie verdorben.“

„Wie viel?“ Der Musikant suchte nach Tredgolds Börse und fand sie schließlich.

„He!“, rief Tredgolds Freund aus.

„Wie viel?“ Der Musikant sah Temperance an, ohne auf den halbherzigen Protest zu achten.

Sie sagte es ihm und sah zu, wie er die Münzen vor den Augen von Tredgolds Freund abzählte.

„Da“, sagte er zu dem jungen Mann, der ihn mit offenem Mund anstarrte. „Wenn er zu sich kommt, könnt Ihr ihm erzählen, wie seine Schulden ehrlich beglichen wurden.“ Tredgold stöhnte bereits und bewegte sich. Der Musikant ließ die Börse auf dessen Bauch fallen und reichte Temperance das Geld.

„Danke.“ Sie betrachtete die Münzen und konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich noch bezahlt worden war.

„Und jetzt werde ich Euch nach Hause begleiten“, sagte der Musikant.

„Mich begleiten?“ Temperance sah auf. „Oh, nein, Sir, es ist nicht nötig …“

„Seid Ihr nicht allein hier? Solltet Ihr einen Begleiter haben, so hat er Euch sehr schlecht beschützt“, sagte der Musikant.

„Mein Lehrjunge ist krank“, sagte Temperance und richtete sich auf, während sie sich um Würde bemühte. „Ich werde einen Botenjungen bitten …“

„Ich werde Euch nach Hause begleiten.“ Beim Sprechen ging der Musikant zurück in den Schankraum. Die Männer machten ihm Platz.

Temperance blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass es sie ärgerte, wie er die Menschenmenge teilte, wie Moses einst das Rote Meer geteilt hatte. Schließlich war er …

„Nur ein Mann, der keinen Kamm besitzt“, murmelte sie. Und wäre beinahe gegen ihn geprallt, als er plötzlich stehen blieb.

Er lächelte sie über die Schulter hinweg an. „Aber ich besitze eine nützliche Linke“, sagte er. „Und mit dem Degen bin ich noch besser. Ich bezweifle, dass ein Kamm nützlich gegen Räuber wäre.“

Temperance öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Wie sehr sie sich auch danach sehnte, ihn zurechtzuweisen, so durfte sie nicht vergessen, dass er sie vor Tredgolds Angriff beschützt und dafür gesorgt hatte, dass ihre verdorbenen Waren bezahlt wurden. Schließlich stand sie in seiner Schuld.

Sie sah zu, wie er den Waffengurt anlegte in einer Weise, die zeigte, dass er den Umgang mit dem Degen in der Tat gewohnt war.

„Seid Ihr Soldat?“, fragte sie.

„Soldat?“ Er zog die Brauen hoch. „Nein. Die einzige Sache, für die ich jemals gekämpft habe, ist meine eigene.“

In der Menge lachte jemand. „Jack Bow ist ein Glücksritter, Mädchen. Er kämpft mit dem Degen und der Laute. Er könnte eine Menge Geschichten erzählen von den fernen Ländern, die er gesehen hat.“

„Oh.“ Temperance betrachtete die Hände des Musikers, während sie über diese beunruhigende Neuigkeit nachdachte. Ob er ein Söldner war? Als es Zeugen gab, die seine Taten bewundern konnten, hatte er sie vor Tredgold gerettet. Aber war es klug, mit so einem Mann in den dunklen Straßen der Stadt allein zu sein?

„Ich fürchte, in Cheapside gibt es keine interessanten Abenteuer zu erleben“, sagte sie in einem halbherzigen Versuch, ihn davon abzubringen, sie zu begleiten. „Es wird Euch sehr langweilen, Sir. “

„Der Mann, der sich in Eurer Gesellschaft langweilt, muss erst geboren werden, meine Schöne“, erwiderte er und zog einen schlichten olivgrünen Überrock an. Den Kasten mit der Laute warf er sich über die Schulter und lächelte über ihren verwirrten Gesichtsausdruck. „Gehen wir.“

Temperance folgte ihm aus der Taverne. „Ich bin nicht Eure Schöne“, sagte sie, kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Wo ist dann Euer Mann?“, fragte Jack Bow. „Der das Recht hat, Euch so zu nennen?“

„Es gibt niemanden“, sagte Temperance. Ihr öffentliches Ansehen als tugendhafte Jungfer war wichtig, damit sie das Recht behielt, in der Stadt als Angehörige der Tuchhändlergilde Handel zu treiben. Erst zu spät fiel ihr ein, dass sie diesem Fremden gegenüber misstrauischer hätte sein sollen.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Warum …? Das geht Euch nichts an.“ Sie ging die Straße hinunter.

„Bei so einem hübschen, heißblütigen Frauenzimmer müssten die Bewerber doch Schlange stehen“, sagte er und hielt mit ihr Schritt. „Habt Ihr sie mit diesem Stock vertrieben?“

„Die Tatsache, dass Ihr mir geholfen habt, gibt Euch nicht das Recht, mich zu verspotten!“, rief Temperance aus. „Geht weg und ärgert eine andere.“

„Oh, meine Schöne, die Nacht ist noch jung – und mit Euch bin ich noch nicht fertig“, erwiderte er. „Ihr geht so reizend auf meine Neckereien ein.“

„Was?“ In der Dunkelheit versuchte sie, ihn anzusehen. „Ihr seid ein überheblicher Halunke. Ich glaube kaum, dass jemand, der so kühn spricht, auch nur eine Spur von Feingefühl und Anstand besitzen kann.“

Er lachte.

Temperance ging schneller.

„Was ist mit Eurem Vater oder Brüdern?“, fragte er und passte sich ihrem Tempo an. „Warum schickten sie Euch, um Tredgolds Forderungen zu entsprechen?“

Zu ihrer Überraschung hörte sie etwas wie Missbilligung in seinen Worten.

„Issac ist krank“, sagte Temperance und wusste nicht recht, was sie von seiner Beharrlichkeit halten sollte. „Sonst hätte er mich begleitet.“

„Und Isaac ist …?“

„Mein Lehrjunge.“

„Euer Lehrjunge?“, wiederholte er. „Dann seid Ihr die Herrin?“ Er lachte leise. „Kein Wunder, dass Ihr Tredgolds Unverschämtheit nicht einfach hinnehmen wolltet.“

„Es ist meine Tuchhandlung“, erklärte Temperance stolz. „Ich bin das einzige Kind meines Vaters, das überlebt hat. Ich habe sie von ihm geerbt und führe sie in jeder Hinsicht allein. Darin bin ich sehr gut.“ Sie achtete darauf, dass ihre Stimme bei ihren letzten Worten fest klang. Es gab wenige Dinge in ihrem Leben, auf die sie wirklich stolz sein konnte, zum Beispiel gab es keine Schlange von Bewunderern, die sie mit Liebesworten betörten. Aber sie hatte hart gearbeitet, um das Geschäft ihres Vaters zu erlernen. „Weder will ich heiraten noch einen Mann über mich bestimmen lassen.“

„Aber Ihr könntet doch Euer Geschäft weiterbetreiben, oder? Solange Euer Gemahl seinen eigenen Handel treibt und keinen Teil hat an Eurem?“

„Unter bestimmten Umständen. Aber wenn mein Gemahl in der Stadt kein freier Mann ist, könnte ich das Recht auf Handel vollkommen verlieren.“ Temperance hielt inne. Es überraschte sie, dass Jack Bow sich mit den Gesetzen der Stadt so gut auskannte.

„Woher wisst Ihr das?“, fragte sie.

Sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie er die Schultern zuckte. „Mein Urgroßvater war ein Gemischtwarenhändler“, erwiderte er. „Ein wenig kenne ich die Gebräuche der Stadt.“

„Warum seid Ihr nicht in seine Fußstapfen getreten? Wenn Ihr Euch nicht für den Handel interessiert habt, dann gibt es bestimmt eine Menge anderer Gewerbe, in denen es ein kräftiger, kluger Mann zu etwas bringen kann.“

„Er starb, ehe ich geboren wurde“, sagte Jack. „Ich trat in die Fußstapfen meines Vaters.“

„Und der war ein heimatloser Vagabund.“

Auf ihre vorschnelle Bemerkung folgte Schweigen. Als es anhielt, wünschte sie, ihre Worte zurücknehmen zu können. Sie hatte den Mann, über den sie kaum etwas wusste, nicht beleidigen wollen. Aber Jack Bow hatte etwas an sich, das sie veranlasste, viel zu unüberlegt zu sprechen.

„Es tut mir leid …“, begann sie und wollte sich entschuldigen für ihren Angriff gegen seinen Vater, ohne allerdings ihr Verhalten Jack selbst gegenüber ändern zu wollen.

„Entwurzelt“, sagte er gleichzeitig. „Entwurzelt, nicht heimatlos. Er wusste, woher er kam. Seine Versuche, dorthin zurückzukehren, wurden vereitelt.“

„Ich kenne ihn nicht. So etwas Hässliches hätte ich nicht über ihn sagen sollen“, meinte Temperance.

„Warum nicht?“, fragte Jack. „Schließlich habt Ihr mich beschrieben, nicht meinen Vater.“

„Nun …“ Temperance schluckte. Sie spürte, dass sich Jacks Stimmung verändert hatte. Zum ersten Mal lag keine Spur von Humor in seiner Stimme. Er sprach ganz ruhig mit einem leichten Hauch von Resignation.

„Woher kommt Ihr?“, fragte sie. Die einfache Frage erforderte mehr Mut, als sie erwartet hatte.

„Gerade jetzt aus Venedig – über Ostende und Dover“, erwiderte er. „Irgendwo unterwegs muss ich meinen Kamm verloren haben.“

„Venedig! Wirklich?“

„Ja, wirklich“, sagte er. „Die sinnloseste Jagd, an der ich je teilgenommen habe. Bei dem, was ich erreicht habe, hätte ich genauso gut in London bleiben und die Taschen meines Barbiers füllen können. Wie heißt Ihr?“

„Temperance“, begann sie, ein wenig verwirrt durch die unerwartete Frage. „Temperance …“

„Temperance? Euer Name bedeutet Mäßigung?“ Er begann zu lachen. „Ihr tragt den falschen Namen, meine Schöne. Zurückhaltung jeglicher Art scheint Eurem Charakter vollkommen fernzuliegen. Tempest scheint mir weitaus passender zu sein – Ihr seid wie ein Sturm.“

2. KAPITEL

Samstag, 2. September 1666

Es war ein warmer, sonniger Nachmittag, als Jack durch die Stadt schlenderte. Alle Geschäfte hatten ihre hölzernen Läden geöffnet, und Jack hatte es nicht eilig. Er blieb stehen, um ein paar freundliche Worte mit der Frau des Goldschmieds zu wechseln, dann ging er ein Stück weiter. Er überragte die meisten anderen Menschen, und nur einen Augenblick später war er dankbar für den Vorteil, den dieser Umstand ihm verschaffte. Denn direkt auf ihn zu kam der letzte Mann, den er in London oder anderswo zu treffen wünschte. Jack versteckte sich im nächsten Laden und sah zu, wie der Earl of Windle an der Tür vorbei und direkt auf St. Paul’s zuging. Seit ihrer Begegnung bei Hofe sechs Monate zuvor hatte er Windle weder gesehen noch gesprochen. Soweit es Jack betraf, durfte die nächste Begegnung ruhig auf sich warten lassen.

Er verließ den Laden und ging weiter durch Cheapside. Das Herz schlug ihm vor Erwartung schneller, als er sich Temperances Geschäft näherte. Die Begegnung mit der temperamentvollen Tuchhändlerin in der Nacht zuvor hatte ihm gefallen. In vielerlei Hinsicht passten sie sehr gut zueinander. Zum ersten Mal lief er nicht Gefahr, Genickschmerzen zu bekommen, wenn er mit einer Frau sprach. Eine klassische Schönheit war sie nicht, doch von dem Augenblick an, da er sie im Schankraum gesehen hatte, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Vor allem gefiel ihm die Art, wie sie ihn in jeder Hinsicht herausforderte. Von all den Frauen, die bei Hofe versuchten, seine Gunst zu gewinnen, unterschied sie sich grundlegend. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Temperance ihn mit falschen Schmeicheleien umwarb oder so tat, als stürzte sie ihm zu Füßen, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Für seine Hilfe mit Tredgold hatte sie sich bei ihm bedankt, aber es überraschte ihn nicht, dass sie glaubte, mit den Widrigkeiten in der Taverne selbst fertig werden zu können.

Beim Näherkommen sah er, dass zwar die Läden geöffnet waren und Stoffe auslagen, Temperance selbst saß hingegen nicht in der Tür. Ein wenig überrascht beschleunigte Jack seinen Schritt.

„Geh wieder ins Bett, Isaac“, sagte Temperance.

„Aber Herrin, ich darf mich nicht vor der Arbeit drücken“, widersprach der Junge.

„Du drückst dich nicht“, erwiderte sie. „Du hast den ganzen gestrigen Nachmittag und den größten Teil der Nacht über Kopfschmerzen geklagt. Geh nach oben und ruh dich aus. Ich erwarte, dass du am Montag doppelt so hart arbeitest.“

„Ja, danke.“ Obwohl er versuchte, es nicht zu zeigen, sah sie seinem Gesicht an, wie erleichtert er war.

Isaac wandte sich gerade der Treppe zu, als das Licht, das von der offenen Tür hereinfiel, sich plötzlich verdunkelte. Gleichzeitig drehten sie die Köpfe zu dem Kunden.

Der Ankömmling hatte das Licht im Rücken, und seine Erscheinung hatte sich, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, in erstaunlicher Weise gewandelt, doch Temperance erkannte Jack Bow sofort.

„Was habt Ihr mit Eurem Haar angestellt?“ Die Frage war heraus, ehe sie darüber hatte nachdenken können.

Er lächelte. „Ich habe sie gegen die von jemand anderem getauscht“, erwiderte er und betrat den Laden. „Zweifellos war irgendein Mädchen vom Lande froh, diese hier gegen Gewinn zu verkaufen.“

Er trug eine Perücke, deren Haar ebenso schwarz war wie sein eigenes, doch anstatt der ungebändigten Mähne lagen nun dicke, gepflegte Locken um seine Schultern. Sie waren länger als sein eigenes Haar und veränderten sein Aussehen beträchtlich. Außerdem war er glatt rasiert, und als er sich bewegte, stieg Temperance ein schwacher Duft von Orangenblüten in die Nase. An diesem Tag sah er weitaus weniger wie ein Halunke und eher wie ein Gentleman aus. Allerdings trug er wieder denselben von der Reise zerknitterten Mantel, und den Kasten mit der Laute hatte er sich über die Schulter gehängt wie beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Die Adlernase und die durchdringenden Augen waren immer noch die des Vagabunden.

Ihr Herz schlug dreimal so schnell wie gewöhnlich. Sie wollte ihn bitten, näher zu treten, und gleichzeitig wollte sie ihn wegschicken, ehe er ihr Leben auf den Kopf stellte. Ihr war bewusst, dass Isaac sie anstarrte. Um ihren Stolz zu wahren, wollte sie Jack Bow wie jeden anderen Kunden behandeln, aber ein paar Herzschläge lang fiel ihr nicht ein, was sie sagen sollte. Sie konnte ihn bloß anstarren.

Er erwiderte ihren Blick ebenso aufmerksam. Eine so gründliche Musterung durch einen Mann war sie nicht gewohnt – außer, wenn einer mit ihr handelte. Aber Jack Bow betrachtete sie nicht, wie ein Händler es tat. Er – er sah sie einfach nur an. Ihr wurde heiß.

„Mistress?“, fragte Isaac unsicher.

Mühsam löste Temperance den Blick von Jacks Gesicht. An Isaacs Miene erkannte sie, dass er sich sorgte und nicht wusste, was er tun sollte.

„Geh ins Bett“, sagte sie. Ihre Stimme klang, als gehörte sie zu jemand anderem.

„Ins Bett?“, fragte Jack. „Es ist mitten am Nachmittag.“

„Es geht ihm nicht gut“, verteidigte Temperance ihren Lehrjungen.

„Ah.“ Einen Moment lang ließ Jack seinen prüfenden Blick auf Isaac ruhen. Dann nickte er, als wollte er die Richtigkeit ihrer Behauptung bestätigen. „Du kannst deiner Herrin ruhig gehorchen, Junge. Ich werde ihr nichts tun.“

„Nein, das werdet Ihr nicht“, gab Temperance zurück. „Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr darauf verzichten würdet, in meinem Laden Anweisungen zu erteilen.“

Jack lächelte. „Warum gehen wir nicht hinaus, damit Ihr ein Auge auf Eure Waren haben könnt?“, schlug er vor.

Während Isaac nach oben ging, folgte Temperance Jack zur Tür. Rasch musterte sie die Auslagen, um sich zu überzeugen, dass nichts verschwunden war. Sie strich ein Stück Wolltuch glatt, dann sah sie auf und bemerkte, dass Jack sie lächelnd beobachtete.

„Warum seid Ihr so extravagant?“, platzte sie heraus. „Mit Eurem Haar war alles in Ordnung. Wenn Ihr es nur ordentlich gekämmt und frisiert hättet …“

„Bewundert Ihr nicht meine neuen Locken?“ Ganz kurz strich er über eine der schwarzen Strähnen, die auf seiner Schulter ruhten. Die Geste erinnerte sie an die Gecken, die zuweilen an ihrem Laden vorübergingen, doch in dem Blick aus seinen dunklen Augen lag nichts Eitles.

„Vermutlich habt Ihr darunter eine Glatze“, sagte sie. Sie fühlte sich verstimmt und begriff den Grund dafür nicht.

„Nicht ganz. Bedauert Ihr, keine Gelegenheit zu haben, mit den Fingern durch mein Haar zu streichen? Das hättet Ihr letzte Nacht erwähnen sollen.“

„Sprecht leiser!“, befahl Temperance, die seine Indiskretion beunruhigte. Sie sah sich um, ob wohl jemand ihn gehört hatte. Zum Glück befand sich Agnes Cruikshank, ihre Nachbarin zur Linken, gerade mit einem Kunden im Gespräch.

„Jawohl, Madam Tempest.“ Jack grinste.

„All meine Tuche sind von der feinsten Qualität“, erklärte sie. „Denkt Ihr an einen neuen Überrock, Sir? Etwas, das zu Eurem schönen neuen Haar passt? Dieses Rosa würde vortrefflich zu den süßen Locken aussehen.“

„Schwarz oder Blau wäre wohl angemessener“, meinte er und ertastete die Qualität des Stoffes mit Daumen und Zeigefingern. „Das passt dann zu meinen blauen Flecken, wenn Ihr den Stock hervorholt, den Ihr an der Hüfte tragt.“

„Meine Kunden pflege ich niemals zu schlagen …“

„Außer wenn sie sich weigern zu zahlen“, erinnerte er sie. „Ich habe nicht geschlagen! Ich habe nur gegen seinen Stuhl getreten! Ihr wart es, der …“ Sie unterbrach sich. Wie hatte er sie nur in diesen lächerlichen Streit verwickeln können? Doch er musste sie nur ansehen mit diesem beunruhigenden Glanz in den Augen, und sie vergaß jede Zurückhaltung.

„Was wollt Ihr hier?“, fragte sie.

„Ich bin gekommen, um mich zu überzeugen, dass Ihr das Abenteuer der vergangenen Nacht unversehrt überstanden habt.“

„Vielen Dank. Wie Ihr seht geht es mir gut“, erwiderte Temperance, um einen förmlichen Tonfall bemüht.

„In der Tat, sehr gut“, sagte er. „Eure Augen sind so klar wie der Sommerhimmel …“

„Sie sind blau“, sagte sie leise.

„Natürlich, sonst hätte ich sie mit etwas anderem verglichen. Und Euer Haar …“

„… ist braun.“

„Seid Ihr entschlossen, die Poesie dieses Augenblicks zu zerstören?“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Meine Sonette sind berühmt, müsst Ihr wissen.“

„Tatsächlich?“

„Heiter, geistreich oder romantisch, je nachdem, was die Situation verlangt.“

„Ich werde es mir merken, für den Fall, dass ich jemals ein paar Reime benötige“, erwiderte Temperance.

„Ausgezeichnet. Würdet Ihr vielleicht ein Sonett, das Eure schönen Augen besingt, gegen ein Stück dieses beinahe ebenso schönen blauen Tuchs annehmen?“

„Nein.“

Jack legte eine Hand ans Herz und setzte eine schmerzgepeinigte Miene auf. „In Geschäftsdingen seid Ihr hart, Mistress Temperance.“

„Mit schönen Worten kann ich mir keine Kohlen kaufen“, sagte sie.

„Habt Ihr es je versucht? Der Kohlenhändler könnte eine Schwäche haben für Kornblumenblau.“

„Das glaube ich nicht. Er – Ihr redet Unsinn!“ Sie nahm sich zusammen.

Er lächelte, und Temperance fühlte Schmetterlinge in ihrem Bauch. Sein Lächeln wirkte so ganz anders als sein Grinsen. Es zeigte eine sanftere, ruhigere Seite seiner Persönlichkeit und weckte in ihr weitaus ernsthaftere Gefühle.

„Wie lange seid Ihr hier schon die Herrin?“, fragte er.

„Mein Vater starb vor fast zwei Jahren“, erwiderte sie.

„Während der Pest? Eine schwierige Zeit, um solch eine Verantwortung zu übernehmen.“

„Ja.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ihre Augen blickten ins Leere, als sie an jene Zeit zurückdachte.

„Wart Ihr damals hier?“ Neugierig sah sie ihn an.

Er schüttelte den Kopf.

„Venedig?“, fragte sie und dachte an seine Bemerkung während der letzten Nacht. Außerdem wollte sie die Stimmung aufheitern. „Oder an einem anderen exotischen Ort?“

„Im letzten Jahr war ich sehr träge. Ich war in Brügge. In Oxford. Aber die meiste Zeit über blieb ich in Sussex.“

„Oxford? Der König und sein Hof waren in Oxford, um der Pest zu entkommen.“

„Das ist richtig“, räumte Jack mit einem schiefen Lächeln ein.

„Ihr – habt Ihr je für den König gespielt?“, fragte Temperance und wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort. Bestimmt würde er sie auslachen, weil sie eine so dumme Frage gestellt hatte. Aber er war ein so guter Musikant, dass sie sich mühelos vorstellen konnte, wie er Könige und Königinnen unterhielt.

Jack grinste.

„Was soll das jetzt heißen?“, wollte sie wissen.

„Der König weiß meine Sonette mehr zu schätzen als Ihr“, erwiderte er. „Die geistreichen vor allem. Besonders gut gefiel ihm eines, das ich komponierte über eine Lady und ihren …“

„Lasst nur“, unterbrach ihn Temperance, die fest davon überzeugt war, dass es sich um etwas Skandalöses handelte. „Habt Ihr wirklich mit dem König gesprochen? Oder wollt Ihr mich nur necken?“

Jack lächelte wieder. „Ich habe mit dem König gesprochen“, sagte er. „Und die Laute für ihn gespielt. Für Louis habe ich ebenfalls gespielt, auch wenn das schon einige Jahre her ist.“

„Louis? Den König von Frankreich?“ Temperance starrte ihn an. „Wir führen Krieg gegen Frankreich.“

„Als ich am französischen Hof war, taten wir das nicht“, entgegnete Jack. „Aber der Krieg war eine verfluchte Unannehmlichkeit, als ich diesen Sommer aus Venedig zurückkehrte. In Ostende blieb ich hängen und wartete darauf, dass das Fährschiff sich einem Konvoi anschloss.“

„Was habt Ihr dann getan?“ Sein Bericht faszinierte Temperance zum Teil, nur irgendwie war sie auch entsetzt. Sie konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen, als so weit weg von zu Hause zu stranden.

„Natürlich habe ich die Laute gespielt.“ Diesmal war sein Lächeln von reiner Boshaftigkeit durchsetzt.

„Konntet Ihr den Kapitän davon überzeugen, Euch für ein Sonett mitzunehmen?“, fragte sie.

„Nein. Es waren die Frauen von Ostende, die meine Talente zu schätzen wussten“, erwiderte er.

„Was?“ Sie sah ihn wachsam an. „Sie gaben Euch Geld für Euren Gesang?“

„Ja“, erinnerte er sich. „Ich saß am Strand, und sie kamen, um mir zuzuhören, und warfen mir Münzen zu. Dann luden mich einige von ihnen ein, sie nach Hause zu begleiten – und dort für sie zu singen. Weil sie mein Talent so sehr bewunderten. “

„Ihr seid ein Schurke und ein Schürzenjäger!“ Am liebsten hätte Temperance geweint.

„Nur wenn ich ihre Einladungen angenommen hätte“, sagte er.

„Ich will gar nicht wissen, wie Ihr Eure Heimreise bezahlt habt“, entgegnete sie kühl.

„Mein Cousin rettete mich“, sagte er. „Warum verkauft Ihr mir nicht ein Stück dieses blauen Tuchs?“

„Nicht für ein Sonett. Und nachdem Ihr diese lächerliche Perücke gekauft habt, glaube ich kaum, dass Ihr noch genügend Münzen übrig habt.“ Sie verschränkte die Arme und funkelte ihn an.

„Wie viel?“

Widerstrebend nannte sie eine Summe, und er durchsuchte seine Taschen, bis er die erforderliche Zahl von Münzen hervorholte.

„Schneidet mir ein Stück ab“, befahl er.

„Jawohl, Sir.“

Er lehnte sich mit der Hüfte gegen die Kante der Auslage und sah ihr zu.

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