Die Lady aus meinen Träumen

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Vorsichtig betritt Caroline das Schlafzimmer von Colonel John Ancroft, Marquess of Coverdale: Ein schwerer Albtraum scheint ihn zu plagen. Welche düsteren Erinnerungen mögen diesen mutigen Mann heimsuchen, der sich galant angeboten hat, sie auf ihrer gefahrvollen Reise nach Yorkshire zu begleiten? Doch bevor sie sich wieder unbemerkt zurückziehen kann, wacht John auf. Mit leuchtenden Augen blickt er sie an, murmelt "Gabriella" und zieht die überraschte Caroline zärtlich in seine starken Arme ...


  • Erscheinungstag 07.09.2015
  • Bandnummer 25
  • ISBN / Artikelnummer 9783864945748
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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London, Mai 1818

Aus dem Bibliotheksfenster seines Hauses in der Mount Street beobachtete John Ancroft zwei Straßenhändler, die in einen Streit geraten waren und ganz den Eindruck machten, als ob sie sich bald prügeln würden, sich dann jedoch offenbar gütlich einigten und schließlich trennten. Leise seufzend wandte der Colonel sich ab und ging unruhig im Zimmer hin und her. Schließlich blieb er vor seinem Schreibtisch stehen und starrte das Möbelstück eine Weile gedankenvoll an. Dann nahm er Platz, rückte sich Tintenfass und Federkiel zurecht und nahm Papier aus der obersten Schublade. Schon im Begriff, den ersten der für ihn eingegangenen Briefe zu beantworten, hörte er jemanden an die Tür klopfen, und auf sein Geheiß betrat der Butler den Raum.

„Mr. Fennybright wünscht Sie zu sprechen, Colonel“, verkündete der Bedienstete und verbeugte sich.

„Bitten Sie ihn herein, Betts“, sagte John und stand auf, um den Besucher zu empfangen.

„Sehr wohl, Sir.“ Der Butler tat einen Schritt zur Seite, um den Anwalt vorbeigehen zu lassen. Dann schloss er die Tür. „Guten Tag, Graham“, begrüßte John den Freund herzlich. „Was verschafft mir die unerwartete Ehre deines Besuchs?“

„Guten Tag, John“, sagte Graham ernst. „Ich habe eine wichtige Neuigkeit für dich.“

„Bitte, nimm Platz“, forderte John ihn auf und wartete, bis der Advokat sich in einem Sessel niedergelassen hatte. Dann setzte er sich ebenfalls und sah den Freund gespannt an.

„Vor drei Tagen ist dein Onkel verstorben“, eröffnete ihm Graham übergangslos. „Ich bin erst heute Morgen in der Stadt eingetroffen und habe dich unverzüglich aufgesucht.“

John brauchte einen Moment, um die Tragweite der Mitteilung zu erfassen. „Warst du bei Onkel Douglas, als er verschied?“, erkundigte er sich bedächtig.

„Ja.“

„Hat er dir irgendetwas für mich aufgetragen?“

„Nein“, antwortete Graham und schüttelte den Kopf.

„Aber er hat mich erwähnt?“

Graham schien unschlüssig, was er äußern sollte.

„Du kannst mir getrost die Wahrheit erzählen“, fuhr John ruhig fort. „Ich kann mir ohnehin denken, was er über mich gesagt hat. Ganz abgesehen davon würde ich es früher oder später sowieso erfahren. Also nimm kein Blatt vor den Mund. Mein Onkel hat mir nicht verziehen, nicht wahr?“

„Er war alt und sehr krank, John“, antwortete Graham ausweichend. „Manchmal war er … hm … nicht mehr ganz bei sich.“

„Komm zur Sache, Graham!“, bat John ihn ungeduldig.

„Nun, er hat sich bis zu seinem letzten Seufzer nicht mit dem Tod deines Vetters abgefunden.“

„Wie lauteten seine Worte?“, wollte John wissen.

„Willst du das wirklich hören?“, fragte Graham stirnrunzelnd. „Ich befürchte, es wird dir nicht gefallen, was ich dir mitzuteilen habe.“

„Nun rede endlich!“

„Wie du willst. Dein Onkel ließ sich nicht eines Besseren belehren, ganz gleich, was ihm vorgehalten wurde. Er verfluchte den Umstand, dass der Schuft, der seinen Sohn umbrachte, um in den Genuss des Titels zu kommen, nicht im Krieg gefallen ist – dass also du, den er als Philips Mörder betrachtete, ihn beerben würdest. Glaub mir, alle Anwesenden waren sehr betreten, da natürlich keiner von uns ihm zustimmte. In ganz Yorkshire gibt es niemanden, der davon ausginge, dass dein Cousin nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Aber dein Onkel wollte sich nicht überzeugen lassen, nicht einmal von seinem Beichtvater. Es tut mir leid, John.“

„Du musst mich nicht bedauern, Graham“, entgegnete John gefasst. „Onkel Douglas hat sich in einem Punkt sehr geirrt! Ich habe es nie darauf angelegt, der vierte Marquess of Coverdale zu werden. Allerdings gebe ich mir die Schuld an Philips, Gabriellas und Roses Tod.“

„So etwas darfst du nicht denken!“, wandte Graham beschwörend ein. „Deine Gattin war jahrelang krank, ehe sie starb, und ich entsinne mich sehr gut, wie aufmerksam und fürsorglich du gewesen bist. Obwohl …“

„Sie mich hasste?“, warf John ein. „Nein, das trifft nicht zu. Sie hat mich nur gemieden, soweit das möglich war. Oft war ich nicht daheim, aber wenn ich bei ihr weilte, konnte sie nie verhehlen, dass sie sich in meiner Gegenwart unbehaglich fühlte. Und kurz vor ihrem Ende verfiel sie in Zustände extremer Gemütserregung, wenn sie mich nur sah. Ihr Abscheu hat sich auf Harriet übertragen, sodass es kein Wunder ist, dass meine Stieftochter mir mit großer Aversion begegnet. Rose und Onkel Douglas haben es fertiggebracht, dass das Mädchen mich für einen Verbrecher hält.“

„Das war infam von ihnen“, meinte Graham betroffen. „Ich weiß, dass du Philip nie etwas Böses gewünscht hast. Im Übrigen warst du nicht dabei, als er mit seiner Karriole den Unfall hatte, bei dem auch deine Verlobte tödlich verunglückt ist.“

„Ich habe ihn dazu getrieben. Nein, widersprich mir nicht. Die Wahrheit ist, dass wir beide einen Streit hatten, bevor er in die Kutsche stieg. Statt ihn von der Fahrt abzuhalten, habe ich ihn nur noch mehr gereizt. Ich war älter als er und hätte mich beherrschen müssen. Für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung.“

„Du gehst zu hart mit dir ins Gericht, John. Niemand, nicht einmal dein Onkel, hätte deinen Vetter zur Raison bringen können, wenn er außer sich war. Und was Miss Ainderby betrifft, so war sie eine hübsche junge Frau, aber …“

„Nein! Rede nicht weiter, Graham!“, fiel John ihm scharf ins Wort. „Du warst mir immer ein guter Freund und hast stets auf meiner Seite gestanden. Ich habe jedoch stets Verständnis für Onkel Douglas’ Einstellung aufgebracht. Er hatte Anlass, mich zu verabscheuen. Der Hass auf mich und der Wunsch, mich vor ihm sterben zu sehen, waren alles, was ihm geblieben ist und ihn am Leben gehalten hat.“

„Das mag sein“,räumte Graham zögernd ein. „Der Tod seines einzigen Sohnes hat ihn bösartig werden lassen. Möge seine Seele in Frieden ruhen.“

„Amen“, äußerte John düster. „Herein!“, rief er dann, weil erneut jemand an die Tür geklopft hatte.

Betts öffnete, schob den Servierwagen in den Raum und schenkte den Herren Wein ein. Dann verbeugte er sich und zog sich diskret zurück.

„Früher gab es eine Zeit, da fand ich mich so widerwärtig, wie mein Onkel das getan hat“, gestand John bedächtig. „Damals wäre es mir sehr recht gewesen, wenn seine mich betreffenden Hoffnungen sich erfüllt hätten.“

„Was soll das heißen?“, warf Graham befremdet ein.

„Du weißt genau, was ich damit sagen will“, antwortete John ernst, „denn schließlich kennst du mich nach all den Jahren unserer Freundschaft sehr gut. Ich wollte den Titel nicht erben und habe im Krieg Augenblicke durchgemacht, in denen ich mich danach sehnte, im Kampf zu fallen. Ich war ein Draufgänger und bin für meinen Wagemut sogar noch ausgezeichnet worden. Bestimmt war Onkel Douglas bitter enttäuscht, dass ich nicht getötet wurde.“

„Jetzt begreife ich, warum du nach deiner schweren Verwundung noch bei der Armee geblieben bist“, murmelte Graham.

„Nein, du irrst dich“, widersprach John. „Damals habe ich den Lebenswillen zurückgewonnen und den Militärdienst nicht quittiert, weil ich überzeugt war, ich müsse meinen Teil dazu beitragen, dass unsere Truppen Napoleon besiegen. Zum Glück haben wir das erreicht.“

„Leidest du noch unter Folgen deiner Verletzungen?“, erkundigte sich Graham besorgt.

„Manchmal habe ich leichte Fieberanfälle“, gab John zu, „aber ansonsten fühle ich mich in Ordnung. Im vergangenen Jahr wähnte ich, keine militärische Karriere machen zu können, doch mittlerweile bereue ich, nicht mehr bei der Armee zu sein. Deswegen bin ich ganz froh, wenn ich hin und wieder, sobald Wellington in London ist, von ihm als Adjutant hinzugezogen werde.“

„Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein“, wandte Graham ein. „Jetzt lastet auf dir eine Verantwortung ganz anderer Art. Je eher du sie übernimmst, desto besser.“

„Vielleicht möchte ich mir diese Pflichten nicht aufladen.“

Einen Moment lang verschlug es Graham die Sprache. Dann äußerte er vorwurfsvoll: „Du musst deinen Platz als der neue Marquess einnehmen, John!“

„Von müssen kann nicht die Rede sein“, entgegnete John kühl.

Graham atmete tief durch und erwiderte: „Doch, du musst, John! Ich habe mich mein ganzes Berufsleben hindurch um die Belange der Ancrofts gekümmert, so wie meine Vorväter vor mir. Ich will dich nicht vor den Kopf stoßen, aber ich hätte das Gefühl zu versagen, würde ich dich nicht ermahnen, deine Aufgaben als Großgrundbesitzer wahrzunehmen. Du bist ein Mann von Ehre, und ich weiß, dass du dich ihnen stellen wirst.“

„Großgrundbesitzer?“,wiederholte John erstaunt. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Onkel Douglas mir viel hinterlässt.“

„Er konnte dich nicht enterben, da es sich zum größten Teil um festvererbliche Liegenschaften handelt“, erklärte Graham. „Du bist jetzt Eigentümer ausgedehnter Ländereien in Yorkshire, und außerdem gehören dir verschiedene Residenzen, darunter das Stadthaus deines Onkels. Von dir sind zahllose Menschen abhängig. Und denk an deine Stieftochter! Ich bin sicher, du willst ihr eine glänzende Zukunft verschaffen.“

„Onkel Douglas’ Weigerung, mich noch einmal zu empfangen, der Gefühlsausbruch meiner Gattin, als ich darauf bestand, sie aufzusuchen, sowie Harriets unübersehbare Angst vor mir hatten mich veranlasst, mir nach meinem letzten Aufenthalt in Marrick Castle zu geloben, nie mehr dorthin zurückzukehren“, sagte John seufzend. „Ich kann mir nicht vorstellen, wortbrüchig zu werden, auch wenn du mich für einen Feigling hältst.“

„Ich wiederhole, du musst nach Marrick Castle reisen. Wenn du dort bist, werden deine Stieftochter und du euch bald besser kennengelernt haben. Sie braucht einen Vater, John! Und für mich besteht kein Zweifel daran, dass die in Marrick Castle lebenden Menschen dich herzlich willkommen heißen werden. Dein Onkel war ein Einzelgänger und allem Neuen abhold. Das Gut wurde zwar vernünftig geleitet, doch mit der Zeit hat sich viel geändert. Nur du kannst dafür sorgen, dass es wirtschaftlicher wird.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte John gedehnt. „Ich kann mir nicht vorstellen, je wieder in Marrick Castle zu weilen.“

„Du musst umdenken“, legte Graham ihm nahe.

„Vielleicht hast du recht“, murmelte John.

Graham schickte sich zum Gehen an.

„Danke, dass du gekommen bist“, fuhr John fort und stand ebenfalls auf. „Da ich in den verflossenen siebzehn Jahren sehr selten habe durchblicken lassen, dass ich der Neffe des Marquess of Coverdale bin, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du einstweilen die Neuigkeit, dass ich Onkel Douglas’ Nachfolger geworden bin, für dich behältst. Warte bitte, bis ich dich dazu ermächtige. Vorläufig möchte ich nur als schlichter Colonel auftreten.“

„Wie du willst“, willigte Graham ziemlich verblüfft ein. „Ich stehe dir immer zur Verfügung. Falls du mich brauchst, findest du mich im ‚Lincoln’s Inn‘. Oder möchtest du, dass ich in einigen Tagen wieder herkomme? Wir haben ja eine Reihe geschäftlicher Dinge zu besprechen.“

„Ich werde dich benachrichtigen“, erwiderte John, ging zur Tür und betätigte den Klingelzug.

„Ich habe mich stets auf deine Rückkehr in die Heimat und nach Marrick Castle gefreut, John“, sagte Graham ehrlich, „und dich deshalb über die Ereignisse dort auf dem Laufenden gehalten. Ich kann dir versichern, dass ich nicht der Einzige wäre, den du enttäuschen würdest, nähmst du nicht den gebührenden Platz ein.“

„Ich werde es mir überlegen“, sagte John ausweichend. „Herein!“, rief er, da es in diesem Moment klopfte.

Betts betrat die Bibliothek und fragte: „Sie wünschen, Sir?“

„Mr. Fennybright möchte gehen. Begleiten Sie ihn bitte.“

Graham verabschiedete sich und folgte dem Butler.

Sobald der Advokat das Haus verlassen hatte, kehrte Betts zum Colonel zurück und sagte höflich: „Pardon, Sir. Derweil Sie mit Mr. Fennybright gesprochen haben, war Lord Trenchard hier und hat, da Sie verhindert waren, versprochen, noch einmal herzukommen.“

„Danke“, erwiderte John. „Ich benötige Sie nicht mehr.“ Er wandte sich ab, ging zum Konsoltisch und schenkte sich, um sich zu beruhigen, ein Glas Cognac ein. Bedächtig leerte er es und fragte sich, wie er sich entscheiden solle und wie seine Zukunft aussehen würde.

2. KAPITEL
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Falmouth, Mai 1818

Bei Reisenden, die von den Westindischen Inseln eintrafen, war das „Green Bank“ in Falmouth, einer dreihundert Meilen westlich von London gelegenen Stadt, sehr beliebt.

Beflissen wurde Mrs. Caroline Duval vom Besitzer des Gasthauses begrüßt, denn es geschah offenbar äußerst selten, dass ein so vornehmer und sichtlich vermögender Gast sich bei ihm einfand.

Beeindruckt beobachtete er, wie die Lakaien eine Fülle von Gepäckstücken ins Foyer brachten, und richtete den Blick dann wieder auf Mrs. Duval. Sie war hoch gewachsen und schlank, hatte grüne Augen und kastanienbraunes Haar, das unter ihrem eleganten, der neuesten Mode entsprechenden Démis-Castor hervorlugte. Sie trug eine taillierte Redingote aus bester Wolle und feinste Glacéhandschuhe. Begleitet wurde sie von ihrer etwa vierzig Jahre alten, rundlichen Zofe und einem älteren Bediensteten, der kräftig und untersetzt war und etwas streitsüchtig wirkte. Unwillkürlich überlegte der Wirt, welche Funktion der Mann haben mochte, der nicht den Eindruck eines einfachen Domestiken machte, sondern eher ein Vertrauter zu sein schien.

Caroline beachtete die in der Halle anwesenden Leute nicht. Selbstsicher folgte sie dem Hausknecht, der sie zu den besten verfügbaren Zimmern in der oberen Etage führte.

„Bitte sehr, Madam“, sagte der junge Mann ehrerbietig, öffnete ihr die Tür und verbeugte sich.

Sie betrat den Salon, schaute sich um und äußerte anerkennend: „Sehr hübsch. Veranlassen Sie, dass die Räume beheizt werden, und sorgen Sie dafür, dass mir eine Flasche Cognac serviert wird.“

Verblüfft schaute der Dienstbote sie an.

„Sie haben richtig gehört“, fuhr Caroline kühl fort. „Geben Sie ihm ein Trinkgeld, Margaret.“

Die Zofe tat, wie ihr geheißen, und der Knecht zog sich nach einer tiefen Verbeugung zurück, um die Wünsche der Dame zu erfüllen.

Es dauerte nicht lange, bis eine Magd erschien, im Kamin Feuer machte und sich dann in die angrenzenden Räumlichkeiten begab.

In der Zwischenzeit hatte Caroline die mit einem Schloss gesicherte hohe, ovale Hutschachtel auf einen Stuhl gestellt, den Hut abgenommen und ihn auf einen Konsoltisch gelegt. Sie ließ sich von Mrs. Lansing aus dem Mantel helfen, zog die Handschuhe aus und übergab sie der Zofe. Dann setzte sie sich auf das Kanapee, wartete, bis Mrs. Lansing aus dem Ankleidezimmer zurückgekehrt war, und äußerte lächelnd: „Wir haben ziemliches Aufsehen erregt, nicht wahr?“

„Das ist doch nicht verwunderlich, Madam“, erwiderte Margaret schmunzelnd. „Den armen Hausknecht haben Sie ziemlich aus der Fassung gebracht, als Sie nach Cognac verlangten. Sie sind jetzt in England, Mrs. Duval! Hier ziemt es sich für eine Dame nicht, Branntwein zu trinken, es sei denn als Digestiv oder als Stärkungsmittel.“

„So etwas gehört sich auch in Jamaika nicht“, sagte Caroline belustigt. „Aber weshalb sollte ich plötzlich Wert auf Schicklichkeit legen, nur weil ich hier bin? Ich möchte unsere Ankunft feiern. Also verderben Sie uns nicht den Spaß! Herein!“, rief sie, weil jemand an die Tür geklopft hatte.

Der junge Bedienstete, der sie hinaufgebracht hatte, betrat das Zimmer, stellte das Tablett mit der Karaffe und dem Glas auf dem Beistelltisch ab und zog sich nach einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

„Joseph, holen Sie noch zwei Gläser von der Anrichte“, bat Caroline. „Wir werden gemeinsam darauf anstoßen, dass wir die Reise unbeschadet überstanden haben. Edmund und seine Handlanger sind jetzt viertausend Meilen weit weg und können mir nichts mehr anhaben. Nun bin ich in Sicherheit, denn das nächste Schiff aus Kingston trifft erst in zwei Wochen hier ein.“

„Wir sind noch lange nicht am Ziel, Madam“, entgegnete Margaret ernst. „Allein bis London sind es weitere dreihundert Meilen, wie ich auf der Silver Star erfahren habe. Und wer weiß, wann wir in Yorkshire sind.“

„Soweit mir bekannt ist, kann man in drei Tagen in der Hauptstadt sein, weil die Straßen gut sind“, erwiderte Caroline zuversichtlich.

Joseph hatte die Gläser gebracht, eingeschenkt und den Damen serviert.

„Danke“, sagte Caroline lächelnd und prostete ihm und ihrer Zofe zu. Nachdem man den ersten Schluck getrunken hatte, fuhr sie fort: „Ich bin überzeugt, dass wir von da aus dann nur noch eine Woche bis High Hutton benötigen. Ich möchte, dass Sie uns eine Mietkutsche besorgen, Joseph, denn ich will so schnell wie möglich in London sein“, erklärte sie. „Sobald wir dort sind, werde ich eine Berline für uns erstehen. Und noch etwas, Joseph“, fügte sie hinzu, entnahm ihrem Ridikül einen Brief und hielt ihn dem Diener hin. „Bringen Sie dieses Schreiben für Mr. Trewarthen zu der angegebenen Adresse. Wenn unser Anwalt in Jamaika alles wie gewünscht arrangiert hat, liegt das Geld für mich bereit. Dann kann ich zur Bank gehen und morgen weiterreisen. Also trinken Sie aus, und machen Sie sich auf den Weg.“

„Wie Sie wünschen, Madam“, erwiderte der Bedienstete und nahm das Schreiben entgegen. Er leerte das Glas und stellte es auf dem Tablett ab.

Nachdem er den Raum verlassen hatte, sagte Caroline: „Ich möchte, dass Sie mir das Nötigste für eine Woche zusammenpacken, Maggie. Das übrige Gepäck brauche ich nicht. Was haben Sie?“, setzte sie verwundert hinzu. „Warum machen Sie ein so düsteres Gesicht? Freut es Sie nicht, wieder in England zu sein?“

„Ja, aber da ich vor über dreißig Jahren aus Derbyshire fortgezogen bin, weiß ich nicht, was mich hier erwartet“, antwortete Margaret ehrlich. „Eins muss ich Ihnen jedoch in aller Deutlichkeit sagen, Madam. Sie sollten auf Ihre Ausdrucksweise achten! Bitte unterlassen Sie das Fluchen, und verwenden Sie auch keins der höchst unpassenden Worte, die Sie in New Orleans aufgeschnappt haben. Ihr Großvater kann Sie nicht mehr gegen Ihre Kritiker in Schutz nehmen.“

„Nein“, stimmte Caroline bedrückt zu. „Ich werde mich bemühen, Ihren Rat zu beherzigen, Maggie. So, und nun richten Sie mir bitte den Handkoffer.“

„Sehr wohl, Madam“, erwiderte Margaret, erhob sich und ging ins Ankleidezimmer.

Erschöpft lehnte Caroline sich zurück und schloss die Augen. Nach einer Weile ermahnte sie sich, keine Schwäche zu zeigen, schlug die Lider auf und setzte sich aufrecht hin. Sie war gewillt, ihr Bestes zu tun, um ihren Auftrag zu erfüllen.

Entschlossen stand sie auf und versperrte die Türen. Rasch nahm sie den an einer goldenen Kette um den Hals hängenden Schlüssel ab, öffnete das Schloss der ledernen Hutschachtel und klappte den Deckel zurück. Dann holte sie den zuoberst liegenden Hut und die beiden versiegelten Umschläge heraus, deponierte alles auf dem Kanapee und hob den mit Tüchern umhüllten Ainderby-Kelch an, den sie, nachdem er sich sechzig Jahre lang nicht mehr in England befunden hatte, auf Wunsch des Großvaters seinem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen sollte. Rasch zog sie den darunter platzierten Beutel hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch. Behutsam brachte sie die Couverts und den Hut wieder in der Schachtel unter und dachte dabei daran, welch einzigartiges Kleinod sie mit sich führte.

Bei dem so sorgfältig gegen Beschädigungen geschützten Gefäß handelte es sich um einen wertvollen Kultgegenstand. Der obere Rand war glatt, der untere Teil des Bechers mit überaus vielfältigem Filigran bedeckt, sodass man den Eindruck gewann, das Gefäß ruhe in einer Fülle goldener Spitzen, die funkelnde kostbare Steine umschlossen. An der dem Zelebranten zugewandten Seite war in einer beeindruckenden Darstellung das Bild des Auferstandenen eingelassen, und weitere Emailblättchen mit Szenen aus dem Leben Christi zierten den Fuß des Kelches, dessen gewölbten Griff Olivine und Smaragde schmückten.

Nachdem Caroline den Becher wieder in die Schachtel gestellt und sie verschlossen hatte, verstaute sie das Säckchen in ihrem Ridikül, stand auf und entriegelte die Türen. Langsam kehrte sie zum Kanapee zurück, ließ sich erneut darauf nieder und war froh, dass sie den ersten Teil der ihr übertragenen Mission erfüllt hatte. Der zweite bestand darin, nach London zu reisen und in Lincoln’s Inn die Anwaltskanzlei „Fennybright & Turner“ aufzusuchen.

Mr. Samuel Turner war der Sohn eines guten Freundes ihres verstorbenen Großvaters. Er sollte ihr bei der Erledigung des dritten und schwierigsten Teils ihres Vorhabens behilflich sein – der Aufgabe, den Abendmahlskelch sicher nach Yorkshire zu schaffen und den in High Hutton lebenden Ainderbys auszuhändigen.

Sie musste nicht lange auf Joseph warten. Nach einer halben Stunde fand er sich wieder bei ihr ein und berichtete, es sei ihm gelungen, für den nächsten Morgen eine bequeme Berline zu mieten. „Und Mr. Trewarthen hat Ihnen dies hier geschickt“, fügte er hinzu und überreichte ihr einen Umschlag.

Caroline riss ihn auf, zog das Kärtchen heraus und las die wenigen Zeilen. „Oh, verflixt!“, murmelte sie. „Mr. Trewarthen hat mich zum Dinner eingeladen. Absagen kann ich nicht, denn dann wäre er gekränkt.“

„Ich halte es für angebracht, mich ein wenig in der Stadt umzuschauen“, schlug Joseph vor. „Sind Sie damit einverstanden?“

„Wozu soll das gut sein?“, wunderte sich Caroline.

„Nun, es kann nicht schaden, herauszufinden, ob jemand uns beschattet“, antwortete der Diener ernst. „Ich vermute, dass Ihr Vetter hier Kontaktpersonen hat. Als ich das Hotel betreten wollte, fiel mir ein Mann auf, der sich seltsam verhielt. Ich meine, es ist ratsamer, sich zu vergewissern, ob wir tatsächlich beobachtet werden. Schließlich ist es meine Pflicht, Sie zu beschützen, Mrs. Duval.“

„Gut, tun Sie, was Sie für richtig halten“, stimmte sie zu. „Ach, und richten Sie bitte Maggie aus, dass ich eine Abendrobe benötige. Ich werde gleich zu ihr kommen und ihr sagen, welche sie mir zurechtlegen soll.“

„Selbstverständlich, Madam“, äußerte Joseph höflich, verbeugte sich leicht und verließ das Boudoir.

Caroline überlegte, was sie anziehen solle. Der Anlass war zwar nicht sehr festlich, jedoch ihr erster Auftritt in der Gesellschaft, für den sie richtig gekleidet sein wollte. Wahrscheinlich würden die Gastgeber befremdet sein, wenn sie sahen, dass sie nach dem Tod des Großvaters keine Trauerkleidung trug.

Sie begab sich zu Mrs. Lansing und entschied sich für eine schlichte weiße Kreation, die ein weniger gewagtes Dekolleté hatte als ihre anderen Abendkleider. Dazu suchte sie sich eine passende Bayadère aus, durch die der größte Teil des Ausschnitts verhüllt wurde.

„Ich weiß nicht recht, Madam“, äußerte Margaret bedenklich. „Finden Sie nicht, dass Sie ziemlich indezent angezogen sind?“

„Ich habe nichts Geeigneteres für diesen Anlass“, antwortete Caroline achselzuckend. „Ganz abgesehen davon kann es mir gleich sein, was die Leute von mir denken. Ich werde sie nie wiedersehen.“

„Hoffentlich erregen Sie keinen Anstoß“, äußerte Margaret skeptisch. „In diesem Land muss man viel Rücksicht auf die Schicklichkeit nehmen. Außerdem weiß man nie, ob man jemanden nicht doch noch einmal braucht!“

Caroline bemühte sich, einen guten Eindruck zu machen. Verständlicherweise waren die Gastgeber neugierig und wollten viel über das Leben wissen, das sie in Kingston geführt hatte. Sie ging so ehrlich auf alle Fragen ein, wie ihr geraten schien, und berichtete von der Historie der Inseln, über das angenehme Klima, die mitreißende Landschaft und zurückhaltend auch über die sozialen Kreise, in denen sie verkehrt hatte.

In diesem Punkt sah sie sich indes hin und wieder genötigt, die Wahrheit zu beschönigen, da der Großvater und sie sich in ihrer kleinen Welt über viele gesellschaftliche Regeln hinweggesetzt hatten. Es war ein offenes Geheimnis, dass manche Damen der Gesellschaft von Kingston ihrer beider Benehmen kritisiert hatten, aber nie in ihrer Gegenwart. Schließlich hatte er bis zu seinem Tod zu den bedeutendsten Großgrundbesitzern Jamaikas gezählt. Sein hohes Ansehen hatte er nicht nur seinem immensen Vermögen verdankt, sondern vor allem auch den Beziehungen seiner Gattin, einer Willoughby, deren Familie eine der ältesten und vornehmsten auf der Insel war. Und natürlich hatte kein Familienoberhaupt, dem die Belange seiner Angehörigen am Herzen lagen, sich je öffentlich erkühnt, über einen Verwandten des Großvaters herzuziehen, ohne dessen Unterstützung und Schutz Caroline es viel schlechter gehabt hätte.

Ihr Eigensinn und ihr stürmisches Temperament hatten sie dazu verleitet, im Alter von siebzehn Jahren mit Laurent Duval, einem gut aussehenden Abenteurer, durchzubrennen. Natürlich hatte das zu einem Skandal geführt, der bei ihrer Rückkehr als mittellose Witwe nur achtzehn Monate später wieder aufgelebt war. Man hatte von ihr behauptet, in New Orleans habe sie schlechten Umgang gehabt, doch dieses Gerücht war nie bewiesen worden. Selbstverständlich hatte sie sich nie dazu geäußert, und der Großvater war stolz darauf gewesen, dass sie, seine Erbin, sich nicht durch das Gerede hatte beeinflussen lassen.

Er hatte sogar dafür gesorgt, dass sie wieder in der guten Kingstoner Gesellschaft, die sie sicher gern verbannt hätte, verkehren konnte. Allerdings war ihr aufgefallen, dass so manche sich ihr gegenüber freundlich, aber distanziert gebende Familie ihr das unüberlegte Verhalten nicht verziehen zu haben schien. Die Leute hielten sie für zu unbesonnen und stur, und nicht einmal ihre Schönheit, Grazie und reizvolle Ausstrahlung waren Grund genug gewesen, ihr den einen oder anderen Fauxpas nachzusehen. Mütter heiratsfähiger Mädchen argwöhnten stets und zu Recht, dass kein junger Kavalier auch nur einen Blick für ihre wohlgesittete Tochter übrighatte, wenn Caroline anwesend war. Die meisten der Herren, ganz gleich, um wen es sich handelte, waren von ihr bezaubert gewesen. Sie hatte sich angewöhnt, den über sie in Umlauf befindlichen Klatsch, die ihr geltenden anzüglichen Blicke und das Getuschel nicht zu beachten, und nur laut gelacht, nachdem ihr zu Ohren gekommen war, dass man sie hinter ihrem Rücken „die Witwe Duval“ nannte. Ihr angegriffener Ruf war daran schuld, dass sie gelegentlich einen allzu forschen Verehrer in die Schranken hatte weisen müssen, ohne dabei jedoch die Contenance zu verlieren.

Nach der unglücklichen Episode mit Laurent hatte sie nicht mehr das Bedürfnis gehabt, sich erneut mit einem Mann einzulassen. Die Erfahrungen, die sie mit ihrem verstorbenen Gatten gemacht hatte, waren ihr eine Lehre fürs Leben. Mit wenigen Ausnahmen, zu denen der von ihr sehr respektierte Großvater gehört hatte, waren in ihren Augen Männer, auch wenn sie sich ihnen gegenüber charmant und umgänglich zeigte, Dummköpfe oder Schufte.

Nach dem in gelöster Stimmung eingenommenen Dinner verabschiedete sie sich freundlich von den Gastgebern, kehrte, begleitet von Joseph, ins Hotel zurück und beglückwünschte sich auf dem Weg dazu, sich genau so betragen zu haben, wie es von einer verwitweten Fremden erwartet wurde – wohlerzogen und liebenswürdig.

Kaum war Mrs. Duval gegangen, äußerte Mr. Trewarthen anerkennend zu seiner Gattin: „Sie ist eine wahre Dame, Henrietta, und so gebildet. Ich war sehr beeindruckt von dem, was sie uns über Jamaika erzählt hat.“

„Du täuschst dich, Paul“, entgegnete seine Frau und schnaubte verächtlich. „Meiner Meinung nach ist sie eine liederliche Person. Ich fand ihr Dekolleté entschieden zu tief! Wenn sie sich vorbeugte, konnte man ihr bis zum Bauchnabel sehen!“

„Ach, übertreib nicht so schrecklich!“, erwiderte ihr Gatte belustigt. „So großzügig ausgeschnittene Kleider sind heutzutage doch in Mode! Im Übrigen muss Mrs. Duval sich ihrer Figur fürwahr nicht schämen.“

„Kein Wunder, dass du sie in Schutz nimmst!“, erboste sich Henrietta. „Du konntest ja den Blick nicht von ihr lassen! Nein, ich bleibe dabei, dass sie leichtlebig ist. Ihr Haar hat einen so merkwürdigen Rotschimmer. Ganz gewiss ist es gefärbt!“

„Ich verstehe nicht, warum du so viel an ihr auszusetzen hast, meine Liebe“,wunderte sich Mr. Trewarthen. „Was stört dich so an ihr?“

„Das zu sagen fällt mir schwer“, räumte Henrietta ein. „Ich mag sie einfach nicht! Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich im Stillen über uns lustig machte.“

„Was redest du für Unsinn!“, entrüstete sich Paul. „Sie hatte doch nicht den mindesten Anlass, sich über uns zu amüsieren. Dieses Gespräch führt zu nichts, denn es steht uns nicht zu, die Enkelin eines hoch geschätzten Klienten oder die Beweggründe für ihr Verhalten zu kritisieren. Ihr verstorbener Großvater hat mich gebeten, ihr bei der Erfüllung eines letzten Wunsches in jeder Hinsicht behilflich zu sein, und das gedenke ich zu tun. So, und nun sollten wir uns zur Ruhe begeben!“

Ehe man in die abfahrbereite Berline stieg, nahm Caroline den Diener beiseite und fragte: „Brauchen wir wirklich Postillione, Kutscher und einen Knecht?“

„Ja, Madam“, antwortete Joseph ernst. „Ich halte das für angebracht. Wir müssen durch das Moor von Bodmin, und die Straße dort ist nicht sehr befahren. Je mehr Leute wir zu unserem Schutz bei uns haben, desto besser.“

„Sind Sie nicht etwas übervorsichtig, Joseph?“, fragte Caroline erstaunt. „Oder befürchten Sie einen unangenehmen Zwischenfall? Haben Sie den Mann, der Ihnen gestern auffiel, erneut gesehen?“

„Nein“, gab Joseph zu. „Aber im Mietstall hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden.“

„Das haben Sie sich bestimmt nur eingebildet“, entgegnete Caroline lächelnd. „Wer sollte uns beschatten? Von den anderen Schiffspassagieren, die samt und sonders einen ordentlichen Eindruck auf mich gemacht haben, steht wohl keiner mit meinem Vetter in Verbindung. Und wie Sie sehr wohl wissen, war Edmund noch mit seinen Leuten auf dem Kai, als die Silver Star ablegte.“

„Der Anwalt wusste, dass Sie kommen“, wandte Joseph ein. „Folglich kann auch noch jemand über Ihr bevorstehendes Eintreffen informiert worden sein.“

„Ich glaube nicht, dass Mr. Trewarthen geplaudert hat“, erwiderte Caroline und schüttelte den Kopf. „Und was meinen Cousin angeht, so konnte er nicht vorausahnen, dass ich nach England segeln würde.“

„Und was ist mit der Mannschaft?“, gab Joseph zu bedenken.„Ein von Mr. Willoughby beauftragter Matrose hätte von Bord gehen und uns folgen können. Soll ich mich beim Obermaat oder Kapitän erkundigen, ob ein Mitglied der Besatzung Landgang beantragt hat?“

„Das ist unnötig“, lehnte Caroline das Ansinnen ab. „Es wäre reine Zeitverschwendung. Nein, widersprechen Sie mir nicht! Ich bezweifle, dass wir beschattet werden. Außerdem bin ich in Eile. Ich möchte so schnell wie möglich in London sein. Mit der schwer beladenen Chaise kommen wir ohnehin nicht so rasch voran, wie es mir lieb wäre.“

„Wie Sie wollen, Madam“, gab Joseph nach, half ihr in die Kutsche und schloss den Wagenschlag. Dann nahm er neben dem Kutscher Platz und achtete, als dieser das Gespann antrieb, besonders wachsam auf die Umgebung.

Mit einem erleichterten Seufzer lehnte Caroline sich zurück und ging davon aus, dass sie in einer knappen Woche in der Hauptstadt sein würde.

Die Reise verlief indes nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte, denn der Zustand der Straßen war schlecht. Als man schließlich das Moor von Bodmin durchquerte, war sie müde und sehnte sich nach einer kräftigenden Mahlzeit und einem bequemen Bett. Da sie so abgespannt war, beschloss sie, nicht bis zur nächsten Stadt zu fahren, und teilte das dem Kutscher mit, als man in einer Umspannstelle anhielt. „Das Gasthaus macht einen respektablen Eindruck“, fuhr sie fort. „Daher werden wir hier Zimmer nehmen.“

„Es ist so abgelegen“, wandte Joseph bedenklich ein. „Ich halte es für richtiger, die Nacht in Launceston zu verbringen.“

„Ich nehme an, dass mittlerweile jeder von uns erschöpft ist“, erwiderte Caroline ungeduldig. „Maggie hat Kopfschmerzen, und mir tun alle Glieder weh! Nein, wir rasten hier! Die Berline kann mitsamt Gepäck auf dem Hof bleiben. Ich bin sicher, niemand wird versuchen, etwas zu stehlen, da der Kutscher, die beiden Vorreiter und der Lakai mit Ihnen auf dem Dachboden der Remise schlafen. Maggie wird Ihnen mitteilen, welches Handgepäck ich benötige.“

„Sehr wohl, Madam.“

Sie betrat das Wirtshaus und wurde ehrerbietig vom Krüger begrüßt, der ihr erklärte, es seien keine weiteren Gäste anwesend. Sie bezog ihre Zimmer, machte sich frisch und nahm dann das vorzüglich zubereitete Abendessen im Schankraum ein. Sie beendete es mit einem Gläschen guten Cognacs und zog sich dann in ihr Schlafgemach zurück.

Margaret half ihr, sich für die Nacht herzurichten, und begab sich ebenfalls zur Ruhe.

Irgendwann wurde Caroline durch lautes, vom Hof heraufdringendes Geschrei geweckt. Erschrocken sprang sie aus dem Bett, eilte zur Tür und machte sie einen Spalt auf. Da der Lärm nicht nachließ, betrat sie den Korridor und sah ihre Zofe mit der sichtlich verstörten Gattin des Gastwirts, die eine Laterne in der Hand hielt, bei der Treppe stehen.

Kaum hatte die Frau sie erblickt, äußerte sie bestürzt: „Gut, dass Sie kommen, Mrs. Duval. So etwas ist hier noch nie vorgekommen!“

„Was ist geschehen?“, erkundigte Caroline sich betroffen.

„Die Räuber, die im Moor ihr Unwesen treiben … Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Caroline drängend.

„Man hat Ihre Kutsche aufgebrochen und durchwühlt“, erklärte die Wirtsfrau aufgeregt. „All Ihre hübschen Sachen liegen wild durcheinander im Hof …“

„Wie bitte?“, fiel Caroline Mrs. Bolton erschüttert ins Wort. „Maggie, holen Sie sofort Joseph her!“

„Er ist bereits im Vestibül“, antwortete Margaret.

Hastig wandte Caroline sich ab, eilte in ihre Kammer zurück und zog sich einen Morgenmantel an. Geschwind begab sie sich dann zu ihrer Zofe und Mrs. Bolton und hastete die Treppe hinunter. Im Parterre wurde sie schon von ihrem unübersehbar wütenden Diener und dem sehr betreten wirkenden Krüger erwartet.

„Es tut mir leid, Mrs. Duval“, murmelte Mr. Bolton verlegen und hielt ihr die Haustür auf.

Beim Anblick ihrer überall verstreuten Habseligkeiten blieb sie wie angewurzelt stehen. Fassungslos starrte sie die Verwüstung an. Kein Gepäckstück war auf der Kutsche geblieben. Alles war heruntergeholt und durchsucht worden. Sogleich haderte sie mit sich, weil sie nicht Josephs Rat, in Launceston zu übernachten, befolgt hatte.

„Ich kann mir denken, wer das getan hat, Madam“, sagte der Wirt verbissen. „Das müssen die mir feindselig gesonnenen Burnetts gewesen sein. Sie haben sich dafür gerächt, dass ich im vergangenen Jahr dazu beigetragen habe, einen der Söhne festzusetzen.“

Skeptisch schaute Joseph den Mann an.

„Ich wüsste nicht, wer sonst für dieses Verbrechen infrage käme“, fuhr Mr. Bolton fort. „Wie kann ich den Ihnen entstandenen Schaden gutmachen, Madam?“

„Wenn Sie so genau wissen, wer das getan hat, haben Sie die Übeltäter bestimmt verfolgen lassen, nicht wahr?“

Autor

Sylvia Andrew

Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...

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