Die Milliardär-Kollektion - Sechs leidenschaftliche Geschichten

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IM SCHLOSS DES SPANISCHEN GRAFEN

Seit seine schöne Frau Jemima ihn betrog und wortlos verließ, brennt der Wunsch nach Rache in Graf Alejandro Olivarez. Doch als er sie von einem Detektiv aufspüren lässt, macht er einen folgenschwere Entdeckung: Jemima hat einen Sohn - und er ist der Vater! Sofort holt er sie zurück auf sein Schloss in Spanien, natürlich nur aus Sorge um sein Kind! Aber kann er wirklich eine Vernunftehe mit einer Frau wie Jemima führen? Mehr denn je weckt ihr sinnlicher Körper seine Lust. Und bald fragt sein verräterisches Herz: Ist Jemima tatsächlich die Betrügerin, für die er sie hielt?

UND ICH EROBERE DICH DOCH!

Zu einem exklusiven Dinner wollte Angelo die Geschäftsfrau Flora ausführen - und sie hat nein gesagt! Der erfolgreiche Industrielle ist fassungslos: Eine Frau, die sich ihm widersetzt, ist er nicht gewohnt - sofort erwacht sein Jagdinstinkt. Und Angelo hat auch schon einen Plan: In den romantischen Grachten von Amsterdam will er seine ganzen Verführungskünste spielen lassen. Aber wieder überrascht ihn die schöne Engländerin, denn sie lässt sich zwar auf eine heiße Nacht mit ihm ein - doch dann zeigt sie ihm plötzlich erneut die kalte Schulter …

IM RAUSCH DER SINNE

Also, das geht Elaine nun wirklich zu weit! Den kostbaren Smaragdring zur Verlobung hat sie angenommen, ja. Allerdings nur, damit die Öffentlichkeit ihre geplante Scheinehe mit dem Milliardär Marco De Luca für echt hält. Auf keinen Fall aber wollte sie mit ihm zum Flittern nach Hawaii - und vor allem dort nicht das Bett mit ihm teilen! Eine Jungfrau wie sie passt ohnehin gar nicht in sein Beuteschema, oder? Entschlossen gibt Elaine sich unnahbar - und reizt Marco, ohne es zu ahnen, damit noch mehr. Doch was für Pläne verfolgt der italienische Playboy wirklich?

FALSCHE VERLOBUNG MIT DEM MILLIARDÄR

Die Schlagzeile schreit es von der ersten Seite: Der milliardenschwere Unternehmer Dante Romani hat sich verlobt - mit einer gewissen Paige Harper, die man nie zuvor an seiner Seite gesehen hat! Kein Wunder. Denn Paige hat sich die Verlobung mit dem Milliardär nur ausgedacht, weil das der einzige Weg war, ein verwaistes Baby zu adoptieren. Sie ist Dantes Angestellte, und bis jetzt hat sie ihn höchstens aus der Ferne bewundert. Doch zu ihrer maßlosen Verwunderung nimmt der Big Boss sie beim Wort. Und er spricht nicht nur von Verlobung - sondern besteht sogar auf Heirat …

NIE WIEDER ALLEIN IM PARADIES

Im Schatten der Palmen träumt Rhia vom großen Glück mit Lukas Petrakides. Und dann macht ihr der attraktive Grieche tatsächlich einen Heiratsantrag! Doch Rhia zögert noch, denn der kühle Milliardär möchte nur eine Zweckehe …

KOMM MIT AUF DIE INSEL UNSERER LIEBE

Was kann ich für dich tun? Betont sachlich stellt die schöne New Yorker Eventmanagerin Eleanor die Frage. Darauf gibt es viele Antworten, findet der griechische Tycoon Jace Zervas: Du kannst mich küssen, lieben und mir endlich verraten, warum vor zehn Jahren unsere Affäre so abrupt enden musste! Aber Eleanor ist längst nicht mehr "seine" süße Ellie von damals, sondern wirkt eiskalt, abgebrüht, ohne Gefühle. Warum nur? Diese Frage lässt Jace nicht los. Und deshalb antwortet er: "Komm mit mir nach Griechenland!" Kann er dort das Herz der Eiskönigin zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717667
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lynne Graham, Maisey Yates, Kate Hewitt

Die Milliardär-Kollektion - Sechs leidenschaftliche Geschichten

Lynne Graham

Im Schloss des spanischen Grafen

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2010 by Lynne Graham
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2016 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: SAS

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 04/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86494-028-6

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
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1. KAPITEL

Alejandro Navarro Vasquez, der Graf Olivares, saß im Sattel seines mächtigen schwarzen Hengstes und schaute vom Schatten des Orangenhains aus über das weitläufige Tal, das seit über fünfhundert Jahren im Besitz seiner Familie lag. Unter dem strahlend blauen Frühlingshimmel boten die Wälder und Tausende von Morgen fruchtbarer Erde ein atemberaubendes Panorama. So weit das Auge reichte, gehörte das Land ihm, dennoch wirkten die Züge seines faszinierend attraktiven Gesichts eher grimmig – so wie meist, seit vor zweieinhalb Jahren seine Ehe zerbrochen war.

Er war Großgrundbesitzer und reich, doch durch seine unüberlegte Heirat war seine Familie zerrissen worden. Dabei bedeutete die Familie einem Spanier mehr als Geld und Reichtum. Eine bittere Wahrheit, die an einem stolzen und erfolgreichen Mann wie ihm nagte – statt dem Verstand war er seinem Herzen gefolgt und hatte die falsche Frau geheiratet. Ein Fehler, für den er noch immer teuer bezahlte. Sein Halbbruder Marco hatte einen Job in New York angenommen und den Kontakt zu Mutter und Geschwistern abgebrochen. Doch sollte Marco, den Alejandro nach dem frühen Tod des Vaters mit aufgezogen hatte, jetzt in diesem Moment vor ihm stehen … wäre es Alejandro wirklich möglich, dem Jüngeren zu vergeben?

Er stieß einen leisen Fluch aus. Für alles, was mit Jemima zusammenhing, konnte er keine Vergebung in sich finden, nur Wut und Feindseligkeit. In ihm loderten Rachegelüste für seine Frau und seinen Bruder. Die beiden hatten sein Vertrauen missbraucht und seine Liebe mit Füßen getreten. Seit Jemima ihn verlassen hatte und wortlos verschwunden war, verlangte sein Herz nach Gerechtigkeit, auch wenn er instinktiv wusste, dass es in diesen Dingen niemals Gerechtigkeit geben würde.

Sein Handy begann zu vibrieren. Er unterdrückte einen lauten Fluch. Momente der Entspannung waren rar geworden, und die ließ er sich nur höchst ungern nehmen. Er zog die dunklen Brauen zusammen, als er das Handy hervorzog und die Nachricht las. Der Privatdetektiv, den er angeheuert hatte, um Jemima zu finden, war gerade im Schloss angekommen, um Bericht zu erstatten.

Alejandro lenkte den Hengst zurück zum Schloss. Auf dem wilden Ritt fragte er sich, ob es Alonso Ortega wohl endlich gelungen war, den Aufenthaltsort der davongelaufenen Ehefrau ausfindig zu machen.

„Ich muss mich entschuldigen, dass ich unangemeldet auftauche, Durchlaucht.“ Der ältere Mann deutete eine höfliche Verbeugung an. „Aber ich wusste, Sie würden die Neuigkeiten sofort erfahren wollen. Ich habe die Gräfin gefunden.“

„In England?“, fragte Alejandro und erhielt seinen lang gehegten Verdacht bestätigt, während er Ortegas Bericht zuhörte.

Unglücklicherweise betrat ausgerechnet jetzt Alejandros Mutter den Raum. Die verwitwete Doña Hortencia war eine beeindruckende Erscheinung. Sie richtete ihren Blick aus nachtschwarzen Augen auf den Privatdetektiv und verlangte kühl zu wissen, ob er endlich seinen Auftrag erfüllt habe. Als er die Frage bejahte, erschien ein schmales Lächeln auf ihren Lippen.

„Eines muss ich noch hinzufügen.“ Unter der unangenehm intensiven Musterung der Gräfin zögerte Ortega. „Die Gräfin hat ein Kind, einen kleinen Jungen von ungefähr zwei Jahren.“

Der Erklärung des Detektivs folgte drückendes Schweigen. Die Tür ging erneut auf, und Beatriz, Alejandros ältere Schwester, trat mit einer gemurmelten Entschuldigung ein. Sofort wurde sie von ihrer herrischen Mutter zum Schweigen gebracht, als diese sich klirrend kalt an sie wandte: „Die englische Hexe, die mit deinem unglückseligen Bruder verheiratet ist, hat einen Bastard zur Welt gebracht.“

Entsetzt, dass eine solche Bemerkung vor Alonso Ortega gemacht worden war, warf Beatriz einen Blick zu ihrem Bruder und beeilte sich dann, Erfrischungen anzubieten, um zu einem weniger heiklen Thema überzulenken. Seine bestürzte Schwester wäre beruhigter gewesen, wenn sie jetzt zu Small Talk – am unverfänglichsten wäre da wohl das Wetter – hätten übergehen können, Alejandro jedoch war versucht, Ortega beim Kragen zu packen und sämtliche Einzelheiten aus dem Mann herauszuschütteln. Vermutlich spürte der Detektiv die Ungeduld seines Auftraggebers, daher reichte er Alejandro eine dünne Aktenmappe und verabschiedete sich hastig.

„Ein Kind.“ Beatriz schnappte schockiert nach Luft, kaum dass die Tür hinter dem Mann ins Schloss gefallen war. „Wessen Kind?“

Mit steinerner Miene zuckte Alejandro nur mit den Schultern. Seines ganz bestimmt nicht. Es war definitiv die größte Schande, die ihm je widerfahren war. Wie hatte Jemima ihm das nur antun können? Por Dios, das Kind eines anderen Mannes!

„Hättest du nur auf mich gehört“, klagte Doña Hortencia. „Ich brauchte nur einen Blick auf sie zu werfen und wusste, dass sie nicht die Richtige für dich ist. Du warst der begehrteste Junggeselle ganz Spaniens, du hättest jede heiraten können …“

„Ich habe Jemima geheiratet.“ Alejandro hatte noch nie viel Geduld für die melodramatische Art seiner Mutter aufgebracht.

„Sie hat dich verhext, schamlos wie sie ist. Ein Mann wird ihr nie genügen. Nur ihretwegen lebt mein armer Marco jetzt am anderen Ende der Welt. Sie bringt ein Kind zur Welt und trägt noch immer unseren Namen! Das ist das Widerwärtigste, was ich je …“

„Es reicht!“, unterbrach Alejandro donnernd den keifenden Redefluss. „Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist vorbei.“

Doña Hortencia sah ihren Sohn zornig an. „Es ist eben nicht vorbei, oder? Du hast die Scheidung noch immer nicht eingereicht.“

„Ich werde so bald wie möglich nach England reisen und Jemima aufsuchen“, presste er hervor.

„Schicke unseren Familienanwalt! Es besteht keinerlei Notwendigkeit, dass du persönlich hinfliegst.“

„Einen Grund gibt es, der es sogar unerlässlich macht“, widersprach er gefasst. „Jemima ist meine Frau.“

Als Doña Hortencia in eine weitere Tirade ausbrach, verlor er endgültig die Geduld. „Es ist reine Höflichkeit, dass ich dich über meine Schritte informiere. Ich brauche weder deine Erlaubnis noch deine Billigung.“

Alejandro zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und goss sich als Erstes einen doppelten Brandy ein. Jemima hatte also ein Kind. Diese Eröffnung war ein Schock. Kurz bevor sie ihn verließ, hatte sie eine Fehlgeburt erlitten – mit seinem Baby. Daher wusste er, dass dieses Kind nicht von ihm sein konnte. War der Junge von Marco? Oder von einem anderen Mann? Fragen, die scharf wie Speere durch ihn hindurchfuhren, während er die dünne Aktenmappe durchsah.

Es gab nur wenige Fakten. Jemima lebte jetzt in einer Kleinstadt in Dorset und führte einen Blumenladen. Erinnerungen drohten Alejandro zu überrollen, als er sich für einen Moment erlaubte, an seine Frau zu denken. Doch er drängte die Bilder zurück, mit dem nüchternen Verstand und der eisernen Selbstdisziplin, die so charakteristisch für ihn waren. Doch wo waren diese Charaktereigenschaften gewesen, als er sich mit Jemima Grey eingelassen hatte?

Es gab keine Entschuldigung, er hatte von Anfang an um die riesigen Unterschiede zwischen ihnen gewusst. Was ihn damals natürlich fasziniert hatte, war Jemimas enormer Sex-Appeal. Wie viele andere Männer auch, war er anfälliger für die Versuchung gewesen, als er sich hätte träumen lassen. Vielleicht hatte das Leben ihn auch verwöhnt und ihm die Eroberungen zu leicht gemacht. Seine Unfähigkeit, das Verlangen nach Jemimas schlankem Körper zu beherrschen, war ihm zum Verhängnis geworden. Glücklicherweise hatten die Erfahrungen während seiner kurzen Ehe und die Zeit des Getrenntlebens Jemimas Begierdefaktor auf null sinken lassen.

Allerdings war durch seine unpassende Ehe seine Familie entzweit worden. Dennoch … Jemima hatte keine eigene Familie, die sie unterstützen könnte, und offiziell war sie noch immer seine Ehefrau. Somit oblag ihm die Verantwortung, ganz gleich, welche Gefühle er für sie hegen mochte. Und nicht nur für sie, sondern auch für das Kind, das, bis die Scheidung rechtskräftig wurde, gesetzlich als sein Kind angesehen wurde. Sosehr ihn das auch erboste, es blieb Fakt. Er musste persönlich nach England.

Seit dem fünfzehnten Jahrhundert gab es keinen Graf Olivares, der ein Feigling gewesen wäre oder sich vor seinen Pflichten gedrückt hätte. Und von sich erwartete Alejandro nicht weniger. Jemima konnte von Glück sagen, dass sie in modernen Zeiten lebten. Seine Vorfahren hätten eine untreue Ehefrau ins Kloster gesteckt oder sie schlicht umgebracht, weil sie die Familienehre besudelt hatte.

Jemima wickelte gerade ein Bouquet in dekoratives Zellophan ein, als Alfie um die Ecke des Ladentresens lugte.

„Hallo“, grüßte Alfie die wartende Kundin fröhlich. Schüchternheit gehörte definitiv nicht zu seinen Charaktereigenschaften.

„Hallo. Du bist aber ein hübscher kleiner Kerl.“ Die Frau lächelte den Jungen an, der mit großen braunen Augen und seinem unwiderstehlichen Grinsen zu ihr aufblickte.

Ein Kompliment, das Alfie oft zu hören bekam. Während Jemima das Geld in die Kasse zählte, fragte sie sich still lächelnd, ab welchem Alter ihrem Sohn diese Beschreibung peinlich werden würde. Wie der Vater, so der Sohn, dachte sie. Äußerlich glich Alfie seinem spanischen Vater wie ein Spiegelbild – dunkle Augen, oliv getönte Haut und glänzendes schwarzes Haar. Von seiner Mutter hatte er nur die widerspenstigen Locken geerbt, allerdings vom Wesen her auch das optimistische Gemüt und die herzliche Wärme. Nur selten brach bei ihm der eher düstere und auf jeden Fall leidenschaftlichere Charakter des Vaters durch.

Mit einem leichten Schauer verdrängte Jemima den Gedanken. Alfie spielte wieder mit seinen Autos hinter dem Tresen, und sie konzentrierte sich darauf, ein weiteres Bouquet für den nächsten Kunden zu binden.

Der Zufall hatte Jemima nach Charlbury St Helens geführt, als ihr Leben in einer tiefen Krise steckte, und bis zum heutigen Tag hatte sie es nicht bereut, dass sie hiergeblieben war und sich ein neues Leben aufgebaut hatte.

Die einzige Stelle, die sie während der Schwangerschaft hatte finden können, war als Hilfe hier in diesem Blumenladen gewesen. Sie stellte fest, dass ihr die Arbeit nicht nur Spaß machte, sondern dass sie auch ein Händchen dafür hatte. Und so hatte sie sich weitergebildet und offizielle Qualifikationen erworben. Als ihre Arbeitgeberin sich dann aus gesundheitlichen Gründen zur Ruhe setzte, hatte Jemima den Schritt gewagt und den Blumenladen übernommen. Inzwischen hatte sie ihren Wirkungskreis erweitert, richtete Hochzeiten und andere private Feiern aus.

Manchmal musste sie sich kneifen, weil sie noch immer nicht so recht glauben konnte, dass sie ihr eigenes Geschäft führte. Nicht schlecht für die Tochter eines kriminellen Vaters und einer alkoholkranken Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Als Teenager hatte Jemima keinerlei Ehrgeiz gehabt. Niemand aus ihrer Familie war schließlich jemals weitergekommen.

„So was ist nichts für uns“, hatte ihre Mutter damals gesagt, als die Lehrerin vorschlug, Jemima solle Abitur machen, schließlich hätte sie das Zeug dazu. „Jem muss arbeiten und Geld nach Hause bringen.“ Und mit der Etikettierung ihres Vaters – „Du bist genau wie deine Mutter, strohdumm und zu nichts zu gebrauchen!“ – hatte Jemima lange Jahre zu kämpfen gehabt.

Nach dem Lunch brachte sie Alfie zu seiner Spielgruppe. Sie zuckte leicht zusammen, als ihr Sohn seine Freunde voller Begeisterung lautstark begrüßte, kaum dass er im Eingang stand. Zwar hatte sie im Laden eine Spielecke für ihn eingerichtet, aber nach einem Vormittag in dem kleinen Hinterzimmer war er immer voller Energie und Bewegungsdrang. Als Alfie noch kleiner gewesen war, hatte Jemimas Freundin Flora sich während der Geschäftszeiten um den Jungen gekümmert, doch jetzt war er alt genug, um den Nachmittag mit seinen Freunden zu verbringen. Außerdem hatte Flora inzwischen auch genug mit ihrer kleinen Bed & Breakfast-Pension zu tun und konnte nicht mehr so viel Zeit erübrigen.

Daher war es auch eine angenehme Überraschung, als Flora eine gute Stunde später in den Laden kam und Jemima fragte, ob sie Zeit für eine Tasse Kaffee habe.

In der kleinen Küche brühte Jemima also Kaffee auf. Es war nicht zu übersehen, dass die rothaarige Freundin sich Sorgen machte. „Was ist denn los?“

„Wahrscheinlich ist es gar nichts. Ich wollte es dir schon am Wochenende erzählen, aber am Samstag hat sich eine ganze Familie eingemietet. Ich konnte kaum Atem schöpfen.“ Flora stöhnte, dann setzte sie an: „Letzten Donnerstag hat ein Typ in einem Mietwagen vor deinem Laden gestanden und Fotos geschossen. Er hat jedem Fragen nach dir gestellt, sogar auf dem Postamt.“

Jemima verharrte, ihre dunkelblauen Augen weiteten sich. Ihr herzförmiges Gesicht, eingerahmt von rotgoldenen Locken, wurde bleich, und alles an ihr verspannte sich. Schlank und zierlich, wie sie war, hatte die hochgewachsene Flora sie mit einem Rauschgoldengel verglichen, als sie sich zum ersten Mal trafen. Allerdings hatte Flora ihre Meinung schnell geändert, sobald die beiden Frauen sich besser kannten. Auf jemanden, der so humorvoll und gleichzeitig realistisch war wie Jemima, passte eine solche Beschreibung nicht.

Aber es war nicht zu bestreiten, dass sie geradezu ätherisch schön war. Die Ansässigen scherzten immer, dass der Kirchenchor vor dem Aus gestanden hatte, bis Jemima Mitglied wurde und sich plötzlich eine Unmenge von jungen Männern ebenfalls einschrieb. Nicht, dass die Herren auch nur einen Schritt weitergekommen wären, dachte Flora trocken. Aufgrund der Erfahrung mit ihrer schiefgegangenen Ehe zog Jemima platonische Freundschaften vor und konzentrierte ihre Energien allein auf ihren Sohn und ihr Geschäft.

„Welche Art von Fragen?“ Jemimas Magen zog sich ungut zusammen.

„Nun, ob du ständig hier lebst und wie alt Alfie ist. Der Typ war wohl jung und attraktiv. Maurice von der Post meinte, dass er vielleicht auf Brautschau gewesen sei …“

„Ein Spanier?“

Flora schüttelte den Kopf. Sie nahm der Freundin die Kaffeekanne aus der Hand, um endlich ihren Kaffee zu bekommen. „Nein, Maurice meinte, ein Londoner.“

„Letzte Woche war kein einziger junger attraktiver Mann im Laden“, grübelte Jemima.

„Vielleicht hat er ja das Interesse verloren, sobald er erfuhr, dass du ein Kind hast.“ Flora zuckte die Schultern. „Hätte ich gewusst, dass du dich so aufregst, hätte ich es dir gar nicht gesagt. Warum rufst du nicht einfach deinen Mann an – wie heißt er noch? – und sagst ihm, dass es Zeit für einen sauberen Schlussstrich ist und du die Scheidung willst?“

„Er heißt Alejandro“, erwiderte Jemima gepresst. „Und er lässt sich von niemandem sagen, was er zu tun hat. Er ist derjenige, der die Anweisungen gibt. Wenn er von Alfie erfährt, wird alles nur noch komplizierter.“

„Dann geh zu einem Rechtsanwalt und beschreibe ihm, was für ein lausiger Ehemann dein Alejandro war.“

„Er hat weder getrunken, noch ist er gewalttätig geworden.“

Flora zog eine Grimasse. „Warum die Messlatte so hoch anlegen? Es gibt andere Gründe für eine Scheidung. Zum Beispiel seelische Grausamkeit und Vernachlässigung. Er hat dich der Gnade seiner grässlichen Familie ausgeliefert.“

„Seine Mutter war grässlich, sein Bruder und seine Schwester nicht.“ Wie immer versuchte Jemima, fair zu bleiben. „Wirklich grausam war er auch nicht zu mir.“

Floras Temperament war ebenso feurig wie ihr Haar. „Alejandro hat jeden Schritt von dir kritisiert, hat dich ständig allein gelassen und dir ein Kind gemacht, bevor du bereit dazu warst.“

Jemima lief bis in die Haarspitzen rot an. Wie hatte sie nur so offen zu Flora sein und ihr all das erzählen können? Sie wusste, warum. In den ersten Wochen ihrer Freundschaft hatte sie so unter Druck gestanden, dass sie sich einfach Luft verschaffen und mit jemandem reden musste. Glücklicherweise hatte sie die schlimmsten Geheimnisse aber für sich behalten. „Ich war schlicht nicht gut genug für ihn …“

So sah sie es zumindest. Für ihre Eltern war sie auch nie gut genug gewesen. Ihre Mutter hatte sie bei Schönheitswettbewerben für Kinder angemeldet, doch Jemima war zu schüchtern gewesen, um vor der Kamera zu posieren. Bei den Interviews hatte sie auch keinesfalls geglänzt, sondern vielmehr kein Wort herausbekommen. Als gelangweilter Teenager hatte sie ebenso schlecht bei dem Sekretärinnenkurs abgeschnitten, für den ihre Mutter sie ebenfalls angemeldet hatte – in der Hoffnung, ein millionenschwerer Tycoon würde die Tochter in irgendeinem Vorstandsbüro sehen und sich Hals über Kopf in sie verlieben. Die mit Alkohol getränkte Fantasiewelt war der Mutter wohl die einzige Fluchtmöglichkeit aus einer jämmerlichen Ehe gewesen.

Jemimas Vater, dessen Ehrgeiz es immer gewesen war, so viel Geld wie möglich zu machen, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, hatte sich eine Model-Karriere für seine Tochter vorgestellt, doch für die Modewelt war Jemima leider nicht groß genug, und für andere Optionen in diese Richtung fehlten ihr die üppigen Kurven. Nach dem Tod der Mutter hatte er aus ihr eine Tänzerin in einem Nachtklub einer seiner Freunde machen wollen und sie aus dem Haus geworfen, als sie sich weigerte, sich in dem dürftigen Outfit vor aller Augen zu zeigen. Jahre waren vergangen, bevor sie ihren Vater wiedergesehen hatte, und dann war es unter Umständen geschehen, an die sie lieber nicht zurückdachte.

Ja, schon in frühen Jahren hatte Jemima gelernt, dass die Leute immer mehr von ihr erwarteten, als sie zustande brachte. Ihre Ehe hatte da keine Ausnahme gebildet. Doch jetzt hatte sie mit dem eigenen Geschäft auch die eigenen Erwartungen übertroffen.

Als sie Alejandro begegnet war, hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre jeder ihrer Träume wahr geworden. Rückblickend jedoch erschien es ihr nur noch lachhaft. Sie hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, und Liebe machte bekanntlich blind. Sie hatte tatsächlich an das Unmögliche geglaubt, bevor das Unmögliche sie wieder auf den Boden der Realität zurückgezerrt hatte.

Die Unterschiede hatten sich nicht nur einfach als groß erwiesen, sondern als unüberwindbar. Ihr familiärer Hintergrund hatte sie verfolgt, aber den größten Fehler hatte sie selbst begangen – sie hatte sich zu sehr mit ihrem Schwager angefreundet. Nur … hätte Alejandro sie nicht so oft allein gelassen, sondern ihr geholfen, mit dem neuen Leben in Spanien fertigzuwerden, wäre sie auch nicht so froh über Marcos Gesellschaft gewesen.

„Du warst zu gut für deinen Ehemann“, widersprach Flora überzeugt. „Aber du solltest Alejandro endlich von Alfie erzählen, anstatt dich hier zu verstecken, als hättest du dir etwas vorzuwerfen.“

Jemima fühlte das Blut in ihre Wangen schießen und wandte das Gesicht ab. Wenn du die ganze Wahrheit wüsstest … Dann würde sich wahrscheinlich auch die Freundin von ihr abwenden. „Wenn Alejandro von Alfie erfährt, wird er sofort das Sorgerecht einklagen und den Jungen nach Spanien holen. Alejandro nimmt seine Pflicht gegenüber der Familie sehr ernst.“

„Nun, wenn das so ist, ist es vielleicht wirklich besser, wenn du dich bedeckt hältst.“ Ganz überzeugt wirkte Flora jedoch nicht. „Aber du kannst ihm den Sohn nicht auf ewig verschweigen.“

„Im Moment ist es das Beste.“ Jemima stellte ihre Tasse ab, als die Glocke über der Ladentür klingelte, und ging, um die neue Kundschaft zu bedienen.

Bald danach lieferte sie die Blumenarrangements für eine Dinnerparty in einer der großen Villen am Stadtrand aus. Auf dem Rückweg holte sie Alfie ab und fuhr mit ihm nach Hause. Sie war stolz auf das kleine Cottage mit dem Garten, in dem eine Schaukel stand und ein Sandkasten angelegt war. Die Zimmerwände hatte sie selbst eher laienhaft gestrichen und die Einrichtung bestand aus billigen Fertigmöbeln, aber es fühlte sich wie das erste wirkliche Zuhause seit ihrer Kindheit an.

Manchmal schien es ihr noch immer wie ein Märchen, dass sie tatsächlich einmal in einem Schloss gewohnt hatte. Castillo del Halcón, das Falkenschloss – erbaut von den kriegerischen Vorfahren Alejandros, geschichtsträchtige Mauern in einer Mischung aus europäischen und islamischen Baustilen, angefüllt mit Luxus und unbezahlbaren Kunstgegenständen. Möbel umzustellen oder düstere Gemälde abzuhängen, war ein absolutes Tabu gewesen. Doña Hortencia ließ keinerlei Einmischung zu, sah sie das Schloss doch als ihr alleiniges Zuhause an. Jemima war sich wie der Gast vorgekommen, der nie willkommen war.

Gab es überhaupt irgendetwas Gutes an ihrer miserablen Ehe? Bei der Frage schoss ihr sofort das Bild ihres formidablen Ehemannes in den Kopf. Sie hatte immer geglaubt, einen Preis gewonnen zu haben, den sie nicht wirklich verdiente. Überhaupt schien sie die besten Dinge im Leben allein glücklichen Zufällen zu verdanken. Da war die ungeplante Schwangerschaft mit Alfie, die Tatsache, dass ihr Wagen ausgerechnet in Charlbury St Helens liegen geblieben war, und ironischerweise war ihr erstes Zusammentreffen mit Alejandro auch nicht anders verlaufen …

Er hatte sie auf ihrem Fahrrad umgefahren. Oder besser, der übertrieben zügige Fahrstil seines Chauffeurs hatte dafür gesorgt, dass sie mit einem schmerzhaften Sturz auf dem Boden landete. Damals hatte sie als Rezeptionistin in einem Hotel gearbeitet, aber gerade ihren freien Tag gehabt. In der ländlichen Gegend fuhren Busse nur selten, und so war das Fahrrad ein unerlässliches Verkehrsmittel.

Der große Mercedes hatte abrupt abgebremst, sowohl der Chauffeur als auch Alejandro waren herausgesprungen, um nach dem Unfallopfer zu sehen.

Jemimas Knie waren aufgeschürft, an ihrer Hüfte prangte sofort ein großer blauer Fleck, und ihr Fahrrad sah ziemlich verbeult aus. Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, saß sie in dem Luxuswagen, ihr Fahrrad wurde im nächsten Fahrradgeschäft zur Reparatur abgegeben, und sie wurde von dem bestaussehenden Mann, der ihr je begegnet war, in die Krankenhausambulanz eskortiert. Zwar hatte sie immer wieder beteuert, dass alles nicht so schlimm sei, doch schon wurde sie geröntgt, ihre Wunden gesäubert und verbunden, und sie ließ alles mit sich geschehen, weil Alejandros wunderbares Lächeln sie völlig verzaubert hatte.

Liebe auf den ersten Blick, hatte sie gedacht, als sie in jener Nacht schlaflos im Bett lag. Sie hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Im Gegenteil, sie hatte sich geschworen, keinem Mann je die Macht zu überlassen, die ihr Vater über ihre Mutter ausgeübt hatte. Doch trotz der harten Lektion, die sie in Kindheit und Jugend auf den Knien der Mutter gelernt hatte, reichte ein Blick auf Alejandro Navarro Vasquez, und sie war ihm zu Füßen gesunken wie die sprichwörtliche gefällte Eiche.

Leider hatte sie aber aus den Lektionen, die Alejandro ihr erteilte, offenbar nichts gelernt. Bevor er sie mit seinem Heiratsantrag schockierte, hatte er sie monatelang durch die Hölle geschickt. Er rief nicht wie abgesprochen an, sagte Verabredungen in letzter Minute ab und traf sich mit anderen Frauen, mit denen er sich auch noch fotografieren ließ.

Vor der Hochzeit hatte er ihr Herz und ihren Stolz mit Füßen getreten. Sie hatte es sogar nachvollziehen können. Schließlich war er ein spanischer Graf, während sie für einen Hungerlohn in einem kleinen Hotel arbeitete – in einem Hotel, das seinen Standards nach in die Kategorie „Absteige“ fiel. Von Anfang an hatte er gewusst, dass sie nie sein Level erreichen konnte, und dieses Wissen hatte ihn immer irritiert.

Ein halbes Jahr nach dem Kennenlernen hatte er seine Einstellung jedoch geändert … „Sol y sombra – Sonne und Schatten, querida mía“, hatte er gemurmelt, als er ihre helle mit seiner gebräunten Haut verglich. „Das eine existiert nicht ohne das andere. Wir gehören zusammen.“

Doch zusammen waren wir wie Öl und Wasser – wir konnten uns nicht verbinden, dachte Jemima jetzt mit dem dumpfen Schmerz, mit dem sie hatte leben lernen müssen. Inzwischen war es zwei Uhr nachts geworden. Sie lag im Bett und fand keinen Schlaf. Und morgen würde die neue Blumenlieferung ankommen, was hieß, dass sie früh auf den Beinen sein musste …

Im Laden gab es kaum noch Raum zum Laufen, nachdem Jemima die frischen Schnittblumen in die bereitstehenden großen Kübelvasen gestellt hatte. Die Temperaturen des frischen Frühlingsmorgens und der Kontakt mit den vielen nassen Blumenstängeln hatten ihre Finger taub gemacht. Jemima rieb mit dem Handflächen über ihre Jeans und unterdrückte den Schauer. Ganz gleich, ob Winter oder Sommer, im Laden war es immer kühl. Es war ein altes Gebäude mit unzureichender Isolierung, aber Wärme würde die Blumen auch schneller welken lassen.

Sie ging ins Hinterzimmer und holte sich die alte Strickjacke. Alfie fuhr draußen im Garten mit seinem kleinen Dreirad herum und ahmte lautstark ein Rennauto nach, ungerührt von der Uhrzeit. Ein Lächeln zog auf ihr Gesicht, während sie ihrem Jungen eine Weile zuschaute.

„Jemima …“

Sie hatte gehofft, diese Stimme nie wieder hören zu müssen. Tief, voll, melodisch und so männlich sexy, dass ihr unwillkürlich ein Prickeln über den Rücken lief. Sie kniff die Augen zusammen und weigerte sich, sich umzudrehen. Sagte sich, dass ihr die Fantasie nur einen gefährlichen Streich spielte, der sie in die Vergangenheit zurückzerren wollte und ihr Bilder vorgaukelte – von Alejandro. Wie sie morgens zusammen aufwachten, er mit vom Schlaf wirrem Haar und Bartstoppeln auf den Wangen. Von Alejandro, der allein mit einem Blick unter halb gesenkten schwarzen Wimpern hervor das Feuer in ihr anfachen konnte.

Doch bevor das laszive Bild ihren Verstand zu vernebeln und ihr den Atem zu rauben drohte, tauchte die nächste Erinnerung auf: die ungeplante Schwangerschaft, die leere Bettseite neben sich und die Einsamkeit, als Alejandros Interesse an ihrem rapide runder werdenden Körper völlig schwand. Ein Schauder überlief Jemima, sie drehte sich um.

Und dort stand er. Alejandro Navarro Vasquez, ihr Ehemann. Der Mann, der sie gelehrt hatte, ihn zu lieben und zu brauchen und sich dann wegen ihrer Unzulänglichkeiten von ihr zurückgezogen hatte. Er sah überwältigend gut aus, elegant in dem maßgeschneiderten dunklen Anzug und den glänzenden handgefertigten Schuhen. Aber er hatte ja immer makellos ausgesehen … außer im Bett, wenn sie mit den Fingern durch sein Haar gewühlt und es voller Leidenschaft zerzaust hatte. Am liebsten hätte sie losgeschrien – geschrien wegen der Erinnerungen, die sie nicht in Ruhe ließen und sie aus dem Gleichgewicht bringen wollten.

Doch mehr als ein ersticktes: „Was willst du hier?“ brachte Jemima nicht hervor.

2. KAPITEL

„Wir haben noch einiges zu klären“, antwortete Alejandro nüchtern.

Unter seinem musternden Blick wurde Jemima heiß, so als hielte er einen Scheinwerfer auf sie gerichtet. Ihr war klar, dass sie alles andere als perfekt aussah, ohne Make-up, in ausgewaschenen Jeans und alter Strickjacke. Sie ärgerte sich über sich selbst, wollte sie doch gar nicht gut für ihn aussehen, vor allem nicht, wenn sie keinerlei Kontrolle über ihre Reaktion auf ihn hatte. Aber noch mehr ärgerte sie sich über seinen kühlen Blick und den geschäftsmäßigen Ton. Es war die ultimative Zurückweisung. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, reckte die Schultern und hob den Kopf an, sodass ihr die rotgoldenen Locken über die Schultern fielen.

Ein leises Zucken meldete sich in Alejandros Wange. Unmerklich kniff er die Augen zusammen, und Jemima wusste, er hatte die Herausforderung so laut und deutlich verstanden, als hätte sie ein Megafon benutzt. Spannung knisterte plötzlich in der Luft. Bedauerlicherweise erlitt Jemimas Mut ausgerechnet jetzt einen erheblichen Dämpfer, denn sie merkte, dass die Spitzen ihrer Brüste sich aufrichteten und sie tief in sich ein aufloderndes Feuer spürte.

„Noch immer die Verführerin“, meinte Alejandro lang gezogen. „Wirke ich etwa so verzweifelt?“

Sein beißender Spott hätte sie verletzen können, wenn sie nicht genau erkannt hätte, was in seinen schönen Augen stand. Sie senkte ihren Blick, und sofort fiel ihr die leichte, aber unverkennbare Wölbung auf, die den Sitz der maßgeschneiderten Hose ruinierte. Das Blut schoss ihr heiß in die Wangen. Einerseits meldete sich Triumphgefühl in ihr, andererseits aber auch Entsetzen.

„Was willst du?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Die Scheidung. Ich brauchte eine Adresse, um dir die Unterlagen zukommen zu lassen. Oder ist dir der Gedanke nie gekommen? Dein wortloses Verschwinden war egoistisch und unreif.“

Am liebsten hätte Jemima ihm jetzt einen der Blumenkübel über den Kopf geschüttet. „Du hast mich dazu gezwungen“, konterte sie hitzig.

„Wie?“ Mit energischen Schritten kam er vor den Tresen und stützte die Hände darauf, bereit zu einem Streit.

„Du hast mir nicht zugehört. Kein Wort von dem, was ich damals sagte, hat dich interessiert. Wir hatten eine Pattsituation erreicht, und es gab nichts mehr, was ich tun konnte.“

„Ich hatte dir versichert, dass wir gemeinsam eine Lösung finden“, hielt er verächtlich dagegen.

„Während unserer Ehe haben wir nie gemeinsam etwas gelöst. Wie auch, wenn du nicht mit mir geredet hast? Als ich dich wissen ließ, wie unglücklich ich bin … hast du irgendetwas geändert?“ Schmerz und Verachtung standen in ihren dunkelblauen Augen, als sie sich an die verschwenderischen Geschenke erinnerte, mit denen er sie überhäuft hatte, anstatt ihr seine Zeit und Aufmerksamkeit zu geben.

Ärger schoss in ihm auf und ließ seine Augen golden glühen. Genau in diesem Moment ertönte die Ladenglocke. Sandy, Jemimas Hilfe, erschien in der Tür. Abrupt legte sich drückendes Schweigen über den Raum.

„Bin ich etwa zu spät?“, fragte die dunkelhaarige Frau mit einem bestürzten Blick zu Jemima. „Hattest du mich früher erwartet?“

„Nein, nein“, versicherte Jemima der anderen hastig. „Aber ich muss zurück nach Hause. Du wirst also für eine Weile allein die Stellung halten müssen.“ Ohne Alejandro anzusehen, ging sie nach draußen und kehrte mit Alfie auf dem Arm wieder zurück. „Ich wohne hundert Meter von hier“, teilte sie Alejandro kühl mit. „Hausnummer zweiundvierzig.“

Jemima war nur einen Schritt von der Ladentür entfernt, als diese von außen aufgestoßen wurde. Ein junger Mann mit windzerzaustem Haar trat ein und hielt ein Papiertablett vor sich hoch. „Frisch aus dem Backofen!“, rief er fröhlich. „Kirschtörtchen – für unsere zweite Pause.“

„Oh Charlie, ich hatte völlig vergessen, dass du heute kommen solltest.“ Jemima hatte den Termin mit dem jungen Elektriker schon letzte Woche bei der Chorprobe vereinbart. „Ich muss noch mal weg. Aber komm, ich zeige dir die Steckdose, die nicht funktioniert.“ Sie drückte Alfie fester an ihre Hüfte und bückte sich hinter dem Tresen, um Charlie die Doppelsteckdosen zu zeigen.

„Wenn es jetzt nicht passt, kann ich auch morgen wiederkommen“, bot der junge Mann unbeschwert an. „Damit du dabei bist.“

„Nein, ist schon in Ordnung, Charlie.“ Sie ging wieder zur Tür, wo Alejandro auf sie wartete und den eindeutig enttäuschten Elektriker mit düsterem Blick musterte. „Sandy ist ja hier.“

Und dann stand sie auch schon draußen an der frischen Luft und war sich Alejandros Gegenwart extrem bewusst. Gleichzeitig war sie auch verstört, denn selbst wenn er Alfie auch nur zehn Sekunden lang angeblickt hatte, so zeigte er keinerlei Reaktion. „Wir sehen uns dann beim Haus“, sagte sie tonlos, setzte Alfie ab und fasste seine Hand.

„Ich nehme euch mit dem Wagen mit“, bot Alejandro an.

„Nein danke.“ Ohne ein weiteres Wort setzte Jemima sich mit Alfie in Bewegung. Sie waren keine zwanzig Meter weit gekommen, als eine schwarze Limousine neben ihnen anhielt.

Ein großer Mann im Anzug stieg aus. „Ihr geht nach Hause? Steigt ein, ich fahre euch.“

„Danke, Jeremy, aber es ist ja nicht weit. Wir laufen das Stückchen“, erwiderte sie freundlich, auch wenn ihre Gedanken sich allein um Alejandros Ankündigung drehten, dass er die Scheidung wollte.

Hatte er eine andere kennengelernt? Eine Frau mit Geld und Stammbaum, die besser zu ihm passte? Jemima fragte sich, mit wie vielen Frauen er wohl zusammen gewesen war, seit sie ihn verlassen hatte, und tausend kleine Nadeln stachen in ihr Herz. Was Alejandro anging, war sie eine wirklich schlechte Verliererin. Sie wollte ihn nicht zurück, definitiv nicht, aber eine andere sollte ihn auch nicht haben. Doch es war unrealistisch, sich einzubilden, dass er seither keine andere gehabt hatte. Alejandro war kein Mann der Enthaltsamkeit … bis offensichtlich geworden war, dass ihre praller werdenden Brüste und ihre immer ausladendere Taille für ihn so reizvoll waren wie ein Bad in der Jauchegrube. Wieso also sollte es sie kümmern, was er seither mit wem getan hatte?

Jeremy zog die Beifahrertür auf. „Steigt schon ein. Bis ihr zu Hause ankommt, seid ihr ja völlig durchweicht.“

Erst jetzt fiel Jemima auf, dass es regnete. Hastig hob sie Alfie auf den Arm und kletterte in das Auto. Als sie dann vor ihrem Cottage ankamen, stand bereits ein schnittiger Sportwagen davor geparkt.

Jeremy stieß einen bewundernden Pfiff aus. „Wem gehört denn diese Schönheit?“

„Einem alten Freund von mir“, behauptete Jemima und stieg aus.

Sie wollte sich schon abwenden, als Jeremy ebenfalls ausstieg, um die Kühlerhaube herumkam und die Hand auf ihren Arm legte. „Geh heute Abend mit mir zum Dinner.“ Hoffnungsvoll blickte er sie an. „Ganz unverbindlich, ohne Hintergedanken. Nur zwei Freunde, die zusammen essen.“

Jemima lief rot an und trat einen Schritt zurück. Ihr war bewusst, dass Alejandro nur wenige Meter weit entfernt die kleine Szene beobachtete. „Tut mir leid, aber es geht nicht“, antwortete sie verlegen.

„Ich werde dich immer wieder fragen“, warnte Jeremy vor.

Innerlich krümmte sie sich. Jeremy, Anfang dreißig und geschieden, arbeitete als Immobilienmakler und verstand offensichtlich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht, wenn eine Frau nicht interessiert war. Seit dem Tag, an dem Jemima den Mietvertrag für das Cottage unterschrieben hatte, hatte er sie mindestens ein Dutzend Mal zum Dinner eingeladen, und jedes Mal erfolglos.

Zusammen mit Alfie eilte sie zu ihrer Haustür, wo Alejandro bereits auf sie wartete.„Warum sagst du ihm nicht einfach, dass du verheiratet bist?“, fragte er sie, als sie den Schlüssel im Schloss drehte.

„Das weiß er bereits. Jeder hier weiß es.“ Der Ehering brannte plötzlich an ihrem Finger. „Er weiß aber auch, dass ich von meinem Mann getrennt lebe.“

„Die Trennung ist nicht offiziell“, konterte er prompt und ging von der kleinen Diele ins Wohnzimmer weiter. „Es überrascht mich, dass du den Ring noch trägst“, meinte er.

Darauf reagierte sie nur mit einem stummen Schulterzucken, während sie Alfie die Jacke auszog und sie an die Garderobe hängte.

„Saft.“ Alfie zupfte an ihrem Ärmel.

„Es heißt ‚Bitte‘“, erinnerte Jemima ihren Sohn, und gehorsam fügte er das „Bitte“ an. „Kaffee für dich?“, fragte sie Alejandro eher unfreundlich. Er stand beim Fenster mit seiner großen Gestalt und den breiten Schultern, sodass noch mehr von dem wenigen Tageslicht ausgesperrt wurde.

„Sì.“

„Du musst auch ‚Bitte‘ sagen“, kam es hilfreich von Alfie.

„Por favor“, sagte Alejandro in der eigenen Sprache, ohne dem Kind auch nur einen Blick zuzuwerfen.

Jemima war verdattert über Alejandros völliges Desinteresse an dem Jungen. Sie hätte wesentlich mehr Neugier erwartet. „Willst du mir keine Fragen stellen?“ Ihr Blick ruhte auf Alfie, der bereits seine Spielzeugautos aus der Kiste holte und sie in einer ordentlichen Reihe aufstellte.

„Die ansässige Kanzlei, die mit der Vertretung meiner Interessen beauftragt wird, kann die Fragen stellen“, erwiderte Alejandro nüchtern.

„Du bist also überzeugt, dass der Junge nicht von dir ist.“

Für einen Moment blitzten Alejandros schwarze Augen auf. „Wie könnte er das sein?“

Frustration schoss in Jemima auf. Für einen Moment hatte sie das Bedürfnis, Alejandros Brust mit den Fäusten zu bearbeiten, damit er ihr endlich zuhörte. Doch erstens war sie nicht gewalttätig, und zweitens … Er hatte ihr nie zugehört, und so, wie es um ihre Beziehung stand, würde er ihr jetzt erst recht nicht zuhören. War das nicht ebenfalls ein Grund, weshalb sie gegangen war? Weil sie ständig das Gefühl gehabt hatte, mit dem Kopf gegen eine undurchdringliche Mauer zu rennen? Wie konnte sie bei einem Mann bleiben, der glaubte, sie hätte eine Affäre mit seinem Bruder?

Während sie in der Küche Kaffee aufbrühte, traf sie eine Entscheidung. Sie nahm das Telefon, rief Flora an und bat die Freundin, eine Stunde auf Alfie aufzupassen. „Alejandro ist hier“, erklärte sie steif.

„In fünf Minuten bin ich bei dir und hole den Jungen ab“, versprach Flora.

Auf Flora war Verlass, sie kam wenig später und nahm Alfie mit. Danach jedoch senkte sich bleiernes Schweigen über den Raum.

Jemima streckte den Rücken durch, sie hielt es nicht mehr aus. „Ich wiederhole mich nur ungern, aber du zwingst mich dazu … Ich habe nie mit deinem Bruder geschlafen.“

Alejandro warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Er hatte immerhin genügend Mut, es nicht abzustreiten.“

Wut schäumte in ihr auf. „Aha. Marco hat es nicht abgestritten, was automatisch heißt, dass ich lüge!“

„Mein Bruder hat mich noch nie angelogen. Was man von dir nicht unbedingt behaupten kann.“

Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Was redest du da? Wann soll ich dich angeblich angelogen haben?“

„Als wir noch zusammenlebten, hast du Abertausende von Euro ausgegeben, ohne irgendetwas für deine Extravaganz vorzeigen zu können. Du konntest nicht einmal für eigene Ausgaben aufkommen, trotz des großzügigen Betrags, den ich dir monatlich zur Verfügung stellte. Irgendwo in diesem finanziellen Chaos muss es Lügen gegeben haben.“

Jemima wurde bleich. Die Vorwürfe waren nicht abzustreiten. Sie hatte tatsächlich erschreckend hohe Summen ausgegeben, wenn auch nicht für sich selbst. Und während der letzten Wochen hatte sie nicht einmal mehr die eigenen Rechnungen bezahlen können, denn da hatten sämtliche ihrer Sünden sie eingeholt. Nur weil sie eine – wie ihr damals beim ersten Kennenlernen schien – harmlose Lüge erzählt hatte.

„Hast du Marco das Geld gegeben?“, fragte Alejandro harsch. „Er ist schon immer verschwenderisch mit Geld umgegangen. Ich kann mir gut vorstellen, dass er an dich herangetreten ist.“

Für den Bruchteil einer Sekunde war Jemima versucht, sich mit einer weiteren Lüge herauszureden, doch dann senkte sie über sich selbst beschämt den Kopf. Einerseits ärgerte sie sich maßlos über Alejandros Bruder, weil er den Vorwurf einer angeblichen Affäre mit ihr nicht laut und deutlich bestritten hatte, andererseits empfand sie genügend echte Zuneigung zu Marco, um ihn nicht zu verraten. „Nein, Marco hat mich nie um Geld gebeten.“

Alejandro bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. „Ich nehme an, du stehst noch immer in Kontakt mit ihm?“

Eine Frage, die sie überraschte. „Nein. Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen, seit ich aus Spanien weggegangen bin.“

„Erstaunlich. Wo ihr doch so vertraut miteinander wart.“

Mühsam schluckte Jemima ihren Ärger hinunter. Nicht zum ersten Mal stand sie kurz davor, die Wahrheit hinauszuposaunen. Doch die Konsequenzen wären zu schwerwiegend. Außerdem hatte sie Marco hoch und heilig versprochen, sein Geheimnis nicht preiszugeben. Aus eigener Erfahrung konnte sie verstehen, weshalb der junge Mann es so unbedingt gewahrt wissen wollte. Und schließlich trug Marco nicht allein die Schuld am Scheitern ihrer Ehe.

„Seit zwei Jahren arbeitet Marco jetzt in unserer Galerie in New York, und du hast ihn nicht ein Mal aufgesucht? Aber er unterstützt doch hoffentlich wenigstens sein Kind, oder?“

Jemima musste sich zusammennehmen, damit ihr Temperament nicht mit ihr durchging. „Alfie ist nicht Marcos Sohn.“

„Dein Kind ist eigentlich der geringste Grund für unser Zerwürfnis. Mich interessiert viel mehr, was du mit meinem Bruder im Bett getrieben hast, und warum du meintest, es tun zu müssen.“ Der Schleier der Zivilisiertheit riss, Alejandros heißblütiges Temperament kam zum Vorschein. Er ballte die Hände zu Fäusten, so hart, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Warst du mit ihm im Bett?“, stieß er nur mühsam beherrscht hervor.

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Wenn er in dieser Stimmung war, würde ein direktes Abstreiten nur alles verschlimmern. Schließlich hatte sie das vor zwei Jahren schon einmal durchgemacht, und damals hatte er ihr auch nicht geglaubt. „Alejandro …“, versuchte sie, ihn zu beschwichtigen.

Er warf den Kopf zurück, dann ließ er den dunklen Blick über sie wandern. Jemima wäre nicht erstaunt gewesen, hätte sie Funken aus seinen Augen sprühen sehen. Ohne Vorwarnung war sie plötzlich die Gefangene seines übermächtigen sexuellen Charismas. Sie meinte, der Sonne zu nahe gekommen zu sein. Sie erinnerte sich noch gut an die gespannte Erwartung, an das einsetzende Summen in ihrem Körper, jedes Mal, wenn Alejandro zum Abendessen nach Hause gekommen war. Weil sie dann wusste, dass sie beide sich irgendwann gemeinsam in das eheliche Schlafzimmer zurückziehen würden und er sie in die fantastische Welt sinnlicher Freuden führen würde, sodass Einsamkeit und Unglücklichsein für kurze Zeit vergessen waren.

„Stört es dich, dass ich solche Details wissen will? Hast du dir je überlegt, was es mir antut, wenn ich mir meine Frau in den Armen meines Bruders vorstelle?“, presste er hervor.

„Nein.“ Es war die reine Wahrheit, hatte doch nie Grund dafür bestanden. Wieso hätte sie darüber nachdenken sollen, welche Gefühle sein unbegründeter und zudem beleidigender Verdacht in ihm auslöste? Verärgerung? Enttäuschung? Die musste er so oder so empfunden haben, denn bei der Herausforderung, sich wie eine spanische Gräfin zu benehmen, hatte Jemima kläglich versagt.

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete er harsch. „Marco diente lediglich dazu, deiner Eitelkeit zu schmeicheln und dir die Langeweile zu vertreiben. Eine wirklich billige und geschmacklose Art, um es mir und meiner Familie heimzuzahlen …“

„Das ist völliger Unsinn!“, brauste sie wütend auf.

„Warum hast du dich dann von ihm anfassen lassen? Meinst du nicht, ich hätte Szenen vor mir gesehen, wie es zwischen euch abläuft?“, konterte er bitter. „Du, nackt in seinen Armen, stöhnend vor Lust, im höchsten Moment …“

„Hör auf!“, flehte sie ihn an. Die Bilder, die er in ihr heraufbeschwor, ließen ihre Wangen brennen. „Hör sofort auf damit!“

„Warum? Kommt es der Wahrheit zu nahe?“, fragte er aufgebracht. „Als verlogene, ehebrecherische Schlampe bist du viel zu leicht davongekommen. Schau mich also nicht mit diesen großen schockierten Augen an. Auf diese Show vom ‚armen unschuldigen Mädchen‘ falle ich nicht mehr herein. Dazu kenne ich dich zu genau.“

Seine Worte wühlten Jemima zutiefst auf. Sie ging an ihm vorbei und stellte sich ans Fenster, kämpfte mit sich, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Bis zu diesem Moment war ihr nicht klar gewesen, welchen Schaden seine Überzeugung, sie wäre ihm untreu gewesen, angerichtet hatte. Vor zwei Jahren, als er sie wegen Marco zur Rede gestellt hatte, da war er eiskalt und beherrscht gewesen, ja regelrecht gleichgültig. Daraus hatte sie den Schluss gezogen, dass sie ihm nur wenig bedeutete und er geradezu froh war, einen Grund gefunden zu haben, die Beziehung mit ihr zu beenden. Erst jetzt erkannte sie, wie naiv diese Annahme gewesen war.

„Ich bin keine ehebrecherische Schlampe“, setzte sie dumpf an. „Ich habe auch keine Affäre mit deinem Bruder gehabt.“ Wie in Zeitlupe drehte sie sich zu ihm um. „Und du solltest wissen, dass mein Sohn, dass Alfie … auch dein Sohn ist.“

„Soll das ein schlechter Witz sein?“ Alejandros Blick brannte sich wütend in ihre Augen. „Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass du eine Fehlgeburt erlitten hast, bevor du aus Spanien abgereist bist.“

„Wir sind davon ausgegangen, dass ich eine Fehlgeburt hatte“, korrigierte Jemima knapp. „Als ich mich dann hier in England von einem Gynäkologen untersuchen ließ, stellte er fest, dass ich noch immer schwanger war. Seiner Meinung nach ist es möglich, dass ich mit Zwillingen schwanger war und einen Zwilling verloren habe. Oder die Blutungen waren nur Warnzeichen einer drohenden Fehlgeburt. Wie auch immer …“

Unter seinem Blick rieb sie die schlanken Hände ineinander. „Auf jeden Fall bestand die Schwangerschaft, als ich hier ankam, und fünf Monate später wurde Alfie geboren.“

Alejandro starrte sie noch immer an, er glaubte ihr kein Wort. „Das ist unmöglich.“

Sie riss eine Kommodenschublade auf und suchte in den dort untergebrachten Papieren nach Alfies Geburtsurkunde. Einerseits konnte sie kaum fassen, was sie da tat, andererseits … was sonst könnte sie tun? Ihr Sohn war das Kind ihres Ehemannes. Irgendwann in der Zukunft würde Alfie nach seiner Herkunft und seinem Vater fragen, und dann würde sie die Wahrheit offenlegen müssen, ob es ihr gefiel oder nicht. Sie zog das Dokument hervor und reichte es Alejandro.

„Das kann nur ein Bluff sein.“ Entgegen seinen sonst immer untadeligen Manieren riss er ihr das Blatt aus der Hand.

„Nun, wenn dir eine Erklärung einfällt, wie ich zu dieser Zeit ein Kind zur Welt gebracht haben kann und es dann nicht dein Kind sein soll, würde ich sie gerne hören“, sagte Jemima herausfordernd.

Alejandro schaute auf das Blatt und las, dann sah er mit blitzenden Augen auf. „Das beweist nur, dass du schwanger warst, als du unsere Ehe hingeworfen hast und gegangen bist, nicht aber, dass es mein Kind ist.“

Jemima schüttelte frustriert den Kopf und atmete hörbar aus. „Dir kann diese Neuigkeit nicht gefallen, das ist mir klar, und ich wollte es dich auch gar nicht wissen lassen. Zu viel Zeit ist seit unserer Trennung vergangen, zu viel ist passiert. Wir leben unsere eigenen Leben. Dennoch kann ich dich über deinen Sohn nicht anlügen. Eines Tages wird Alfie dich vielleicht kennenlernen wollen.“

Für einen langen Moment musterte er sie düster. „Wenn es stimmt, wenn dieser kleine Junge tatsächlich mein Sohn ist, dann war es extrem egoistisch und rachsüchtig von dir, mir nichts davon zu sagen.“

Ihr Gesicht verlor alle Farbe. „Als ich ging, wusste ich nicht, dass ich noch immer schwanger war.“

„Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und doch hast du nicht einen Versuch unternommen, um mich wissen zu lassen, dass ich Vater sein könnte“, warf er ihr harsch vor. „Ich verlange einen DNA-Test, bevor ich entscheide, was weiter zu tun ist.“

Jemima presste die Lippen zusammen. Schon wieder beleidigte Alejandro sie mit der Unterstellung, sie sei ihm untreu gewesen und dass daher Zweifel über Alfies Abstammung bestünden. „Wie du willst“, erwiderte sie knapp. „Ich weiß, wer Alfies Vater ist.“

„Ich werde alles für einen Vaterschaftstest arrangieren. Sobald die Ergebnisse vorliegen, informiere ich dich entsprechend.“ Eisige Arroganz strahlte aus jeder seiner Poren.

„Und ich werde einen Rechtsanwalt aufsuchen und die Scheidung einreichen.“ Er sollte nicht denken, er wäre der Einzige, der Entscheidungen traf!

Er runzelte die Stirn und musterte Jemima mit leerem Blick. „Es wäre unklug, irgendetwas zu unternehmen, bevor die Testergebnisse vorliegen.“

„Das sehe ich anders“, schleuderte sie zornig zurück. „Ich hätte gleich die Scheidung einreichen sollen, noch in der gleichen Minute, als ich dich verließ.“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. „Und warum hast du das nicht?“, fragte er kühl.

Jemima warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sagte aber nichts. Wortlos ging sie an ihm vorbei zur Haustür und riss sie auf – eine unmissverständliche Aufforderung für ihn, zu gehen. Sie merkte nicht einmal, dass sie am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub. Sie hatte vergessen, wie wütend Alejandro sie machen konnte. Es war seine arrogante Art, immer genau das zu tun, was er wollte, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen.

„Ich melde mich“, sagte er noch, bevor er über die Schwelle nach draußen trat.

„Das nächste Mal würde ich eine Vorwarnung zu schätzen wissen.“ Sie nahm eine Visitenkarte von dem kleinen Tischchen und gab sie ihm. „Ruf vorher an.“

Wütend knallte sie die Tür hinter ihm zu und stellte sich dann ans Fenster. Durch die Gardinen beobachtete sie, wie er in seinen schnittigen Wagen stieg und davonfuhr.

Nichts hat sich geändert, dachte sie unglücklich. Sie brauchte nur in Alejandros Nähe zu sein, und schon lebten alle Selbstzweifel, Unsicherheiten und Reuegefühle wieder auf. Dabei hatte sie geglaubt, das alles in dem Moment zurückgelassen zu haben, als sie es aufgegeben hatte, seine Frau zu sein …

3. KAPITEL

Leise zog Jemima die Haustür hinter sich zu. Donnerstagabends passte ein Babysitter auf Alfie auf, denn dann ging sie zusammen mit Flora zur Chorprobe. Normalerweise freute Jemima sich immer auf einen Abend im Kreise von Freunden und Bekannten, doch in letzter Zeit – seit zwei Wochen, um genau zu sein – schien sich die schlechte Laune permanent bei ihr eingenistet zu haben.

„Lach doch mal wieder“, versuchte Flora, die Freundin auf dem Weg zu der kleinen Kirche aus dem Mittelalter, die so viel zum typischen Flair von Charlbury St Helens beitrug, aufzumuntern. „Du lässt dir diese Geschichte mit dem Vaterschaftstest viel zu tief unter die Haut gehen. Das ist ungesund.“

Jemima schaute die Freundin entschuldigend an. „Ich kann nichts dafür, ich fühle mich, als wäre ich öffentlich erniedrigt worden.“

„Sowohl der Notar als auch der Arzt sind zur Verschwiegenheit verpflichtet“, versicherte Flora ihr. „Ich bezweifle, dass sie damit hausieren gehen, vor allem, wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, die vielleicht bald vor einem Familienrichter landet.“

Wirklich überzeugt war Jemima nicht, aber sie wusste, die Freundin wollte sie nur trösten und zuversichtlich stimmen. Sie wollte mit dem Thema auch nicht langweilen, aber die Tests waren eine Prozedur gewesen, bei der ihre Privatsphäre und ihre persönlichen Grenzen völlig ignoriert worden waren. Wenn solche Tests für ein mögliches Gerichtsverfahren verlangt wurden, dann mussten sie auch genau nach den Regeln ausgeführt werden.

Ein überheblicher Londoner Anwalt hatte im Auftrag von Alejandro angerufen und sie über die Liste der notwendigen Schritte informiert. Bei einem Notar hatte sie eine eidesstattliche Erklärung sowie Fotos abgeben müssen, um ihre Identität festzustellen, bevor Alfie und sie dann den DNA-Test vom Hausarzt hatten durchführen lassen dürfen. Eigentlich war es keine große Sache gewesen, nur ein paar Tupfer mit einem Wattestäbchen im Mund, und wenig später lag bereits das Laborergebnis vor. Dennoch hatte Jemima sich vor Scham innerlich gekrümmt, wussten Notar und Hausarzt jetzt doch, dass ihr Mann die Vaterschaft ihres Kindes anzweifelte.

Sie würde Alejandro nie verzeihen, dass er sie gezwungen hatte, diese Erniedrigung über sich ergehen zu lassen. Natürlich hätte sie sich auch weigern können. Aber eine Weigerung wäre in Alejandros Augen einem Schuldbekenntnis gleichgekommen. Außerdem war es wichtig, dass Alfies Vater die Wahrheit kannte. Um Alfies willen durfte es keine Zweifel geben. Deshalb hatte sie den Tests zugestimmt.

Sie waren bei der Kirche angekommen. Jemima zwang sich zu einem unbeschwerten Lächeln und winkte grüßend den bekannten Gesichtern zu. Das Singen im Chor und der Solopart, den sie mit ihrer klaren Sopranstimme bestritt, halfen ihr, auf andere Gedanken zu kommen. Bis sie am Ende der Probe dabei half, die Stühle wieder zusammenzustellen, fühlte sie sich schon wesentlich lockerer. Fabian Burrows, einer der hiesigen Ärzte und zudem ein sehr attraktiver Mittdreißiger, griff nach ihrer Jacke und half ihr hinein, bevor sie etwas einwenden konnte.

„Du hast eine wirklich wunderschöne Stimme“, sagte er.

„Danke.“ Bei seinem Kompliment errötete sie leicht.

Fabian fiel an ihrer Seite in ihren Schritt mit ein. „Hast du noch Lust auf einen Drink?“

„Ja.“

„Wie wäre es mit dem Red Lion?“, schlug er vor, als Flora sich am Kirchenportal zu ihnen gesellte. Die anderen Chormitglieder überquerten bereits die Straße in Richtung des beliebten Pubs.

„Danke, aber ich bin mit Flora da“, erwiderte sie leichthin.

„Ihr seid mir beide herzlich willkommen.“

Jemima schaute zu der Freundin und wusste nicht, wie sie die tiefe Falte auf Floras Stirn zu deuten hatte. Hieß das, dass Flora die Einladung annehmen wollte, oder nicht?

„Ich fürchte, der heutige Abend passt nicht gut“, meinte Flora jetzt steif und hielt den Blick übertrieben starr auf die Straße gerichtet.

Jemima, die Floras Blick folgte, bemerkte zuerst den geparkten Sportwagen, dann sah sie den Mann, der mit verschränkten Armen an der Kühlerhaube lehnte und ganz offensichtlich auf sie wartete. Erst war sie entrüstet, dann schäumte Ärger in ihr auf. Hatte sie Alejandro nicht ausdrücklich gebeten, sie über sein Erscheinen vorher in Kenntnis zu setzen? Wie konnte er es wagen, schon wieder unangemeldet aufzutauchen?

Doch im gleichen Augenblick, in dem ihre Aufmerksamkeit Alejandro galt, spürte sie auch schon ein heißes Prickeln über ihre Haut laufen. Tief in ihr setzte sich ein dumpfes Pochen in Gang, und Alejandros gefährliche Sinnlichkeit stach auf sie ein wie eine scharfe Messerspitze. Mit seinem dunkel glühenden Blick musterte er sie von Kopf bis Fuß, und plötzlich hatte sie Mühe, zu atmen.

Ganz gleich, wie wütend sie auch auf ihn sein mochte, er war einfach sündhaft attraktiv. Allein wie er da an seinem Wagen lehnte – geschmeidig, elegant, überwältigend. Am liebsten hätte Jemima ihn ignoriert und wäre einfach an ihm vorbeigelaufen, als ob er unsichtbar wäre. Seine Anziehungskraft ärgerte sie fast ebenso sehr wie sein unerwartetes Auftauchen.

„Woher wusstest du, wo ich bin?“

„Dein Babysitter“, sagte er nur. „Tut mir leid, falls ich dir den Abend verdorben haben sollte.“

„Wer ist das?“, wollte Fabian wissen.

„Oh, ich bin nur der Ehemann“, meinte Alejandro mit leidender Stimme. Das macht er mit voller Absicht, dachte Jemima und biss die Zähne zusammen.

Fabian versteifte sich leicht und murmelte einen verlegenen Abschiedsgruß. Man sehe sich ja nächste Woche bei der Probe. Damit wandte er sich Flora zu, die ebenfalls eher ratlos stehen geblieben war, und ging mit ihr davon.

„Musstest du den Mann unbedingt in Verlegenheit bringen?“, fragte Jemima verärgert, sobald die beiden außer Hörweite waren.

Ganz der arrogante Graf Olivares, sah Alejandro auf seine zierliche Ehefrau hinab. „Es ist nur die Wahrheit. Jedes Mal, wenn ich dich treffe, flattern hechelnde Kerle um dich herum, und du flirtest schamlos mit ihnen.“

„Dir steht es nicht mehr zu, mir vorzuschreiben, wie ich mich zu benehmen habe“, rechtfertigte sie sich wütend.

Seine Augen blitzten auf, und plötzlich lagen seine Hände auf ihren Schultern. Mit einem Ruck zog Alejandro Jemima an sich und presste seinen sinnlichen Mund auf ihren. Es war wie eine Explosion, die alle ihre Schutzmauern zerstörte. Auf so etwas war sie überhaupt nicht vorbereitet gewesen, nie hätte sie sich träumen lassen, dass er sie noch einmal berühren würde.

Es erschütterte sie zudem zutiefst, dass sie noch immer so anfällig für ihn war. Die Knie wollten unter ihr nachgeben, als sein drängender Mund eine Reaktion von ihr forderte, Alarmsirenen schrillten los, als ein Verlangen in ihr aufflammte, das sie seit Alfies Geburt vergessen und begraben geglaubt hatte.

Abrupt schwang Alejandro sie herum, sodass sie nun zwischen dem Wagen und seinem muskulösen Körper gefangen war. Als er sich der Länge nach an sie presste, entschlüpfte ihr ein Seufzer, denn das war genau das, wonach sie sich in diesem Moment sehnte. Und wenn diese Sehnsucht sie erst einmal in den Klauen hielt, kannte sie keine Scham. Ihr Puls raste, ihr Atem ging ebenso schnell, als Alejandro sich unmissverständlich an ihr rieb. Hitze floss in ihrem Schoß zusammen.

„Por Dios! Vamonos … gehen wir“, sagte er heiser. Er zog sie von der Kühlerhaube hoch und öffnete mit der gleichen Bewegung die Beifahrertür, um Jemimas widerstandslosen Körper dann auf den Ledersitz zu drücken.

Gehen wir … Wohin? hätte sie fast geschrien, doch sie hielt die Worte zurück. Musste die verräterische Frage zurückhalten, wenn sie die Antwort doch längst kannte. Ihr Körper sehnte sich geradezu schmerzhaft nach ihm. Sie senkte den Kopf und verschränkte die Hände auf dem Schoß. Alejandro sollte nicht sehen, wie sehr ihre Finger zitterten. Sie hatte sich gezwungen, zu vergessen, wie diese Sehnsucht sich anfühlte, und sie wollte sich auch nicht daran erinnern. Dennoch konnte sie seinen Geschmack noch immer auf den Lippen schmecken, konnte das Gefühl seiner Hände auf der Haut spüren.

„Wir sollten darauf achten, uns in der Öffentlichkeit nicht zu berühren“, sagte er jetzt leise.

Jemima unterdrückte einen Fluch. Sie hasste sich dafür, dass sie ihn nicht von sich gestoßen hatte. Und wie hatte er es überhaupt wagen können, sie an sich zu ziehen? Warum hatte er ihr beweisen müssen, dass sie noch immer auf ihn reagierte? Damals, als sie noch zusammenlebten, hatte sie ihn immer gewollt. Das Verlangen war wie eine ständig nagende Gier gewesen. Nur in seinen Armen hatte sie sich sicher gefühlt, in seinen Armen hatte sie alles vergessen können. Doch diese Erinnerung würde sie niemals preisgeben. Um ihre aufgewühlten Emotionen zu kaschieren, setzte sie für die gesamte Fahrt zum Cottage eine steinerne Maske auf.

„Du hast mir noch immer nicht gesagt, wieso du hier bist“, beschwerte sie sich auf dem Weg zu ihrer Haustür.

„Wir reden drinnen.“

Sie musste sich eine beißende Bemerkung verkneifen. Alejandro übernahm in jeder Situation das Kommando. Dass er meist richtig damit lag, ärgerte sie nur noch mehr.

Im Haus entlohnte sie als Erstes den Babysitter. Audra wohnte nur ein Stück die Straße hinunter, und das Arrangement passte ihnen beiden gut.

„Lässt du immer ein Kind auf ein Kind aufpassen?“, wollte Alejandro wissen, als das junge Mädchen gegangen war.

„Nein, durchaus nicht“, erwiderte Jemima kühl. „Audra mag jung aussehen, aber sie ist achtzehn und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester.“

Alejandro sah wohl keine Veranlassung, sich zu entschuldigen. Jemima zog ihre Jacke aus und hängte sie an den Haken. „Für einen Höflichkeitsbesuch ist es ein wenig zu spät.“ Sie vermied es, ihn anzusehen. Die Erinnerung an den heißen Kuss war noch zu frisch. Aber sie würde auch nicht nachgeben und jetzt die perfekte Gastgeberin spielen.

„Ich will meinen Sohn sehen.“

Das Bekenntnis, vorgebracht mit rauer Stimme, schlug mit der Macht einer Flutwelle über Jemima zusammen. Das Ergebnis des Vaterschaftstests lag also vor und hatte, wie nicht anders erwartet, ihre Behauptung bewiesen. Dennoch zeigte Alejandro nicht das geringste Anzeichen von Reue, obwohl eine Entschuldigung mehr als fällig wäre. Sie hob ihr Kinn. „Alfie schläft.“

„Ich sehe ihn mir auch an, wenn er schläft.“ Die Aufregung konnte er nicht verbergen.

Seine Miene rührte etwas tief in ihr an und ließ sie für einen Moment schwach werden … aber nur für einen Moment. „Als ich dir sagte, dass er dein Sohn ist, wolltest du mir nicht glauben.“

„Lass uns nicht länger darüber debattieren, jetzt kenne ich die Wahrheit. Seit heute Morgen weiß ich, dass er mein Kind ist. Ich kam, so schnell ich konnte.“

Seine Eindringlichkeit beunruhigte sie, auch wenn sie sich sagte, dass eine solche Reaktion wohl zu erwarten gewesen war. Schließlich hatte er gerade herausgefunden, dass er Vater war. „Ich führe dich nach oben“, bot sie an, in der Hoffnung, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen.

Hinter Jemima ging Alejandro leise in das Kinderzimmer und trat an das Kinderbettchen, um den schlafenden Jungen zu betrachten. Mit den wirren dunklen Locken und den im Schlaf leicht geröteten Wangen sah Alfie in den Augen seiner Mutter wie ein Engel aus.

Lange blieb Alejandro so stehen, die Finger um den Gitterrand geklammert, die Wimpern gesenkt, sodass der Ausdruck in seinen Augen nicht zu erkennen war. Dann hob er abrupt den Blick zu Jemima. „Ich will ihn mit nach Hause nehmen, nach Spanien.“

Eine Erklärung, die sie traf wie ein Eimer kalten Wassers, sie schockierte und jähe Angst in ihr aufschießen ließ. Von der Tür aus konnte sie sehen, wie Alejandro einen letzten zärtlichen Blick auf seinen Sohn warf. O ja, Alejandro konnte zärtlich sein, doch war es ein Gefühl, das er nicht oft zeigte. An dem Tag, als sie ihm sagte, sie sei schwanger, hatte er sie auch mit diesem Blick angesehen. Und es war dieser Blick gewesen, der am Ende alles so schwierig gemacht hatte. Wie sollte sie ihre damalige konfuse Reaktion rechtfertigen, wenn Alfie heute der Dreh- und Angelpunkt ihrer Welt war?

Ich will ihn mit nach Hause nehmen, nach Spanien. Alejandros unmissverständliche Ankündigung hallte unablässig in ihrem Kopf wider, während sie die Treppe wieder hinunterstieg. Es war nur verständlich, dass Alejandro Alfie in seine Familie einführen und sicherstellen wollte, dass der Junge erfuhr, in welches Erbe er väterlicherseits hineingeboren worden war. Jemima ermahnte sich, nicht überzureagieren.

Dennoch hörte sie sich abrupt fragen: „Was meinst du damit, dass du ihn nach Spanien mitnehmen willst?“

Erst zog Alejandro sich den hellen Kaschmirmantel aus und legte ihn über eine Sessellehne, bevor er sich zu Jemima umdrehte. Der anthrazitfarbene, maßgeschneiderte Anzug betonte seine Statur und seine breiten Schultern. In seiner Miene zeigte sich keine Regung, aber in seinen Augen blitzte die Herausforderung.

„Ich kann dir das Sorgerecht für meinen Sohn nicht lassen“, erklärte er unumwunden. „Ich bin nämlich der Überzeugung, dass du ihm nicht die Gegebenheiten bieten kannst, die er braucht, um aufzublühen. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes behaupten, ich habe wirklich keine Lust auf einen Streit um das Sorgerecht. Doch ich sehe keine andere Möglichkeit, will ich die Pflicht gegenüber meinem Sohn nicht vernachlässigen.“

„Wie kannst du es wagen!“, fuhr Jemima hitzig auf. Das Herz hämmerte ihr gegen die Rippen. „Ich habe deinen Sohn allein zur Welt gebracht, ohne jegliche Unterstützung, und seither sorge ich auch allein für ihn. Alfie ist ein glücklicher und ausgeglichener kleiner Junge. Du weißt überhaupt nichts über ihn, doch in der Minute, in der du von seiner Existenz erfährst, gehst du sofort davon aus, ich wäre eine unfähige Mutter.“

„Weiß er überhaupt von seinem Vater in Spanien? Lernt er die spanische Sprache? Kannst du ihm die notwendige Stabilität geben? Du bist nicht sehr verantwortungsbewusst.“

„Woher nimmst du dir das Recht, solche Behauptungen aufzustellen?“ Ungläubig ballte sie die Hände zu Fäusten.

Seine Miene wurde hart. „Man braucht sich nur anzusehen, wie du dich in unserer Ehe verhalten hast, mit deinen Schulden, bei der Affäre mit meinem Bruder …“

„Zum letzten Mal – ich hatte nie eine Affäre mit deinem Bruder!“

„Anstatt Probleme zu lösen, rennst du vor ihnen weg“, urteilte Alejandro ohne das geringste Zögern. „Wie solltest du also einem Kind all das beibringen können, was es für das Leben wissen muss?“

„Ich muss mir das nicht länger von dir anhören. Wir leben getrennt.“ Ihre Stimme drohte zu brechen. „Ich wünsche, dass du gehst.“

Alejandro griff nach seinem Mantel. „Mit dir kann man nicht reden“, stieß er frustriert aus.

„Die Drohung, mir mein Kind wegnehmen zu wollen, nennst du reden?“ Jemimas Stimme wurde schrill vor Fassungslosigkeit. „Welche Reaktion hast du denn erwartet?“

„Eine Drohung kündigt etwas an, das nicht unbedingt passiert“, konterte er ungerührt. „Ich dagegen versichere dir, dass ich um das Sorgerecht für meinen Sohn kämpfen werde.“

In Jemimas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sollte es zu einem Prozess kommen, so besaß Alejandro die nötigen Mittel, um sich die besten Anwälte zu leisten. Sie dagegen … niemand, der ihre Interessen vertrat, würde mit diesen Leuten mithalten können. Dass sie Alejandro die Existenz seines Sohnes zwei Jahre lang verschwiegen hatte, könnte gegen sie benutzt werden. Und da war ja noch die Tatsache, dass Alfie zum spanischen Adel gehörte und ein riesiger Besitz und ein weltweit erfolgreicher Familienbetrieb auf ihn warteten. Ob ein Richter einen solchen Hintergrund, gepaart mit der Entschlossenheit des Vaters, den Sohn auf diese Verantwortung vorzubereiten, überhaupt ignorieren konnte?

„Das kannst du nicht tun“, protestierte sie. „Ich liebe Alfie, und er liebt mich. Er braucht seine Mutter.“

„Vielleicht bin ich jetzt an der Reihe, dem Kind ein Elternhaus zu bieten“, meinte Alejandro trocken. Er zog die Haustür auf. „Wenn es darum geht, sich einen kleinen Jungen zu teilen, lässt eine Scheidung nicht viele Optionen. Wir beide werden also Kompromisse machen müssen.“

Plötzlich wollte Jemima nicht mehr, dass er ging. Sie drängte sich zwischen ihn und die Tür. Die Augen dunkel vor Emotionen, schaute sie ihn an. „Darüber müssen wir reden. Und zwar jetzt!“

„Madre mía, du änderst deine Meinung schneller als der Blitz“, erwiderte er ironisch.

Sie nahm sich zusammen. „Möglich, dass ich übereilt geurteilt habe. Ich konnte auch nicht ahnen, dass du bereits Pläne für Alfie hast. Außerdem hast du mich wütend gemacht. Wieso hast du mich geküsst?“

Er machte nur einen kleinen Schritt vor, doch jetzt war sie zwischen ihm und der Tür gefangen. „Weil ich es wollte, mi dulzura.“

Er nannte sie seine „Süßigkeit“, und sofort verflüchtigte sich jeder klare Gedanke bei ihr. Hitze floss zäh wie Lava durch ihre Adern, ihre Brustspitzen richteten sich auf, Flammen leckten am geheimsten Kern ihres Wesens. Die Atmosphäre lastete plötzlich schwer und drückend, Jemima konnte das Verlangen nicht eindämmen. Ihr Blick ruhte auf Alejandros sinnlichem Mund, sie meinte, den Geschmack auf ihren Lippen schmecken zu können. Langsam legte sie den Kopf in den Nacken und traf auf seinen glühenden Blick.

„Sag mir, dass ich über Nacht bleiben soll“, murmelte er heiser und drängte sich an sie, sodass sie den Beweis seiner Erregung spüren konnte.

Ihr stockte der Atem, erotische Hitze und Empörung vermischten sich und ließen sie erstarren. „Du willst bleiben?“ Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an ihn, sah schon jetzt Szenen von Leidenschaft und Ekstase vor sich, und Verlangen packte sie mit eisernem Griff.

Mit einem Finger glitt er an ihrem Hals entlang, verharrte an der Stelle, wo ihr Puls wild schlug. „Wenn du es auch möchtest …“

„Nein …“, hauchte sie verzweifelt und fühlte ihre Selbstbeherrschung wie Glas zerspringen. Darunter wurde das Verlangen hörbar, das sie so lange in Schach gehalten hatte.

„Lügnerin“, hielt er ihr leise vor, absolut überzeugt von der Macht, die er über sie hatte.

Obwohl sie am ganzen Körper bebte, machte sie sich frei und wich ihm aus. Denken konnte sie nicht, sie wusste nur, dass sie gegen diese gefährliche Schwäche ankämpfen musste. „Geh endlich.“ Kälte und Leere überfielen sie, sie schlang die Arme um sich.

„Ruf mich an, wenn du zur Vernunft gekommen bist.“ Ungerührt von der Zurückweisung, ließ Alejandro eine seiner Visitenkarten auf dem kleinen Tischchen in der Diele zurück, bevor er zur Tür hinausging.

Jemima blieb allein zurück. In ihr tobte ein Tumult der widersprüchlichsten Gefühle, gemischt mit Bedauern. Sie war wütend auf sich, hatte sie doch Sex in den Weg einer Klärung kommen lassen. Anstatt allein an Alfies Wohlergehen zu denken, hatte sie die Spannung zwischen sich und Alejandro wieder aufleben lassen. Er hatte die Nacht mit ihr verbringen wollen. Für einen Moment, als die Leidenschaft zwischen ihnen wieder aufflammte, war er ebenso verletzlich gewesen wie sie.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie sich auch schon selbstironisch korrigierte. Nein, Alejandro war keineswegs verletzlich gewesen. Er hätte mit ihr geschlafen, aber weder hätte es ihm etwas bedeutet, noch hätte es irgendetwas geändert. Er glaubte noch immer, sie hätte mit Marco geschlafen, und er hasste sie dafür. Mit der Visitenkarte in der Hand ging sie ins Wohnzimmer. Alejandro hatte wieder die Zügel an sich gerissen, und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Vor drei Jahren jedoch, als sie sich kennengelernt hatten, war es ihr sogar sehr lieb gewesen, dass er die Führung übernommen hatte. Sie hatte sich in seinem männlichen Beschützerinstinkt gesonnt. Damals war sie allerdings auch noch Jungfrau gewesen. Sie hatte Alejandro idealisiert und geglaubt, sie hätten etwas ganz Besonderes zusammen. Sein Ruf als Frauenheld war ihr nicht bewusst gewesen, bis eines der Zimmermädchen im Hotel ihr eine aufgeschlagene Zeitschrift mit den Worten unter die Nase gehalten hatte: „He, ist das nicht der Spanier, mit dem du dich triffst?“

Alejandro hatte ihr von einem ganzseitigen Foto entgegengeblickt, eine blonde Schönheit an seinem Arm. Der dazugehörige Artikel hatte ihn als Herzensbrecher beschrieben, dem immer mehr als nur eine Frau im Schlepptau folgten. Jemima hatte es nicht glauben wollen, auch wenn ihr damals bereits die Anzeichen aufgefallen waren, dass er alles andere als ein verlässlicher fester Freund war. Als sie ihn auf die nicht erfolgten Anrufe und die in letzter Minute abgesagten Treffen ansprach, hatte er ihr unverblümt geantwortet: „Ich bin nicht auf eine ernste Beziehung aus. Ich habe keine Lust, mir Fesseln anlegen zu lassen.“

Nur gut, dass sie damals noch nicht mit ihm ins Bett gegangen war! Verletzt, enttäuscht und wütend über sich selbst, weil sie eine solch alberne Närrin war, hatte Jemima ihren Gefühlen für Alejandro die Zügel angelegt. Also ging sie wieder mit ihrem Freundeskreis aus. Es dauerte nicht lange, bevor sie sich regelmäßig mit einem jungen Mann traf, einem aufstrebenden Steuerberater, dessen Bemühen um sie ihrem angekratzten Stolz außerordentlich guttat.

Als Alejandro herausfand, dass es da einen anderen Mann gab, stritten sie sich ganz fürchterlich. Es wurde überdeutlich, dass er nicht bereit war, sie mit anderen zu teilen, während er scheinbar diese Bereitschaft von ihr erwartete. Sie beendeten die Beziehung und trennten sich, auch wenn Jemima das Herz brach. Ihrer Meinung nach war es besser so.

Kaum einen Monat später jedoch tauchte Alejandro wieder vor ihrer Tür auf und versprach hoch und heilig, sich nicht mehr mit anderen Frauen zu treffen. Jemima war damals überglücklich gewesen. Ihre Beziehung trat in die nächste, sehr viel intensivere Phase ein. So verliebt, wie Jemima war, stürzte sie sich kopfüber in eine leidenschaftliche Affäre mit ihm. Er mietete eine Wohnung, nicht weit von dem Hotel entfernt, in dem sie arbeitete, und sie verbrachten jede freie Minute zusammen.

Für Jemima war es die glücklichste Zeit ihres Lebens. Seine Pflichten gegenüber Geschäft und Familie führten Alejandro oft von ihr fort, auch wenn sie lieber zusammen sein wollten, aber an ihrem zwanzigsten Geburtstag machte er ihr einen Heiratsantrag. Ein Liebesgeständnis hatte er ihr nie gemacht, hatte nur gesagt, dass er unmöglich noch länger so viel Zeit in England verbringen könne. Er hatte die Ehe wie den nächsten logischen Schritt klingen lassen.

Seiner Familie hatte er Jemima vor diesem wichtigen Schritt nicht vorgestellt, ohne Zweifel, weil er sich die Reaktion seiner Angehörigen über die schlichte englische Braut hatte ausmalen können. Wenige Wochen nach seinem Antrag heirateten sie kirchlich in London, nur im Beisein zweier Zeugen. Bis dahin hatte Jemima noch immer keine Vorstellung davon, wie sein Leben in Spanien aussah. Sie war wie das sprichwörtliche Lamm zur Schlachtbank ihrer Unwissenheit geführt worden …

Jemima riss sich aus den schmerzlichen Erinnerungen. Das naive, bis über beide Ohren verliebte junge Ding existierte nicht mehr. Inzwischen war sie Herrin über das eigene Schicksal.

Sich an diesem Gedanken festhaltend, griff sie zum Telefon und rief Alejandro an. „Wir müssen über Alfie reden.“

„Hätte dir das nicht einfallen können, solange ich noch bei dir war?“, kam es trocken von ihm zurück.

„Ich bin nicht wie du, ich plane nicht alles im Voraus“, verteidigte sie sich.

Alejandro schlug vor, dass sie sich morgen Nachmittag in seinem Londoner Apartment treffen sollten, zusammen mit Alfie.

„Ich weiß, du möchtest ihn sehen, aber ich denke, wir sollten ihn besser da raushalten. Höchstwahrscheinlich werden wir uns streiten.“

Ihr Einwand wurde akzeptiert und man einigte sich auf eine Zeit.

Lange nach dem Gespräch stand Jemima reglos da und überlegte, welches Kaninchen sie aus dem Hut zaubern könnte, um Alejandro zu überzeugen, dass es wesentlich besser für den gemeinsamen Sohn war, bei der Mutter in England aufzuwachsen …

4. KAPITEL

Es war nicht das Apartment, das Jemima von früher kannte. Dieses hier lag zentraler und war wesentlich größer und moderner.

Ein Butler führte sie in einen Salon, in dem beeindruckende moderne Gemälde an den Wänden hingen – die passende Umgebung für eine Familie, die eine Kette von renommierten Kunstgalerien besaß.

Jemima erblickte ihr Spiegelbild in einer der Glasscheiben und entschied, dass sie sehr jung wirkte, obwohl sie sich mit hohen schwarzen Stiefeln, kurzem schwarzen Rock und rotem Pullover sorgfältig zurechtgemacht hatte. In ihrem Leben bestand keine Notwendigkeit für übertrieben schicke Garderobe, Geld, das übrig blieb, investierte sie lieber in ihr Geschäft oder legte es auf die hohe Kante. Nach einer Kindheit und Jugend, in der Bares oft knapp gewesen war, brauchte sie das Gefühl von Sicherheit in Form eines gut gefüllten Sparbuchs, sollte einmal ein Notfall eintreten.

Alejandro kam durch eine Seitentür in den Salon. Sein eleganter Nadelstreifenanzug stammte ganz offensichtlich aus kunstfertiger Schneiderhand und betonte seine maskuline Statur. Jemimas Blick wurde von seinem attraktiven Gesicht angezogen, ihr fiel der dunkle Bartschatten auf Wangen und Kinn auf, und für einen Moment war sie in der Erinnerung verloren, wie sich diese Stoppeln morgens auf ihrer Haut angefühlt hatten. Sofort schoss ihr das Blut in die Wangen, und ihr Herz hämmerte, als wäre der Boden unter ihren Füßen weggesackt.

„Passt deine Freundin auf Alfie auf?“, fragte er sie.

„Ja. Die Nachmittage verbringt er allerdings immer in seiner Spielgruppe“, erklärte sie.

Ein Getränk schlug Jemima aus und wartete ab, bis Alejandro sich einen Kaffee eingeschenkt hatte. Das Aroma schwebte in der Luft, prompt wurden wieder Erinnerungen in ihr wach. Alejandro hatte ihr beigebracht, einen „anständigen“ Kaffee aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen zu machen. Es hatte so viele Dinge gegeben, die für ihn selbstverständlich waren und von denen sie noch nie gehört hatte. Von Anfang an war sie von seiner Weltgewandtheit und seinem Stil gefesselt gewesen.

Vor der Hochzeit – bevor die Dinge so schrecklich schiefgelaufen waren – hatte er sie einfach auf seine Arme gehoben und zum Bett getragen, und sie war so glücklich gewesen, sie hätte es nicht einmal bemerkt, wenn die Welt um sie herum zusammengefallen wäre. Doch nachdem das gemeinsame Sexleben zum Stillstand gekommen war, brach auch die Kommunikation zwischen ihnen ab. In Jemimas Augen hatte sich daraus nur ein Schluss ziehen lassen: Ihre Ehe mit Alejandro war zerrüttet, er hatte das Interesse an ihr verloren.

„Letzte Nacht habe ich nicht besonders gut geschlafen“, gestand sie. „Ich mache mir Sorgen über das, was du wegen Alfie gesagt hast.“

„Es war eine erfreuliche Überraschung, dass du ihn nach meinem Vater benannt hast – Alfonso“, bemerkte Alejandro.

„Er ist nach meinem Großvater Alfred benannt.“ Dass der liebenswürdige stille Mann, der sein eigenes Gemüse gezogen und mit ehrlicher Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient hatte, das einzige repräsentable Mitglied ihrer Familie gewesen war, würde sie nicht zugeben. „Jeder nannte Grandpa nur Alfie.“

Lange musterte Alejandro sie unter schwarzen Wimpern hervor. „Wie sollen wir uns ein Kind teilen, wenn wir in verschiedenen Ländern leben?“, fragte er schließlich.

Jemima verspannte sich. „Andere Leute schaffen das auch.“

„Ich will, dass mein Sohn in Spanien aufwächst und …“

„Du kannst nicht immer haben, was du willst“, fiel sie ihm tonlos ins Wort.

Alejandro setzte seine leere Tasse ab und kam auf sie zu. „Auch ich habe gestern noch lange nachgedacht. Es gibt eine Wahl.“

Erstaunt sah sie ihn an. „Was für eine Wahl?“

„Option A: Du kehrst nach Spanien zurück und gibst unserer Ehe eine zweite Chance. Option B: Wir kämpfen vor Gericht um das Sorgerecht.“ Ungerührt verfolgte er mit, wie alle Farbe aus ihren Wangen wich. „Aus meiner Sicht ist das ein faires Angebot und wesentlich mehr, als du verdienst.“

Der Schock schlug wie eine Flutwelle über ihr zusammen. Alejandro verlangte von ihr, wieder nach Spanien zu kommen und mit ihm zu leben? Als seine Frau? Ein Vorschlag, den sie niemals erwartet hätte. „Das ist ja völlig verrückt“, entfuhr es ihr.

„Für die Bedürfnisse unseres Sohnes ist es nur logisch und praktisch“, widersprach er nüchtern.

Jemima atmete tief durch und versuchte, allein an ihren Sohn zu denken, auch wenn ihre Gedanken wie vernebelt waren. Sicher, Kinder wünschten sich immer beide Elternteile, aber das war nur die eine Seite der Medaille. „Wenn wir nicht glücklich miteinander sind, wie sollte Alfie dann glücklich sein können? Ich verstehe wirklich nicht, warum wir über ein erneutes Zusammenleben reden müssen.“

„Bist du wirklich so naiv?“ Seine Stimme klang seltsam ruhig. „Ich will dich noch immer. Wäre es nicht so, hätte ich dir dieses Angebot nie gemacht.“

Sein Blick verbrannte sie schier. Heiße Röte schoss ihr in die Wangen. Wieder einmal hatte Alejandro sie völlig überrumpelt. „Heißt das, du kannst mir für die Vergangenheit vergeben?“

Er lachte trocken auf. „So weit würde ich nicht gehen. Ich sage nur, dass ich mich bemühen werde, deine Verfehlungen zu übersehen, wenn ich dich wieder in meinem Bett habe.“

Sie holte tief Luft, um ihren verletzten Stolz zu beruhigen. „Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, die Ehe mit dir wieder aufleben zu lassen. Du hast es vielleicht als Ehe angesehen, aber für mich war es die reine Hölle.“

Der eisige Blick, mit dem er sie bedachte, sagte ihr deutlich, dass sie ihn verärgert hatte. Er bildete sich tatsächlich ein, dass er ihr als der untreuen Ehefrau ein überaus großzügiges Angebot unterbreitet hätte. „Ich habe mir ein eigenes Leben hier aufgebaut, und es gefällt mir. In Spanien fühlte ich mich nur elend, und viel besser schien es dir mit mir als deiner Frau auch nicht zu gehen. Warum solltest du dahin zurückkehren wollen?“

„Weil wir einen Sohn haben.“ Er ließ den Blick vielsagend über sie gleiten. „Und dieses Mal wären die Fronten von vornherein klar gesteckt.“

„Nämlich?“ Zwar hatte sie nicht die Absicht, auf seinen Vorschlag einzugehen, aber sie wollte erfahren, was genau er im Sinn hatte.

„Jetzt kenne ich dich. Ich mache mir weder falsche Hoffnungen, noch hege ich sentimentale Vorstellungen. Unsere Ehe wäre nur ein Arrangement um Alfies willen. Ich erwarte nicht mehr von dir, als dass du die Fassade wahrst und …“

„Und natürlich Sex“, beendete sie schmallippig den Satz für ihn.

„Du solltest dankbar sein, dass du noch immer diese Wirkung auf mich hast, mi dulzura, sonst würde ich es niemals in Betracht ziehen, dich wieder zurückzunehmen.“

Sie traf auf seinen Blick aus glühenden Augen, und zu ihrer maßlosen Beschämung meldete sich sofort ein heißes Sehnen an ihrer geheimsten Stelle. Es machte sie wütend, dass sie noch immer auf ihn reagierte, wenn doch so vieles zwischen ihnen so falsch lief. Doch ihr Körper wollte einfach nicht auf ihren Verstand hören, obwohl sie genau wusste, wie dumm und vor allem selbstzerstörerisch es war, sich zu Alejandro hingezogen zu fühlen. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht ebenso fühlte. Das war eine überraschende Erkenntnis, und sie sah ihn nur verwundert an.

„Es ärgert dich, dass du mich noch immer attraktiv findest“, wagte sie sich vor.

„Ich kann damit umgehen. Mit zunehmender Vertrautheit schwindet der Respekt … wird das nicht allgemein behauptet?“ Kleine goldene Flammen tanzten in seinen Augen, als er den Blick über sie gleiten ließ. „Zudem bin ich überzeugt, dass es mir durch dieses Arrangement gelingen wird, dich ein für alle Mal aus meinem Leben zu verbannen.“

Die Versuchung, sich vorzustellen, was sie für dieses Arrangement im ehelichen Schlafzimmer erwarten würde, war schlicht zu stark. Ihre empfänglicheren Körperteile begannen vor Vorfreude zu summen. Nur den vereinten Kräften von Scham und Stolz gelang es schließlich, solch verräterische Gedanken zurückzudrängen.

„Ich kann nicht nach Spanien gehen. Ich habe mir hier eine Existenz aufgebaut“, betonte sie erneut. „Ich bin nicht bereit, meinen Laden aufzugeben …“

„Aber ich bin bereit, für einige Monate die Kosten für einen Geschäftsführer auf Zeit zu tragen. Das gibt dir die Möglichkeit, eine langfristige Lösung zu finden.“

Dieser pragmatische Vorschlag nahm ihr den Wind aus den Segeln. „Ich kann nicht wieder mit dir leben“, sagte sie leise.

„Die Entscheidung liegt bei dir.“ Alejandro zuckte gleichmütig die Schultern, seine Miene strahlte spanischen Stolz und düstere Reserviertheit aus. „Zwei Jahre im Leben meines Sohnes habe ich bereits verpasst, ich gedenke nicht, noch mehr Zeit verstreichen zu lassen. Mein Anwalt hier in England wartet auf Nachricht von mir – ob ich einen Sorgerechtsprozess anstrebe oder nicht.“

Seine Ankündigung wirkte wie kalter Schnee auf nackter Haut. Alles in Jemima zog sich zusammen. „Erwartest du etwa von mir, dass ich sofort eine Entscheidung treffe?“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. „Warum nicht? Ich habe weder die Geduld noch die Zeit für Verständnis. Und erzähl mir nicht, es hätte dir schlaflose Nächte bereitet, dass du mir meinen Sohn vorenthalten hast.“

Bei seinen Worten lief sie tiefrot an. Ja, es stimmte. Nach ihrer Flucht aus Spanien hatte sie zwar ihrer gescheiterten Ehe nachgetrauert, aber für dieses Scheitern hatte sie ausschließlich Alejandro die Schuld zugewiesen. Jetzt, da genügend Zeit vergangen war, sah sie ein, dass sie ebenfalls schwerwiegende Fehler gemacht hatte, die zu der Trennung geführt hatten. Sie hatte ihm wichtige Dinge verschwiegen und Unmengen von Geld verbraucht. Dennoch hieß das nicht, dass sie bereit war, es auf einen zweiten Versuch mit ihrer Ehe ankommen zu lassen. Aber sie liebte ihren Sohn über alles, und sie musste zugeben, dass sie Alejandro ganz bewusst nicht von Alfies Existenz hatte wissen lassen.

„Ich könnte für ein paar Wochen nach Spanien kommen“, bot sie ohne große Begeisterung an.

„Eine so kurzfristige Maßnahme wäre fruchtlos.“

„Ich kann unmöglich für den Rest meines Lebens in dieser Ehe feststecken. Die Vorstellung ist absurd. Selbst Verbrecher erhalten Straferlass bei guter Führung! Vielleicht kann ich ja für eine Art Probezeit nach Spanien kommen, sagen wir … drei Monate.“

Alejandro runzelte die Stirn. „Und was sollte das einbringen?“

„Nun, dann werden wir wissen, ob ein solches Arrangement zwischen uns überhaupt tragbar ist. Wenn nicht, habe ich immer noch ein Leben hier im Städtchen, zu dem ich zurückkehren kann“, argumentierte sie. „Allerdings brauche ich deine Zusicherung, dass du nicht versuchen wirst, das Sorgerecht für Alfie einzuklagen, solange er in Spanien ist. Das würde dir einen ungerechten Vorteil verschaffen.“

„Den gleichen Vorteil, den du als britische Staatsbürgerin vor einem britischen Gericht haben würdest“, konterte er trocken.

Sie konnte seinem bohrenden Blick nicht länger standhalten. „Es geht einfach nicht … wir können nicht wieder zusammenleben.“ Aufgewühlt marschierte sie mit vor der Brust verschränkten Armen durchs Zimmer.

„In meiner Familie hat es noch nie eine Scheidung gegeben.“

„Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter. Man muss nicht mehr sein ganzes Leben für einen Fehler büßen.“

„Aber du hältst es für richtig, dass unser Sohn büßt, weil er aus einer zerbrochenen Familie stammt?“

Frustriert stöhnte sie auf. Die Vorstellung, all das, was sie in der kurzen Ehe mit Alejandro durchgemacht hatte, erneut zu erleben, entsetzte sie. „Wir können nicht alles nur wegen Alfie perfekt machen.“

„Nein, aber uns obliegt die Verantwortung, unser Bestes für ihn zu geben, auch wenn das persönliche Opfer für uns bedeutet“, hielt er scharf dagegen.

„Du klingst immer so selbstgerecht. Ich will auch nur das Beste für Alfie.“

„Und doch siehst du kein Problem darin, ihn vaterlos aufwachsen zu lassen“, warf er ihr vor. „Wenn du wirklich das Beste für unseren Sohn willst, dann kommst du zurück nach Spanien.“

Es war Erpressung, emotionell und moralisch, ganz gleich, wie man es drehte und wendete. Alejandro wusste genau, wo der wunde Punkt lag, er wusste, wie er ein schlechtes Gewissen in ihr wachrufen konnte. Er ist zu clever für mich, dachte sie bedrückt. Vor zwei Jahren war ihr Bestes nicht gut genug für ihn gewesen, wie vernichtend würde sein Urteil dann jetzt erst ausfallen?

Mal ehrlich, hast du ihm vor zwei Jahren wirklich dein Bestes gegeben? meldete sich eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Heute war sie älter, reifer und vor allem selbstsicherer. Konnte es ihr schaden, wenn sie ihrer Ehe eine zweite Chance gab? Sicher, wenn es nicht funktionierte, würde sie den Trennungsschmerz noch einmal durchmachen müssen, aber dann hatte sie zumindest die Gewissheit, dass sie es versucht hatte.

Dieser letzte Gedanke gab Jemima Auftrieb. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrem großen, attraktiven Ehemann. „Also gut, ich komme nach Spanien, allerdings nur für drei Monate.“

Alejandro musterte sie mit dunklem Blick. Weder zeigte er Triumph noch Überraschung über ihre Kapitulation. „Akzeptiert.“

Ein nervöses Beben durchlief sie, als ihr jäh klar wurde, zu was sie da ihre Zustimmung gegeben hatte. Alejandro würde es sogar gelingen, den Teufel zu überreden, dachte sie hektisch. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, dass jede Mutter allein um des Kindes willen eine Ehe aufrechterhalten würde. Und er hatte sie mit diesen glühenden Augen vielsagend angeschaut und gesagt, dass er sie noch immer begehrte. Damit hatte ihr Körper praktisch sofort die Führung übernommen und den Verstand ausgeschaltet.

„Hast du schon zu Mittag gegessen?“, fragte Alejandro jetzt.

Sie wich zurück, wie ein ehemaliger Süchtiger, dem man die einstige Lieblingsdroge anbot. „Nein, aber ich bin auch nicht hungrig. Ich denke, ich sollte besser wieder zum Laden zurückkehren.“

„Natürlich. Du wirst einiges erledigen müssen. Ich werde eine Agentur beauftragen, einen Geschäftsführer als Ersatz für dich zu finden“, erwiderte er nüchtern. „Die Organisation sollte nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem möchte ich Alfie sehen.“

„Bleibst du übers Wochenende?“ Als Alejandro nickte, fuhr sie atemlos fort: „Dann komme morgen vorbei, damit du ihn sehen kannst.“

„Wie bald kannst du nach Spanien kommen?“, wollte er wissen.

„Sobald ich alles arrangiert habe.“

„Ich sollte dich zurückfahren“, sagte er mit ruhiger Stimme, als sie in der Diele standen.

„Nein danke. Ich bin es gewohnt, mit dem Zug zu fahren.“

„Dann bringe ich dich zum Bahnhof, mi dulzura.“

Jemima war beeindruckt. Sein Verhalten ihr gegenüber hatte sich schlagartig verändert. Sobald sie ihre Zusage gegeben hatte, schien er der Überzeugung zu sein, sich um sie kümmern zu müssen. Es war ein seltsames Gefühl.

Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage hinunter, Jemima stieg in den schnittigen Sportwagen ein. Als sie den Sicherheitsgurt anlegte, zog Alejandro sie an sich, hob ihr Kinn leicht an und drückte seinen Mund auf ihre Lippen.

Es war, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. Oder als wäre sie völlig unvorbereitet von einem Hurrikan überrascht worden. Und während er ihren willigen Mund in Besitz nahm, hoben sich ihre Hände wie von allein und ihre Finger schoben sich in sein seidiges Haar. Dieser Kuss war wie die glorreiche Einladung, sich Gefühlen zu überlassen, die Jemima schon viel zu lange nicht mehr empfunden hatte. Alejandro erweckte einen Hunger in ihr, den sie nie ganz hatte vergessen können.

„Por Dios! Te deseo!“ Mit vor Verlangen heiserer Stimme sagte er ihr, dass er sie begehrte. Sein Geständnis jagte ein Beben durch sie hindurch und ließ Flammen in ihr aufschießen. In Sekundenbruchteilen war es ihm gelungen, die Zeit zurückzudrehen. Sein funkelnder Blick wanderte über ihr erhitztes Gesicht, als Jemima sich atemlos vor Sehnsucht und Selbstverachtung von ihm zurückzog. „Ich würde dir so viel Vergnügen bereiten, wenn du bliebest.“

Sie senkte die Lider, erschüttert darüber, wie groß die Versuchung war. „Wir sehen uns am Samstag“, stieß sie gepresst hervor.

Für die gesamte Dauer der Heimfahrt mit dem Zug hatte Jemima das schöne Gesicht von Alejandro vor Augen. In Gedanken tadelte sie sich unablässig, dass sie seinem Vorschlag zugestimmt hatte. Es war geradezu so, als hätte er sie hypnotisiert!

Sandy holte sie mit dem Firmentransporter vom Bahnhof ab. Zwanzig Minuten später saß Jemima in der Küche in Floras Cottage und hielt Alfie auf dem Schoß. Der Junge schlief schon halb, so sehr hatte er sich in der Spielgruppe verausgabt.

Flora sah sie jetzt mit aufgerissenen grünen Augen an. „Sag mir, dass du das nicht ernst meinst! Ich dachte immer, du hasst deinen Mann.“

Ratlos hob Jemima die Hände vor sich. Wie sollte sie ihre Entscheidung erklären, wenn sie es selbst nicht wirklich begriff? „Was Alejandro über eine zweite Chance für unsere Ehe um Alfies willen sagte, hat irgendwie Sinn ergeben“, gestand sie zerknirscht. „Als ich ihn damals verließ, wusste ich ja nicht, dass ich noch immer schwanger war. Vielleicht wäre ich nicht gegangen, wenn ich es gewusst hätte.“

Flora musterte sie besorgt. „Du warst ein einziges Nervenbündel, als wir uns kennenlernten, und hattest nicht das geringste Selbstvertrauen. Es steht mir nicht zu, deinen Mann zu kritisieren, aber wenn die Ehe mit ihm dir das angetan hat, dann hat da etwas Wesentliches nicht gestimmt.“

„Viele Dinge stimmten nicht, aber das war nicht allein seine Schuld.“ Alfie schmiegte sich mit einem zufriedenen kleinen Seufzer enger in die Arme seiner Mutter, und sie hob ihn in eine bequemere Lage. „Marco lebt inzwischen in New York, und das andere Problem, das ich damals hatte, das … äh … gibt es nicht mehr.“ Sie hielt die Lider gesenkt, damit ihre Augen nicht verrieten, welchen Stress sie in jenen letzten Monaten in Spanien durchgestanden hatte. Es war die schrecklichste Zeit ihres Lebens gewesen.

„Du willst es mit deiner Ehe also noch einmal versuchen“, brachte Flora es nüchtern auf den Punkt. „Nun, wenn es das ist, was du wirklich willst, dann hoffe ich für dich, dass alles so läuft, wie du es dir wünschst. Sollte es jedoch nicht so laufen … Ich bin für dich da, wenn du Hilfe brauchst.“

5. KAPITEL

Vom Rand des kleinen Spielplatzes aus sah Jemima zu, wie Alejandro seinen Wagen parkte und ausstieg.

Halston Manor Estate lag einige Meilen außerhalb des Städtchens, das Anwesen war der Öffentlichkeit ganzjährig zugänglich gemacht, und viele Anwohner aus dem Umkreis nutzten den Park für Freizeitaktivitäten. Jemima hatte den Treffpunkt ganz bewusst gewählt. Hier draußen konnte Alfie überschüssige Energie loswerden, während seine Eltern sich zivilisiert benehmen mussten, handelte es sich doch um einen gut besuchten öffentlichen Ort.

Alejandro erschien in einem ungewohnt lässigen Aufzug – dunkle Lederjacke, Jeans und Pullover. Die frische Frühlingsbrise wirbelte das dunkle Haar um sein gebräuntes Gesicht mit den klassischen Zügen. Er sah einfach umwerfend aus, und jede der anwesenden Frauen schaute ihm mehr oder weniger offen nach. Jemima bemühte sich bewusst, ihn nicht anzustarren, und schob abrupt die Hände in die Jackentaschen. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu Alfie, der gerade die Leiter der Rutsche hinaufkletterte. Seine großen braunen Augen funkelten vor überschäumender Freude.

„Die Familienähnlichkeit ist auffällig“, bemerkte Alejandro zufrieden, als er an Jemimas Seite trat. „Er ist ein typischer Vasquez, auch wenn er deine Locken geerbt hat. Seine Augen und sein Mund haben auch viel von dir.“

„Ich habe ihm von dir erzählt“, teilte Jemima ihm nüchtern mit.

„Wie hat er es aufgefasst?“

„Er ist ganz aufgeregt, weil er jetzt einen Vater hat. Aber das Konzept als solches versteht er nicht wirklich. Er weiß nicht, was ein Vater so alles tut.“

Jemima hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Alejandro ihr und Alfie auch schon zeigte, wozu ein Vater gut war. Er griff ein, als ein größerer Junge sich auf der Leiter vor Alfie drängeln wollte und der Kleinere fast gefallen wäre. Jemima sah zu, wie er ihren Sohn erst stützte und dann begeistert applaudierte, als Alfie rasant die Rutsche herabglitt und Alejandro von dort unten fröhlich angrinste.

Jemima verharrte einen Moment lang nachdenklich. Vater und Sohn glichen sich wie ein Ei dem anderen, mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen, sogar das strahlende Lächeln war das gleiche. Alfie rief ihr zu, mit zu den Schaukeln zu kommen, mit angespannter Miene setzte sie sich in Bewegung. Sie und Alejandro konnten kein normales Gespräch miteinander führen, aber sie hatten ein gemeinsames Kind – ein verstörender Gedanke.

Sie stieß Alfie auf der Schaukel an, und der Kleine wollte sich beweisen und führte seine Kunststückchen vor. Als er jedoch von der noch immer schwingenden Schaukel absprang, fiel er hin und begann zu weinen.

Alejandro war sofort bei ihm und stellte ihn wieder auf die Füße, ging vor ihm in die Hocke, um ihm die Tränen abzuwischen, und führte ihn dann direkt weiter zum nächsten Spielgerät, um ihn abzulenken. Jemima hätte nicht damit gerechnet, dass Alejandro so erfahren im Umgang mit Kindern war. Alles in ihr verspannte sich, als sie zusah, wie ihr Sohn Alejandro die Arme um den Hals schlang und ihn mit jener Herzlichkeit fest drückte, die bei Alfie so natürlich war. Und sie konnte die Veränderungen in Alejandros Miene mitverfolgen: die plötzlich aufschimmernde Wärme in seinen Augen, das Zucken eines Wangenmuskels – ein Zeichen, wie sehr er damit zu kämpfen hatte, seine Emotionen im Zaum zu halten –, und wie er sich wieder aufrichtete und den Jungen schwungvoll gleich mit hochhob.

Sobald Alfie wieder auf dem Boden stand, rannte er zu seiner Mutter und fasste überschäumend nach ihrer Hand. „Jetzt die Enten!“ Er drehte den Kopf und rief: „Papá, Papá, die Enten“, als hätte er Alejandro schon immer so gerufen.

„Wir müssen die Enten füttern gehen“, erklärte Jemima ausführlicher.

Alfie stürmte über den Parkweg Richtung See voran, während Jemima und Alejandro folgten.

„Er ist ein fabelhafter kleiner Junge“, hob Alejandro mit belegter Stimme unvermittelt an. „Das hast du gut gemacht. Nur ein glückliches und ausgeglichenes Kind kann einen Fremden so leicht akzeptieren.“

„Danke.“ Das Lob tat ihr gut. Jetzt entspannter, lehnte Jemima sich an einen Baum und sah den beiden zu, wie sie die Enten fütterten. Alfie plapperte aufgeregt über die Wasservögel, und Alejandro erzählte ihm von dem See im Schlosspark des Castillo del Halcón und den Enten, die dort lebten.

„Die Agentur hat sich gestern gemeldet“, sagte sie. „Mitte nächster Woche wollen sie mir mehrere Bewerbungen mit Lebenslauf zuschicken.“

„Estupendo! Großartig.“

Sein Blick lag herausfordernd auf ihr, und ihre Wangen begannen zu brennen. Jemima hatte das Gefühl, kaum noch atmen zu können. Sie merkte, wie ihre Brustspitzen sich unter dem Pullover aufrichteten, unwillkürlich presste sie die Schenkel zusammen, um den heißen Fluss in ihrem Unterleib aufzuhalten.

„Sag mir …“ Die Hand neben ihrem Gesicht an den Baum gestützt, stand Alejandro vor ihr und schoss seine Frage ohne Vorwarnung auf sie ab. „… was hast du von Marco bekommen, was ich dir nicht hätte geben können?“

Jemima zuckte zusammen, als hätte er ein Messer in ihr Herz gejagt. Sie duckte sich unter seinem Arm weg und wich ein paar Schritte zurück.

„Ich will es wissen“, setzte er harsch hinzu. So schön und so verschlagen, dachte er düster. Eine Tatsache, die er nie vergessen durfte.

Emotionen ließen ihre blauen Augen dunkler werden, frustriert gestikulierte Jemima mit den Händen. „Er hat mit mir geredet, er hat etwas mit mir unternommen und mich seinen Freunden vorgestellt. Er interessierte sich für meine Meinung, und er verbrachte gern Zeit mit mir. Das ist mehr, als du je für mich getan hast!“

Bei ihrer Auflistung der positiven Eigenschaften seines Bruders bedachte Alejandro sie mit einem verächtlichen Blick. „Dir ist doch klar, dass er dich nur benutzt hat, um mir eins auszuwischen. Er ist ein Hasardeur. Aber das hast du inzwischen ja wohl selbst herausgefunden, nicht wahr? Du hast doch gesagt, dass du nichts mehr von ihm gehört hast, seit du Spanien verlassen hast, oder?“

Hilflose Wut packte Jemima bei seiner Bemerkung, denn sie konnte es nicht einmal bestreiten. Letztendlich hatte sich unter dem Druck gezeigt, dass es Marcos Freundschaft an Stärke, Durchhaltevermögen und echter Zuneigung fehlte.

Jemima ließ sich nicht zu einer Erwiderung herab. Für den Rest des Besuchs redete sie nur noch mit Alfie und gab Alejandro nur dann Antwort, wenn er eine Frage direkt an sie richtete.

Einen Monat später wurden Jemima und Alfie von einem Gutsarbeiter mit einem Geländewagen vom spanischen Flughafen abgeholt. Hatte Jemima auch darauf gehofft, dass Alejandro persönlich erscheinen würde, so war sie doch nicht erstaunt. Schließlich hatte sie gleich zu Anfang ihrer Ehe lernen müssen, dass Alejandro ein viel beschäftigter Mann war. Und als seine Ehefrau hatte sie immer ganz unten auf seiner Prioritätenliste gestanden.

Das war eine Erinnerung, die sie nicht unbedingt in gute Laune versetzte, vor allem nicht an dem Tag, an dem sie ihr Zuhause und ihr Geschäft hatte zurücklassen müssen. Für den Laden hatte sie eine exzellente Kraft gefunden, und ihre persönlichen Dinge hatte sie eingelagert, damit die ältere Dame auch das Cottage mieten konnte. War am Ende alles zwecklos: die Weiterbildung, der eigene Laden, ihr hübsch hergerichtetes Cottage? Nun, sie hatte ja nur einem dreimonatigen Aufenthalt in Spanien zugestimmt. Alejandros Erpressungstaktik verlangte viel von ihr, aber um das Sorgerecht für ihren kleinen Jungen zu behalten, war ihr kein Preis zu hoch.

Das Falkenschloss thronte über dem Tal auf einem Gipfel eines Felsenhangs in Las Alpujarras, einer abgelegenen Gebirgsregion, die der letzte Rückzugsort der Mauren in Spanien gewesen war. Kleine Dörfer mit weißen Häusern nestelten sich in die Talhänge, steile schmale Straßen führten durch Oliven-, Mandel- und Orangenhaine. In der fruchtbaren Erde wuchsen Reben und Getreide. Jahrhundertelang hatten die Vasquez’ wie Feudalherren über das Tal geherrscht, und jeder, der miterlebte, wie ehrfürchtig die Anwohner Alejandro, den jetzigen Graf Olivares, grüßten, erkannte sofort, wie viel Ansehen die Familie auch heute noch besaß.

Die Landwirtschaft allein jedoch hatte den gewohnten Lebensstandard der Familie nicht aufrechterhalten können. Der alte Graf hatte eine Kunstgalerie in Madrid eröffnet, aber erst Alejandro mit seinem gewieften Geschäftssinn und dem Mut zum Risiko hatte aus der einen Galerie eine erfolgreiche weltweite Kette gemacht. Auch eine Hotelgruppe hatte er aufgekauft und mehrere äußerst profitable Investitionen getätigt. Da er seinen Tag zwischen dem Geschäftsimperium und der Verwaltung des Familienbesitzes aufteilte, blieb nur wenig Zeit für das Privatleben.

Genau deshalb hatte er immer darauf geachtet, besagtes Privatleben aus den Medien herauszuhalten. Allerdings hatten nicht nur sein Aussehen und sein Titel, sondern auch sein Liebesleben vor der Ehe ihn höchst interessant für die Presse gemacht. Hinzu kam noch seine Präsenz in der Finanzwelt, und somit war seine Hochzeit wie auch die Trennung von seiner Ehefrau sehr zu seinem Unmut ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen.

Schon aus diesem Grund hätte Jemima eigentlich mit dem Blitzlichtgewitter am Londoner Flughafen rechnen müssen, doch sie war zu lange aus dem Rampenlicht verschwunden gewesen, sodass die Meute der Paparazzi sie völlig überrascht hatte.

Sie würde auch zu gerne wissen, wie die Neuigkeit von einer angeblichen Versöhnung und einem gemeinsamen Sohn an die Öffentlichkeit gesickert war. Ihr grauste vor einer neuerlichen Veröffentlichung. Sie betete mit aller Macht, dass die Probleme, die sie schon vor Jahren in die Zwickmühle gebracht hatten, nicht wieder auftauchten und alle in ihrem Umfeld in Mitleidenschaft zogen.

Doch vorerst wollte sie sich nicht von solchen Sorgen zerfressen lassen und konzentrierte sich allein auf die Schönheit der Landschaft. Im Schatten von alten Eichen und hohen Kastanienbäumen arbeitete sich der schwere Wagen eine steile Bergstraße hinauf und fuhr schließlich auf einen Hof, der mit Pflanzen in großen Terrakottakübeln geschmückt war. Alfie sah mit großen runden Augen an den Burgmauern empor, die sie zu drei Seiten einschlossen. Jemima ließ ihn im Wagen zurück, während sie, lässig gekleidet in Jeans und T-Shirt, zu dem großen Holzportal ging und den Türklopfer betätigte.

Aufgezogen wurde die schwere Holztür von Maria, der Haushälterin, die jedoch sofort zur Seite trat, um der älteren Frau hinter sich den Weg freizumachen. Die Frau hielt den Rücken steif und gerade, das graue Haar war makellos frisiert, aus den schwarzen Augen jedoch blitzte wilde Empörung.

„Wie kannst du es wagen, dich erneut in mein Heim zu drängen?“ Doña Hortencia wollte Jemima den Eintritt verwehren.

Beatriz tauchte hinter der Mutter auf und rieb nervös die Hände aneinander. „Jemima, wie schön, dich wiederzusehen. Mamá, bitte, wir müssen Alejandros Wünsche respektieren.“ Jemimas Schwägerin wand sich vor Verlegenheit, es war geradezu mitleiderregend, es mit ansehen zu müssen.

Der Fahrer holte die beiden Koffer aus dem Wagen, und Beatriz sah zu dem kleinen Jungen hinüber, der aus dem Seitenfenster lugte. „Oh, ist das Alfie? Darf ich zu ihm gehen und ihn holen, Jemima?“ Ein einziges Mal wartete Beatriz nicht auf die Erlaubnis ihrer Mutter und eilte zum Wagen.

Der Fahrer trug die Koffer mit einem kurzen Nicken an Doña Hortencia vorbei ins Haus.

„Guten Tag, Doña Hortencia“, grüßte Jemima stoisch und folgte ihm. Sie war fest entschlossen, nicht auf die vernichtenden Blicke zu reagieren, die ihr nachgesandt wurden. So leicht wie vor zwei Jahren würde sie sich nicht mehr einschüchtern lassen. Doña Hortencia würde mit Sicherheit alles daransetzen, um genau das zu erreichen, aber Jemima hatte gelernt, sich nicht mehr so viel aus der Meinung anderer zu machen.

Beatriz kam zurück, sie hielt Alfie bei der Hand. „Mamá, sieh ihn dir nur an“, drängte sie strahlend.

Doña Hortencia blickte auf ihr erstes Enkelkind, und für einen kurzen Moment zog ein milderer Ausdruck auf ihre Miene. Als sie jedoch ihre Schwiegertochter anschaute, verhärteten sich ihre Züge wieder. „Dieser kleine Junge, Alejandros Sohn und Erbe, ist das Einzige, was du je richtig gemacht hast.“

Jemima verkniff sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Alejandros Mutter würde sie nie akzeptieren. Statt einer reichen spanischen Aristokratin hatte der Sohn eine Frau aus einfachen Verhältnissen geheiratet, noch dazu eine Fremde, und Doña Hortencia war zu dünkelhaft und starrsinnig, um ihre Einstellung zu ändern. Als Jemima damals auf das Castillo gekommen war, hatte die Spanierin alles getan, um der Schwiegertochter das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. Dieses Mal jedoch würde Jemima sich nicht in die Opferrolle fügen.

Beatriz führte Jemima die breite geschwungene Treppe hinauf und machte Small Talk, als hinge ihr Leben davon ab. Düstere Ahnenporträts schauten von den Wänden auf die beiden Frauen herunter. So ernst Alejandro manchmal auch schien, verglichen mit seinen Ahnen hatte er ein geradezu sonniges Gemüt.

„Alejandro hat eine Nanny engagiert, die dir mit Alfie helfen wird“, verkündete Beatriz jetzt.

„Wie umsichtig von deinem Bruder“, erwiderte Jemima, als sie sich von dem ersten Schock erholt hatte.

„Placida ist die Tochter von einem unserer Pächter und ein wirklich fähiges Mädchen.“

Beatriz sollte sich nicht unbehaglich fühlen. „Ich bin sicher, sie ist bestens als Nanny geeignet“, sagte Jemima diplomatisch.

„Ich habe dieses Zimmer für Alfie ausgesucht.“ Beatriz stieß die Tür zu einem komplett eingerichteten Kinderzimmer mit Unmengen von Spielzeug auf. „Aber vielleicht möchtest du ja lieber ein anderes Zimmer …“

„Nein, das hier ist sehr hübsch. Hast du auch all die Spielzeuge besorgt?“

Beatriz lachte. „Nein, das war mein Bruder. Kannst du dir vorstellen, dass Alejandro persönlich Spielzeug kaufen gegangen ist?“

„Wenn du es mir nicht gesagt hättest, würde ich es nicht glauben.“ Jemima wusste, wie sehr Alejandro Einkaufen verabscheute. So zornig sie auch darüber war, sich ungewollt in Spanien wiederzufinden, so gerührt war sie über Alejandros Bemühungen um Alfie. Doch sofort schoss ihr der nächste Gedanke in den Kopf. Wäre es nicht viel mehr wert als alles Spielzeug der Welt, wenn er selbst hier wäre? Und erhielt Alfie jetzt etwa seine erste Dosis der Vernachlässigung, mit der sie sich als Ehefrau hatte abfinden müssen?

Alfie kannte keine solchen Bedenken. Voller Begeisterung stürzte er sich auf die vielen Spielzeugautos und hob eines in der kleinen Hand hoch in die Luft.

Seine Tante schaute ihm fasziniert zu. „Du musst stolz auf ihn sein.“

Nicht zum ersten Mal empfand Jemima so etwas wie Mitleid für Beatriz. Sie war fünfunddreißig, aber Doña Hortencia hatte es geschafft, aus ihrer gehorsamen Tochter eine alte Frau zu machen, die ein völlig abgeschiedenes Leben führte, denn Doña Hortencia war kein Mann als Schwiegersohn gut genug gewesen.

Placida kam hinzu, um sich vorzustellen. Man plauderte eine Weile, dann ließ Jemima Alfie in der Obhut der beiden Frauen zurück und überquerte den Korridor zu der Suite, die sie vor der Schwangerschaft zusammen mit Alejandro bewohnt hatte.

Sie erkannte die Turmräume nicht wieder. Neue Möbel standen hier, und die düsteren Tapeten, die Jemima so verabscheut hatte, waren einem Anstrich in hellen Pastellfarben gewichen. Ein Hausmädchen packte bereits Jemimas Koffer aus und hängte die Sachen ordentlich in das Ankleidezimmer.

Ein verstörendes Déjà-vu … Schon als Alejandro nicht am Flughafen erschienen war, hatte sich in Jemima der Verdacht geregt, dass sich nichts an ihrer Ehe ändern würde. Und wie immer hatte Alejandro sich über alles und jeden hinweggesetzt und die alleinige Kontrolle übernommen. Er hatte Placida eingestellt, ohne Rücksprache mit Jemima zu halten. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie in seinen Augen anscheinend überflüssig im Leben ihres Kindes war.

Sobald das Mädchen mit seiner Arbeit fertig war und die Suite verließ, beschloss Jemima, erst einmal zu duschen. Als sie im Ankleidezimmer nach frischer Wäsche suchte, entfuhr ihr ein überraschter Laut.

Die Schränke hingen voll mit Kleidern, in den Schubladen lagen die feinsten Dessous – und alles in ihrer Größe! Ihre mitgebrachten Sachen wirkten im Vergleich regelrecht schäbig. Offenbar hatte Alejandro eine komplett neue Garderobe für sie geordert. Solche Großzügigkeit war typisch für ihn, dennoch fühlte Jemima sich nicht wohl bei dem Gedanken. Vermutlich traute er ihr nicht zu, sich entsprechend zu kleiden, und wollte sich mit ihr nicht blamieren.

Aber die Vorstellung, die verächtlichen Blicke ihrer Schwiegermutter beim Dinner ertragen zu müssen, war auch nicht angenehm, und so erlag Jemima nach der Dusche der Versuchung und suchte ein elegantes saphirblaues Kleid heraus. Sie schlüpfte in die passenden Sandaletten und eilte dann, um nach Alfie zu sehen.

Der Junge planschte glücklich in der Kinderbadewanne, Placida passte auf ihn auf. Jemimas Spanisch war ein wenig eingerostet, aber es reichte aus, um von Placida zu erfahren, dass Alfie bereits zu Abend gegessen hatte. So kehrte Jemima ins Schlafzimmer zurück.

Während sie versuchte, ihre widerspenstigen Locken zu einer eleganten Frisur zu bändigen, ging die Tür auf und Alejandro trat sein. Sein sonst immer so makelloses Erscheinungsbild hatte eindeutig gelitten. Die Krawatte trug er in der Hand, sein Maßanzug wirkte im Licht der untergehenden Sonne verknittert, auf seinen Wangen stand ein dunkler Bartschatten. Dennoch sah er unglaublich männlich und sexy aus. Und wütend stellte Jemima fest, dass ihr verräterischer Körper bereits reagierte, auch wenn ihr Stolz eine solch erdverbundene Reaktion streng tadelte.

„Ich habe Maria Bescheid gesagt, dass wir heute allein in unseren Räumen essen. Ich brauche nur zehn Minuten, um mich zu duschen“, meinte Alejandro lässig, doch der Blick, mit dem er sie von Kopf bis Fuß musterte, war alles andere als das. Es wunderte Jemima, dass sie nicht in Flammen aufging.

„Woher nimmst du dir das Recht, mich so anzusehen?“, schleuderte sie ihm entgegen. Seine Vertraulichkeit und sein Plan für ein intimes Dinner zu zweit hatten ihre Wut angefacht. Es würde sehr viel mehr nötig sein, bevor sie sich zur Rolle der willigen Ehefrau bereit erklärte.

Er schüttelte das Jackett von den Schultern und knöpfte sich das Hemd auf. „Du bist eben ein Anblick, der sich nicht ignorieren lässt“, neckte er sie.

Jemimas Selbstbeherrschung hing an einem seidenen Faden. Ihr war klar, wie unsinnig es war, sich erst darüber zu beschweren, dass ein Mann Distanz hielt, und sich dann aufzuregen, dass er nicht distanziert genug war. Frustriert drehte sie sich wieder zum Spiegel um. Die Genugtuung, ihre Enttäuschung zu sehen, weil er nicht am Flughafen aufgetaucht war, wollte sie ihm nicht geben. Sie war auch enttäuscht gewesen, dass er nicht einmal angerufen hatte, um sich wenigstens zu entschuldigen. Aber das kannte sie ja noch von früher – er hatte selten Rücksicht auf ihre Gefühle genommen. Am liebsten hätte sie getobt!

Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. „Ich bin eine solche Närrin! Ich hatte tatsächlich geglaubt, es würde anders sein. Dass du dich bemühen würdest, damit es dieses Mal funktioniert.“

„Wovon redest du überhaupt?“ Alejandro zog das Hemd aus und entblößte somit einen faszinierend männlichen Oberkörper.

Jemima wirbelte wieder zu ihm herum. Der Puls an ihrem Hals hämmerte. Das Sprechen machte Mühe, wenn sie jede Zelle in ihrem Körper dazu zwingen musste, sich von diesem hypnotisierenden Anblick direkt vor ihr nicht beeinflussen zu lassen. „Vor zwei Stunden bin ich angekommen. Wie, glaubst du, war es für mich, deiner Mutter gegenüberzustehen, bevor ich dich überhaupt gesehen habe? Wenigstens einmal in deinem Leben hättest du für mich da sein können, aber der Gedanke ist dir wohl nicht gekommen!“

„Ich habe meiner Mutter eine Nachricht für dich hinterlassen. Willst du behaupten, sie hätte sie nicht weitergegeben?“

Sein hochmütiger Ton fachte ihren Ärger nur weiter an. „Deine Mutter hasst mich wie die Pest. Glaubst du wirklich, sie würde sich die Mühe machen, eine Nachricht an mich weiterzuleiten? So naiv kannst du nicht sein.“

„Wenn du meine Nachricht nicht bekommen hast, muss ich mich für dieses Versäumnis entschuldigen“, meinte er diplomatisch, entledigte sich seiner restlichen Kleidung und schlenderte lässig in glorreicher Nacktheit wie ein heidnischer Gott ins Bad.

Seine verbindliche Höflichkeit machte sie so wütend, dass sie meinte, Rauchwölkchen würden ihr aus den Ohren steigen. „Zieh nicht diese aristokratische Show bei mir ab. Du willst mich nur in Verlegenheit bringen, damit ich den Mund halte!“

„Wem wäre es jemals gelungen, dich verlegen zu machen?“ Und mit dieser schneidenden Bemerkung stellte er sich unter die Dusche und drehte das Wasser auf.

„Ich hasse dich, wenn du mich so behandelst!“ Jemima blieb in der Badezimmertür stehen, und all die unglücklichen Erinnerungen aus der früheren Zeit ihrer Ehe stürzten mit Wucht auf sie ein. Doch sie hatte nicht vor, das noch einmal durchzumachen. Nur … hatte sie nicht gerade um Alfies willen einer Neuauflage zugestimmt? Aber wie sollte es Alfie guttun, wenn sie den übermächtigen Drang in sich verspürte, seinem Vater an die Gurgel zu gehen?

Das Wasserrauschen setzte aus, Alejandro trat unter der Dusche hervor, strich sich das nasse Haar mit den Fingern zurück und wickelte sich ein Handtuch um die Hüften. Wassertropfen rannen glitzernd über seine gebräunte Haut. Mit aufreibender Selbstsicherheit schaute er Jemima an. „Du hasst mich nicht.“

Sie schlang die Arme um sich. „Was macht dich da so sicher? Ich bin gegangen, weil ich dich nicht ertragen konnte.“

Alejandro machte ein paar Schritte vor, und sie wich zurück ins Schlafzimmer. „Wieso?“, fragte er nüchtern. „Weil ich gemerkt habe, was zwischen dir und Marco lief? Weil ich Fragen stellte, wo all das Geld geblieben war? Jeder Mann hätte Antworten darauf verlangt.“

„Ich bin gegangen, weil du mir kein Wort geglaubt hast. Das war zwar der wichtigste, aber nur einer von vielen Gründen“, warf sie ihm mit blitzenden Augen vor.

Er runzelte die Stirn. „Ich habe Hunger. Ich will mich anziehen und etwas essen, auf einen Streit habe ich jetzt wirklich keine Lust.“

„Alejandro …“ Die Wut schoss so jäh in ihr auf, dass Jemima tatsächlich meinte, größer geworden zu sein. „… bei dir hat es nie den richtigen Zeitpunkt gegeben. Ich lege dir jedoch dringend nahe, die Augen aufzumachen und dir anzusehen, welcher Beitrag zum Scheitern unserer Ehe dir zukommt, anstatt die Schuld allein mir zuzuschieben.“

„Lassen wir die Vergangenheit ruhen.“

„Das sagst ausgerechnet du, wenn du mir bei jeder Gelegenheit vorhältst, was ich falsch gemacht habe?“, zischelte sie.

Alejandro stöhnte laut auf. „Dann sag, was du zu sagen hast, mit so wenigen Worten, wie es dir möglich ist.“

„Du hast mich gezwungen, mit deiner Mutter unter einem Dach zu leben …“

„In Spanien ist das durchaus üblich, und das Schloss ist groß.“

„So simpel war das nie. Doña Hortencia verachtet mich und hat es mich jede Minute spüren lassen. Hast du je etwas unternommen, damit sie damit aufhört?“

„Du übertreibst“, tat er ab.

„Bat ich irgendjemanden vom Hauspersonal um etwas, mussten sie es erst mit Doña Hortencia besprechen, schließlich ist sie die Hausherrin. Es kam höchst selten vor, dass ich erreichte, was ich wollte. Sie kritisierte alles, was ich tat, weigerte sich, mit mir zu reden, wenn du nicht hier warst, und hat mich vor Gästen beleidigt. Frag deine Schwester. Beatriz bemüht sich immer, jedem Streit tunlichst aus dem Weg zu gehen, aber sie wird nicht lügen.“

Sein Blick gab nichts preis. „Ich werde das überprüfen.“

Jemima sah ihn wütend an. „Also glaubst du mir auch das nicht.“

„Da es so aussieht, als müsste ich noch länger Hunger leiden … was wirfst du mir sonst noch vor?“, fragte er trocken.

Sein ironischer Ton ließ sie vor Entrüstung beben. „Du bist schuld, dass ich ungewollt schwanger wurde!“

Verblüfft schaute er sie an. „Du liebst deinen Sohn. Du kannst mir wohl kaum vorwerfen, dass du ihn zur Welt gebracht hast, oder?“

„Als ich herausfand, dass ich schwanger war, habe ich dich dafür verantwortlich gemacht. Du hast nicht auf den Schutz geachtet, und ich musste den Preis dafür bezahlen.“ Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie an jene heiße Liebesszene unter der Dusche zurückdachte, bei der sie Alfie empfangen hatte. „Wir waren gerade erst ein paar Monate verheiratet, ich fühlte mich noch viel zu jung, um Mutter zu werden. Ich war noch nicht bereit für ein Baby, und die Schwangerschaft hat das Gefühl, in der Falle zu sitzen, nur verstärkt. Aber das hast du nie verstanden, oder?“

„Nein. Du hast damals auch nichts davon gesagt“, erwiderte er sachlich. „Natürlich ist mir aufgefallen, dass du unglücklich warst, aber ich schob es auf die morgendliche Übelkeit. Außerdem würde ich annehmen, dass du in dieser Hinsicht längst alle bitteren Gefühle abgelegt hast, jetzt, da Alfie auf der Welt ist.“

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du bist also fein raus, während ich mit meinem Fehler leben muss?“

„Alfie ist kein Fehler, Jemima. Er ist das Beste, was uns beiden passieren konnte.“ Sein bewegter Ton schwankte vor Emotionen. So etwas kam nur selten bei Alejandro vor.

Tränen brannten plötzlich in Jemimas Augen. „Ich meinte auch nicht, dass er ein Fehler war …“

„Was meintest du dann? Ich verstehe nicht, wie du Alfie lieben kannst, seine Empfängnis aber bedauerst.“

Die Wärme seiner Haut drang durch den Stoff ihres Kleides, und sie erschauerte unmerklich. „Ich bedaure es nicht.“

„Und doch hältst du mir einen Moment der Gedankenlosigkeit vor – ein Vorwurf, den du dir übrigens auch selbst machen könntest.“ Sein flammender Blick wanderte über ihr Gesicht.

Und während Jemima wie gefangen von seinem Blick war, ergriff eine seltsame Lethargie Besitz von ihr. Das Blut floss heiß und träge wie Lava durch ihre Adern, in ihren Ohren begann es zu rauschen – eine Reaktion, die nur Alejandro in ihr auslösen konnte. Er beugte den Kopf und küsste sie mit hemmungslosem Hunger. Seine Lippen forderten, und seine Zunge verlangte unwiderstehlich Einlass. Jemima konnte sich nicht wehren, mit einem hilflosen Seufzer ergab sie sich dem sinnlichen Anschlag.

Er küsste sie, bis ihr Puls raste, bis sie atemlos und erhitzt war und nicht mehr klar denken konnte. Sie hörte das Surren eines Reißverschlusses, und dann glitt das seidige Kleid auch schon an ihrem Körper herab und bauschte sich zu ihren Füßen. Noch während Alejandro sie auf seine Arme hob, kickte sie die Schuhe von den Füßen und ließ sich ohne Protest von ihm auf das Bett niederlegen. Sie liebte seine Stärke, seine unverbrüchliche Selbstsicherheit. Sie würde nicht vorgeben, dass sie gegen ihren Willen verführt wurde, denn sie wurde von einem schockierenden Verlangen verzehrt.

„Wir sollten nicht …“, hauchte sie matt und hob doch im gleichen Moment die Hand an seine Wange, um mit dem Daumen über seinen schönen Mund zu streichen – der Mund, der ihr so viel Vergnügen schenken konnte.

„Lass uns nicht wieder die gleichen Spiele wie vor unserer Hochzeit spielen, mi dulzura“, murmelte Alejandro heiser.

Seine Bemerkung verwirrte sie, sie ließ die Hand sinken. „Was meinst du?“

„Ohne Bindung kein Sex“, erwiderte Alejandro rau. „Du hast die uralte Waffe der Frauen eingesetzt.“

„Das war weder ein Spiel noch eine Waffe!“ Jetzt protestierte Jemima allerdings, zutiefst verletzt, dass er so dachte. Als sie damals erkannt hatte, dass ihr Herz Alejandro gehörte, hatte sie sich so gut wie möglich zu schützen versucht. Und ein Nein zum Sex, während er sich mit anderen Frauen traf, war ihr nur vernünftig erschienen.

„Aber warum sollte ich es nicht zugeben?“ Mit dem stoppeligen Kinn rieb er sinnlich über ihre Haut und lachte, als sie sich unter ihm wand. „Es war sehr effektiv. Zum Schluss wollte ich nur noch dich. So sehr, dass du mir wie der Hauptpreis vorkamst, den ich unbedingt gewinnen musste. Und im Bett hast du meine Erwartungen ja auch mehr als erfüllt.“

Ihre Wangen brannten. „Es war kein Spiel“, beharrte sie. „Für dich vielleicht, für mich nicht. Ich war noch Jungfrau!“

„Und ich wusste es zu schätzen und habe das Richtige getan. Ich habe dich geheiratet.“

Nur hatte Jemima soeben einen beunruhigenden Einblick erhalten, wie Alejandros Sicht auf die Monate vor der Hochzeit war. Er hatte immer nur Lust empfunden, weil sie sich ihm verweigert hatte. Und die Lust war so weit angewachsen, dass er ihr sogar die Ehe angeboten hatte, damit sie immer verfügbar war. Die Beziehung hatte ja scheitern müssen.

Lust dauert nicht ewig, dachte sie und drängte sich seinen Liebkosungen doch gierig entgegen, als Alejandro mit den Lippen über die festen Halbmonde über der Spitze ihres BHs glitt. Jemima stöhnte auf, als er die harten Spitzen zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, und bog den Rücken durch. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass es ihr Schmerzen bereitete.

„Ich liebe deine Brüste“, murmelte er heiser. „Du ahnst nicht, wie oft ich mir diesen Moment in den letzten Wochen ausgemalt habe.“ Er schob das Spitzenhöschen an ihren Schenkeln hinab, drängte ein Knie zwischen ihre Beine. Begierde glühte in seinem Blick, als er ihren nackten Körper mit den Augen verschlang.

Jemima erbebte unter seinem fordernden Kuss. Seine drängende Zunge löste ein Feuerwerk in ihr aus, und in fiebriger Gier hob sie die Hüften an.

„Oh, bitte …“, flehte sie ungeduldig. Das Verlangen war zu stark, sie hielt es nicht länger aus.

„Ich will mich erst an deinem Anblick weiden … ich will warten.“ Er tauchte die Finger in die feuchte Hitze zwischen ihren Schenkeln ein und beobachtete ihr ausdrucksstarkes Gesicht, auf dem sich die innere Schlacht mitverfolgen ließ, die sie schlug, um die Kontrolle nicht zu verlieren.

„Du sollst mich nicht ansehen“, stieß sie stockend hervor.

Sie litt Qualen unter der süßen Folter, die er ihr antat. Er wusste genau, wo er sie berühren musste, kannte genau die richtige Stärke, das richtige Tempo. Ihre Lider flatterten, als die Welle der Lust heranrollte. Der Höhepunkt war wie ein tobender Sturm, verlangte alles von ihr, bevor sie sich in eine Welt atemloser Ekstase fallen ließ.

Er zog sich von ihr zurück, dabei wünschte sie sich nichts anderes, als dass er sie festhalten würde. Die Welt war meilenweit entfernt, sie selbst schwebte noch immer in dem warmen Kokon matter Zufriedenheit. Dann hörte sie, wie eine Schublade aufgezogen wurde, vernahm das Geräusch reißender Folie, und keine Sekunde später war Alejandro wieder bei ihr. Und ihr wurde klar, dass er, nach dem, was sie gesagt hatte, keine Schwangerschaft mehr riskieren wollte.

Jemima stand in Flammen, sie konnte es kaum erwarten, endlich ganz von ihm in Besitz genommen zu werden. Der Höhepunkt hatte das drängende Bedürfnis, auf die ursprünglichste Art mit ihm verbunden zu sein, lange nicht befriedigt. Er legte sich auf sie und drang mit einem kraftvollen Stoß in sie ein, und sie bog sich ihm entgegen. Es war ein so wundervolles Gefühl, von ihm erfüllt zu werden! Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft.

„Du willst mich“, rief er triumphierend.

Und dann setzten sie gemeinsam zu einem wilden, losgelösten Ritt an. Alejandro gab den Rhythmus vor, schnell, hart, kraftvoll. Jemima war wie entfesselt. Gierig und hemmungslos folgte sie Alejandro, bis sie irgendwann bebend aufschrie und zusammen mit ihm den Höhepunkt erreichte. Es war eine derart intensive Erfahrung, dass sie meinte, das Bewusstsein zu verlieren.

„Por Dios. Sagenhaft.“

Alejandro rang nach Atem. „Und ich hatte Angst, ich würde nichts fühlen können, wegen Marco und dir. Aber du sprühst vor Erotik, ich hätte aus Stein sein müssen, um dir zu widerstehen.“

Bei seinen Worten verspannte sie sich. Sie öffnete die Lippen, wollte etwas sagen, doch schon hieß ein langer schlanker Finger an ihrem Mund sie schweigen.

„Nein, streite es nicht ab, querida. Jedes Mal, wenn du es leugnest, werde ich wieder wütend. Und es war ein langer und anstrengender Tag.“

Sein Misstrauen und seine Weigerung, ihr zu glauben, jagten einen Kälteschauer über sie. Sie machte sich aus seiner Umarmung frei und rollte sich an den äußersten Bettrand, um ihn argwöhnisch anzusehen. Er bot das Bild völliger Entspanntheit, das schwarze Haar wirr, weil sie mit den Fingern darin gewühlt hatte, die Bartstoppeln noch immer auf Kinn und Wangen, denn zum Rasieren war er nicht mehr gekommen. Doch in ihrem Innern sprudelte das Gefühl unglaublicher körperlicher Befriedigung, eine Quelle, die seit ihrem damaligen Abschied von Spanien versiegt war. Nur würde es lange dauern, um die Scham zu verarbeiten, wie hemmungslos sie ihr Begehren gezeigt hatte.

Den Kopf auf dem Kissen, drehte Alejandro das Gesicht zu ihr. „Sicherlich siehst du ein, dass wir aus unserem Zusammenleben nur dann einen Erfolg machen können, wenn wir die Vergangenheit akzeptieren, wie sie ist?“

Trotzig verzog Jemima die vollen Lippen. Jetzt war er also noch einen Schritt weitergegangen – nicht nur weigerte er sich, ihr Glauben zu schenken, er wollte ihre Ausführungen nicht einmal mehr anhören. Was konnte sie da schon von der Zukunft erwarten, wenn er an der Überzeugung festhielt, sie wäre ihm untreu gewesen?

„Erst duschen, dann Dinner“, brach er mit seiner knappen Anweisung das drückende Schweigen. Er griff nach Jemimas Hand und zog sie mit sich vom Bett hoch.

„Wo warst du heute? Wieso war es nötig, mir eine Nachricht zu hinterlassen? Was ist passiert?“, fragte Jemima abrupt, als er sie hinter sich her zum Bad zog.

„Pepe, einer der Arbeiter in den Weinbergen, ist mit dem Traktor verunglückt und wurde schwer verletzt.“ Alejandro presste die Lippen zusammen. „Er hat es nicht geschafft. Ich bin bei seiner Frau im Krankenhaus geblieben, um sie zu trösten. Ihr einziges Kind lebt im Ausland, die anderen Verwandten sind alle schon älter. Bis ich die Frau nach Hause gebracht und der ganzen Familie mein Beileid ausgesprochen hatte …“

Jemima war entsetzt über das, was sie hörte. „Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich es gewesen sein muss. Es tut mir leid. Hätte ich das gewusst, hätte ich nichts gesagt …“

„Aber du wusstest es nicht und hattest somit das Recht, dich zu beschweren.“ Dass er das Thema so schnell abtat, sagte ihr, dass er nicht mehr darüber reden wollte. Tatsächlich war der Tag lang und anstrengend gewesen …

Unter dem prasselnden Wasserstrahl in der großen Duschkabine lehnte er sich an die geflieste Wand und schloss für einen Moment die Augen. Ja, er sah wirklich müde aus. Das schlechte Gewissen meldete sich in Jemima, dennoch wehrte sie sich gegen dieses Gefühl. Zu oft in ihrer Ehe war sie sich schuldig und eigennützig vorgekommen, nur weil sie mehr Zeit mit Alejandro verbringen wollte. Immer hatte er etwas Dringendes zu tun gehabt, etwas, das wichtiger war als sie. Aber mit Sicherheit hatte Alejandros Anwesenheit Pepes Frau und Familie Unterstützung geboten und ihnen Trost gespendet. Alejandro war der Typ, der in Krisen Stärke und Verlässlichkeit bewies, das wusste sie.

Und genau daher hatte sie sich oft gefragt, warum er sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn am nötigsten brauchte. War sie als seine unglückliche und unpassende Ehefrau einfach nur ein weiteres Problem gewesen? Eines, von dem er froh war, es los zu sein? Es war dumm von ihr, zu vergessen, warum er sie nach Spanien zurückgeholt hatte – damit sein Sohn in seinem Haus lebte.

Jemima machte sich nicht die Mühe, sich anzuziehen, schlüpfte nur in ein Nachthemd und warf einen Satinmorgenmantel über. Dann ging sie zu Alejandro in den Salon, wo trotz der späten Stunde das Dinner angerichtet worden war. Alejandro selbst hatte Jeans und ein schwarzes T-Shirt übergestreift, er sah darin nicht nur jünger und zugänglicher, sondern auch umwerfend gut aus.

Eine Vase mit frischen Margeriten schmückte den Tisch und erinnerte Jemima jäh an die Episode, als Alejandros Mutter einen Strauß wilder Blumen, den Jemima gepflückt hatte, unzeremoniös in den Abfall geworfen hatte. In jenen Tagen war sie noch naiv und leicht zu verletzen gewesen. Kaum reif genug, um Ehefrau zu sein, geschweige denn Mutter, hatte sie mehr als nur eine unweise Entscheidung getroffen und war davongerannt, sobald es schwierig geworden war.

Über den Tisch hinweg musterte Alejandro seine Ehefrau. Das helle Haar hatte sie in einem wirren Knoten aufgesteckt, sie trug keinerlei Make-up – und war fesselnd schön mit ihren feinen Zügen, der makellosen Haut und den großen Augen in der ungewöhnlichen Farbe. Der Sex war noch besser gewesen, als er in Erinnerung hatte, doch noch war Alejandro keineswegs sicher, dass er seine Frau da hatte, wo er sie haben wollte. Dass sie ihren Aufenthalt hier auf nur drei Monate beschränkt halten wollte, verstieß gegen sämtliche seiner Überzeugungen. Sie war der genaue Gegenpol zu ihm – impulsiv, kapriziös und unberechenbar. Es würde immer eine Herausforderung sein, ihre nächsten Schritte vorauszusehen.

Verärgert wurde ihm klar, dass er schon wieder eine Schlacht mit sich schlug. Ein Konflikt, in dem er sich ständig befand, sobald es um Jemima ging. Wie hatte er eine untreue Ehefrau zurückholen können, wenn es gegen alles ging, an das er glaubte? Noch dazu eine untreue Ehefrau, die sich weigerte, ihre Schuld einzugestehen. Eine uneinsichtige Goldgräberin, die nur deshalb in England so lange hatte überleben können, weil sie ihn um Tausende von Euro erleichtert hatte, wohl schon damals in dem Kalkül, sich vor der Flucht finanzielle Sicherheit zu verschaffen.

Der Verdacht hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei einem Mann, der immer an ein Übermaß weiblicher Aufmerksamkeit gewöhnt gewesen war. Nur die eigene Ehefrau hatte nicht schnell genug von ihm wegkommen können.

Doch woher nahm er sich das Recht, auf Moral zu pochen? Er hatte den gemeinsamen Sohn als Waffe genutzt und Jemima zur Rückkehr erpresst. Erstaunlicherweise fühlte er sich überhaupt nicht schuldig. Denn hatte er nicht nur das Beste für seinen Sohn im Sinn gehabt? Wenn man mit einer solchen Frau zu tun hatte, blieb einem nichts anderes, als zu außergewöhnlichen Maßnahmen zu greifen.

Alejandro nippte an seinem Wein, während sein wacher Verstand ihn mit Wahrheiten konfrontierte, die er lieber ignoriert hätte. Jemima konnte ihn in Flammen aufgehen lassen, aber sie war nicht gut für ihn. Ein Mann sollte sich eine anständige Frau suchen, statt sich auf eine ehrlose Lügnerin einzulassen. Doch sobald er in dem kleinen englischen Städtchen all die Männer gesehen hatte, die ihr nachhechelten, waren seine Libido und sein Besitzanspruch in schwindelnde Höhen geschossen. Jemima gehörte ihm … und sie war eindeutig seine Schwäche.

Nun, eine Schwäche konnte ein Mann sich leisten – solange er auf Schadensbegrenzung achtete. Und verletzen konnte sie ihn nicht, schließlich war keine Liebe im Spiel. Er war noch nie verliebt gewesen, und er war stolz darauf. Verliebte Männer machten sich zum Narren, während ein Mann, der ausschließlich Lust für eine Frau empfand, sich immer unter Kontrolle hatte und genau wusste, was er tat und warum er es tat.

Als das Schweigen Jemima zu unangenehm wurde, ergriff sie das Wort. „Beim Abflug in London wurden Alfie und ich von einer Reportermeute in Empfang genommen. Sie schienen auf uns gewartet zu haben.“

Prompt erschien eine tiefe Falte auf Alejandros Stirn. „Jemand muss ihnen einen Tipp gegeben haben. Woher hätten sie es sonst wissen sollen?“

„Von mir auf jeden Fall nicht.“

„Sicher nicht?“, konterte er zynisch.

Empört sah sie ihn an. „Du glaubst, ich würde die Paparazzi informieren?“

„Entweder hast du dir mit der Information ein nettes Sümmchen verdient, oder du genießt es einfach, im Rampenlicht zu stehen.“ Alejandro warf seine Serviette auf den Teller und stand auf. „Wie auch immer … Sei gewarnt. Ich mag diese Art von Publicity nicht.“

„Wohin gehst du?“ Seine Anschuldigung hatte ihr Temperament angefacht.

„Zu Bett. Erst sehe ich noch nach Alfie. Buenas noches, querida.“

Unter dem Tisch ballte Jemima die Hände zu Fäusten. Nach dem leidenschaftlichen Liebesspiel war es wie ein Schlag ins Gesicht, dass er in einem separaten Zimmer schlafen wollte. Aber es war nur eine Erinnerung daran, wie sehr der Schein trügen konnte. Weder das großzügige Geschenk der neuen Garderobe noch das vertraute Dinner zu zweit bedeuteten, dass es hier um eine echte Versöhnung ging. „Ich habe die Medien nicht informiert.“

„Irgendjemand hat es aber getan.“ Angriffslustig hob er sein Kinn.

„Weißt du, es gefällt mir nicht, dass du eine Nanny eingestellt hast, ohne vorher mit mir darüber zu reden“, wechselte sie abrupt das Thema.

„Das besprechen wir morgen“, gab er ungeduldig zurück und ließ sie allein vor dem nicht angerührten Dessert sitzen.

Wenig später kam ein Hausmädchen, um den Tisch abzuräumen. Jemima stand auf, um nach Alfie zu sehen. Einen Moment lang beneidete sie den friedlich schlafenden Jungen. Er sah so zufrieden aus. Ein fremdes Bett in einer unbekannten Umgebung? Für Alfie kein Grund, nicht einschlafen zu können. Und warum sollte es für ihren Sohn auch anders sein? Seine Kindheit ließ sich nicht mit der seiner Mutter vergleichen, denn ihre war von Unsicherheit und Ängsten geprägt gewesen. Alfies Welt dagegen war stabil, er bekam alles, was er brauchte, vor allem Liebe im Überfluss. Er kannte weder Gewalt noch Willkür. Jemima war stolz darauf, dass sie schon jetzt mehr für ihn getan hatte als ihre Eltern jemals für sie.

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte unter die Bettdecke. In die Kissen zurückgelehnt, schaltete sie den Fernseher ein und wählte schließlich den Musikkanal.

Sie musste eingeschlafen sein, denn ein leises Geräusch ließ sie auffahren. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Blinzelnd sah sie zu Alejandro, der die Fernbedienung aufnahm und das Gerät ausschaltete. Die Nachttischlampe brannte noch.

„Ich hab wohl geschlafen“, murmelte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie fragte sich, ob die Musik vielleicht zu laut gewesen war und Alejandro aufgeweckt hatte, denn er trug nur Jeans und war barfuß. Sie starrte auf seinen Oberkörper, und plötzlich wurde ihr heiß.

Alejandro schickte ihr einen düsteren Blick zu. „Ich schlafe heute Nacht hier“, teilte er ihr mit. Mit funkelnden Augen forderte er sie dazu heraus, ihm zu widersprechen.

Jemima warf einen Blick auf die Uhr. Es war immerhin drei Uhr morgens. Irritiert verfolgte sie mit, wie er sich die Jeans auszog, und noch erstaunter war sie, als sie erkannte, dass er darunter nichts trug und … nun ja, es war nicht zu übersehen, dass er erregt war. Sofort floss schmelzende Süße in ihrem Unterleib zusammen. Er begehrte sie, und er konnte es nicht verbergen. Die Vorstellung gefiel ihr. Sein Plan mit den getrennten Schlafzimmern war offensichtlich wie eine Seifenblase geplatzt.

„Ich sollte eigentlich viel zu müde dafür sein, querida“, raunte er, als er zu ihr ins Bett kam. „Aber das Verlangen nach dir hat mir den Schlaf geraubt.“

Mit der Grazie einer Königin lehnte sie sich zurück, um sich bewundern zu lassen. Eine eindeutige Einladung stand in ihren Augen zu lesen, und als Alejandro den Mund auf ihre vollen Lippen presste, fuhr ein Speer heißer Leidenschaft durch ihren schlanken Körper. Voll fiebriger Ungeduld zog Alejandro ihr das Nachthemd aus, liebkoste ihre Brüste, fand die feuchte Hitze zwischen ihren Schenkeln. Ihre Sinne liefen Sturm, gierig drängte sie sich seinen Berührungen entgegen.

„Por Dios, ich kann nicht länger warten“, rief er heiser.

Jemima fragte sich, was hier mit ihr passierte. Eben noch war sie matt und müde gewesen, doch jetzt hatte Alejandro die Flammen in ihr wieder auflodern lassen, hatte die mächtige Sehnsucht in ihr geweckt, der sie nicht widerstehen konnte. Erregung pulste in ihr, schraubte sich höher und höher, bis sie zusammen in einem scheinbar ewig dauernden, schillernden Feuerwerk explodierten. Verausgabt blieb sie schließlich reglos in seinen Armen liegen.

Alejandro drückte ihr einen letzten Kuss auf die Wange. „Niemand außer dir kann mir solches Vergnügen schenken“, murmelte er noch, bevor er sich umdrehte und das Licht ausschaltete.

Es war ein zweifelhaftes Kompliment, das Jemima aus der matten Zufriedenheit riss und in quälende Selbstzweifel stürzte. Nichts hatte sich geändert, für Alejandro ging es noch immer allein um Sex. Er hatte sie nie geliebt, dennoch hatte er sie geheiratet. Für sie ergab das alles keinen Sinn. Allerdings war sie daran gewöhnt, für die, die sie liebte, nicht gut genug zu sein. Ihre Mutter hätte sie sicher mehr geliebt, wäre sie der Junge gewesen, den die Mutter sich gewünscht hatte, um ihrem Mann zu gefallen. Ihr Vater hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, vorzugeben, er würde die Tochter lieben. Und dann hatte sie sich mit Leib und Seele in Alejandro verliebt. Die Tatsache, dass sie ihn verloren hatte, besaß noch immer die Macht, ihr Schmerzen zu bereiten.

Reglos starrte sie in die Dunkelheit, spürte die Wärme seines Körpers an ihrem Rücken. Vielleicht war es nur Sex, aber das war besser als nichts, oder? Wenn sie ging, würde sie nicht leiden, beruhigte sie sich still. Weil sie ihn nicht mehr liebte. Diesen albernen Unsinn hatte sie hinter sich. Einst hatte sie angenommen, dass Alejandro, wenn ihm erst klar wurde, wie sehr sein Bruder ihre Gesellschaft zu schätzen wusste, seine Frau ebenfalls in einem neuen Licht sehen würde. Doch stattdessen hatte er unterstellt, dass die Freundschaft zwischen ihr und Marco auf Sex basierte. Wenn das die einzige Bindung war, die er zu ihr aufbauen konnte, wie sollte er auch verstehen, dass Marco und sie auf einer ganz anderen Ebene zueinandergefunden hatten?

Jemima unterdrückte den Seufzer. Über die Vergangenheit zu grübeln half nichts … Traurig schlief sie schließlich ein.

6. KAPITEL

Geschirr klapperte, Vorhänge wurden surrend zurückgezogen, und die Sonne flutete das Zimmer mit goldenem Licht. Mit einem schlaftrunkenen Seufzer schlug Jemima die Augen auf. Prompt stürzten nicht jugendfreie Bilder auf sie ein, und ein leises Summen in ihrem Körper erinnerte sie daran, wie sie im Morgengrauen den Anbruch des neuen Tages gefeiert hatten. Kein Wunder, dass sie so lange geschlafen hatte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Alejandro aufgestanden war.

Sie schaute zur Digitaluhr und riss ungläubig die Augen auf. Es war längst nach Mittag! Das Hausmädchen stellte das Tablett auf einem Seitentischchen ab, legte Jemimas Morgenmantel auf das Fußende des Betts und fragte sie, ob sie das Frühstück im angrenzenden Zimmer oder lieber auf der Turmterrasse einnehmen wolle.

Zutiefst verlegen, weil sie komplett nackt war und ihr Nachthemd noch immer dort auf dem Boden lag, wohin Alejandro es mitten in der Nacht achtlos geschleudert hatte, wand Jemima sich unter der Bettdecke in den Morgenmantel. „Danke, ich würde gern draußen essen.“

Sie stand auf und schlüpfte in die bereitstehenden Pantöffelchen, um dem Mädchen die enge Wendeltreppe hinauf zur Terrasse auf dem Turmdach zu folgen. Früher war der Rundgang ihr Lieblingsplatz im gesamten Schloss gewesen, sicher vor unerwünschten Eindringlingen und neugierigen Blicken. Angenehme Wärme empfing sie, als sie an die frische Luft trat, und der Panoramablick war genauso überwältigend schön, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Von hier aus konnte man sehen, so weit das Auge reichte. In der Ferne rahmten die Berge der Sierra das grüne Tal ein wie schneebedeckte Wächter.

Von unten aus dem Garten drang das fröhliche Lachen eines Kindes zu ihr herauf. Sie beugte sich leicht über die Zinnen. Alfie spielte zusammen mit Placida Fußball auf dem makellosen gepflegten Rasen. Seit ich hier bin, habe ich mich ja wirklich als perfekte Mutter erwiesen, dachte Jemima selbstironisch und nahm sich vor, den gesamten restlichen Tag mit ihrem Sohn zu verbringen.

Sie setzte sich an den Tisch im Schatten und aß den servierten Lunch mit Appetit. Nachdem sie zu Ende gegessen hatte, nahm sie das Tablett wieder mit hinunter, legte eine halblange weiße Hose und ein grünes T-Shirt bereit – aus ihren eigenen Sachen, die sie mitgebracht hatte – und ging erst einmal duschen.

Das Haar kringelte sich feucht um ihr Gesicht, als Jemima die Haupttreppe im Schloss hinunterstieg. Schrille, aufgeregte weibliche Stimmen drangen ihr entgegen, unterbrochen von den knappen, harschen Bemerkungen in dem tiefen Bariton eines Mannes. Im Salon auf dem Erdgeschoss war offensichtlich ein Streit in vollem Gange. Zwei Mitglieder des Hauspersonals standen regungslos in der großen Empfangshalle und lauschten völlig gefesselt. Die Tür wurde aufgerissen, Beatriz stürzte mit hochroter, unglücklicher Miene aus dem Raum hervor, und die beiden Dienstleute sahen zu, dass sie so schnell wie möglich in der Küche verschwanden.

„Was ist denn los?“, fragte Jemima verblüfft.

„Mamá ist wütend auf Alejandro“, gab Beatriz verlegen zu.

„Oh …“ Jemima hielt ihre Neugier im Zaum. Es schien ihr klüger, sich nicht in eine Familienangelegenheit einzumischen, und so lief sie an der Tür des Salons vorbei. „Ich werde zu Alfie und Placida in den Garten gehen.“

Beatriz schloss sich ihr an, augenscheinlich bemüht, dem schiefhängenden Haussegen zu entkommen. „Alejandro hat Doña Hortencia gesagt, sie soll in die Villa auf dem Anwesen umziehen.“

Die Neuigkeit erstaunte Jemima. Ruckartig wandte sie den Kopf und blickte ihre Schwägerin mit großen Augen an. „Du meine Güte, das kommt aber plötzlich!“

„Ihre Sachen sind schon gepackt“, berichtete Beatriz weiter. „Mamá ist absolut außer sich. Ich habe Alejandro noch nie so wütend gesehen – und auch noch nie so entschieden. Mamá soll sogar in ein Hotel ziehen, bis die Villa für sie vorbereitet ist.“

„Das muss ja wirklich ein heftiger Streit gewesen sein.“ Jemima sah keinen Grund, Bedauern über Doña Hortencias Auszug zu heucheln, dennoch kam diese Entwicklung der Dinge mehr als überraschend.

„Mein Neffe wird mir fehlen“, sagte Beatriz jetzt bekümmert.

„Aber du ziehst doch sicherlich nicht mit aus!“, rief Jemima perplex.

„Mamá wird erwarten, dass ich sie begleite.“

„Aber ich nicht, und Alejandro ganz bestimmt auch nicht“, widersprach Jemima fest. Sie wusste, wie sehr Alejandro an seiner Schwester hing und wie sehr ihn ihr zurückgezogenes Leben sorgte. „Dieses Schloss ist doch dein Zuhause, Beatriz.“

Die große kurvige Brünette schaute unsicher zu ihr hin. „Es würde dich und Alejandro nicht stören, wenn ich bliebe?“

„Natürlich nicht. Ich bin sogar froh, wenn du bleibst. Dann bin ich nicht allein, wenn Alejandro geschäftlich unterwegs ist.“

„Meine Stiefmutter wird es mir nie verzeihen, wenn ich sie im Stich lasse …“ Beatriz wirkte regelrecht schockiert über die neuen Möglichkeiten, die sich ihr plötzlich eröffneten. „Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt schaffe, mich ihrem Willen zu widersetzen.“

Jemima blieb abrupt stehen und runzelte die Stirn. „Hast du Doña Hortencia gerade deine ‚Stiefmutter‘ genannt?“

Jetzt zog auch Beatriz die Brauen zusammen und schaute ihre grazile Schwägerin verblüfft an. „Wusstest du das nicht?“ Sie wirkte zerstreut, so als wären ihre Gedanken noch immer mit der Aussicht auf ein neues Leben für sich beschäftigt. „Natürlich mussten wir sie immer Mamá nennen. Ich war erst drei und Alejandro ein Baby, als unsere Mutter starb.“

Jemima drängte all die neugierigen Fragen zurück, die ihr auf der Zunge lagen. Das war mal wieder typisch für Alejandro, sie über eine so wichtige Tatsache nicht ins Bild zu setzen. Das könnte zumindest erklären, warum Doña Hortencia sich dem älteren Sohn gegenüber immer eher kühl und steif verhielt, während sie den jüngeren Marco schon fast übertrieben bemuttert hatte.

Und schon bestätigte Beatriz Jemimas Vermutung. „Marco kam vier Jahre nach Vaters Hochzeit mit Doña Hortencia zur Welt. Mamá war sehr verärgert, als sie herausfand, dass Marco sein Erbteil nach Vaters Tod nicht einfordern konnte, denn das hätte ja bedeutet, wir hätten den Besitz verkaufen und aufteilen müssen.“

Alfie kam über den Rasen gerannt und warf sich seiner Mutter in die Arme, sobald er sie erblickte. Jemima drückte ihren kleinen Jungen lachend an sich und schlug der Nanny vor, eine längere Pause zu machen. Beatriz spielte ausgelassen Ball mit ihrem Neffen, und Jemima konnte nur hoffen, dass die Schwägerin die Kraft fand, sich der erstickenden Kontrolle der Stiefmutter zu entziehen, und weiter auf dem Schloss wohnen würde.

Eine gute Stunde später gesellte sich Alejandro zu ihnen. In kakifarbenen Chinos und einem kurzärmeligen Poloshirt bot er eine faszinierend attraktive Erscheinung. Sobald sein Blick auf Jemima traf, spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, denn sie erinnerte sich an die in der Nacht geteilten Intimitäten. Alfie strahlte seinen Vater an und rannte mit dem Ball zu ihm hin, während Beatriz sich entschuldigte. Sie wolle sehen, ob sie Doña Hortencia zur Hand gehen könne.

Voller Neugier, aber kontrolliert sah Jemima Vater und Sohn beim Ballspiel zu. Irgendwann hatten die beiden schließlich genug davon, und Alejandro schlug vor, zum See zu fahren.

„Ich wusste gar nicht, dass Doña Hortencia eure Stiefmutter ist, bis Beatriz es vorhin erwähnte“, sagte Jemima, sobald sie in dem Geländewagen saßen.

Alejandros Lippen wurden schmal. „Sie ist die einzige Mutter, an die ich mich erinnere. Meine Mutter starb nur Stunden nach meiner Geburt. Mein Vater heiratete kurz nach ihrem Tod wieder. Hortencia war seine wahre Liebe, nicht meine Mutter“, erklärte er mit tonloser Stimme. „Er betete sie an. Fast hätte er den Besitz in den Bankrott getrieben, weil er ihr jeden Wunsch erfüllt hat.“

Jemima stellte fest, dass ihre Meinung über Alejandros scheinbar so sorglose Kindheit ins Wanken geriet. „Führten die beiden eine glückliche Ehe?“

„Mein Vater war glücklich, aber ich glaube nicht, dass Hortencia sehr zufrieden mit dem Leben war, das sie führte. Vor seinem Tod schien er sehr besorgt um ihre Zukunft – genau wie sie. Auf dem Sterbebett nahm er mir das Versprechen ab, mich um sie zu kümmern, als wäre sie meine leibliche Mutter. Ich habe Wort gehalten. Bis heute war mir nicht klar, dass es dir gegenüber unfair ist, wenn ich ihre Exzesse toleriere.“

„Warum ausgerechnet heute? Was ist denn passiert?“

„Hättest du mir gleich zu Anfang unserer Ehe gesagt, wie meine Stiefmutter dich behandelt, hätte ich sie schon damals aufgehalten. Du hättest ehrlich zu mir sein sollen“, sagte er vorwurfsvoll. „Es war dein Heim. Als meine Frau hättest du das Kommando über Schloss und Personal übernehmen müssen und …“

„Ich glaube, damals wäre ich gar nicht mit der Verantwortung fertiggeworden“, fiel Jemima ihm ins Wort. Aus einem unerfindlichen Grund wünschte sie, dass er sich deswegen keine Vorwürfe machen sollte.

Seine Miene war hart und verspannt. „Du hattest nicht einmal die Möglichkeit, es zu versuchen. Hätte Doña Hortencia dich nicht mit ihrer Boshaftigkeit eingeschüchtert, wie Beatriz mir sagte, wäre es dir gelungen. Du bist schließlich eine aufgeweckte junge Frau.“

„Beatriz hat Hortencia boshaft genannt?“ Jemima war mehr als überrascht. Beatriz hatte noch niemals irgendjemandem ein böses Wort nachgesagt!

Alejandro hatte den Wagen geparkt, und sie spazierten jetzt den Weg zum See hinunter, dessen sonnenbeschienene Oberfläche unten im Tal schillernd durch die silbergrauen Kronen der Olivenbäume aufblitzte.

„Das brauchte sie nicht. Der Ton und das, was meine Stiefmutter heute über dich sagte, reichten völlig aus, um mir klarzumachen, mit welcher Gehässigkeit ich es zu tun hatte. Daher bot sich nur ihr Auszug als einzige Lösung.“

„Bedauerst du es?“

„Kaum.“ Er lachte hart auf. „Sowohl Beatriz als auch mir blieb keine andere Wahl, als in ihr unsere Mutter zu sehen. Aber sie hat nie Mutterliebe für uns empfunden. Sobald es möglich war, hat sie uns ins Internat geschickt. Nach Marcos Geburt ließ sie mich ständig spüren, wie sehr es ihr aufstößt, dass ich der ältere Sohn bin. Sie hat immer alles getan, um den Kontakt zwischen mir und meinem Vater so schwierig wie möglich zu gestalten.“

„Dann warst du wohl großzügiger zu ihr, als sie es verdient hat“, entfuhr es Jemima unvermittelt.

„Ich kann mir nicht vergeben, dass ich nicht bemerkt habe, wie sie dich behandelt hat. Ich habe dich schließlich in dein neues Heim gebracht.“ Alejandro blieb stehen, nahm ihre Hände und schaute ihr in die Augen. „Ich hoffe, du schaffst es, das hinter dir zu lassen, und lernst, Land und Leute zu lieben, so wie ich es tue, querida.“

Er wollte also, dass sich die Dinge für sie zum Besseren wandten, und er hatte bereits einen ersten großen Schritt unternommen. Jemima schöpfte Hoffnung. Doch es waren seine ausdrucksstarken schönen Augen, die sie am stärksten anrührten. In ihnen lag der Wunsch, dass ihre Ehe beim zweiten Anlauf gelingen sollte. Und auch wenn dieser Wunsch vielleicht nur durch das gemeinsame Kind entstanden war, so beeindruckten sie seine Fürsorge und die Entschlossenheit, ihr ein zufriedenes Leben in Spanien zu ermöglichen, sehr.

Autor

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