Die Sehnsucht der Smaragdlilie

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England, im Jahre 1527: Eine französische Spionin und ein russischer Spion am englischen Hof - eine Liebe zwischen Todfeindschaft und Leidenschaft. Nicht Tod noch Teufel fürchtet Marguerite, die ruchlose Spionin mit dem Decknamen Smaragdlilie! Und so scheint der neue Geheimauftrag ein Leichtes: Am englischen Hof soll sie die Vertragsverhandlungen zwischen England und Frankreich vorantreiben. Doch ihre Mission gerät in Gefahr, als sie Nikolai Ostrowski begegnet. Einst hat Marguerite den fatalen Fehler begangen, ihren russischen Gegenspieler mit den mitternachtsblauen Augen zu verschonen. Diesmal wird sie sein Leben beenden! Doch zum zweiten Mal weckt ihr charmanter Feind eine verhängnisvolle Leidenschaft in ihr. Und wider der Vernunft geht sie mit ihm eine sündige Allianz ein ...


  • Erscheinungstag 30.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769482
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Venedig, 1526

Marguerite hatte ihr Opfer im Blick.

Sie drückte sich eng an die raue Holzwand und spähte durch das winzige Guckloch, um die Szene unter sich zu beobachten. Das Bordell war nicht gerade eines der feinsten der Serenissima. Es gehörte nicht zu jenen, in denen man die besten Weine, die erlesensten Delikatessen und die schönsten und saubersten Frauen anbot – natürlich zu den höchsten Preisen. Aber es war auch kein anrüchiger, schmutziger Ort, wo ein Mann auf seinen Geldbeutel und seine Männlichkeit aufpassen musste, weil ihm sonst das eine oder das andere geraubt werden konnte. Es war schlichtweg ein einfaches, lautes und farbenfrohes Hurenhaus, erfüllt vom Geruch nach Staub, Bier und Schweiß, widerhallend von Gelächter und echten oder nur gespielten Lustschreien. Ein Ort für Künstler oder reisende Schauspieler, die zum Karneval hier waren.

Marguerite hatte sicher schon weit Schlimmeres erlebt.

Sie kniff die Augen zusammen und richtete den Blick auf ihre Beute. Er war es, er musste es sein. Die sorgfältige Beschreibung und die Skizze passten auf ihn. Er war der Mann, den sie schon auf der Piazza San Marco gesehen hatte. Sie musste gestehen, dass er nicht ihrer Vorstellung von einem ungehobelten Russen entsprach. Nahm man von ihnen nicht an, dass sie wie Bären aussahen und genauso behaart waren? Genauso stanken? Jeder in Frankreich wusste doch, dass diese Moskowiter keine Manieren besaßen, dass sie in einer dunklen, rauen Welt lebten, in der einem üblicherweise der Bart bis zu den Knien wuchs, man das Essen auf den Boden warf und ins Tischtuch schnäuzte?

Marguerite rümpfte die Nase. Ekelhaft! Aber was konnte man auch schon von Menschen erwarten, die ständig von Eis und Schnee umgeben waren? Die auf die Eleganz und Zivilisiertheit Frankreichs verzichten mussten?

Und Frankreich war der Grund, weswegen sie heute Abend hier in diesem venezianischen Bordell war. Sie war hier, um ihrem König und ihrer Heimat gegenüber ihre Pflicht zu erfüllen.

Eigentlich schade, dachte sie, während sie den Russen betrachtete. Er war so ein hübscher Mann.

Er hatte gar keinen Bart, sondern war glatt rasiert. Im flackernden, qualmenden Fackellicht waren seine eleganten, scharf geschnittenen Züge gut zu erkennen. Das orangefarbene Glühen der Flammen spielte auf seinen hohen Wangenknochen und den sinnlichen Lippen. Sein Haar, das von der vollen goldenen Farbe alter Münzen war, fiel ihm offen bis auf den Rücken hinunter, eine seidig schimmernde Flut, die geradezu nach der Berührung einer Frau verlangte. Die beiden Dirnen auf seinem Schoß waren offenbar auch dieser Meinung, denn sie fuhren ihm immer wieder kichernd und gurrend mit den Fingern durch die glänzenden Locken und knabberten an seinem Ohr und Hals.

Andere Frauen beugten sich über seine Schultern und vernachlässigten ihre Kunden, um sich in seinem goldenen Glühen zu sonnen, in der Fülle seines Lachens und in dem Leuchten seiner Haut und seiner Augen. Es schien ihm nichts auszumachen. Tatsächlich benahm er sich, als stünde ihm diese Aufmerksamkeit zu. Wie ein reicher Herr aus dem Osten lehnte er sich lässig in seinem Sessel zurück und warf mit unbändigem Lachen den Kopf in den Nacken. Er hatte sein Wams abgelegt. Die Verschnürung des weißen Hemds war gelöst und darunter offenbarte sich eine glatte, muskulöse Brust, auf der leichter Schweiß glänzte. Das dünne Leinen war ihm über die eine Schulter gerutscht und enthüllte starke Muskeln.

Das war kein schwerfälliger Bär, sondern eine geschmeidige Katze, unter deren Grazie sich große Kraft verbarg.

Oui, es war eine Schande, so etwas Hübsches zu vernichten. Doch es musste sein. Er und seine Freunde hatten neue Handelsrouten von Moskau nach Persien ausgekundschaftet. Sie sollten an dem großen russischen Fluss Wolga und am Kaspischen Meer entlangführen. Damit standen er und seine Moskauer Freunde – gar nicht zu reden von den spanischen und venezianischen Händlern, mit denen er verkehrte – den französischen Interessen im Wege. Sie würden nämlich dem Seiden-, Gewürz- und Pelzhandel der Franzosen in die Quere kommen, und das durfte nicht sein. Gerade jetzt, nach der demütigenden Niederlage des Königs bei Pavia, war das alles sogar von noch größerer Bedeutung. Also würde Nikolai Ostrowski sterben müssen.

Ein letztes Mal ließ Marguerite den Blick auf seiner nackten, goldfarbenen Haut verweilen. Dann wandte sie sich ab und ließ den Deckel wieder über das Guckloch fallen. Sie hatte ihre Aufgabe zu erfüllen. Schon früher hatte sie solche Aufträge für Frankreich erledigt, sogar gefährlichere. Sie durfte jetzt nicht zögern, nur weil das Opfer ein attraktiver Mann war. Sie war die „Smaragdlilie“. Und sie durfte nicht versagen.

Ein kleiner Spiegel hing an der schmucklosen Wand ihrer engen Kammer, die von Kerzen und einem einzigen Fenster erhellt wurde. Als sie hineinschaute, starrte ihr eine Fremde entgegen. Schon oft hatte sie die unterschiedlichsten Verkleidungen getragen: knorrige Bauersfrauen, alte jüdische Händler, Milchmädchen und Herzoginnen. Aber noch nie hatte sie versucht, eine Hure darzustellen. Es war sehr interessant.

Ihr silberblondes Haar, das offen getragen sogar noch länger war als das des Russen, war jetzt gekräuselt und gelockt, an den Seiten hochgesteckt und oben auf dem Kopf zu einem Knoten frisiert. Heller Reispuder verdeckte ihre natürliche Gesichtsfarbe, von der man in Paris üblicherweise schwärmte, dass sie wie „Milch und Blut“ sei. Zwei kräftig rote Kleckse prangten auf ihren Wangen, und dicke schwarze Linien umrahmten ihre grünen Augen.

Sie war nicht mehr sie selbst, war nicht mehr Marguerite Dumas vom französischen Hof. Noch war sie die Dame, die sittsam verschleiert und verhüllt über die Piazza San Marco geschlendert war und Nikolai Ostrowski in seiner Verkleidung als Schauspieler beobachtet hatte. Er hatte den Akrobaten gegeben, der jonglierte und Späße machte, und dabei sein wahres Selbst hinter einem Lächeln und Schellenklingeln verborgen. Genauso, wie sie es auf ihre Weise ja auch tat.

Voilà, jetzt war sie Bella, eine einfache italienische Hure, die nach Venedig gekommen war, um während des Karnevals ein paar Dukaten zu verdienen. Hoffentlich eine Hure, die Ostrowskis Blick auf sich zog, obwohl er von allen Frauen in diesem Etablissement umworben wurde.

Marguerite trat zurück, bis sie ihr Kleid im Spiegel sehen konnte. Es war aus scharlachroter Seide. Sie hatte es am Nachmittag gebraucht bei einem Kleiderhändler gekauft. Es musste einmal einer großen Kurtisane gehört haben. Doch jetzt war die Goldstickerei leicht fleckig, der Saum ausgefranst und die Nähte abgestoßen. Trotzdem war es immer noch hübsch und brachte ihre zierliche Figur gut zur Geltung. Sie zog den Ausschnitt etwas tiefer, bis er ihr über die Schultern rutschte und eine Brust entblößte.

Hm, dachte sie und betrachtete ihre weiße Brust. Sie wusste, dass sie hübsche Brüste hatte. Sie waren weder zu groß noch zu klein, perfekt geformt und sehr weiß. Vielleicht sollten sie Marguerite für ihre vielleicht ein wenig zu kurz geratenen Beine entschädigen oder für die Narben auf ihrem Bauch. Doch verglichen mit den Brüsten der anderen Huren erschienen sie ihr ein wenig zu unscheinbar. Marguerite griff nach dem Töpfchen mit Rouge und strich etwas von der roten Paste auf die entblößte Brustspitze. So. Das würde Aufmerksamkeit erregen. Sie rieb sich noch etwas davon auf die Lippen und tupfte Jasminparfüm hinter die Ohren. Es roch schwer und süß und so ganz anders als die Maiglöckchenessenz, die sie sonst benutzte.

Jetzt war sie bereit. Marguerite hob ihre weiten Röcke und vergewisserte sich, dass ihr Dolch mit der scharf geschliffenen Spitze noch fest an ihren Schenkel gebunden war.

Dann strich sie ihr Kleid glatt und schlüpfte aus dem kleinen Raum. Der Gang draußen war schmal; von ihm gingen die meisten Zimmer des Bordells ab. Die Decke war so niedrig, dass Marguerite den Kopf einziehen musste. Der Gang lag verlassen da. Doch selbst hier konnte sie noch das Gelächter und Stöhnen, das Klirren der Tonbecher und das Zischen einer Peitsche hören, welche für jene bestimmt war, die einen etwas exotischeren Geschmack besaßen. Marguerite hoffte, dass es kein russisches Laster war. Wenn sie ihr Hinterteil für die Peitsche entblößen musste, würde dabei der Dolch zum Vorschein kommen.

Vorsichtig stieg sie in den Schuhen mit den hohen Absätzen eine enge, steile Wendeltreppe hinunter. Die niedrige Tür am Ende der Treppe führte aus dem verschachtelten Teil des Gebäudes hinaus in den großen, lauten öffentlichen Raum.

Es war wie ein Stolpern in eine neue Welt. Die Geräusche klangen hier nicht länger gedämpft, sondern klar und laut und hallten von der niedrigen, rauchgeschwärzten Decke wider. Dicker, beißender Qualm von der Feuerstelle mischte sich mit dem Parfum der Frauen, dem Geruch nach Fleisch, Schweiß und verschüttetem Bier. Der Holzboden unter Marguerites Füßen war klebrig und voller Flecke.

Einen Moment blieb Marguerite in der Tür stehen und ließ vorsichtig den Blick über das Geschehen schweifen. In der Nähe des Kamins saß man zum Karten- und Würfelspiel zusammen. Den hohen Münzstapeln auf jedem Tisch und den konzentrierten Gesichtern der Spieler nach zu urteilen, handelte es sich um ein ernsthaftes Spiel. Es wurde gegessen und getrunken, einfache Kost, bestehend aus Brot, Käse und Schinken. Doch das Wichtigste waren die Huren. Es gab jede Art von Huren, die ein Mann sich nur vorstellen konnte: kleine, große, fette, dünne, blonde und brünette. Sogar ein junger Mann in einem blauen Atlaskleid war darunter. Er sah nicht schlecht aus, mit seiner glatten Haut und seinem seidigen schwarzen Haar. Schade nur, dass er nichts gegen den Adamsapfel machen konnte.

Marguerite betrachtete sie alle mit kühlem Blick. Für diese eine Nacht waren sie ihre Konkurrenz. Sie wusste, dass sie schön war. Sie wusste es, seitdem ihr Vater sie als Kind an den Hof gebracht hatte. Aber sie bildete sich nichts darauf ein. Es war einfach nur ein Vorteil, was ihre Arbeit betraf, besonders in Zeiten wie diesen. Sie war hübscher als alle hier, selbst als der Junge in Blau. Deshalb sollte sie fähig sein, Nikolais Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Auf jeden Fall würde es jetzt weniger schwierig werden als eben noch. Denn viele der Frauen, die ihn umdrängt hatten, waren fort. Der Patron hatte dafür gesorgt, dass sie sich auch um die anderen Gäste kümmerten. Jetzt waren da nur noch die beiden auf seinem Schoß. Halb ausgezogen, trugen sie noch ihre camicias und rekelten sich kichernd auf seinen Oberschenkeln. Marguerite straffte die Schultern, drückte die Brust raus, warf den Kopf nach hinten und schlenderte langsam an dem Russen und seinem Harem vorbei. Sie ließ ihre Schleppe über seine Stiefel gleiten, ließ ihn ihr Parfum riechen, einen Blick auf ihre weiße Brust und ihr unergründliches Lächeln erhaschen. Als sie an ihm vorübergegangen war, wandte sie sich kurz um und zwinkerte ihm zu. Dann ging sie weiter und holte sich ein Bier.

Jetzt – nun, jetzt wartete sie. Ihrer Erfahrung nach wirkte ein Hauch von Geheimnis immer besser als direkte Komplimente oder allzu forsches Schmeicheln. Sie nippte an ihrem Becher und beobachtete in einem alten, zerbrochenen Spiegel an der Wand wachsam den Raum hinter sich. Die beiden Huren saßen immer noch auf seinem Schoß. Aber Marguerite stellte fest, dass die voll erblühten Reize der beiden nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit des Russen beanspruchten. Er beugte sich etwas im Sessel vor und betrachtete Marguerite mit leicht gerunzelter Stirn. Marguerite drehte sich etwas zur Seite und zeigte ihr schönes Profil. Ein wenig ungeduldig umfasste sie den Becher fester. Er musste zu ihr kommen, bevor es irgendein anderer tat! Sie fuhr sich mit der Zunge leicht über die Lippen und legte den Kopf in den Nacken.

Was immer es auch für ein geheimer Zauber war, er wirkte. Wieder wandte sie sich ab, und einen Augenblick später spürte sie, wie der Russe so dicht neben sie trat, dass sie seine Körperwärme fühlen konnte. Sie musste an die Sommersonne in ihrer Kindheit denken, zu Hause in der Champagne, die sie mit ihren Strahlen zu kitzeln schien und ihr juchzende Freudenschreie entlockt hatte. Er roch auch wie der Sommer. Unter dem salzigen Geruch nach Schweiß und Haut, nach purem Mann, nahm sie den Duft irgendeiner grünen Kräuterseife wahr.

Marguerite wirbelte herum und lächelte ihn verführerisch an. Er hatte sich das Hemd wieder über die Schulter gezogen, doch man konnte immer noch seine nackte Brust sehen. Und er stand nahe genug, um Marguerite das feine Gewirr blonder Haare auf seiner Haut erkennen zu lassen. Gold auf Gold.

„Guten Abend, Signor“, sagte sie und vermied sorgfältig den kleinsten französischen Akzent.

„Guten Abend, Signora“, antwortete er und deutete eine Verbeugung an, als wären sie im Palast des Dogen und nicht in einem verrauchten Bordell. Sie stellte fest, dass der Russe blaue Augen hatte. Ein klare, himmelblaue Tiefe, in der man alles, jeden Wunsch, jedes Verlangen oder jede Furcht würde lesen können.

Und mit diesen Augen musterte er sie jetzt sehr sorgfältig.

Das Lachen, das er mit den anderen Frauen geteilt hatte, lag noch darin, aber es war nun von Ernsthaftigkeit überschattet. Er war misstrauisch. Sie würde doppelt vorsichtig sein müssen.

Marguerite fühlte sich einen Moment lang unbehaglich, als er sie gründlich und ohne mit der Wimper zu zucken musterte. Sie wünschte sich, sie hätte eine Maske aufgesetzt. Das war lächerlich, denn die dicke Schminke war Maske genug.

Sie verdrängte das Unbehagen. Dazu war jetzt keine Zeit. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen.

„Ich habe Euch hier noch nie gesehen“, sagte er.

„Ich bin neu. Mein Name ist Bella. Ich bin gerade aus einem Dorf auf dem Festland angekommen, um hier während des Karnevals zu arbeiten“, antwortete sie und winkte nach mehr Bier. „Ihr seid also oft hier?“

„Oft genug, wenn ich in Venedig bin.“

Sie lachte. „Darauf würde ich wetten. Die blassen, wählerischen Kurtisanen der großen Paläste könnten Euch sicher niemals zufriedenstellen.“ Das Bier kam, und sie reichte ihm einen der Becher. „Salute.“

„Wasche sdarow’j“, antwortete er und kippte das Getränk hinunter. „Venedig ist wirklich voll der schönsten Frauen, Signora, entzückendere, als ich je gesehen habe. Und ich habe viele Länder bereist. Aber ich bevorzuge eher eine Gesellschaft – die mir gleicht.“

Marguerite warf einen Blick auf den Jungen in Blau. „Die Euch gleicht, Signor?“

Er lachte, und wieder erinnerte er sie an Sommer und den Wein der Champagne. „Nicht auf diese Art, Signora. Erdverbundener.“ Sie musste verwirrt dreingeschaut haben, denn er lächelte sie an. „So sagt man in meiner Heimat.“

„Dann seid Ihr nicht von hier.“

„Nein. Ihr werdet wohl durch mein ausgezeichnetes Italienisch getäuscht worden sein“, sagte er und schenkte ihr ein schalkhaftes Grinsen. „Ich bin aus Moskau, auch wenn ich dort schon seit vielen Jahren nicht mehr lebe.“

„Ah, das erklärt alles.“

„Erklärt was, Signora?“

„Die Männlichkeit. Ist Moskau nicht die meiste Zeit des Jahres eingeschneit? Man kann viel Zeit vor dem Feuer verbringen. Oder in einem warmen Bett.“

„Wie wahr, Signora.“ Plötzlich streckte er einen Arm aus, fasste Marguerite um die Taille und zog sie an sich. Einen kurzen Moment lang war sie überrascht und versteifte sich vor Schreck. Dann zwang sie sich, sich zu entspannen und locker zu sein. Sie lehnte sich in seinem Arm zurück.

Durch ihre Röcke und seine Hose hindurch spürte sie seine Erregung. „Ich verstehe schon, Signor, kein Eis heute Nacht.“

„Die italienische Sonne hat es zum Schmelzen gebracht.“

Sie lächelte ihn verführerisch an und legte die Arme um seinen Nacken. Kühl und verlockend wie Seide fühlte sich sein Haar auf ihren Händen an. Sie fuhr mit den Fingern durch seine Locken und atmete seinen warmen, sauberen Duft ein. „Ich bin überzeugt, diese italienische Sonne könnte das Eis völlig zum Schmelzen bringen, Signor. Ihr würdet seine Kälte nie wieder spüren.“

Als Antwort küsste er sie. Es ging so schnell, dass ihr gar keine Zeit zum Nachdenken blieb. Sein Kuss war nicht hart und verletzend, sondern sanft und zart. Er knabberte an ihren Lippen, so verführerisch, dass sie beinahe alles um sich herum vergaß. Und einen Augenblick lang vergaß sie auch wirklich alles andere. Sie war nicht mehr Marguerite Dumas, die „Smaragdlilie“. Sie war nur eine Frau, die von einem gut aussehenden Mann geküsst wurde, einem Mann, der sie mit seinem Duft, seinen starken Armen und seinen zärtlichen Küssen bezauberte. Sie schmiegte sich enger an ihn, so eng, dass sie miteinander zu verschmelzen schienen. Sein Kuss wurde immer fordernder, leidenschaftlich umspielte er mit seiner Zunge ihre.

Überwältigt löste sie sich von ihm. Was sie jetzt brauchte, war Eiseskälte, klare Gedanken und präzises Handeln. Nicht diese – Lust. Dieses Verlangen. Die „Smaragdlilie“ kannte kein Verlangen, schon gar kein sinnliches. Nikolai Ostrowski war ein Auftrag, nicht mehr.

Warum fiel es ihr dann aber so schwer, sich daran zu erinnern, wenn sie ihm in die hellblauen Augen blickte?

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Was seid Ihr heute Abend hitzig, Signor!“

„Ich sagte Euch doch, dass die italienische Sonne mich so hat werden lassen.“

„Dann kommt mit mir, Signor, ich werde dafür sorgen, dass Ihr abkühlt – nach einiger Zeit.“ Sie nahm die Hand des Russen. Mit seinen Fingern hielt er ihre fest, während Marguerite ihn zu der kleinen Tür führte, aus der sie zuvor getreten war.

Sie stiegen die enge Treppe hinauf. Nikolai duckte sich, um nicht mit dem Kopf an die Balken über ihnen zu stoßen. Wieder umfing sie die Stille, und die helle, laute Welt war ausgeschlossen. Marguerite spürte, wie ihr das Herz in der Brust schlug, fühlte ein inneres Zittern. Fast war es jetzt so weit.

An der Tür zu ihrem kleinen Gemach presste Nikolai sie plötzlich an sich, drehte sie herum, um sie gegen die Wand zu drücken. Marguerites Herz schlug schneller – hatte er sie etwa durchschaut? War sie ihm in die Falle gegangen?

Doch er schlitzte ihr nicht die Kehle auf. Er drückte sie nur gegen die Wand, lehnte sich an Marguerite und musterte sie, als könnte er ihr bis in die Seele schauen, bis in ihre mit Sünden beladene Seele.

„Woher kommst du, Bella?“, fragte er leise. Sein Akzent war jetzt stärker, und in den Worten schwang so etwas wie eine eisige russische Melodie mit.

Marguerite lächelte ihn an. „Ich sagte doch: vom Festland. Das ist jetzt unsere einträglichste Zeit im Jahr, aber man muss in Venedig sein, um wirklich Geld zu machen.“

„Dann bist du also schon lange eine Hure, dorogaja?“

Sie lachte. „Oh ja. Wie es scheint, schon eine Ewigkeit.“

„Dann ist es ein Wunder. Denn du hast immer noch deine Zähne, deine klaren Augen …“ Er streckte die Hand aus und strich über ihre nackte Brust, rieb mit dem Daumen über die rot geschminkte Knospe und ließ Marguerite heftig erschauern. „Deine weiche Haut.“

„Ich wurde unter einem glücklichen Stern geboren, Signor. Mein Vater sagte das“, meinte sie, immer noch aufgewühlt. Und was sie sagte, war wahr. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte es ihr Vater tatsächlich zu ihr gesagt. Und dabei hatte er sie auf seinen Schultern sitzen lassen, damit sie die hellen, funkelnden Sterne am Himmel über der Champagne sehen konnte.

Doch dann war ihr Stern erloschen, und jetzt stand sie hier in einem venezianischen Bordell mit diesem rätselhaften Mann.

„Ein glücklicher Stern auf dem Festland.“ Er lächelte.

„Eben. Ihr selbst müsst auch unter einem günstigen Zeichen geboren sein, da Ihr doch so hübsch seid.“ Sie sagte es neckend, aber es stimmte trotzdem. Kein normaler Sterblicher sollte solche Schönheit und solchen Charme besitzen dürfen. Er war wirklich gesegnet. Bis heute.

So war dies jetzt für sie beide eine schicksalsträchtige Stunde.

„Wenn wir beide so vom Glück begünstigt sind, Signora Bella, warum sind wir dann hier?“, murmelte er, als könnte er wirklich ihre Gedanken lesen. „Eine Hure und ein Schauspieler, die beide für ihr Abendessen singen müssen. Können wir uns einander überhaupt leisten?“

„Ich bin gar nicht so teuer“, sagte Marguerite. Sie stellte sich auf die Zehen und flüsterte ihm ins Ohr: „Nicht für Euch. Ich glaube, wir ähneln uns, ich und Ihr. Hure und Schauspieler. Und wir lieben unsere Heimatländer, auch wenn wir es nicht zugeben. “

Er trat zurück und starrte sie an, als hätten ihre Worte ihn überrascht. Aber sie ließ ihn nicht gehen. Sie zog ihn an sich und küsste ihn mit all der geheimen Leidenschaft ihres Herzens.

„Ihr kommt aus keinem irdischen Land“, murmelte er heiser. Er bedeckte ihren Hals und ihre bloße Schulter mit feurigen Küssen. „Ihr kommt aus einem verzauberten Feenreich. Und in der Morgendämmerung werdet Ihr sicher wieder dorthin entschwinden.“

„Bis dahin sind es noch Stunden“, wisperte Marguerite. „Wir müssen das Beste aus der Nacht machen.“

Nikolai beugte sich vor, umschloss mit den Lippen die Knospe ihrer Brust, liebkoste die harte, rote Spitze mit seiner Zunge, bis Marguerites genussvolles Stöhnen sich mit den anderen Seufzern im Haus mischte. Sie war benommen von einer Leidenschaft, die ihr die Sinne vernebelte und eine nicht gekannte Hitze in ihr aufsteigen ließ. Sie merkte, wie der Russe nach dem Saum ihres Kleides griff und ihren Rock hinaufschob.

Der kalte Luftzug an ihren nackten Beinen brachte sie rasch wieder zur Vernunft. Non! Er durfte nicht den Dolch bemerken, sonst wäre alles verloren. Lachend befreite sie sich aus seiner Umarmung. „Ich sagte, wir haben noch die ganze Nacht, Signor! Wir können es uns ein wenig bequemer machen.“ Sie öffnete die Tür und führte ihn zu dem schmalen Feldbett, das unter dem einzigen Fenster des Zimmers stand. Später, wenn sie ihren Auftrag erledigt hätte, würde sie durch diese Öffnung fliehen und über die Dächer Venedigs entkommen. Nicht in irgendein Königreich der Feen, sondern hinter die Vorhänge einer Gondel. „Bella“ würde dann für immer verschwunden sein.

Sie drückte Nikolai, der keinen Widerstand leistete, auf die Laken und betrachtete ihn einen Moment lang im Mondlicht. Sein goldfarbenes Haar breitete sich auf dem zerknitterten, schmuddeligen Leinen aus. So hübsch – so unwirklich. Wie ein gefallener Engel lächelte er sie spitzbübisch an.

„Also können wir uns wie zivilisierte Wesen im Bett vergnügen?“, sagte er.

„Richtig.“ Sie setzte sich neben ihn und fuhr mit den Fingerspitzen über seine muskulöse Brust, die Rippenbögen, die flachen Kreise seiner Brustwarzen. Er war herrlich – wie die Landkarte eines exotischen, unentdeckten Landes. Sie spürte sein Herz, das unter ihren Liebkosungen raste. „Wir können jeden Augenblick genießen. Jede einzelne Berührung.“ Sie küsste seine Brustwarze, nahm die harte Spitze zwischen die Zähne und schmeckte das Salz auf seiner Haut.

Nikolai erschauerte, als er in ihr Haar griff und sich unter ihr zu bewegen begann. Sein ganzer Körper war angespannt wie eine Bogensehne. Oui, jetzt hielt ihn der Zauber der Begierde gefangen. Sie selbst durfte auf keinen Fall sein Opfer werden.

„Wie viel wird mich das kosten?“, fragte er mit rauer Stimme.

Marguerite legte sich zu ihm und schmiegte sich eng an ihn. „Eure Seele“, flüsterte sie.

Dann handelte sie, wie sie es schon einige Male zuvor getan hatte. Wie man sie zu handeln gelehrt hatte. In einer einzigen fließenden Bewegung fasste sie unter ihre Röcke, packte den Dolch, richtete sich auf und hob die Klinge hoch in die Luft. Sie sah kurz Nikolais Augen, die im Mondlicht silbrig leuchteten. Sein Körper lag nackt vor ihr. Sie musste nur zustechen. Sie musste nur den Dolch in dieses Herz senken, und ein Feind Frankreichs wäre vernichtet.

Aber diese Augen – diese blauen, wissenden Augen. Marguerite war gefangen von ihrer Tiefe, die der des Meeres glich. Er schien noch nicht mal überrascht zu sein.

Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, doch der reichte aus, um Marguerite ihren Vorteil verlieren zu lassen. Hart packte Nikolai ihr Handgelenk, quetschte es, bis ihr Handgelenkknochen knirschte, und sie aufschrie. Ihre Finger öffneten sich, und der Dolch fiel klirrend zu Boden. Nikolai zerrte sie neben sich und presste sie aufs Bett. Er war jetzt kein ungenierter, verdorbener, lüsterner Schauspieler mehr, sondern ein schnelles, gnadenloses Raubtier. Ein Raubtier, wie auch sie eines war.

Marguerite war geübt im Schwertkampf und dem Gebrauch von Dolch und Bogen, im höfischen Fechten und im rauen Straßenkampf. Sie kannte Tricks und Täuschungsmanöver, mit denen sie ihre zarte Statur wettmachen konnte. Doch sie wusste auch, wann sie besiegt war – und das war sie jetzt. Es war nicht schwer für sie, den Ausdruck in seinen Augen richtig zu deuten.

Während sie ihn anschaute, fühlte sie sich seltsam ruhig. Ihr war, als schwebte sie bereits über ihrem Körper und würde die Szene von oben betrachten, von den Deckenbalken her. Ihr Opfer würde ihr Mörder sein. Es war genau das, was sie für ihre Sünden verdient hatte. Sie hatte mit diesem Tag gerechnet. Wenn sie nur nicht ohne Beichte sterben müsste! Jetzt würde sie nie ihrer Mutter im Himmel begegnen.

Aber sie sah ihren Racheengel, der sich in der Dunkelheit neben ihr erhob. Er klaubte den Dolch vom Boden auf, begutachtete die Klinge, während er Marguerite noch immer niederdrückte. Sie spürte die volle Kraft seines sehnigen Körpers. Scheinbar mühelos hielt der Russe sie fest.

Er starrte auf den Dolch. Er war so schlank, so perfekt gearbeitet. So tödlich. Der in den Griff eingebettete kleine Smaragd leuchtete. „Warum ich?“, fragte Nikolai heiser. „Warum versucht Ihr, einen armen Schauspieler umzubringen?“

„Ihr seid kein armer Schauspieler, Monsieur Ostrowski, und wir beide wissen das“, antwortete sie auf Französisch. „Ihr habt Geheimnisse, die den meinen gleichen.“

„Was sind Eure Geheimnisse, Madame?“, antwortete er ihr ebenfalls auf Französisch.

Marguerite lachte bitter. „Das spielt jetzt wohl kaum noch eine Rolle. Ich habe versagt, aber meine Geheimnisse nehme ich mit in mein Grab.“

„Tut Ihr das tatsächlich? Nun, bis dahin mag es noch eine Weile hin sein, Madame. Ich habe das Gefühl, dass Feen, genau wie Katzen, viele Leben haben. Ihr seid jung. Ich bin überzeugt, Ihr wisst, wo Ihr hingehen könnt.“

Verblüfft sah Marguerite ihn an, aber sein Gesicht verriet ihr nichts. Es war so schön und so kalt wie die der Marmorstatuen auf der Piazza. Aus seinen Zügen war alle Leidenschaft verschwunden. „Was meint Ihr?“

„Damit meine ich, Madame – Bella wird wohl kaum Euer wahrer Name sein –, dass dies nicht Eure Todesnacht ist. Und meine ebenfalls nicht, auch wenn Ihr es gerne so hättet.“ Er stieß mit dem Dolch zu, traf aber nicht ihr Herz, sondern zerschlitzte ihren Rock, schnitt breite Streifen von der Seide ab. Dann steckte sich Nikolai wie ein Seeräuber den Dolch zwischen die Zähne und fesselte Marguerites Hände und Füße gekonnt.

„Was macht Ihr da?“, schrie sie aufgebracht. So hatte die ganze Sache nicht ablaufen sollen! „Ich hätte Euch getötet! Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr mich nicht tötet? Wollt Ihr keine Rache nehmen?“

„Oh, ich werde Rache nehmen, Madame, aber nicht heute Nacht.“ Er band den letzten Knoten an ihrem Handgelenk. Die Fessel saß so fest, dass sie nicht einmal die Finger krümmen konnte. „Und das wird an einem Tag geschehen, an dem Ihr es am wenigsten erwartet.“

Nachdem er sie zusammengeschnürt hatte wie eine Festtagsgans, beugte er sich zu ihr hinunter und gab ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. Er schmeckte immer noch nach Kräutern, Bier und ihrer eigenen roten Schminke. Und er roch immer noch nach einem sorglosen Sommertag.

„Ich kann mich einfach nicht überwinden, eine solch besondere Schönheit zu zerstören“, raunte er. „Nicht nach Euren exquisiten Diensten, auch wenn ich nicht in den ganzen Genuss Eures Könnens gekommen bin. Adieu, Madame – für den Moment.“

Er legte ihr den letzten Seidenstreifen über den Mund, band ihn zu und öffnete das Fenster, durch das Marguerite hatte flüchten wollen. Während sie ihn kochend vor Wut anstarrte, zwinkerte er ihr zu, sprang mit einer eleganten Bewegung durch das offene Fenster und war verschwunden.

Marguerite schrie durch ihren Knebel hindurch. Sie wölbte den Rücken und strampelte mit den Beinen, doch vergebens. Sie war fest verschnürt, und ihre eigene List war ihr zur Falle geworden. Und dieses cochon besaß noch nicht einmal den Anstand, sie zu töten und damit den Ehrenkodex aller Spione und Mörder zu erfüllen! Zumindest der französischen.

Dieser schöne, arrogante russische Schmierenkomödiant wollte seine Rache haben? Niemals. Sie würde ihn zuerst finden und diesen Auftrag ausführen, koste es sie, was es wolle. Ganz gleich, wie weit sie auch würde reisen müssen, und sollte es bis in die Eiswüsten des fernen Russland sein.

Denn die „Smaragdlilie“ versagte nie.

1. KAPITEL

Schloss Fontainebleau, Januar 1527

Den Blick geradeaus gerichtet, den Kopf erhoben, schritt Marguerite Dumas den Korridor entlang, während sie mit ausdruckslosem Gesicht das Geflüster der untätig herumstehenden Höflinge ignorierte. In ihren Händen hielt sie den Brief, der sie zum König befahl.

Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Ein neuer Auftrag. Eine neue Mission für die „Smaragdlilie“. Hoffentlich nahm sie diesmal ein besseres Ende als die letzte in jener Nacht in Venedig!

Am Ende des Korridors, wo ein im Halbdunkel liegender Treppenabsatz in eine schmale Treppe überging, blieb sie stehen. Hier, wo niemand sie sehen konnte, ließ der Schmerz in ihrem Kopf sie die Augen schließen. Er rührte nicht von einer Krankheit her, sondern von der Erinnerung an Venedig, vom Gedanken an diesen hübschen russischen Gauner. Es war der ätzend bittere Geschmack der Demütigung und der Niederlage.

Der König hatte ihr keinen Vorwurf gemacht, als sie mit der Nachricht von der Flucht des Russen nach Paris zurückgekehrt war. Er hatte nichts gesagt, sondern sie wieder beauftragt, ihren Pflichten als fille d’honneur von Prinzessin Madeleine nachzukommen – diese Aufgabe war der offizielle Grund für Marguerites Anwesenheit bei Hofe. Monatelang hatte sie sich gelangweilt, war mit den anderen Damen im Garten herumspaziert, hatte der Prinzessin vorgelesen und auf Banketten getanzt. Und die Annäherungsversuche nutzloser und arroganter Höflinge abgewehrt.

Sie bedeuteten ihr nichts, diese parfümierten Gecken, die ihr im Dunkeln ihre Küsse aufzwangen. Nur ein Mann hier taugte etwas, und das war König François selbst. Und er wahrte ihr gegenüber stets seine distanzierte Freundlichkeit, nickte ihr nur kurz zu, wenn sie sich zufällig in den Gärten oder im Bankettsaal begegneten.

Marguerite wusste von dem Gerede, sie sei einmal die Geliebte des Königs gewesen. Und weil er jetzt ein Verhältnis mit der Duchesse de Vendôme pflegte, hätte er sich von ihr entfremdet. Wenn der Hof die Wahrheit erfuhr! Nie würde man es glauben. Nicht von ihr.

In diesen Tagen des ruhigen Müßiggangs in den Räumen der Prinzessin glaubte sie selbst es kaum. War sie wirklich je in die entlegensten Ecken Europas geschickt worden, um die Feinde Frankreichs zu bekämpfen? Hatte sie tatsächlich einst ihren Verstand benutzt, ihre hart erlernten Fertigkeiten, um einen geheimen Sieg über diejenigen zu erringen, welche sich dem König widersetzten? Es erschien ihr unvorstellbar.

Doch des Nachts allein hinter den Vorhängen ihres Bettes wusste sie, dass es wahr war. Einst hatte sie Abenteuer erlebt. Sie hatte sich einen Platz in der großen weiten Welt erobert. Sollte ein Fehler, eine einzige Fehleinschätzung einer Situation, sie alles kosten, wofür sie je gearbeitet hatte?

Es kam ihr sinnlos vor, dass sie gerade jetzt entlassen werden sollte, da ihr besonderes Können mehr denn je gebraucht wurde. Seit der demütigenden Niederlage des Königs im Kampf gegen den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches in Pavia, und seitdem seine beiden Söhne als Geiseln in Madrid ihr Leben fristeten, waren für Frankreich dunkle Tage angebrochen. Seine Feinde wurden immer kühner.

Marguerite wusste, dass sie in dieser brisanten Lage von Nutzen sein konnte. Wieso wurde sie dann zum Tanzen und Kartenspielen degradiert? Alles nur wegen dieses Russen! Der Teufel sollte seine himmlisch blauen Augen holen!

Doch nun schienen diese Tage ein Ende zu haben. Sie hielt die Nachricht des Königs so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Es war an der Zeit, die erlittene Schmach wiedergutzumachen.

Während sie die enge Treppe emporstieg, konnte sie jetzt das Hämmern und Sägen deutlicher hören, das von der neuen Bauwut des Königs kündete. Seit er von seiner Niederlage zurückgekehrt war, hatte sich bei König François der Wille zum Umbau und Ausbau seines Palastes zur wahren Raserei gesteigert.

Fontainebleau, das dank seines großen Waldbestandes voll jagdbaren Wilds zu den Lieblingsschlössern des Königs gehörte, war sein neuestes Objekt. Seit den Weihnachtsfestlichkeiten, die wegen der Abwesenheit des Thronfolgers und seines Bruders sehr still verlaufen waren, wurde nun ernsthaft gearbeitet. Man war dabei, große Teile des alten Anwesens niederzureißen und durch etwas Gewaltiges und Modernes zu ersetzen.

Marguerite hob den Saum ihres Samtkleids und stieg über einen Haufen Abfall, der auf dem Boden lag. Von oben regnete es Schutt und Staub, was um ein Haar ihre Kopfbedeckung beschmutzt hätte, deswegen flüchtete Marguerite in die relative Sicherheit der Großen Galerie.

Die Galerie war einer der wenigen Räume des Palastes, die beinahe fertig waren. Eine weite Fläche polierten Parketts, auf dem die Schritte hallten, erstreckte sich von einer mit Stuck verzierten Wand zur nächsten. Die Täfelung war mit Intarsien aus dunklem Holz versehen.

Am anderen Ende der Galerie, vor einem mit Zeichnungen bedeckten Tisch, stand König François höchstpersönlich. Er beriet sich mit einem der italienischen Künstler, die geholt worden waren, um den Bau all dieser Herrlichkeit zu leiten. Es war Signor Fiorentino. Im Moment hatte der König Marguerite noch nicht bemerkt. Sie verlangsamte ihre Schritte und studierte ihn genau, suchte nach Anzeichen, die ihr vielleicht seine Gedanken und Absichten verrieten, nach irgendeinem Hinweis, dass ihr wirklich verziehen worden war.

François war sehr groß. Wie ein Turm überragte er Marguerite, die sehr zierlich und nicht allzu hochgewachsen war. Er besaß volles dunkles Haar, einen modischen Spitzbart und außerdem alles, was einen eindrucksvollen König ausmachte. Die braunen Augen über der Hakennase der Valois blickten klar und scharf, und ihnen entging nichts. Nach Pavia und seiner Gefangenschaft war der König nun offenbar vorsichtiger geworden. Sein athletischer Körper war schlank und sehnig.

Doch sein berühmter Sinn für alles, was modisch war, hatte ihn nicht verlassen. Selbst an einem gewöhnlichen Tag wie diesem trug er ein mit Gold und Silber besticktes Wams, das mit zahlreichen Granatsteinen verziert war. Darüber hatte er einen purpurnen, mit Silberfuchs besetzten Überrock gezogen, um die Kälte abzuhalten. Eine rote, mit Perlen und noch mehr Granaten geschmückte Kappe bedeckte seinen Kopf und verbarg seinen Blick, als er sich jetzt über die Papiere beugte.

„Insgesamt werden es zwölf sein, Majestät“, sagte Fiorentino und deutete auf die leeren Flächen an den Wänden der Galerie. „Es sind natürlich alles Szenen aus der Mythologie, die Eurer Majestät erleuchtete Herrschaft illustrieren.“

„Hm, ja, ich verstehe“, sagte François. Ohne aufzublicken, rief er: „Ah, Madame Dumas! Von allen Damen in meinem Königreich habt Ihr sicher das beste Auge für Schönheit. Was haltet Ihr von den Plänen Signor Fiorentinos?“

Marguerite trat näher und betrachtete die Zeichnungen, während sie die Botschaft des Königs in ihren Ärmel steckte. Die erste Zeichnung zeigte eine Szene mit Danae, die hier mehr einer modisch gekleideten Dame des französischen Hofs ähnelte als einer Frau der antiken Welt. Sie war in tintenblaue Seide gehüllt und trug einen Kopfputz. Doch ihre Umgebung – zerbrochene Säulen, knorrige Olivenbäume und ein Gefolge aus dicken Putten und noch mehr modisch gekleideten Damen – war kunstvoll ausgearbeitet und von äußerster Eleganz.

„Es ist reizend“, sagte sie. „Und durch seine Größe und die Art, wie die Säulen die Szene einrahmen werden, erscheint es mir absolut geeignet für diesen Platz hier, wo die Nachmittagssonne Danaes Kleid aufleuchten lassen wird wie an einem Sommertag. Ihr werdet Kobalt benutzen, Signor, und kleine Tupfen aus Gold?“

„Ihr habt völlig recht, Majestät! Madame hat ein äußerst scharfes Auge für Schönheit“, rief Fiorentino glücklich und klatschte in die farbverschmierten Hände. Vielleicht war er auch nur froh, ein weiteres Kompliment erhalten zu haben.

„Gut, Signor“, sagte der König. „Die Danae bleibt. Ihr könnt sofort anfangen.“

Während der Künstler mit seinem Assistenten im Schlepptau davoneilte, lächelte François Marguerite an. Obwohl sie versuchte, seine Gedanken zu erraten, konnte sie in seinem höflichen Lächeln und dem unergründlichen Blick seiner Augen nichts erkennen. Er konnte noch besser sein wahres Ich verbergen als Marguerite.

„Wollen wir ein wenig im Garten spazieren gehen, Madame Dumas?“, fragte er heiter. „Ich glaube, es ist ein wenig wärmer geworden. Und ich möchte gerne Eure Meinung zu dem neuen Brunnen hören, den ich in Auftrag gegeben habe. Es ist die Göttin Diana, eine große Kriegerin und Jägerin. Eine Eurer liebsten Göttinnen, wie ich glaube?“

„Es wäre mir eine Ehre, mit Euch spazieren zu gehen, Majestät“, antwortete Marguerite. „Doch ich fürchte, ich verstehe nur wenig von Brunnen.“

„Egremont wird Euch seinen Mantel leihen“, sagte er und deutete auf einen seiner Begleiter, der ihr sofort seinen pelzbesetzten Umhang anbot. „Wir möchten nicht, dass Ihr Euch erkältet. Ihr habt eine so wichtige Aufgabe, Madame.“

Wichtige Aufgabe? Handelte es sich also tatsächlich um einen neuen Auftrag? Eine Chance für die „Smaragdlilie“, der Zurückgezogenheit zu entkommen? Bemüht, sich nichts von ihrer Aufregung anmerken zu lassen, legte sich Marguerite den Mantel um die Schultern. „Wirklich, Majestät?“

Oui. Ist meine Tochter denn nicht auf Euch angewiesen, seitdem ihre selige Mutter verstarb? Ihr seid ihr die liebste Begleitung.“

„Auch ich mag die Prinzessin sehr gerne“, erwiderte Marguerite, und das stimmte auch. Prinzessin Madeleine war ein reizendes Kind, charmant und aufgeweckt. Doch sie stellte kaum eine Herausforderung dar. Sie konnte Marguerite nicht die Art von Erfolg bieten, nach der sie sich in ihrem Ehrgeiz verzehrte. Den Erfolg, den sie zu ihrer eigenen Sicherheit brauchte. Sie dachte an die vielen Münzen, die sie unter ihrem Bett versteckte. Und dass sie immer noch nicht reichten, um sich davon einen Weinberg zu kaufen und ihr ein Leben zu ermöglichen, über das nur sie selbst bestimmte.

„Das freut mich zu hören.“ François führte sie die Treppe hinunter und hinaus in den parkähnlichen Garten, der jetzt unter winterlichem Frost schlummerte. Wie der Palast, so wurde auch er umgestaltet. Die Blumenbeete waren umgegraben, um im Frühjahr in einem moderneren Muster neu bepflanzt zu werden. Im Augenblick lag alles erstarrt und festgefroren da, mit einer glitzernden Schicht aus Eis überzogen, und glich einer verzauberten Märchenlandschaft.

François winkte seine Begleiter fort und dirigierte Marguerite einen schmalen Spazierweg hinunter. Es war sehr still; hin und wieder ließen sich die entfernten Stimmen der zurückgelassenen Höflinge vernehmen, die bei der Mauer stehen geblieben waren.

„Es ist äußerst bedauerlich, dass meine Tochter eine Zeit lang ohne Eure Gesellschaft wird auskommen müssen“, sagte der König.

„Wird sie das müssen?“

„Ja, denn Ihr werdet nach England reisen, befürchte ich, Madame. Und die ‚Smaragdlilie‘ muss Euch begleiten.“

England. Also waren die Gerüchte wahr. François suchte eine neue Allianz mit König Henry, ein neues Bollwerk gegen die Macht des Kaisers.

„Ich bin bereit“, entgegnete sie.

François lächelte. „Ma chère Marguerite – immer so bemüht, uns zu dienen.“

„Ich bin Französin“, antwortete sie nur. „Für mein Land tue ich, was ich kann.“

„Und Ihr tut es gut. Meistens.“

„Ich werde Euch nicht enttäuschen. Das schwöre ich.“

„Ich vertraue darauf, dass Ihr die Wahrheit sprecht. Denn diese Mission ist von lebensnotwendigem Interesse. Ich werde eine Delegation losschicken, damit diese einen Vertrag über eine Allianz mit König Henry aushandelt und die Heirat von seiner Tochter Mary mit meinem Henri arrangiert.“

Marguerite überdachte seine Worte. Trotz der Liebäugelei mit England, einschließlich des lang zurückliegenden Treffens auf dem Feld des Güldenen Tuches, das solches Aufsehen erregt hatte, dass man immer noch davon sprach, war bei all den Bemühungen nicht viel herausgekommen. Dank der englischen Königin Katharina von Aragon, einer Tante des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, war England immer wieder Spanien zugeneigt.

„Was ist mit den Spaniern?“, fragte Marguerite ruhig.

„Ich habe sagen hören, dass Henry und seine Königin nicht mehr – so eng miteinander verbunden seien“, antwortete François. „Katharina wird alt. Möglicherweise hat Henry ein Auge auf eine junge Dame geworfen, die einst Mitglied des französischen Hofs war – Madame Anne Boleyn. Katharina dürfte nicht länger so viel Einfluss auf die englische Politik besitzen. Seit der Bildung der Liga von Cognac scheint Henry geneigt zu sein, die Dinge mehr aus gallischem Blickwinkel zu sehen. Ich werde höchst zufrieden sein, sollte dieser Vertrag zu einem Abschluss kommen.“

Marguerite nickte. Eine Allianz mit England würde für Frankreich sicher den Beginn besserer Tage bedeuten. Doch sie hatte schon zuvor mit den Spaniern zu tun gehabt. Auch wenn sie fromm und streng zu sein schienen, so verteidigten sie ihre Interessen genauso heftig wie die Franzosen, vielleicht sogar noch heftiger. Man sagte, in ihrer religiösen Inbrunst würden sie oft über das Ziel hinausschießen. Anscheinend ließ sie das mürrisch werden, machte sie schlecht gelaunt und gefährlich wie Schlangen.

„Die Spanier – und Königin Katharina – werden ihren Vorteil nicht so leicht aufgeben“, meinte Marguerite. „Ich habe gehört, Katharina würde erneut einen spanischen Gatten für ihre Tochter Mary suchen.“

„Deswegen schicke ich Euch ja dorthin“, antwortete François. „Ich habe Gabriel de Grammont, den Bischof von Tarbes, bestimmt, die Delegation anzuführen, und ich bin sicher, er wird seine Sache sehr gut machen. So, wie es auch seine Männer tun werden. Doch Frauen können Dinge erkennen, die ein Mann nicht sieht, besonders so aufmerksame wie meine Lilie. Sie können an Orte gehen, an die ein Mann nicht gehen kann. Behaltet die Königin im Auge und besonders den spanischen Gesandten, Don Diego de Mendoza. Sehr gut möglich, dass die beiden ihre eigenen Pläne haben, von denen Henry nichts ahnt.“

„Und wenn dem so ist?“

François runzelte die Stirn und blickte über den vereisten Garten. „Dann wisst Ihr, was zu tun ist.“ Er zog eine schmale Rolle aus dem Überrock und händigte sie ihr aus. „Hier sind Eure Instruktionen. Ihr brecht in zwei Wochen auf. Heute Abend werde ich Euch Schneider schicken – Ihr müsst alles ordern, was Ihr für einen mehrwöchigen Aufenthalt braucht.“

Damit wandte er sich um, verließ sie und gesellte sich wieder zu seinen wartenden Begleitern. Alle verschwanden im Schloss und ließen Marguerite allein draußen zurück. Es gab keine Vögel, keine geschäftigen Gärtner und kein kühles Plätschern der Springbrunnen. Als Marguerite jetzt die Rolle öffnete, war da nur das einsame Pfeifen des Windes.

Die Nachricht bestand aus wenigen Worten. Ein Verwandter des Königs, der Comte de Calonne, würde mit seiner Gattin Claudine der Delegation angehören. Marguerite sollte als angebliche Gesellschafterin von Claudine auftreten, sollte sie begleiten, wenn sie Königin Katharina vorgestellt wurde und bei Banketten und Turnieren an ihrer Seite sein.

Aber Marguerite war klar, wie ihre eigentliche Aufgabe lautete. Es wurde von ihr erwartet, dass sie bei solchen Banketten mit den betrunkenen Höflingen flirtete und ihnen Geheimnisse entlockte, ehe die überhaupt merkten, was sie da ausplauderten. Sie sollte die Königin und den spanischen Gesandten im Blick behalten. Sie sollte König Henry nicht aus den Augen lassen und dafür sorgen, dass der immer sehr launische Monarch in seinen Entschlüssen nicht ins Wanken geriet. Sie sollte Anne Boleyn ausspionieren und herausfinden, ob sie tatsächlich Einfluss auf Henry besaß und ob sie für die französische Sache gewonnen werden konnte.

Und wenn irgendjemand den Interessen Frankreichs im Weg stand, sollte sie ihn beseitigen. Schnell und diskret.

Es war sicher der wichtigste Auftrag, den sie je erhalten hatte, eine Prüfung all ihres Könnens. Jetzt würde sie zeigen müssen, was sie gelernt hatte. Wenn sie ihre Sache gut machte, wenn der Vertrag und die Verlobung zwischen Prinzessin Mary und dem Duc d’Orléans zustande kämen, wäre ihr eine hübsche Belohnung gewiss. Vielleicht würde man sie sogar auf Reisen gehen lassen, damit sie den einzigen Mann suchen konnte, der sie je besiegt hatte. Dann würde sie endlich Rache nehmen können.

Der Russe. Nikolai Ostrowski.

Das leise Knirschen von Schritten auf dem Weg hinter ihr schreckte sie auf, und sie fuhr herum. Unwillkürlich hob sie die Arme vor ihr Gesicht, um sich notfalls verteidigen zu können.

Es war Pierre LeBeque, ein junger Priester im Dienste von Bischof Grammont. Er kniff die Augen zusammen, als sie sich zu ihm umdrehte und wich einen Schritt zurück, um sie mit wachsamem Blick zu mustern.

Marguerite ließ die Hände sinken, blieb aber bereit zur Flucht, sollte es nötig sein. Sie sah Pater Pierre nicht oft, denn normalerweise war er im Auftrag des Bischofs am Hof beschäftigt. Doch sie mochte das Gefühl nicht, das er in ihr hervorrief, wenn sie einander trafen, dieses Kribbeln im Nacken, das sie schon so oft vor einer Gefahr gewarnt hatte.

Sie war sich nicht sicher, welche Gefahr ein ernster junger Priester, groß, aber schmal wie die Klinge eines Dolches, für sie darstellen könnte. Er schien nichts als pflichtbewusste Frömmigkeit auf seinen knochigen Schultern zu tragen. Aber er beobachtete sie immer so genau. Aber nicht wie die anderen voller Ehrfurcht und Bewunderung für ihre Schönheit, nein, es war, als würde er versuchen, all ihre Geheimnisse zu ergründen.

Und Marguerite wusste sehr gut, wie oft das Aussehen eines Menschen einen täuschen konnte.

„Pater Pierre“, sagte sie ruhig und zog den geborgten Mantel fester um ihre Schultern. „Was treibt Euch an einem so eisigen Tag in den Garten?“

Er lächelte nicht, sondern schaute sie nur ernst an. Sein Gesicht, so weiß wie der Frost, war eine steinerne Miene und es schien zu alt zu sein für seine jungen Jahre. „Ich bringe dem König eine Nachricht von Bischof Grammont, Madame.“

„Ach, wirklich? So treu und fleißig seid Ihr. Wagt Euch an einem solchen Tag hinaus, wo es sich doch jeder andere am Kamin gemütlich machen würde.“

„Ihr nicht“, entgegnete er spitz.

„Ich brauchte etwas frische Luft. Doch ich wollte gerade in mein warmes Zimmer zurückkehren.“

„Erlaubt mir, dass ich Euch zurück ins Schloss geleite.“ Marguerite fiel kein guter Grund ein, seine Begleitung abzulehnen. Also nickte sie nur und machte sich auf den Rückweg. Pierre lief neben ihr. Der Saum seines schwarzen Gewandes raschelte über den gekehrten Kiesweg.

„Ich hörte vom Bischof, dass Ihr Euch unserer Reise anschließen werdet“, bemerkte er tonlos.

Alors, Nachrichten verbreiteten sich wirklich schnell! Gerade eben hatte Marguerite selbst erst von ihrem Auftrag erfahren, und dieser fromme Priester hier wusste bereits davon.

Was wusste er sonst noch?

„Das werde ich tatsächlich. Die Comtesse de Calonne verlangt eine Begleitung, und mir gebührt die Ehre, ihr zu Diensten zu sein.“

„Sie sind sehr mutig, Madame. Man sagt, am englischen Hof gehe es ungehobelt zu, und er sei schmutzig.“

„Ich habe gewiss schon von Schlimmerem gehört.“

„Habt Ihr?“

„Oui. Von den Türken, zum Beispiel. Und den Russen. Wie ich hörte, sollen die Russen sich die Bärte so lang wachsen lassen, dass sie vollkommen verfilzt und zerzaust sind und Ratten darin leben, ohne dass ihre menschlichen Besitzer auch nur ein wenig daraus lernten.“

Pater Pierre runzelte zweifelnd die Stirn. „Wahrhaftig?“

Marguerite zuckte die Achseln. „So wurde es mir erzählt. Außer den Gesandten, die manchmal Paris besuchen, bin ich selbst nur selten einem Russen begegnet. Ihre Pelzbekleidung war altmodisch, aber sie waren gepflegt.“ Und einen hatte sie getroffen, der hatte überhaupt keinen Bart gehabt, aber Haare, so golden und weich wie ein Sommertag. Einer, der ihr in den unpassendsten Augenblicken immer wieder in den Sinn kam. „Die Engländer tragen sicherlich keine Ratten in den Bärten. Ich bin überzeugt, dass die Wochen unseres Aufenthalts sehr angenehm verlaufen werden.“

„Nichtsdestoweniger werden wir uns an einem fremden Hof aufhalten, dessen Sitten wir vielleicht nicht immer verstehen. Ich hoffe, Ihr werdet keine Hemmungen haben, mich anzusprechen, wann immer Ihr einen Rat benötigt, Madame Dumas.“

Rat? Als ob sie je von ihm einen Rat brauchen würde! Marguerite machte einen höflichen Knicks und sagte: „Es ist mir ein Trost zu wissen, dass immer ein französischer Priester da ist, der mir die Beichte abnimmt, sollte es nötig sein. Ich wünsche Euch einen guten Tag, Pater Pierre.“

„Guten Tag, Madame.“

Sie verließ ihn am Fuß der großen Treppe, die vorerst nur ein breites Gebilde aus Marmor war, das darauf wartete, aufpoliert zu werden. Während sie die Stufen hinaufstieg und dabei Arbeitern und Staubwolken auswich, konnte sie den Blick des Priesters in ihrem Rücken spüren.

Tiens! Marguerite verdrehte wütend die Augen. Musste sie jetzt während der ganzen Zeit, die sie in England verbrachten, auch noch darauf achten, diesem Mann aus dem Weg zu gehen? In der Tat, das würden sicher ein paar sehr anstrengende Wochen werden.

Autor

Amanda Mc Cabe
Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden. Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award. Mit...
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