Die skandalöse Braut

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Mark Hunters zärtlicher Kuss weckt die Sehnsucht nach Liebe in der hübschen Emily. Sie möchte nur noch eins: für immer von seinen den starken Armen gehalten werden. Aber Vorsicht: Niemals darf er hinter ihr skandalöses Geheimnis kommen! Denn das wird einen Gentleman wie ihn womöglich davon abhalten, sie als seine Braut zu wählen ...?


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764692
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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„Unsinn, mein Kind, du sorgst dich wirklich ganz unnötig! Jungen sind nun einmal Herumtreiber.“ Mr. Cecil Beaumont schenkte seiner schönen Tochter ein strahlendes Lächeln. „Schau nicht so trübsinnig. Er wird schon wieder auftauchen.“

„Papa, Tarquin ist kein Junge mehr“, wandte Emily ein. „Er ist siebenundzwanzig und ein Mann, und ich fürchte, er hat sich einmal zu viel in die Klemme laviert. Vielleicht hat er sich verkrochen, weil er seine Gläubiger nicht länger hinhalten konnte.“ Den Blick ihrer strahlenden graublauen Augen ins Leere gerichtet, überlegte sie, wie oft schon ihr Bruder wegen seiner Spielleidenschaft und seiner Zügellosigkeit dem Abgrund nahe war, stets aber nach ein paar Tagen wieder auftauchte, ernüchtert und reuig. „Vielleicht sollten wir bei den Behörden nachfragen, falls er erneut im Schuldgefängnis gelandet ist.“

„Ganz unnötig, Liebes“, wehrte Mr. Beaumont ab, beugte sich wieder über seinen Schreibtisch und nahm die Feder auf.

Doch seine Tochter ließ sich nicht so leicht ablenken. In Grübeln versunken, wanderte sie in dem Arbeitszimmer umher. Schließlich ließ sie sich aufseufzend in einen abgenutzten Sessel sinken.

Schon vor fünf Tagen hatte die Familie ihren ältesten Sohn daheim am Callison Crescent erwartet, da er seinen jüngeren Bruder zwecks Anfertigung der Schulkleidung zum Schneider begleiten sollte. Er war nicht gekommen und hatte auch keine Nachricht gesandt, weder schriftlich noch mittels irgendwelcher Freunde. Selbst bei einem so egoistischen jungen Mann wie Tarquin ist das äußerst ungewöhnlich, fand Emily.

An jenem Nachmittag hatte Mrs. Beaumont etwas wie „rücksichtsloser Bursche“ gemurmelt und dann den Kammerdiener ihres Gatten als Begleitung des jungen Robert auserkoren. Als sie nun heute Morgen von Emily wegen Tarquins überlanger Abwesenheit angesprochen wurde, hatte sie sich nicht besorgter über ihren ältesten Sohn gezeigt als jetzt ihr Gemahl.

Seiner Tochter einen nachsichtigen Blick schenkend warf Mr. Beaumont schließlich die Feder nieder und schnalzte mit der Zunge. „Nun komm, mein Kind, mach kein langes Gesicht. Wenn Tarquin das Schuldgefängnis drohte, ist er noch immer angerannt gekommen, damit ich ihm aushelfe.“ Er lachte zynisch. „Ich werde bestimmt nicht nach ihm suchen oder mich um seine Probleme kümmern; die haben sich immer noch früh genug bei mir eingestellt“, meinte er und nahm die Feder wieder auf, um weiterzuschreiben. Als es eine Weile still blieb, hob er den Kopf und rief ein wenig ungeduldig: „Emily! Also wenn du dich gar nicht beruhigen kannst, werde ich zur Westbury Avenue gehen und seine Vermieterin fragen, ob sie etwas von seinem Verbleib weiß.“

Emilys betrübte Miene hellte sich auf. „Ach, Papa, ja, bitte versprich es mir.“

„Nun gut, wenn ich nachher ausgehe; es liegt sowieso am Weg.“ Damit beugte er sich wieder über sein Rechnungsbuch, wobei er durch ein kurzes Hüsteln kundtat, dass er nun nicht mehr gestört werden wollte.

Anmutig erhob Emily sich und ging hinauf in ihr Schlafgemach. Sie trat ans Fenster, und als sie die zartgrünen Blattknospen der Lindenbäume und den strahlend blauen Himmel sah, beschloss sie, auszugehen und ihre Freundin Sarah Harper zu besuchen, die nur wenige Straßen weiter wohnte. Nach den Regenfällen der letzten Tage tat es gewiss gut, ein wenig frische Luft zu schnappen.

Als sie in der Diele ihren Mantel anzog, eilte ihre Mutter herbei. „Wenn du ausgehst, musst du Millie mitnehmen!“, sagte sie streng. „Jenes abscheuliche Weib – du weißt schon, wer – sah sich bemüßigt, mir unter die Nase zu reiben, dass sie dich draußen ganz ohne schickliche Begleitung gesehen hat.“

Unbekümmert hob Emiliy ihre zart geschwungenen Brauen. Sie wusste genau, auf welche seit Langem eingeschworene Feindin ihre Mutter sich bezog. „Also, Mama, dann erkläre Mrs. Pearson bitte, dass ich eine erwachsene Frau von vierundzwanzig Jahren bin und ganz gut allein auf mich aufpassen kann.“

„Es geht nicht um dein Alter“, hub ihre Mutter an, konnte jedoch weitere Ausführungen bezüglich des Betragens unverheirateter Damen nicht mehr anbringen, denn Emily winkte ihr kurz zu und verließ das Haus. Achselzuckend wandte Mrs. Beaumont sich ab; sie war längst an den Eigensinn ihrer Tochter gewöhnt. Allerdings war es lästig, dass sich solch alte Hexen wie die Pearson, die sowieso nur auf Skandale aus waren, bemüßigt fühlten, ihr das unter die Nase zu reiben. Resigniert begab sie sich in den Salon, um sich mit einem Schluck Sherry moralisch zu stärken.

„Es ist wirklich seltsam“, meinte Sarah nachdenklich. „Bestimmt hätte dein Bruder euch doch wenigstens schriftlich benachrichtigt, wenn er die Stadt verlassen wollte.“

Untergehakt schlenderten die beiden jungen Damen die Regent Street entlang, auf dem Weg zu dem neuen französischen Modesalon.

„Oh“, rief Sarah plötzlich, „mir geht ein Licht auf! Wahrscheinlich hat Tarquin sich verliebt und ist seiner Angebeteten hinterhergefahren, irgendwohin aufs Land.“

„Wie schön, wenn er einen so edlen Grund für sein Wegbleiben hätte.“ Emily schmunzelte. „Leider Gottes hat Tarquin nur eine Liebste – Fortuna! Mit einer solch besitzergreifenden Dame kann keine Frau aus Fleisch und Blut mithalten.“ Mit schiefem Lächeln fuhr sie fort: „Vermutlich hat Papa recht, und ich sorge mich völlig unnötig. Vermutlich ist er mit einem seiner Kumpel unterwegs. Aber dass er meinen kleinen Bruder so enttäuscht hat! Die beiden sind nämlich Freunde, trotz des großen Altersunterschieds. Robert hat ihn nun gar nicht mehr sehen können, ehe er in die Schule zurück musste.“

Vor dem Schaufenster der Madame Joubert blieben sie stehen, um die hübsch drapierten schimmernden Stoffe zu begutachten.

„Da, die pfauenblaue Seide, ist sie nicht herrlich? Und diese goldfarbene … wie ungewöhnlich!“ Emiliy lugte durch die geöffnete Tür des Geschäfts. „Drinnen ist noch mehr Auswahl …“

Doch Sarah unterbrach sie: „Schau, wer da kommt! Ihn solltest du fragen, ob er etwas von Tarquin weiß. Immerhin sind sie die besten Freunde.“

Ein kurzer Blick die Straße entlang zeigte Emily, wer gemeint war. Es wäre in der Tat auch schwer gewesen, den Mann zu übersehen. Mark Hunter war hochgewachsen und breitschultrig, mit dunklen, attraktiven Zügen, die die weibliche Fantasie beflügelten. Die elegante Dame, deren Hand fest auf seinem Arm ruhte, war Emily ebenfalls bekannt. Es war in der guten Gesellschaft ein offenes Geheimnis, dass Barbara Emerson Mark Hunters Mätresse war.

„Ah, Mr. Hunter ist mit seiner chère amie unterwegs“, flüsterte Sarah.

„Ich glaube, es ist mehr als das“, erwiderte Emily. „Man geht wohl davon aus, dass er Mrs. Emerson heiraten wird. Ich nehme an, sie betrachtet sich inoffiziell als seine Verlobte.“

„Woher stammt das Gerücht denn?“, fragte Sarah. „Bis er es bestätigt, können wir anderen jedenfalls noch hoffen. Himmel, er sieht aber auch gut aus!“, hauchte sie. „Ich könnte niedersinken.“

Emily hob ob der überschwänglichen Äußerung kritisch die Brauen; sie mochte Mark Hunter nicht, und das war Sarah sehr wohl bekannt. „Schön ist, wer schön handelt …“, murmelte sie, während sie das bewunderte Objekt unauffällig musterte. Unbestreitbar war Mark Hunter ein sehr ansehnlicher Gentleman, doch Emily hatte Grund zu der Annahme, dass er gemein und herzlos war. Hatte er nicht in der Vergangenheit Tarquin wegen eines geschuldeten Betrages ins Schuldgefängnis gebracht? Seltsamerweise betrachtete ihr Bruder ihn trotz dieses Verrats immer noch als seinen Freund, und wenn Emily ihn darauf ansprach, pflegte er nur zu sagen, dass Mark kein übler Bursche sei.

Emily überlegte, ob sie es wagen sollte, Mr. Hunter wegen Tarquin anzusprechen. Vielleicht wusste er wirklich, ob ihr Bruder sich zu irgendeinem der unter jungen Herren beliebten Orte wie Brighton oder Newmarket begeben hatte. Vielleicht sollte sie die Gelegenheit nutzen, da sie sich nun einmal ergab.

Währenddessen war das Pärchen schon auf ihrer Höhe; Mark verlangsamte den Schritt und neigte grüßend das Haupt. „Miss Beaumont … Miss Harper.“

Scheu lächelnd erwiderte Sarah den Gruß und knickste leicht. Emily nickte nur knapp und murmelte seinen Namen. Er betrachtet sie unverwandt, und sie begegnete kühn seinem Blick. Seine Augen waren von ungewöhnlichem Blau, sie schimmerten beinahe wie die wunderbar changierende pfauenblaue Seide, die sie eben noch in Madam Jouberts Schaufenster bewundert hatte.

Ungeachtet ihrer kühlen Haltung lächelte Mark sie an, und tief in seinen Augen blitzte ein Funke Humor auf. Natürlich war ihm klar, dass sie ihn nicht mochte, immerhin hatte sie es ihm schon offen gesagt, und Emily hoffte, ihm war ebenso klar, dass sie im Gegensatz zu ihrer betörten Freundin seinem guten Aussehen und dem Charme, den er versprühte, leicht widerstehen konnte.

Irritiert, weil ihr Geliebter seine Aufmerksamkeit nicht ihr selbst, sondern Miss Emily Beaumont schenkte, äußerte Mrs. Emerson: „Ich habe Sie eine ganze Weile nicht gesehen, Miss Harper. Wie geht es Ihrer Mutter? Als wir uns zuletzt trafen, litt sie unter Rheumatismus.“

„Es geht ihr besser, danke der Nachfrage, Madam. Es war das kalte Wetter.“

Barbara Emerson murmelte ein paar passende Worte und wandte sich dann Emily zu. „Wie gut Sie aussehen, Miss Beaumont! Ihre Familie ist hoffentlich bei bester Gesundheit?“

Emily bestätigte das. Sie lächelte die elegante Dame flüchtig an. Mrs. Emerson durfte kaum zwei Jahre älter sein als sie selbst, dennoch haftete ihr das Flair müheloser Weltgewandtheit an, mit dem verglichen Emily sich unbeholfen wie ein Schulmädchen vorkam.

Schon mit neunzehn hatte Barbara einen reichen älteren Herrn geheiratet, der wenige Jahre danach starb und ihr sein gesamtes Vermögen hinterließ. Nun war sie die Geliebte und zukünftige Gattin eines der begehrtesten Junggesellen des ton. Großzügig gestand Emily der Dame zu, dass sie sich ihre überlegene Haltung wohl verdient hatte.

Als Barbara bemerkte, dass ihr Bemühen, Mark von Miss Beaumont abzulenken, gescheitert war, drängte sie ihn sanft, die Schwelle des Modesalons zu überschreiten, indem sie unauffällig, aber nachdrücklich seinen Unterarm drückte. Doch Mark entzog sich höflich, doch geschickt den fordernden Fingern seiner Begleiterin, die daraufhin, ärgerlich errötend, herumwirbelte und angelegentlich die Auslagen des Schaufensters betrachtete. Sarah gesellte sich ihr zu und deutete auf einige Stoffe, deren Farben ihr besonders zusagten.

„Ist Ihr Bruder zu Hause, Miss Beaumont?“, fragte Mark.

„Nein, er musste heute Morgen zurück zur Schule.“

Mark lächelte schief. „Ich meinte Ihren älteren Bruder“, erklärte er.

„Ah, ich dachte, Sie meinten Robert, denn ich nahm an, Ihnen wäre bekannt, wo Tarquin ist.“ Verlegen fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, denn Mr. Hunters unverwandtes Interesse irritierte sie. „Ich wollte Sie gerade fragen, wo er sich aufhalten könnte.“

Mark zog überlegend die Brauen zusammen; er hörte die Besorgnis aus Emilys Tonfall heraus. „Seit letzter Woche bei White’s, wo wir ein Spielchen machten, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Deshalb erkundigte ich mich heute Morgen bei seiner Hauswirtin, hörte aber, er sei schon seit mehreren Tagen nicht mehr in seiner Wohnung gewesen. Daher vermutete ich ihn daheim bei Ihren Eltern. Übrigens kann ich Sie beruhigen – ich suche ihn nicht wegen einer Spielschuld“, fügte er milde hinzu, als er ihren scharfen Blick sah. „Aber er hatte angedeutet, dass er mich vielleicht nach Cambridge begleiten würde.“

Emily erinnerte sich: Mark Hunter besaß einen Landsitz in Cambridgeshire, auf dem Tarquin schon einmal zu Besuch gewesen war, und wieder daheim hatte er ehrfürchtig von der Größe und prachtvollen Ausstattung des Hauses berichtet. Doch ihre Gedanken waren gleich wieder bei dem, was sie quälte. „Papa sagte, er wolle heute Nachmittag in der Westbury Avenue vorsprechen, aber nachdem Sie schon vergebens dort waren, ist das wohl Zeitverschwendung.“ Unbewusst seufzte sie auf. „Es ist zu schlimm von Tarquin, so wortlos zu verschwinden. Haben Sie wohl eine Vorstellung, wo er sein könnte?“ Sie schaute besorgt zu ihm auf. „Er pflegt ja unkonventionelle Vergnügungen. Gibt es vielleicht irgendwo auf dem Land einen Boxkampf oder Hahnenkämpfe oder etwas dergleichen?“

Mark blickte in ihre grauen Augen, die so bekümmert dreinschauten. Emily hoffte auf seine Hilfe, und er hätte sie nur zu gern gewährt, nur leider hatte er keine Ahnung, wo Tarquin sein könnte.

Obwohl Miss Emily Beaumont ihn nicht mochte, hatte er eine Schwäche für sie. Doch nicht nur ihr Äußeres zog ihn an. Sicher, sie war außerordentlich hübsch und besaß eine entzückende Figur. An diesem kühlen Frühlingstag hüllte ihr Samtmantel sie sehr züchtig ein, jedoch hatte er sie oft genug in seidenen Abendtoiletten gesehen, in denen ihre reizvollen Rundungen hervorragend zur Geltung kamen, und hatte das stets mit beschleunigtem Pulsschlag zur Kenntnis genommen. Zu solchen Gelegenheiten überlegte er oft genug, wie er ihre schlechte Meinung über ihn ändern könnte. Es würde keine leichte Aufgabe sein. Emily Beaumont besaß einen starken Charakter und scheute sich weder, ihn herauszufordern, noch hielt sie mit ihren Ansichten hinterm Berg. Und auch das faszinierte ihn an ihr. Leider neigte eine beklagenswerte Anzahl junger Damen dazu, in seiner Gegenwart errötend herumzustammeln. Emily hingegen schleuderte eher zornige Blicke aus ihren schönen graublauen Augen, als ihm unter ihren langen Wimpern hervor lockende Blicke zuzuwerfen.

Im Augenblick allerdings sah sie stumm flehend zu ihm auf, was hoffentlich bedeutete, dass sie sich möglicherweise überzeugen ließ, wie wenig er dem herzlosen Burschen glich, für den sie ihn hielt. Mark war sich ziemlich sicher, dass ihr Bruder sich versteckt hielt, weil er wieder einmal seine Schulden nicht begleichen konnte. Aber um für die berückende junge Dame den Ritter in schimmernder Rüstung spielen zu können, würde er das erst einmal für sich behalten.

„Nein, zurzeit wüsste ich keine solche Veranstaltung“, entgegnete er ruhig, „aber das muss nichts heißen. Wenn Sie möchten, werde ich mich umhören und versuchen, ihn zu finden.“

In diesem Moment waren ihre Vorbehalte vergessen, und sie strahlte ihn ganz ungekünstelt an. „Sehr gern, danke sehr, Sir. Es wäre sehr beruhigend zu wissen, dass Tarquin in seinem Egoismus nur wieder einmal völlig unbedacht gehandelt hat.“ Dann wurde sie sich der Kritik an ihrem Bruder bewusst. Bisher hatte sie ihn besonders vor Mr. Hunter immer heftig verteidigt. Doch Tarquins Verhalten ließ ihre Langmut zusehends schrumpfen. Immer wieder hatte er sie enttäuscht, obwohl sie alle ihn ständig unterstützten und in Schutz nahmen. Tarquin jedoch dankte es ihnen nicht, weder mit Worten noch mit Taten, und Emily war sich bewusst, dass die mangelnde Besorgnis ihrer Eltern der Erleichterung entsprang, ihren ältesten Sohn samt seinen Problemen eine Weile aus den Augen zu haben.

Emily seufzte. Anders als sie nach außen zugab, dachte auch sie nicht immer liebevoll an ihren Bruder. Immerhin hatte er vor einigen Jahren den Mann vertrieben, den sie inniglich liebte. Aus ihrer Versunkenheit auftauchend sah sie sich von einem paar blauer Augen beobachtet. Mark hatte ihren Ausrutscher bezüglich ihrer Rolle als treue Schwester bemerkt. Vermutlich rätselte er auch gerade über den Grund, aus dem sie sich plötzlich ein wenig für ihn erwärmte.

Noch vor wenigen Minuten hatte sie ihn äußerst kühl begrüßt, nun war sie unsicher. Beiden war klar, ihre veränderte Haltung rührte daher, dass sie seine Hilfe brauchte.

Emily glaubte Spott in seinen Augen zu lesen und vermutlich den Vorwurf der Heuchelei. Und konnte sie ihn dafür tadeln? Sie schalt sich ja deshalb fast schon selbst! Hastig nickte sie verabschiedend und trat einen Schritt zurück.

„Waren Sie eben dabei, hier einen Einkauf zu tätigen?“, fragte er rasch, um ihren Abschied hinauszuzögern.

Verneinend schüttelte sie den Kopf. „Nein, wir haben nur die Auslagen angeschaut. Bitte, Mr. Hunter, falls Sie meinen Bruder sehen sollten, erinnern Sie ihn doch daran, wo die Beaumonts wohnen. Vielleicht könnte er sich herablassen, uns einen Gruß zu senden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Guten Tag, Sir.“

Er lächelte ob ihrer Ironie. „Ich werde es nicht vergessen, Miss Beaumont. Und wenn ich etwas erfahre, werde ich es Sie wissen lassen.“

Nach einem gemurmelten Dank wandte Emily sich Sarah zu, die erleichtert war, sich von Mrs. Emerson trennen zu können, denn jeder Konversationsansatz war an deren Verbissenheit gescheitert, Mark Hunter nicht aus den Augen zu lassen.

Die beiden jungen Damen verabschiedeten sich höflich und entfernten sich, doch nach einer kurzen Strecke warf Sarah einen neugierigen Blick über die Schulter. „Er schaut dir immer noch nach“, zischte sie Emily zu. „Und Mrs. Emerson guckt ziemlich grimmig drein.“

„Er könnte auch dich meinen“, erklärte Emily. „Und Barbara schmollt vielleicht, weil sie ihre Einkäufe aufschieben musste. Was ich ihr nicht verdenken kann. Diese Seidenstoffe waren zu schön!“

„Dann lass uns doch zurückgehen, das wäre nur natürlich. Immerhin waren wir zuerst bei Madame Joubert.“

„Sei nicht albern, das sähe ja aus, als verfolgten wir sie.“ Sie zerrte an Sarahs Ärmel. „Und starr die beiden nicht so an, um Himmels willen!“

2. KAPITEL
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„Hör um Himmels willen auf, sie so anzugaffen!“

Die Schuhspitze der jungen Frau traf unsanft auf das Schienbein ihres Begleiters. Er japste laut und stieß ein paar kräftige Flüche aus. „Was zum Teufel soll’n das, Jenny?“, knurrte er.

„Damit du dich nicht zum Idioten machst“, zischte Jenny Trent. „Es ist nicht grad passend, hier gesehen zu werden.“ Leise schimpfend sah die junge Frau unter gesenkten Lidern umher.

„Schätze, der feine Pinkel, mit dem sie sprach, hat gemerkt, dass wir sie im Auge haben. Mit solchen wie dem woll’n wir lieber nich’ anbändeln.“ In gespielt lässiger Haltung schlenderte Mickey Riley weiter und vermied Mark Hunters aufmerksamen Blick. „Der Kerl glotzt dich an, Jenny“, bemerkte er, dabei schielte er lüstern auf die hübsche Person an seiner Seite. „Kenn die Typen! Guter Stall und Kohle, un’ Augen für’n hübschen Unterrock. Wir hätt’n ’n reicheren Kerl als Beaumont finden können.“

„Nun ist es ist ja wohl ein bisschen zu spät! Du und deine dummen Ideen!“ Sie stieß ihn an, damit er weiterging.

Der vornehme Herr, den Riley so interessiert beäugte, lehnte am Türpfosten des schicken Modesalons, während seine schöne Begleiterin auf etwas im Schaufenster deutete. Nur schien der Mann ein wenig abgelenkt, denn er hielt unverwandt die andere Straßenseite im Auge. „Ich glaub, Jenny, er hat ’n Auge auf dich geworfen. Zeig ihm mal, was du zu bieten hast.“

Zwar runzelte Jenny die Stirn, schwang aber trotzdem ihre Röcke und ließ ein Paar hübsche Fesseln und Waden aufblitzen. Dabei warf sie herausfordernd die roten Locken zurück.

„Braves Mädchen“, lobte Mickey, hakte sie unter und verschwand mit ihr im Gedränge der Regent Street. Hätte er Mark Hunters Gedanken gekannt, wäre er weniger selbstsicher gewesen, denn nicht Jenny, sondern er selbst hatte die Aufmerksamkeit des Gentleman geweckt.

Mark ließ sich von Barbara ins Innere des Ladens ziehen und murmelte die erwarteten Bemerkungen zu den Dingen, die ihr gefielen, war jedoch mit seinen Gedanken anderswo.

Es war schon ein seltsamer Zufall, dass Emily Beaumont von Tarquins zweifelhaften Vergnügungen sprach, während ihm selbst im gleichen Moment ein Bursche auffiel, den er zuletzt in einem zwielichtigen Etablissement mit Tarquin hatte ziemlich heftig herumstreiten sehen. Das war Mark Grund genug, sich nach dem Kerl zu erkundigen. Mehr als den Namen hatte er damals allerdings nicht aus Tarquin herausbekommen.

Dieser Vorfall lag schon einige Wochen zurück, doch Mark konnte sich Gesichter gut merken, und Rileys Physiognomie war recht auffällig. Zwar schien er kaum älter zu sein als er selbst mit seinen zweiunddreißig Jahren, doch war sein Haar schon eisengrau, und seine Züge wirkten verlebt. Dazu kam eine Höckernase, die das Resultat eines Faustkampfs sein mochte.

Über die Bekanntschaft zwischen Tarquin und Riley war Mark nicht verwundert, denn Tarquins Spielleidenschaft, die sich nicht auf das normale Hasardspiel beschränkte, sondern auch Wetten auf die kuriosesten Dinge einschloss, brachte ihn mit allen möglichen seltsamen Leuten zusammen, nur leider war dem jungen Mann die Dame Fortuna niemals hold.

Die meisten Männer hätten unter diesen Umständen all dem abgeschworen und sich anderen Zerstreuungen gewidmet, nicht aber Tarquin. Der folgte, obwohl er schon ein kleines Vermögen verspielt hatte, der Philosophie, dass der nächste Einsatz ihm den ersehnten Gewinn bringen würde.

Ob Tarquin diesem Riley wohl Geld schuldete? Der Bursche sah nicht so aus, als ob er einem Zahlungsunfähigen gnädig gesinnt wäre. Nun, Tarquins Schulden gehen mich nichts an, dachte Mark. Sah man von dem Betrag ab, den er ihm neulich wieder geliehen hatte – vermutlich auf Nimmerwiedersehen.

Bei näherer Überlegung überkam ihn das düstere Gefühl, dass Riley und das leichte Mädchen an seiner Seite möglicherweise die verwandtschaftliche Beziehung kannten und es deswegen auf Emily abgesehen hatten. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass Riley erwartete, von ihr die Schulden ihres Bruders eintreiben zu können – obwohl es schon vorgekommen sein sollte, dass auch Angehörige vornehmer Schuldner unter Druck gesetzt wurden. Vielleicht hielt Riley die Schwester seines Schuldners für geneigter, seinen Forderungen nachzugeben, als Mr. Beaumont senior.

Ungeduldig schaute Mark sich in dem mit schweren Düften parfümierten Laden um, in dem die Besitzerin einen Ballen duftiger Seide nach dem anderen herbeitrug, um Barbara zum Kauf zu verlocken. Während er träge zusah, wie sich hübsche Nichtigkeiten auf dem Tresen häuften, fragte er sich, ob vielleicht seine Fantasie mit ihm durchging. Es gab keinen Beweis dafür, dass Riley nicht einfach nur einen Nachmittagsspaziergang mit seinem Liebchen machte. Auch wenn sie Emily und ihre Freundin beobachtet hatten, musste das nicht aus finsteren Beweggründen geschehen sein! Zwei offensichtlich beneidenswert wohlsituierte junge Damen mochten durchaus die Blicke der weniger Privilegierten auf sich ziehen.

So vernünftig das klang, drängte es Mark dennoch plötzlich, alles stehen und liegen zu lassen, Tarquin aufzustöbern und aus ihm herauszuquetschen, was zum Teufel er in letzter Zeit getrieben hatte.

„Der Mann da hinten hat gesagt, ich soll Sie das geben.“

Verblüfft betrachtete Emily das zerlumpte Kind, das gerade grob an ihrem Mantel gezerrt hatte, um sich bemerkbar zu machen. Nun streckte das Bürschchen ihr mit schmuddeliger Hand ein zerknittertes Papier entgegen. Zögernd nahm sie es an, wobei sie in die Richtung schaute, in die der Knirps gezeigt hatte, jedoch niemanden entdecken konnte, der als Auftraggeber infrage gekommen wäre. Der Junge folgte ihrem Blick und meinte: „Nu isser weg. Hat aber gesagt, ich soll Sie das geben, un’er gab mir das hier.“ Damit streckte er ihr zwei Kupfermünzen hin. „Krieg ich von Ih’n auch was?“, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

„Sicher doch“, murmelte Emily, fischte in ihrem Retikül nach ein paar Pennies und drückte sie ihm in seine kleine Pfote, die er darüber schloss und dann fortrannte, als fürchtete er, sie könnte ihm den Lohn wieder fortnehmen.

Vor ein paar Minuten hatte Emily sich an der Straßenecke von Sarah verabschiedet und war unterwegs zu ihrem eigenen Heim, als der Kleine sie angesprochen hatte. Neugierig betrachtete sie das nur nachlässig gesiegelte Blatt, auf dem kein Empfänger geschrieben stand. Lächelnd überlegte sie, ob sie wohl einen geheimen Verehrer hatte. Von dem Mann, dessen offene Bewunderung sie genoss, kam das Briefchen mit Sicherheit nicht, denn Mr. Stephen Bond neigte nicht zu so romantischen Gesten wie einen Straßenjungen mit einem billet-doux auszusenden. Natürlich war er ein netter junger Mann, nur so sehr berechenbar. Aufseufzend dachte sie daran, dass eben dieser Herr am heutigen Abend bei ihnen zum Dinner erwartet wurde, und wie stets würde er auf die Minute pünktlich sein.

„Du kommst spät.“ Gereizt empfing Mrs. Beaumont ihre Tochter in der Diele. „Du hast doch nicht vergessen, dass wir Gäste zum Dinner haben?“

„Nein, Mama, ich weiß, dass wir um sieben Uhr Mr. Bond erwarten.“ „Nun, gut … sieh zu, dass Millie dir das Haar hübsch frisiert.“ Ihre Mutter umkreiste sie einmal und zupfte an einer lose herabhängenden goldblonden Strähne. „Stephen bringt übrigens seine Großmutter mit. Sie kommt aus Bath und ist bei ihm zu Besuch. Als er sie mir gestern im Theater vorstellte, konnte ich nicht umhin, sie ebenfalls einzuladen. Und dein Vater ist auch noch nicht zurück! Dabei ist es schon kurz vor sechs.“

„Er wollte doch an Tarquins Wohnung vorbei, um sich nach ihm zu erkundigen.“

„Jemand hat nach Tarquin gefragt“, sagte Mrs. Beaumont ein wenig besorgt. „Millie kam von einem Botengang wieder und erzählte, dass sie von einem Mann angesprochen wurde. Er muss unser Haus beobachtet haben, sonst hätte er nicht wissen können, dass sie hierher gehört. Er war höflich, sagt sie, sah aber nicht sehr vornehm aus.“ In diesem Moment trat Mr. Beaumont ein, und seine Gattin schaute ihm fragend entgegen.

„Leider keine Neuigkeiten“, erklärte er, während er seinen Mantel ablegte. Sein Ton klang nicht mehr so optimistisch wie noch am Vormittag.

„Du warst in der Westbury Avenue, Papa?“

„Ja, und seine Hauswirtin war sehr erfreut darüber, kann ich euch sagen! Ich kam gar nicht erst zu Wort, denn kaum, dass sie mich sah, wollte sie von mir wissen, wo er sich herumtreibt! Sie meint nämlich, er hätte sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Ein Großteil seiner Besitztümer fehlt, und er schuldet ihr zwei Monatsmieten. Seit zwei Wochen hat sie ihn nicht mehr gesehen.“

„Was sollen wir nur mit ihm anfangen?“, rief Mrs. Beaumont verzweifelt. „Wann wird er endlich ruhiger und lernt Verantwortung und Rücksicht? Also ist er tatsächlich wieder einmal auf der Flucht vor seinen Gläubigern!“

Mr. Beaumont schürzte skeptisch die Lippen. „Ich glaube, es geht hier nicht nur um die Miete. Mrs. Dale erzählte, dass ein Kerl mit einer Boxernase nach ihm gefragt hat. Angeblich sah er aus wie jemand, dem man besser nicht krumm kommt.“

Besorgt fasste Mrs. Beaumont ihren Gatten beim Arm. „Millie wurde draußen auf der Straße von einem Mann mit einer solchen Nase über Tarquin ausgefragt. Aber sie sagte, er wäre sehr höflich gewesen …“, fügte sie wie aufmunternd hinzu.

„Nun, das wird er auch bleiben, wenn er auf Geld aus ist“, meinte Mr. Beaumont und lachte zynisch. „Erst wenn sie keines bekommen, werden sie grob! Ich verstehe nicht, warum er sich nicht meldet“, fuhr er fort. „Normalerweise bin ich sein erster Rettungsanker, wenn er Geld braucht. Ob er sich an einen seiner Freunde gewandt hat? Ich hatte ihn nämlich letztens gewarnt, dass ich ihm ganz bestimmt nicht noch einmal unter die Arme greifen würde. Vielleicht hat er mich beim Wort genommen.“

Rasch warf Emily ein: „Heute Nachmittag traf ich Mr. Hunter. Er hatte ebenfalls schon in Tarquins Logis nach ihm gesucht. Nicht, weil er Schulden eintreiben wollte, keine Sorge! Er sagte, auch er hätte Tarquin seit Längerem nicht gesehen, aber er bot sich freundlicherweise an, Erkundigungen einzuziehen. Wenn er etwas erfährt, wird er es uns wissen lassen.“

Mr. Beaumont nickte langsam. „Mark ist ein guter Junge. Wenn er sagt, er will sich die Ungelegenheit machen, kann man sich darauf verlassen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das ergrauende Haar. „Ich werde mal die Post durchsehen, falls Nachricht von Tarquin dabei ist …“ Schwerfällig ging er zu seinem Arbeitszimmer, während seine Gattin davoneilte, um sich den Vorbereitungen fürs Dinner zu widmen. Über die Schulter rief sie Emily zu: „Beeil dich um Himmels willen beim Umkleiden! Schau nur, wie spät es schon ist!“

Als die Tür sich hinter ihrer Mutter schloss, zog Emily langsam das Briefchen aus der Tasche. Heimlicher Verehrer, ha!, dachte sie spöttisch.

Plötzlich glaubte sie zu wissen, von wem das Schreiben kam.

Von Tarquin, der so die Eltern umgehen wollte. Sie fragte sich nur, warum er sie nicht persönlich abgefangen hatte. Wenn er Angst hatte, sich überhaupt zu zeigen, musste er wirklich ganz schön in der Klemme stecken. Rasch schob sie das Papier wieder in die Tasche und hastete in ihr Zimmer hinauf.

„Zweifellos sind Sie ein hübsches Mädchen, nur nicht mehr in Ihrer ersten Blüte.“

Während der Enkel der exzentrischen alten Dame bei dieser Bemerkung fast im Boden versank, hätte Emily sich beinahe verschluckt Sie konnte kaum den Drang zu kichern unterdrücken, doch fasste sie sich schnell und lächelte Mrs. Augusta Bond freundlich an.

„Emily ist noch keine fünfundzwanzig“, warf Mrs. Beaumont steif ein. „Wohl kaum im Matronenalter.“

Mrs. Bond hob ihr Lorgnon und schaute von Mutter zu Tochter. „Nun, die jüngeren Mädchen, die dieses Jahr debütieren, werden größere Chancen auf einen Ehemann haben“, äußerte sie bedeutungsvoll und übersah den eisigen Blick, der sie von Emilys Mutter traf. Sie legte die Augengläser auf ihrem üppigen Busen ab und widmete sich wieder dem Gericht auf ihrem Teller.

Emily spürte den Blick ihres Verehrers. Vermutlich wollte er ihr wortlos zeigen, wie peinlich berührt er war. Mitfühlend schenkte sie ihm ein Lächeln, das er mit Augenrollen erwiderte.

Autor

Mary Brendan
Mary Brendan wurde in Norden Londons als drittes Kind von sechs Kindern geboren. Ihr Vater hatte eine Klempnerfirma, und ihre Mutter, die sie zum Lesen und lernen anregte, arbeitete als Schulsekretärin.
Mary Brendan heiratete mit 19 Jahren und arbeitete in einer internationalen Ölfirma als Büroangestellte und später dann als Sekretärin in...
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