Die Wahrheit kennt nur der Wüstenwind

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Eine Ehe, die auf einer Lüge aufgebaut ist, kann nicht gutgehen! Rachel ist verzweifelt: Als Scheich Karim ihr einen Antrag macht, nimmt sie ihn an. Dabei hat sie ihn von Anfang an belogen. Soll sie Karim ihr düsteres Geheimnis beichten?


  • Erscheinungstag 18.07.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747886
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es war eine dieser Nächte, in denen sich ein Mann wünscht, auf seinem Lieblingshengst durch ein Meer aus Wüstensand zu reiten. Der Himmel wie schwarzer Samt. Sterne wie Leuchtfeuer. Ein elfenbeinfarbener Mond, der die weite Landschaft in sein milchig weißes Licht hüllt.

Aber Scheich Karim al Safir saß nicht im Sattel. Nicht in dieser Nacht. Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Alcantar und künftige Thronfolger, flog in fünfundzwanzigtausend Fuß Höhe über der Wüste in seinem Privatjet durch die dunkle Nacht. Auf einem kleinen Glastisch neben ihm wurde eine Tasse Kaffee langsam kalt. Vor ein paar Minuten hatte er angefangen, den Inhalt seines Aktenkoffers zu durchforsten, bis er plötzlich gestutzt und sich gefragt hatte, was er da eigentlich machte. Seit nunmehr zwei Wochen ging er die Unterlagen wieder und wieder durch.

Karim streckte die Hand nach der Kaffeetasse aus und trank. Er brauchte den bitteren Geschmack, die aufmunternde Wirkung des Koffeins. Er benötigte dringend etwas, das ihm half weiterzumachen. Weil er erschöpft war. Körperlich. Geistig.

Und vor allem seelisch.

Wenn er doch bloß ins Cockpit gehen und dem Piloten befehlen könnte zu landen. Jetzt sofort, hier, mitten in der Wüste. Ein verrückter Gedanke! Doch er sehnte sich von ganzem Herzen nach einem Augenblick der Ruhe, nach ein paar tiefen Atemzügen klarer Wüstenluft.

Karim schnaubte. In diesem Land würde er die ersehnte Ruhe ganz bestimmt nicht finden. Dies war nicht die Wüste seiner Kindheit. Alcantar war Tausende von Meilen entfernt, seine sanft gewellten Ebenen aus feinstem Wüstensand endeten an den türkisfarbenen Stränden des Persischen Golfs. Während die Wüste, über die sein Flugzeug gerade flog, an den grellen Neonlichtern von Las Vegas endete.

Karim trank noch einen Schluck von seinem eiskalten Kaffee.

Las Vegas.

Er war bisher nur ein einziges Mal in Las Vegas gewesen. Geschäftlich. Aber die Stadt hatte ihn abgestoßen, sie war ordinär und geschmacklos, wie eine billige Hure mit zu viel Make-up. Deshalb hatte er damals beschlossen, nicht wie geplant dort Geld zu investieren. Auch wenn das sein Bruder offenbar völlig anders gesehen hatte. Rami hatte sich fast drei Monate in Vegas aufgehalten, so lange wie nirgendwo sonst in den letzten Jahren. Auf ihn schien die Stadt einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt zu haben.

Karim lehnte sich in seinem Ledersitz zurück. Der Versuch, nach Ramis Tod die losen Enden im Leben seines Bruders zu verknüpfen, hatte ihm die letzten Illusionen geraubt. Und ihn gezwungen, sich endlich der ganzen Wahrheit über Rami zu stellen.

Die losen Enden verknüpfen. Karim verzog leicht den Mund. So sah es zumindest sein Vater. In Wirklichkeit versuchte Karim, das Chaos zu lichten, das Rami hinterlassen hatte, aber davon wusste der König nichts. Er glaubte, dass sein jüngerer Sohn einfach nicht fähig oder willens gewesen war, erwachsen zu werden, dass er auf einer endlosen Suche nach sich selbst von Ort zu Ort gereist war.

Karim fand, dass so ein Selbstfindungsprozess ein Luxus war, den sich ein Prinz schlicht nicht leisten konnte, aber für Rami schienen andere Maßstäbe zu gelten. Er hatte schon immer eine wilde Seite gehabt und stets Wege gefunden, sich seiner Verantwortung zu entziehen.

Du bist der zukünftige Thronfolger, Bruder“, hatte er gesagt und dabei das hübsche Gesicht zu einem Grinsen verzogen. „Ich bin nur der Ersatzerbe.“

Vielleicht wäre ihm ja durch das Einhalten einiger Spielregeln dieser viel zu frühe, hässliche Tod erspart geblieben, aber jetzt war es zu spät für Spekulationen. Rami war mit aufgeschlitzter Kehle auf einer kalten Straße in Moskau verblutet. Als Karim die Nachricht erhalten hatte, war er von seiner Trauer fast überwältigt worden.

Er hatte gehofft, eine Art Frieden zu finden, indem er die Hinterlassenschaft seines toten Bruders ordnete.

Karim atmete tief ein und wieder aus.

Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass es ihm gelang, den Namen seines Bruders reinzuwaschen, indem er dafür sorgte, dass die Menschen, die Rami getäuscht hatte, diesen Namen nicht mehr mit Abscheu aussprachen.

Getäuscht?

Karim hätte fast gelacht. Sein Bruder hatte gespielt. Herumgehurt. Hatte alles geschluckt, was an illegalen Drogen auf dem Markt war. Er hatte sich Geld gepumpt und nie zurückbezahlt, er hatte in Kasinos weltweit horrende Spielschulden und offene Hotelrechnungen hinterlassen.

Karim war um die Welt geflogen, um Ramis Schulden zu begleichen, und zwar weniger aus Sorge um die rechtlichen Konsequenzen, als um den guten Namen seiner Familie wiederherzustellen. Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl, das waren Tugenden, für die Rami zeitlebens nur Hohn und Spott übriggehabt hatte.

Das musste Karim jetzt ausbaden. Deshalb hatte er sich zu dieser Pilgerreise aufgemacht, falls ein solches Wort zulässig war, um diese deprimierende Odyssee zu beschreiben. Er hatte Bankern, Kasino-Betreibern und Hotelmanagern Schecks ausgehändigt und finsteren Gestalten in abgewrackten Hinterzimmern obszöne Mengen an Bargeld in den Rachen geworfen.

Aber jetzt war er zum Glück am Ende dieser desillusionierenden Reise durch Ramis Leben angelangt. Noch zwei Tage Las Vegas, schlimmstenfalls drei, mehr auf keinen Fall. Sobald er hier fertig war, würde er nach Alcantar fliegen, um seinem Vater die gute Nachricht zu überbringen, dass Ramis Angelegenheiten geordnet waren, ohne sich dabei in Einzelheiten zu verlieren. Und wenn das hinter ihm lag, konnte er sich endlich wieder auf sein eigenes Leben in New York konzentrieren.

„Hoheit?“

Karim unterdrückte ein Aufstöhnen. Seine Flugzeugcrew war klein und effizient. Zwei Piloten und eine Stewardess, aber die junge Frau war neu an Bord und konnte ihr Glück, dass sie tatsächlich zum königlichen Stab gehörte, offenbar immer noch nicht fassen.

„Sir?“

Bedauerlicherweise schien ihr noch niemand gesagt zu haben, dass er es hasste, wenn man so viel Aufheben um ihn machte. Dass er am liebsten in Ruhe gelassen wurde.

„Ja, Miss Sterling?“, fragte er mit erzwungener Geduld.

„Moira, Sir. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir in einer Stunde landen.“

„Danke“, sagte er und schluckte noch ein Aufstöhnen.

„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Können Sie die Zeit zurückdrehen und meinen Bruder wieder zum Leben erwecken, damit ich ihm etwas gesunden Menschenverstand einflößen kann?

„Danke, ich brauche nichts.“

„Gut, Hoheit. Aber falls Sie es sich doch noch anders überlegen …“

„Werde ich mich melden, danke.“

Die junge Frau machte einen angedeuteten Knicks, bei dem es sich nicht ganz um den Hofknicks handelte, vor dem sie mit Sicherheit von seinem Stabschef gewarnt worden war.

„Ich bitte darum, Hoheit.“

Noch ein Knicks, bevor sie ihn gnädigerweise allein ließ. Er würde bei nächster Gelegenheit ein ernstes Wörtchen mit seinem Stabschef reden müssen. Das war wirklich zu viel Untertänigkeit.

Himmel. Karim ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. Die junge Frau tat doch nur das, was sie als ihre Pflicht ansah, was wahrscheinlich kaum jemand besser verstand als er. Er war schließlich von Kindesbeinen an dazu erzogen worden, seine Pflichten ernst zu nehmen.

Sein Vater, ein strenger Mann, war immer zuerst König und dann Vater gewesen. Seine amerikanische Mutter, die aus der vornehmen Bostoner Gesellschaft stammte, war ein atemberaubend schöner ehemaliger Filmstar mit untadeligen Umgangsformen gewesen – beseelt von dem brennenden Wunsch, in größtmöglicher Entfernung von ihrem Ehemann und ihren beiden Söhnen zu leben. Sie hatte Alcantar gehasst. Die sengende Hitze am Tag, die eisigen Nächte, den Wind, der einem den Wüstensand in die Augen trieb, bis man nichts mehr sehen konnte.

In einer seiner frühesten Erinnerungen stand Karim, die Hand seiner Kinderfrau umklammernd, auf der Treppe zum Palast, schluckte verzweifelt die Tränen hinunter, da ein Prinz ja nicht weinen durfte, und sah zu, wie seine schöne Mutter in eine Luxuslimousine stieg und davonfuhr.

Rami war ihr sehr ähnlich gewesen. Die hochgewachsene schlanke Gestalt, das blonde Haar, die strahlend blauen Augen.

Karim hingegen hatte von beiden Eltern etwas geerbt. Bei ihm waren das strahlende Blau der Augen seiner Mutter und das Braun der Augen seines Vaters zu einem eisigen Grau verschmolzen. Die hohen Wangenknochen und den ausdrucksvollen Mund hatte er von seiner Mutter, die stattliche Figur mit den breiten Schultern und den langen Beinen vom Vater.

Rami hatte noch etwas von ihrer Mutter geerbt. Auch wenn er Alcantar nicht gehasst hatte, hatte er doch eindeutig Orte mit einem höheren Unterhaltungswert bevorzugt.

Karim hingegen konnte sich an keine Zeit seines Lebens erinnern, zu der er sich nicht in Liebe mit seinem Heimatland verbunden gefühlt hätte. Mit sieben hatte er bereits sicher im Sattel gesessen und war imstande, ohne Hilfe von Streichhölzern oder Feuerzeug ein Lagerfeuer zu entfachen. Unter einem klaren kalten Nachthimmel in freier Natur hatte er genauso gut geschlafen wie in seinem luxuriösen Kinderzimmer.

Obwohl es nur noch wenige umherziehende Stämme in Alcantar gab, war es dem König ein Anliegen gewesen, dass der künftige Thronfolger ein Verständnis für diese alte Lebensform der Nomaden entwickelte.

Wann war es im Leben seines jüngeren Bruders eigentlich zum Wendepunkt gekommen? Als ihm in aller Konsequenz klar geworden war, dass nicht er, sondern Karim irgendwann König sein würde? Oder nach dem Tod ihrer Mutter, als sich ihr Vater in seiner Trauer nur noch tiefer in seine Regierungsgeschäfte vergrub und seine Söhne fortschickte?

Der König hatte sie auf ein Elite-Internat in die USA gegeben, weil ihre Mutter es so gewollt hätte, wie er sagte. Das war alles so überstürzt passiert, dass es für die Brüder ein regelrechter Kulturschock gewesen war. Beide hatten großes Heimweh gehabt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Rami hatte das Luxusleben im Palast gefehlt und Karim die endlose Weite der Wüste.

Bei Rami hatte das dazu geführt, dass er immer wieder den Unterricht geschwänzt und allerlei Dummheiten gemacht hatte. Nachdem er den Schulabschluss nur mit Hängen und Würgen geschafft hatte, war er auf ein kleines College in Kalifornien gegangen, wo er sich vorwiegend als notorischer Herzensbrecher und besessener Kartenspieler einen Namen machte.

Karim hingegen hatte sein Heil in seinen Schulbüchern gesucht und die Schule mit Bestnoten abgeschlossen. Anschließend war er nach Yale gegangen, um Wirtschafts- und Finanzwissenschaften und Jura zu studieren. Mit sechsundzwanzig hatte er einen Investmentfonds zum Wohle seines Landes gegründet, den er lieber selbst verwaltete, statt irgendeinem undurchsichtigen Finanzjongleur von der Wallstreet die Kontrolle zu überlassen.

Rami war mittlerweile als Assistent bei einem drittklassigen Produzenten in Hollywood untergekommen, aber selbst diesen Job hatte er nicht irgendwelchen erlernten Fähigkeiten zu verdanken, sondern allein seinem guten Aussehen, seiner Sprachgewandtheit und seinem Titel. Als ihm mit dreißig sein mütterliches Erbe ausgezahlt wurde, hörte er auf, so zu tun, als ob er arbeitete. Er trat in die Fußstapfen ihrer Mutter und reiste um die Welt.

Karim hatte mehr als einmal versucht, mit ihm zu reden, aber Ramis Antwort war stets dieselbe gewesen, und sie wurde immer von einem Grinsen begleitet: „Für Pflichterfüllung und Verantwortung bin ich nicht zuständig. Ich bin schließlich nur der Ersatzerbe. Du bist der Thronfolger.“ So waren sie sich mit der Zeit immer fremder geworden. Und jetzt …

Jetzt war Rami tot.

Tot, dachte Karim. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die Leiche seines Bruders war von Moskau nach Alcantar überführt und mit allen Ehren in der Familiengruft bestattet worden. Ihr Vater hatte wie erstarrt neben dem Sarg gestanden. Um ihn zu schonen, hatte Karim ihm erzählt, dass Rami bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

Doch warum ließ er diesen Film jetzt schon wieder in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge ablaufen? Ramis Tod war keine Neuigkeit mehr. Las Vegas war Karims letzte Station. Wenn er hier durch war, konnte er endlich …

Ein dumpfes Rumpeln erschütterte das Flugzeug, das anzeigte, dass das Fahrwerk ausgefahren wurde. Wie auf Kommando tauchte die Stewardess auf, aber Karim machte eine abwehrende Handbewegung. Er wollte keine lästige Bemutterung mehr, auch wenn sie noch so gut gemeint war!

Wenig später landeten sie. Karim stand auf und griff nach seinem Aktenkoffer, in dem sich neben den Unterlagen ein kleiner Umschlag mit einem Schlüssel drin befand, zusammen mit einem Zettel, auf dem Rami handschriftlich eine Adresse notiert hatte. Morgen würde Karim schon sehr früh aufstehen, sämtliche Schulden seines Bruders begleichen und dann zu dieser Wohnung fahren, um nachzusehen, was es dort noch zu tun gab.

Danach würde endlich alles hinter ihm liegen.

Kaum eine halbe Stunde später saß Karim in einem Mietwagen und ließ sich von seinem Navi durch die Stadt zu seinem Hotel lotsen. Kurz vor eins erreichte er den in gleißendes Neonlicht getauchten Las Vegas Strip, wo ein rauschhafter Trubel herrschte, der Karim abstieß.

An seinem Ziel angelangt, übernahm ein Hotelpage seinen Wagen. Karim drückte dem jungen Mann einen Zwanziger in die Hand und bestand darauf, seinen Koffer selbst zu tragen. In der Hotellobby war der Teufel los. An den kreischenden und piepsenden Spielautomaten drängten sich so viele Menschen, dass Karim Mühe hatte, sich seinen Weg zur Rezeption zu bahnen.

Seine im zehnten Stock gelegene große Suite war überraschenderweise recht geschmackvoll eingerichtet. Karim stellte sich sofort unter die Dusche, um seine Müdigkeit zu vertreiben. Doch es klappte nicht.

In Ordnung – er brauchte Schlaf.

Aber er konnte einfach nicht einschlafen. In den beiden vergangenen Wochen hatte Karim kaum Schlaf gefunden, denn die hässlichen Wahrheiten über seinen verstorbenen Bruder hatten ihn zu sehr belastet. Nach einer Weile gab er auch jetzt zermürbt auf.

Er musste etwas tun. Spazieren gehen. Irgendwohin fahren.

Vielleicht konnte er ja zu der Adresse fahren, die er in Ramis Sachen gefunden hatte. Und da er einen Schlüssel hatte, hinderte ihn nichts daran, sich dort schon mal kurz umzusehen.

Karim schlüpfte in Jeans, ein schwarzes T-Shirt, Sneakers und eine weiche schwarze Lederjacke. In der Wüste war es nachts kalt, sogar in dieser Wüste hier, die so weit in die hell erleuchtete Stadt hineinragte. Er steckte den Wohnungsschlüssel ein, an dem ein Anhänger mit der Aufschrift 4B baumelte, sowie den Zettel mit der Adresse.

Derselbe Page wie vorhin fuhr den Mietwagen vor und bekam dafür noch einen Zwanziger. Nachdem Karim sich hinters Steuer gesetzt hatte, gab er die Adresse in das Navi ein und brauchte dann nur noch den Anweisungen zu folgen.

Eine Viertelstunde später war er an seinem Ziel angelangt, das in einer deprimierend heruntergekommenen Gegend lag – genauso heruntergekommen wie das Gebäude selbst. Karim runzelte unangenehm berührt die Stirn. War es wirklich vorstellbar, dass sein Bruder hier gelandet war? Nun, es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Karim stieg aus, schloss das Auto sorgfältig ab und ging zu dem Haus, dessen Eingangstür offenstand. Im Hausflur stank es nach altem Fett und Urin. Als er in irgendetwas Glitschiges trat, versuchte er sich nicht vorzustellen, was es gewesen sein mochte. Da er nirgends einen Aufzug entdecken konnte, nahm er die Treppe in den ersten Stock. Apartment 2 … Apartment 3 … da war es: Apartment 4B, auch wenn sich die „4“ auf der Tür betrunken zur Seite neigte und das „B“ auf dem Kopf stand.

Karim zögerte. Wollte er sich das wirklich noch antun heute Nacht? Er wusste, dass er sich auf etwas gefasst machen musste. „Oh, verdammt“, murmelte er leise in sich hinein. Obwohl es ihm eigentlich egal war, in was für einem Zustand sich das Apartment befand. Das Einzige, was ihm wirklich etwas ausmachte, war der Anblick von Ramis Sachen.

„Jämmerlicher Feigling“, sagte er laut zu sich selbst, während er entschlossen den Schlüssel ins Türschloss schob und … Die Tür war offen. Das Erste, was ihm auffiel, war der angenehme, leicht süßliche Geruch, der in der Luft hing. Nach Plätzchen? Milch?

Das Zweite, was er registrierte, war, dass er nicht allein war. Himmel! Da stand jemand, ungefähr drei, vier Meter entfernt … eine Frau. Sie kehrte ihm den Rücken zu und war groß und schlank und …

Und nackt.

Sein Blick glitt über sie hinweg. Das hellblonde Haar fiel ihr lang über die Schultern, den hübschen Rücken. Die schmale Taille wurde durch die anmutig geschwungenen Hüften und die endlos erscheinenden Beine betont. Verdammt. Er hatte sich in der Tür geirrt! Oder beim Haus …

Die Frau fuhr herum. Jetzt sah er, dass sie nicht nackt war, sondern einen winzigen BH und einen silbernen Glitzertanga trug. Es war ein billiger Aufzug, der fast alles von ihrem atemberaubenden Körper zur Schau stellte, noch atemberaubender jedoch war ihr Gesicht. Doch was spielte das in diesem Moment für eine Rolle, da er ganz offensichtlich in ein fremdes Apartment eingedrungen war … und ihr wahrscheinlich einen tödlichen Schrecken eingejagt hatte.

Karim hob beide Hände. „Keine Angst“, sagte er schnell. „Ich dachte …“

„Ich weiß genau, was Sie dachten, Sie … Sie Perversling!“, stieß die Frau hervor, während sie vor ihm zurückwich und dabei blitzschnell den Arm hochriss. Mit einem Schuh in der Hand, der mit seinem schwindelerregend hohen, spitzen Absatz eine veritable Mordwaffe darstellte.

„He!“ Karim federte zurück. „Hören Sie! Ich will nichts von Ih…“

Sie holte aus und schleuderte den Schuh in Richtung seines Gesichts, aber er duckte sich so schnell weg, dass sie nur seine Schulter traf. Karim sprang auf die Frau zu und packte sie am Handgelenk.

„He, ganz ruhig, ja? Warten Sie …“

„Warten?“, schrie Rachel Donnelly.

Dieser Perverse aus der Hotellobby will, dass ich warte? Auf meine eigene Vergewaltigung?

„So weit kommt’s noch“, fauchte sie, während sie sich von ihm losriss und wieder weit ausholte …

Diesmal schrammte der Absatz des zweiten Schuhs ganz dicht am Kopf des Eindringlings vorbei. Jetzt schien der Mann vor ihr wirklich Ernst zu machen. Er packte sie mit beiden Händen. Rachel wehrte sich mit aller Kraft, doch vergebens.

Eine Sekunde später hatte Karim sie gegen die Wand gedrängt, ihre beiden Handgelenke fest im Griff.

„Verdammt, Frau! Jetzt hören Sie mir doch mal zu!“

„Warum sollte ich? Ich weiß genau, was Sie wollen. Sie waren heute Abend in der Lounge und haben sich einen Drink nach dem anderen reingetan. Hab ich mir doch gleich gedacht, dass Sie noch Scherereien machen, und siehe da, ich hatte recht, Sie … Sie …“ Sie unterbrach sich und schnappte nach Luft.

Oh Gott! Das war ja gar nicht der Kerl, der sie den ganzen Abend mit Blicken nackt ausgezogen hatte. Er hatte viel weniger Haare gehabt und außerdem eine Brille mit ultradicken Gläsern. Der Typ hier hatte volle schwarze Haare und trug überhaupt keine Brille.

Aber egal. Auf jeden Fall war er in ihr Apartment eingebrochen. Er war ein Mann. Und sie war eine Frau. Nach drei Jahren Las Vegas wusste sie nur zu gut, was das bedeutete.

„Falsch!“

Was? Rachel blinzelte. Entweder hatte sie laut gedacht, oder er konnte Gedanken lesen.

„Ich tue Ihnen nichts.“

„Dann verschwinden Sie, und zwar auf der Stelle! Ich werde nicht schreien, und ich rufe auch nicht die Polizei …“

„Hören Sie mir eigentlich zu? Einer von uns beiden ist im falschen Apartment.“

Sie lachte auf, obwohl es nichts zu lachen gab. Der Mann musterte sie finster und umschloss ihre Handgelenke fester.

„Ich hatte angenommen, dass das hier das Apartment meines Bruders ist.“

„Nun, das ist ein Irrtum. Dieses Apartment gehört …“ Sie hielt abrupt inne und starrte ihn an. „Was denn für ein Bruder?“

„Mein Bruder Rami.“

Rachel war es, als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Sie spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, während der Mann sie mit zusammengekniffenen kalten Augen anstarrte.

„Sie kennen ihn?“

Ja, natürlich kannte sie ihn. Und wenn das hier Ramis Bruder war … wenn das Prinz Karim war, der eiskalte, herzlose Scheich …

„Ich lasse Sie jetzt los“, verkündete er. „Aber kommen Sie ja nicht auf die Idee, zu schreien, haben Sie mich verstanden?“

Rachel schluckte schwer. „Ja.“

Ohne den Blick von ihr zu nehmen, ließ er sie los. „Dann bin ich hier also doch richtig“, stellte er kalt fest.

„Ich … ich …“

„Was machen Sie in Ramis Wohnung?“

Von wegen Ramis Wohnung! Es war schon immer ihre Wohnung gewesen, aber das hatte Suki nicht daran gehindert hier einzuziehen, und Rami auch nicht. Und jetzt waren beide weg. Sie lebte allein … Oh, Gott! Ihr Herz, das ohnehin viel zu schnell klopfte, begann zu rasen. Sie lebte hier eben nicht allein, sondern …

„Wer sind Sie?“, herrschte der Mann sie an.

Was sollte sie sagen? In ihrem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Sie hätte sich denken können, dass das früher oder später passieren würde. Seine Hand legte sich wieder um ihr Handgelenk.

„Antworten Sie! Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“

„Ich … ich bin eine Freundin“, sagte Rachel. Und weil sie keine Ahnung hatte, was dieser Mann wusste oder auch nicht und erst recht nicht, was er hier wollte, log sie: „Ich bin Ramis beste Freundin.“

2. KAPITEL

Karim presste die Lippen zusammen. Beste Freundin. Für wie naiv hielt sie ihn? Sie hatte sich von Rami aushalten lassen, was sonst? Leicht einzuschüchtern war sie allerdings nicht, das musste er zugeben. Jede andere Frau hätte in so einer Situation längst Zeter und Mordio geschrien.

Aber sie nicht. Sie hatte es vorgezogen, sich mit einer Waffe zu verteidigen. Mit einer ziemlich ungewöhnlichen Waffe, dachte er fast belustigt. Der eine Schuh lag dicht neben ihm auf dem Boden, der andere ein paar Meter entfernt … Sie hätte ihm damit glatt die Augen ausstechen können.

Was für Wahnsinnsbeine …

Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie schwarze Netzstrümpfe trug, an deren Maschen die Blicke der Männer hochklettern konnten, bis der Glitzertanga sie stoppte. Sie sah wirklich umwerfend aus … atemberaubend sexy … durch und durch weiblich. Warum sollte er das nicht zugeben?

Mehr noch, sie war schön, und alles an ihr war echt, darauf wäre er jede Wette eingegangen. Immerhin kannte er massenhaft Frauen, die sich operieren, die Lippen aufspritzen oder die Wangenknochen aufpolstern ließen. Das Problem dabei war nur, dass sie hinterher alle gleich aussahen. Und sich auch gleich anfühlten. Während sich die Brüste dieser Frau bestimmt genau richtig anfühlten. Die Brustwarzen würden …

Karim spürte, wie sein Körper reagierte.

Verdammt. Er hatte einfach schon zu lange keinen Sex mehr gehabt!

Ja, sie war schön, aber sie war auch … nun, sie hatte Rami gehört.

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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