Doppeltes Spiel in Venedig

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Erwischt! Ihr Boss, der New Yorker Unternehmer Tiger McIntyre, hat Sydney dabei ertappt, wie sie sein Computersystem hackt! Dabei hat die junge Internetspezialistin das nur riskiert, um ihren Brüdern zu helfen. Doch das ist dem wütenden Milliardär egal. Er stellt ihr ein Ultimatum. Entweder er ruft die Polizei, was eine Haftstrafe bedeutet – oder sie spielt auf einem High-Society-Ball in Venedig seine Freundin, damit die Welt glaubt, er sei vergeben! Was bleibt ihr übrig? Atemlos sagt Sydney Ja und wird in dem doppelten Spiel zu einer Gefangenen ihrer Gefühle …


  • Erscheinungstag 22.07.2025
  • Bandnummer 2710
  • ISBN / Artikelnummer 9783751534956
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Fuller

Doppeltes Spiel in Venedig

1. KAPITEL

Harris Carvers Privatclub, New York

„Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss Truitt. Mr. Carver erwartet Sie in der Mitgliederlounge.“

Der Mann im Anzug wandte sich um und Sydney Truitt folgte ihm. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Am Flughafen hatte eine Limousine auf sie gewartet, die sie in eine Tiefgarage gefahren hatte. Das muss eine Art privater Club sein, dachte sie, während sie hinter dem Fremden einen mit edlem Holz vertäfelten Flur entlanglief.

Vor einer Tür blieb der Mann stehen, klopfte, öffnete sie und trat einen Schritt zurück, um Sydney vorbeizulassen. „Mr. Carver empfängt Sie nun.“

Zuerst dachte sie, der Raum sei leer, doch dann sah sie ihn.

Als Harris Carver aufstand und auf sie zuging, verspannte sie sich. Bis jetzt waren die meisten ihrer Kunden kleine Firmen gewesen, und es gab nicht viele Unternehmen, die so groß waren wie HCI.

„Miss Truitt.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie schüttelte. „Danke, dass Sie zu diesem Treffen gekommen sind und die Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben haben. Ich weiß, dass sich das alles ein bisschen abenteuerlich für Sie anfühlen muss, aber in meiner Position ist es das Beste, auf Nummer sicher zu gehen.“

Sie lächelte höflich. „Natürlich. Und ich danke Ihnen, dass Sie mich für das Projekt in Betracht ziehen, obwohl ich nicht genau weiß, wofür genau Sie mich brauchen.“ Das Telefonat war so kurz und vage gewesen, dass sie schon befürchtet hatte, fälschlicherweise angerufen worden zu sein.

„Es handelt sich um ein sehr kurzes Projekt. Nur drei Tage. Aber Sie werden für Ihre Arbeit gut entlohnt. Nehmen Sie Platz.“

„Darf ich fragen, weshalb Sie sich an mich gewandt haben? Es gibt größere und bekanntere Namen, die dasselbe wie ich tun …“ Ihr fielen mindestens zwei Hacker-Firmen in New York ein, die absolut in der Lage waren, einen Angriff zu simulieren, um mögliche Sicherheitsprobleme innerhalb des Netzwerks zu finden und zu beheben. Und doch hatte Harris Carver sie ausgewählt.

Er zuckte mit den Schultern. „Ihr persönlicher Hintergrund hat den Ausschlag gegeben.“ Kurz zögerte er, dann erschien ein raubtierhaftes Lächeln auf seinen Lippen und ihre Anspannung nahm weiter zu. „Sehen Sie, ich brauche jemanden, der nicht nur technisch versiert ist, sondern auch, wie soll ich sagen …“ Er hielt inne. „Der es nicht ganz so genau mit der Moral nimmt. Wenn ich mir Ihre Familie so anschaue, könnte ich auf die Idee kommen, dass Sie genau die Richtige für diesen Job sind.“

„Meine Familie?“ Sie runzelte die Stirn. Normalerweise verliefen Gespräche wie dieses nicht so. „Was wissen Sie über meine Familie?“

Unverwandt erwiderte er ihren Blick. „Das Projekt ist sensibel. Ich musste sichergehen, dass Sie für diesen Auftrag geeignet sind. Deshalb haben meine Leute Sie genauer unter die Lupe genommen.“ Er machte eine kurze Pause. „Keine Sorge – sie sind gründlich, aber diskret.“ Seine Miene wirkte ausdruckslos. „Im Gegensatz zu Ihren Brüdern, die sich bei der örtlichen Polizei Ihrer Heimatstadt bereits einen Namen gemacht zu haben scheinen.“

Er hatte recht. Ihre drei Brüder hatten denselben ausgetretenen Pfad wir ihr Vater und ihr Onkel eingeschlagen. Und noch bevor sie laufen oder sprechen konnten, hatten die Menschen sich ihr Urteil über sie gebildet. Niemand kannte die drei so wie sie. Nur weil sie vorbestraft waren, bedeutete es nicht, dass sie schlechte Menschen waren, denn das waren sie nicht. Im Gegenteil.

„Meine Brüder sind nicht …“, begann sie, doch Carver hob beschwichtigend die Hände.

„Ich verurteile sie nicht, ich stelle nur fest, dass sie gegen das Gesetz verstoßen haben und die Konsequenzen dafür tragen müssen. Bestimmt wollen Sie ihnen helfen, aber Hilfe ist teuer … die von der guten Art jedenfalls. Deshalb halte ich Sie für die perfekte Besetzung für diesen Job.“ Er verstummte und ließ den Blick aus seinen grauen Augen abschätzend über sie wandern. „Ich denke, Sie würden mir gute Dienste leisten.“

Sydney schluckte. „Wobei?“

„Bei einer geschäftlichen Angelegenheit. Tiger McIntyre hat etwas von mir gestohlen. Mein geistiges Eigentum. Ich will es zurück. Ich brauche es zurück, um zu beweisen, dass er es genommen hat, was er zweifellos abstreiten wird. Das heißt, ich brauche einen Insider. Jemanden, der sich als Angestellter ausgibt, während er die Server hackt.“

Harris Carvers Stimme klang immer leiser und dünner in ihren Ohren, übertönt von dem lauten Pochen ihres eigenen Herzens. Hatte er den Verstand verloren? Tiger McIntyre hatte den Ruf, so furchterregend und rücksichtslos zu sein wie das Tier, nach dem er benannt war. Ihr Puls beschleunigte sich. Und genauso atemberaubend schön. Noch war sie ihm nicht begegnet, aber sie hatte so oft Fotos von ihm gesehen, dass es ihr leichtfiel, ein Abbild seines markanten Gesichts und des fesselnden Blicks vor ihrem geistigen Auge heraufzubeschwören.

„Es bedeutet, eine Grenze zu überschreiten. Ich verstehe absolut, wenn Ihnen das zu denken gibt.“

„Sie sind ein sehr reicher und mächtiger Mann, Mr. Carver. Deshalb möchte ich Ihnen die Möglichkeit geben, so zu tun, als hätte ich Ihren Vorschlag missverstanden. Was Sie verlangen, ist keine Grenzüberschreitung, sondern schlicht illegal.“

Einige unangenehme Sekunden lang hielt er ihren Blick fest. Sydney biss die Zähne zusammen, um nicht den Kopf wegzudrehen.

„Darüber weiß Ihre Familie bestens Bescheid.“

Ein wenig unsicher kam sie auf die Füße. „Ich bin nicht wie meine Familie, deshalb fürchte ich, dass ich Ihr Angebot ablehnen muss, denn wenn ich dabei erwischt werde, wäre mein Ruf ruiniert …“

„Dann lassen Sie sich nicht erwischen.“ Alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an, als Harris Carver etwas in sein Handy tippte und es dann so hielt, dass sie die Zahlen auf dem Display lesen konnte.

„Damit Sie wissen, wie dankbar ich wäre.“

Sydneys Augen weiteten sich. Das war eine Menge Geld.

„Sehr dankbar“, fuhr er fort und wischte leicht über das Gerät.

Okay, das waren eine Menge Nullen. Es war mehr Geld, als sie im gesamten letzten Jahr verdient hatte. Für ein paar Tage Arbeit. Damit könnte sie einen guten Anwalt bezahlen. Wahrscheinlich reicht es sogar für den besten Anwalt des Landes, dachte sie. Ihr Magen verkrampfte sich vor Erleichterung und Hoffnung. Denn das würde bedeuten, dass sie ihre Brüder vor einem Leben hinter Gittern bewahren könnte. Wieso sollte sie das nicht wollen? Schließlich hatten sie sie aus einer anderen Art Gefängnis befreit. Trotzdem blieb die Grenze, die sie niemals überschreiten wollte.

Sydney schüttelte den Kopf. „Selbst wenn man mich nicht erwischen würde, fühle ich mich nicht wohl mit dem, was Sie von mir verlangen.“

„Warum?“ In Carvers Stimme schwang ein Tonfall mit, den sie nicht einordnen konnte. „Tiger McIntyre ist kein Engel. Zugegeben, er sieht wie ein Gewinner aus, aber jeder Sieg hat seinen Preis. Ja, er ist klug und entschlossen, das gebe ich zu. Er arbeitet hart, aber er bricht auch alle Regeln, geht immer den einfachsten Weg. Er überschreitet die Grenzen, die Ihnen so wichtig sind. Es gibt nichts, was er nicht tun würde, niemanden, den er nicht aus dem Weg räumen würde, um sein Ziel zu erreichen. Wenn Sie mir nicht glauben, recherchieren Sie doch im Internet.“

Er sagt die Wahrheit, erkannte sie und dachte an den intensiven und herausfordernden Blick von Tiger McIntyre. Für seinen Erfolg beugte er Gesetze und wandte zweifelhafte Taktiken an. Er nahm sich, was er wollte, und kam wegen seines Aussehens, seines Reichtums und seiner Macht mit allem durch. Im Gegensatz zu ihren Brüdern musste er nicht die Konsequenzen für sein Handeln tragen. Vielleicht war es an der Zeit, dass sich das änderte.

„Sie brauchen sich deswegen nicht schlecht zu fühlen, Miss Truitt. Es ist nicht das erste Mal, dass Tiger McIntyre etwas von mir gestohlen hat. Aber es wird das letzte Mal sein.“ Harris Carvers Stimme klang so giftig, dass es sie all ihre Selbstbeherrschung kostete, nicht zusammenzuzucken.

„Sie sagten, es ginge ums Geschäft, Mr. Carver, aber für mich hört sich das eher nach einer persönlichen Angelegenheit an.“

Ein kurzes Schweigen senkte sich über sie, in dem er sich gelangweilt zurücklehnte. „Oh, es ist durchaus persönlich. Sehen Sie, ich weiß, dass McIntyre ein Dieb ist. Aber dieses Mal hat er sich das falsche Opfer ausgesucht. Ich möchte, dass Sie finden, was er gestohlen hat, und es für mich zurückholen.“ Seine grauen Augen verengten sich. „Und dann werde ich ihn ruinieren.“

Zehn Tage später, im Privatjet von Tiger McIntyre

„Was sagt Ihr Bauchgefühl? Haben wir es geschafft oder nicht?“

Tiger McIntyre lehnte sich in seinem Sitz zurück und ließ die Frage von Nathan Park, dem Leiter seiner Forschungs- und Entwicklungsabteilung, einen Moment in der Luft hängen. Natürlich kannte er die Antwort. Das war einer der Gründe, weshalb er so schnell so weit aufgestiegen war und die bankrotte Firma seines Vaters zu einem der Spitzenreiter im Rennen um den Bergbau im All gemacht hatte.

Die Erforschung des Mondes war eine wachsende Branche und seine KI-gesteuerten Roboter hatten die seiner Konkurrenten überholt. Alle bis auf einen.

Er neigte den Kopf zur Seite und ließ den Blick über das endlose Blau der Stratosphäre schweifen. Manchmal träumte er davon, auf dem Mond zu leben. Natürlich hätte das auch seine Nachteile. Aber dort oben könnte er einfach innehalten und die Aussicht genießen, denn die Dämonen, die ihn immer weitertrieben, würden ihm sicher nicht ins All folgen können.

Doch bis dahin …

„Unterm Strich, ja.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich wieder an Park wandte. „Wir haben alles, was sie wollen. Alles, was sie brauchen.“

In Wahrheit gab es nur einen anderen ernsthaften Bewerber für diesen historischen und äußerst lukrativen Vertrag mit der Weltraumbehörde. HCI. Wenig überraschend, dachte er. Harris Carver und er waren seit mehr als einem Jahrzehnt Rivalen.

Aber Harris hatte die besseren Voraussetzungen. Eine College-Ausbildung, einen Vater, der Astronaut gewesen war … Er selbst hatte nichts dergleichen.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, Carver noch mehr von seinen Gedanken zu widmen. Eigentlich wollte er auch gar nicht an ihn denken. Wichtige Entscheidungen machten ihn immer ganz kribbelig. Das lag an dieser Mischung aus Adrenalin und Testosteron. Dummerweise war er im Moment Single, sodass Sex nicht in Frage kam – es sei denn, er würde sich überwinden und eine seiner Ex-Freundinnen anrufen.

„Entschuldigen Sie, Mr. McIntyre“, sagte der Flugbegleiter. „Wir landen in zwanzig Minuten. Ich muss Sie bitten, sich anzuschnallen.“

Er nickte. Doch anstatt den Gurt anzulegen, griff er nach seinem Handy und scrollte durch eine Liste mit Nummern. Noch vor einigen Jahren war alles anders gewesen. Damals hatte es gereicht, sich mit einer Frau zu verabreden, wenn er Sex wollte.

Abermals schaute er aus dem Fenster. Heute war das keine Option mehr. Dazu war er zu wohlhabend, zu bekannt. Sein Sicherheitsteam würde durchdrehen. Deshalb war es mittlerweile einfacher, sich statt eines One-Night-Stands eine neue Freundin zu suchen, obwohl die Beziehung von vornherein nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Also passte der Begriff „Freundin“ nicht ganz – vor allem seit er nach dem College allen Freundschaften, egal ob mit Frauen oder Männern, den Rücken gekehrt hatte. Damals hatten Harris und er sich zerstritten. Seither wusste er, dass es riskanter war, selbst jemandem, den man für seinen Bruder hielt, zu vertrauen, als eine Rakete ins All zu schießen. Und zwei Jahrzehnte das katastrophale Liebesleben seines Vaters beobachten zu müssen hatte ihm klargemacht, dass Beziehungen, insbesondere romantische, einfach zu viele Nachteile aufwiesen.

Deshalb verkündete er immer gleich zu Beginn, was er wollte: nämlich Exklusivität und gleichzeitig die Gewissheit, dass die Beziehung niemals mit dem Austausch von Ringen endete.

Im Großen und Ganzen hatte das funktioniert. Gut, er traf die Auserwählten eigentlich nur zum Sex oder zu besonderen Anlässen, aber als seine „Freundin“ erhielten sie dafür Zugang zu seiner Welt. Es war nicht seine Schuld, dass sie glaubten, er würde sich ändern oder dass es mit ihnen anders sein würde.

Manche wollten, dass er ihre Familie kennenlernte oder dass sie zusammenzogen. Das war stets das Signal, die Sache zu beenden. Andere verloren die Geduld oder die Beherrschung und machten selbst Schluss. So oder so, das war kein Problem.

Normalerweise.

Manchmal war der Zeitpunkt ungünstig. So wie jetzt.

Unwillkürlich verstärkte er den Griff um sein Handy. Dieses Jahr war ein Wahnsinnsjahr gewesen – auf eine sehr gute Art und Weise. Das Unternehmen hatte seinen Gewinn im ersten Quartal verdoppelt und im dritten verdreifacht. Tiger hatte sich einen Urlaub mehr als verdient. Meist verbrachte er ihn in Italien – auf seiner Privatinsel in der venezianischen Lagune. Der September war seiner Meinung nach der beste Monat für einen Besuch. Es war immer noch warm, doch der Sommertourismus war größtenteils abgeebbt – und Venedig wieder die poetische Stadt, die er liebte.

Und dann war noch die Regata Storica.

Es war das gesellschaftliche Ereignis des Jahres im Kalender der Milliardäre. Sie begann mit einem spektakulären Schiffscorso mit historischen Booten und endete mit dem Colombina-Maskenball, der größten Wohltätigkeitsveranstaltung Europas. Staatsoberhäupter, Prominente und das oberste Prozent der Bevölkerung gaben sich die Ehre. Nicht daran teilzunehmen war undenkbar, zumal er dieses Jahr ein Boot sponserte.

Noch undenkbarer war es jedoch, allein dort hinzugehen. Für einen Mann wie ihn war eine schöne Frau am Arm so wichtig wie eine teure Uhr oder ein Paar handgefertigter Schuhe. Mit seinem Ego hatte das nichts zu tun. Er wollte und brauchte keine Anerkennung von anderen. Es war eher so, dass Perfektion immer auch einschüchternd wirkte. Sie sorgte dafür, dass die Leute Abstand hielten, und das gefiel ihm.

Nun hatte er also ein Problem.

Alexandra, die letzte in einer Reihe von Ex-Freundinnen, war immer noch wütend auf ihn, weil er vor ein paar Wochen Schluss gemacht hatte. Allerdings konnte er sich auch nicht vorstellen, sie oder eine andere Ex zu fragen – die Gefahr, dass sie seine Absichten falsch verstanden, war einfach zu groß.

Was er brauchte, war eine Frau, die sich wie eine Freundin verhielt und nach dem Event klaglos wieder ging. Mit anderen Worten, eine professionelle Begleitung. Aber er hatte noch nie eine Frau für eine Verabredung bezahlt und würde dies auch nie tun.

Sieh es ein, sagte er zu sich. Die Frau, die du suchst, gibt es nicht.

Sie war ein Geschöpf seiner Fantasie. Im Gegensatz zu seinem Vater war er ein Mann, der sich von Fakten und nicht von Gefühlen leiten ließ. Als er den Gurt anlegte, fragte er sich einmal mehr, ob das Leben auf dem Mond nicht vielleicht doch einfacher wäre.

Sydney starrte auf die Uhren an der Wand gegenüber von ihrem Schreibtisch und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. In Moskau war es sieben Uhr abends, in Peking Mitternacht, in London Nachmittag. Hier in New York war es zwar erst Mittag, aber die Zeit lief ihr trotzdem davon. Heute war ihr letzter Arbeitstag bei der McIntyre Corporation. Und wenn sie ihren Teil der Abmachung mit Harris Carver nicht einhielt, würde sie kein Geld verdienen und ohne Geld …

Noch immer konnte sie die Panik in der Stimme ihres Bruders Connor hören, als er sie von der Polizeiwache aus angerufen hatte. „Es sieht nicht gut aus, Syd. Sie sagen, dass es ein bis fünf Jahre werden könnten.“ Er hielt inne und räusperte sich. „Auch für Tate.“

Das Kaufen und Verkaufen gestohlener Autoteile gehörte nicht zu den schlimmsten Verbrechen der Welt. Aber es war auch nicht das erste Vergehen ihrer Brüder. Seitdem sie laufen konnten, gerieten sie regelmäßig in Schwierigkeiten – immer nur dumme, vermeidbare Sachen, über die ihre Freunde lachten.

Zumindest bis zu dem Tag, an dem sie Connor mit dem Handy angerufen hatte, das sie ihrem Ex-Ehemann Noah gestohlen hatte. Ihre Brüder waren auf der Stelle nach Nevada gefahren, um sie zu retten, und schließlich wegen Körperverletzung verhaftet worden. Dabei hatten sie Noah nicht wehgetan, obwohl sie das durchaus gewollt hatten. Letzten Endes war sie, Sydney, es gewesen, die ihn geschubst, geschlagen und getreten hatte. In seiner Wut und Gemeinheit hatte er ihre Brüder beschuldigt, ihn angegriffen zu haben, weil er genau wusste, dass er sie damit am meisten verletzen würde.

Wäre sie zur Polizei gegangen und hätte sie die Wahrheit gesagt, hätte sie ihre Brüder retten können. Aber sie hatte sich so sehr für ihre blauen Flecken und ihre Schwäche geschämt, und ihre Brüder hatten sich schuldig gefühlt, weil sie ihre kleine Schwester nicht beschützt hatten, dass sie eine Tat gestanden hatten, die sie nicht begangen hatten. Das bedeutete, dass alle drei wegen Körperverletzung vorbestraft waren.

Ein bis fünf Jahre Gefängnis. Connor würde damit zurechtkommen. Er war der Älteste und wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Ihr mittlerer Bruder Jimmy besaß ein freches Mundwerk. Doch er brachte Menschen zum Lachen, also würde er schon irgendwie durchkommen. Aber Tate …

Auf einmal hatte sie einen dicken Kloß in der Kehle. Tate war nur zehn Monate älter als sie. Sie waren in dieselbe Klasse gegangen, sie kannte ihn in- und auswendig. Eine Gefängnisstrafe würde er nicht überleben. Ihre Brüder zogen Ärger wie magisch an, und es mangelte ihnen an Weitblick, aber Tate war sensibler als die anderen.

Er durfte nicht ins Gefängnis gehen. Keiner von ihnen durfte das. Sie musste dafür sorgen, dass es nicht so weit kam. Damals hatten ihre Brüder sie gerettet, jetzt brauchten sie ihre Hilfe. Aber dafür benötigte sie einen Anwalt – nicht den üblichen Pflichtverteidiger, der vom Gericht gestellt wurde, sondern jemanden, der hartnäckig und klug war … und das bedeutete: teuer. Und bei diesen Kosten würde es nicht bleiben. Selbst wenn es ihnen wie durch ein Wunder gelang, dem Gefängnis zu entgehen, würden sie alle mit einer saftigen Geldstrafe rechnen müssen.

Aus dem Grund hatte sie diesen Vertretungsjob bei McIntyre angenommen.

Ihr Blick fiel auf den Ausweis, der vor ihrer Brust hing.

Es fiel ihr nicht schwer, mit einer Lüge zu leben – während ihrer Ehe mit Noah hatte sie gelernt, das große Geheimnis zu bewahren. Aber es hing so viel von diesem Job ab. Es ging um mehr als Geld oder ihren Ruf als Hackerin. Es ging darum, ihren Brüdern eine zweite Chance zu verschaffen.

Du kannst das, versicherte sie sich. Dasselbe tat sie schließlich jeden Tag für andere Unternehmen im ganzen Land. Sie schlich sich in deren Sicherheitssysteme und entschlüsselte Codezeilen, identifizierte Viren und machte sie unschädlich.

Beigebracht hatte sie sich das alles selbst. Mittlerweile wuchs ihre kleine Firma Orb Weaver schnell. Und weil das so bleiben sollte, hatte sie sich überhaupt nur mit Carver getroffen.

Und jetzt arbeitete sie für die beiden größten Fische im Teich. Nur war keiner der beiden Jobs das, was sie sich vorgestellt hatte.

Als sie zu Tiger McIntyres leerem Büro blickte, überlief sie ein Frösteln. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte.

Aber sie befand sich hier im Hauptsitz der McIntyre Corporation an der Fifth Avenue, rechtmäßig angestellt als Sierra Jones. Und sobald sie gefunden hatte, wonach sie suchte, und es zu Carver zurückgebracht hatte, würde er sie großzügig dafür bezahlen.

„Alles okay, Sierra?“ Ihre Kollegin Abi musterte sie verunsichert. „Du wirkst, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Sydney zwang sich zu einem Lächeln. „Alles gut. Mir ist nur eingefallen, dass ich vergessen habe zu frühstücken“, flunkerte sie.

Abi verdrehte die Augen. „Ich vergesse immer das Mittagessen, wenn er im Gebäude ist. Ich bin dann immer wahnsinnig nervös.“

Sydney brauchte nicht zu fragen, wen Abi mit „er“ meinte. Den Chef. Tiger McIntyre – getauft auf den Namen Tadhg. Seinen Spitznamen hatte er wegen seines unerbittlichen Strebens nach Erfolg erhalten. Er war ein Mann, der noch nie an einem Ziel gescheitert war.

Aber Carver hatte recht. Er war kein guter Mensch.

Sie hatte Nachforschungen über ihn angestellt. Wäre Tiger McIntyre einer ihrer Brüder gewesen, wäre er für eine ganze Reihe von Dingen, die er getan hatte, mit weitaus härteren Strafen belegt worden. Zum Beispiel als er es versäumt hatte, den Kauf von Anteilen an einem konkurrierenden Unternehmen innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist bekannt zu geben. Das Vergehen erschien trivial … bis man erkannte, dass er durch die Verzögerung Millionen eingespart hatte.

Wie hatte er so lange damit durchkommen können? Sydney schürzte die Lippen und neigte den Kopf, sodass das Büro nicht mehr in ihrer Sichtweite lag.

Ganz einfach. Er war reich und mächtig. Seine Leute verdrehten die Tatsachen so lange, bis die Aufsichtsbehörden keine Wächter von Fair Play waren, sondern bloß pingelige Feinde des Fortschritts.

Und jetzt gehörte sie ebenfalls dazu.

„Hi, Sierra.“

Froh über die Ablenkung, schaute sie auf. Hannah stand vor ihrem Schreibtisch. Sie trug ein Tablett mit einem abgedeckten Teller, einem Glas und Besteck.

„Du musst das zu ihm bringen.“

„Ihm?“ Sydney runzelte die Stirn. „Zu wem?“

„Dem Chef natürlich!“

Der Chef! Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus.

„Sierra?“, fragte Hannah besorgt. „Hörst du mir zu? Mr. McIntyre ist da und möchte, dass du ihm den Lunch bringst. Wenn es dir also nichts ausmacht …“

Sydney starrte ihre Kollegin an. Er musste etwas wissen. Ein so wichtiger Mann wie er würde jemanden wie sie normalerweise überhaupt nicht beachten. Oder sah sie überall Gespenster?

Sie räusperte sich. „Warum ich?“ Es war eine Sache, hier zu arbeiten, aber eine ganz andere, sich in die Höhle des Löwen zu begeben.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Hannah. „Vielleicht sieht er, wie beschäftigt alle anderen sind? Stell das Tablett einfach auf seinen Schreibtisch.“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des großen Kühlschranks. „Nimm noch eine Flasche Wasser mit. Still, keine Kohlensäure. Eine von hinten. Er mag es gut gekühlt.“

„Soll ich etwas zu ihm sagen?“

„Nein, auf keinen Fall“, erwiderte Hannah erschrocken. „Und fass ja nichts an.“

Es gab kein Entrinnen. Auf dem kurzen Weg zu Tiger McIntyres Büro wuchs ihre Panik immer weiter. Sie erhaschte einen Blick auf ihre Spiegelung in der Glastür. Sie sah aufgeregt und nervös aus.

Nicht, dass es eine Rolle spielte. Es war ja nicht so, dass sie hier war, um McIntyre zu verführen.

Sydney tat einen tiefen Atemzug, klopfte leise an und öffnete die Tür. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und las etwas auf seinem Handy. Schuldgefühle stiegen in ihr auf – so wie damals, wenn ein Polizeiwagen mit blau-weiß blinkenden Lichtern an ihrem Elternhaus vorbeigefahren war.

Aber warum fühlte sie sich so schuldig? Okay, rechtlich gesehen war das, was sie hier tat, zweifelhaft. Aber im Grunde genommen sorgte sie nur für Gerechtigkeit. Trotz seiner maßgeschneiderten Anzüge und handgefertigten Schuhe war dieser Mann ein größerer Verbrecher als ihre Brüder. 

Zügig durchquerte sie den Raum und setzt das Tablett auf dem Schreibtisch ab.

„Wir sind uns noch nicht begegnet, oder?“

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