Dürfen wir diesen Kuss wagen, Mylord?

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Mit gesellschaftlichen Vergnügungen hat die junge Witwe Lily Walsh abgeschlossen, seit ihr Mann im Krieg gegen Napoleon sein Leben lassen musste. Doch nun hat sich ihre jüngere Schwester mit dem begehrten Junggesellen Lord Marcus Sherbourne verlobt! Lily muss sie auf Bälle begleiten, muss ihre Vertraute in allen femininen Angelegenheiten sein – und zerbricht fast daran! Denn entgegen jeder Vernunft bringt der charmante, attraktive Marcus ihr Herz zum Rasen. Dass seine Blicke ihr verraten, wie sehr er ihre sehnsüchtigen Gefühle erwidert, macht die Situation nur noch verzweifelter …


  • Erscheinungstag 04.02.2025
  • Bandnummer 420
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531566
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Herr, was für Narren sind diese Sterblichen.“

Ein Sommernachtstraum, William Shakespeare

Birmingham – Mai 1818

Lily glättete Annies Brief und ging zum Fenster, um ihn im Licht der untergehenden Sonne noch einmal zu lesen. Sie könnte eine Kerze anzünden, aber es war noch eine Woche, bis sie ihren nächsten Lohn erhielt, darum wollte sie lieber sparsam sein. Glücklicherweise war die große geschwungene Handschrift ihrer Schwester ein Muster an Lesbarkeit.

Im Gegensatz zu ihrer eigenen.

Lily sprach die Worte beim Lesen leise vor sich hin. Es war töricht, aber es brachte ihr Annie irgendwie näher.

„Lord Sherbourne ist sehr viel angenehmer als jeder der anderen Männer, die Mama und Papa in den letzten beiden Saisons für mich herbeigeschafft haben. Bei ihm fühle ich mich nicht unbehaglich. Er ist amüsant, nett und freundlich, und scheint nie etwas ernst zu meinen. Und er sieht gut aus, was mir sehr gefällt …“

Freundlich. Nett. Gut aussehend.

Ein hohes Lob für eine Vernunftehe. Aber Lily wollte keine Vernunftehe für ihre Schwester. Der unangefochtene Star der drei vergangenen Saisons verdiente etwas Besseres als ‚freundlich‘ und ‚nett‘ und ‚kein unbehagliches Gefühl‘ mit dem Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen musste.

Obwohl es viel schlimmer sein könnte.

Sie drehte das Blatt um und las weiter.

„Würdest du wohl zu mir nach London kommen, liebe Lily? Ich weiß, es ist albern, aber ich fühle mich ein wenig einsam. Es ist ein großer Schritt für mich. Mama und Papa sind ständig mit den Vereinbarungen und Feierlichkeiten beschäftigt, und ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Piers ist zurück aus Oxford, aber das ist nicht dasselbe. Bitte, Lily. Ich brauche dich. Deine dich liebende Schwester.“

‚Ich brauche dich‘.

So drückte Annie sich sonst nicht aus. Dafür war sie zu verantwortungsbewusst.

Lily schaute sich in dem kleinen Wohnzimmer um, das sie mit Eleanor teilte, die ebenfalls die Witwe eines Kriegsveteranen war. Der Frühling war endlich gekommen, aber hier im obersten Stockwerk von Mrs. Spratts Pension für junge Frauen war es kalt und feucht.

Es wäre schön, in einem Haus mit Dienern und heimelig knisternden Kaminfeuern verwöhnt zu werden. Sie könnte London erkunden, wie damals mit Tim, als er im letzten Kriegsjahr auf Heimaturlaub gewesen war.

Sie hob den Kopf. Die letzten drei Stufen knarrten. Eines Tages würden sie komplett einbrechen, und dann würde entweder sie oder Eleanor mit einem Haufen Schutt im Salon der Familie unter ihnen landen.

Eleanor betrat das Zimmer mit einem erleichterten Seufzer und sank auf einen Stuhl am leeren Kamin. Müde und unmutig warf sie ihre schlaffe Strohhaube auf den Tisch.

„Vor Birkins waren Protestierer, darum musste ich den ganzen Weg über die Needles Alley gehen. Ich muss unbedingt meine Stiefel neu besohlen lassen. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde – die Kälte oder schmerzende Füße.“

Lily gab ihr eine der Decken, die eine Soldatenfrau im letzten Winter gestrickt hatte, und goss ihr Tee aus dem Kessel ein, der auf der Herdplatte stand. Sehr heiß war er nicht, und im Zimmer war es nicht viel wärmer als draußen. Eleanor nahm ihn dankbar an und nickte zu dem Blatt, das Lily zur Seite gelegt hatte.

„Ein Brief?“

„Von meiner Schwester. Sie wird heiraten.“

„Oh, wie wundervoll. Hat sich der Star der Saison endlich verliebt?“

Lily dachte über den Brief nach.

„Nun ja, nach Liebe klingt es nicht. Eher nach Zuneigung.“

„Umso besser. Liebe ist viel zu oft nur der Auftakt zur Enttäuschung. Sieh uns an.“

Lily lächelte. „Damit könntest du recht haben. Sie hofft, ich könnte für einige Zeit zu ihr nach London kommen. Da das Trimester nun vorbei ist, werde ich es vielleicht tun.“

„Du Glückspilz! London! Da war ich nicht mehr, seit ich ein Kind war. Wir haben einen Ausflug zu Astley’s gemacht, um die Pferde zu sehen, und ich kann mich an einen Mann erinnern, der in die Themse fiel. Es war sehr aufregend.“

Lily lachte. „Einen Mann ertrinken zu sehen? Diese Seite von dir habe ich bisher noch nicht gekannt.“

„Er ist nicht ertrunken. Es war Ebbe, und er fiel mit dem Gesicht in den Schlamm. Fünf Männer mussten ihn auf die Straße hochziehen. Sie waren alle betrunken, sangen und rutschten und stolperten übereinander. Oh, ich beneide dich. Ich arbeite sehr gern im Hope House, aber manchmal wünschte ich mir …“ Geistesabwesend rieb sie ihr Knie. „Ich weiß nicht einmal mehr, was. Zu reisen, vermutlich. Oder auch nicht. Etwas … anderes.“

„Ich weiß.“

Für einen Augenblick schwiegen beide, dann schüttelte sich Lily.

„Wirst du allein zurechtkommen?“

„Meine Güte, Lily. Natürlich nicht. Ich zerspringe in tausend Stücke, sobald du mit deinem Koffer aus der Tür bist.“

Lily lächelte.

„Ich weiß, ich bin albern. Es ist nur … Ich bin ziemlich sicher, dass meine Mutter lieber nicht möchte, dass ich komme.“

„Dann zum Teufel mit ihr. Du hast diesem Drachen schon zweimal erlaubt, dich aus deinem Heim zu vertreiben. Du darfst nicht zulassen, dass sie dich davon abhält, einige Zeit mit deiner Schwester zu verbringen, bevor sie heiratet.“

„Fairerweise muss ich sagen, dass sie mich das erste Mal nicht verjagt hat. Ich bin durchgebrannt. Und das zweite Mal …“

„… hat sie dir das Leben so zur Hölle gemacht, dass du sofort zugesagt hast, als ich dir vorschlug, mit mir hier in Hope House zu arbeiten.“

„Ich habe deinen Vorschlag angenommen, weil ich etwas Nützliches tun wollte, statt in Kent zu versauern, wo meine Mutter mir mit ihrer spitzen Zunge das Leben zur Hölle gemacht hat. Den Kindern von Veteranen beizubringen, wie man liest und schreibt und rechnet, ist mit Abstand das Nützlichste, das ich je im Leben getan habe.“

„Ja, schon gut. Ich lasse dich jetzt nicht das Thema wechseln. Deine Mutter ist ein Drache, aber du bist nicht mehr von ihr abhängig. Und du fährst nicht zu ihr, sondern zu Annie.“

„Und Piers wird auch da sein.“

„Nun, dann ist ja alles klar. Ich weiß, wie sehr du deinen Bruder und deine Schwester vermisst, denn ich sehe, wie du dich über ihre lächerlich kurzen Briefe freust, als seien es Liebesbriefe. Fahre zu ihnen und verbringe deine Zeit mit ihnen. Deine garstige Mama musst du ignorieren. So mache ich es mit meinem Vater. Sobald er mit seiner Predigt beginnt, setze ich ein falsches Lächeln auf und nicke alle zehn Atemzüge einmal, während ich von etwas anderem träume. Es ist wie Magie. Wie wirst du nach London reisen?“

Lily überschlug ihre Ersparnisse und das Budget für den Monat und sah kritisch ihre Kleider durch. Sie schaute herunter auf ihre zweckdienlichen Stiefel. Sie waren perfekt geeignet für die Arbeit in Birmingham, aber in London …

Eleanor machte ein merkwürdiges Geräusch – halb Seufzer, halb Fluch.

„Bitte fang jetzt nicht an, darüber nachzudenken, Lily Walsh. Fahr einfach los, Annie braucht dich. Und denke nur – London! Darauf müssen wir anstoßen. Wo ist die Weinflasche, die Mr. Featherstone uns zu Weihnachten geschenkt hat?“

„London“, wiederholte Lily folgsam, als Eleanor den Schrank nach der Flasche und Gläsern durchsuchte. Sie sah sich wieder durch den Park gehen, Somerset House besuchen und …

„Ich fahre. Der Teufel soll meine Mutter holen.“

„Was er höchstwahrscheinlich tun wird.“ Eleanor lachte und hob ein Glas, fingerhoch gefüllt mit Bordeaux. „Fahr nach London und lebe ein bisschen, Lily Walsh.“

2. KAPITEL

London

Offenbar wollte London sie fernhalten.

Lily hielt ihren ramponierten Regenschirm in den Wind und bog in die Brook Street ein. Donner grollte, Fahrzeuge fuhren in schnellem Tempo an ihr vorbei und bespritzten sie mit Schlamm und Schlimmerem. Sie hätte sich eine Droschke nehmen sollen, aber aus Sturheit hatte sie es nicht getan. Und jetzt würde sie bei ihrer Ankunft aussehen wie eine ertrunkene Ratte. Wenn sie überhaupt ankam. Ihre Stiefel waren durchweicht, und ihr Koffer hing schwer an ihrem Arm. Sie hatte viel zu viel eingepackt, wie sie nun merkte. Verglichen mit der Kleidung der Frauen, die sie in der Poststation gesehen hatte, waren ihre Kleider vor mindestens zehn Jahren aus der Mode gekommen.

Sie blieb vor einem schmalen Haus aus dunklen Ziegelsteinen stehen. Nummer dreiundzwanzig. Es sah ebenso respektabel aus wie die Häuser links und rechts daneben, mit einem Erkerfenster und zwei Etagen darüber. Alle Fenster hatten schwere Vorhänge. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass ihre Mutter etwas Größeres gemietet hätte.

Für einen Moment blieb Lily mit klopfendem Herzen stehen.

„Passen Sie doch auf, Miss.“

Ein Mann mit einem Schubkarren voller Fässer versuchte auf dem engen Trottoir an ihr vorbei zu kommen, und sie eilte die Stufen hinauf zur Tür. Nun gab es kein Zurück mehr.

Eine Magd mit sommersprossigem Gesicht, eingerahmt von einer Leinenhaube, starrte Lily an. „Miss Lily!“

„Hallo, Ailish.“ Lily lächelte Annies Magd an. Seit Lily sie zuletzt vor zwei Jahren in Kent gesehen hatte, war aus dem Mädchen eine junge Frau geworden. Ailish schaute sie von oben bis unten an.

„Sie sind ja völlig durchnässt, Miss Lily! Oh je, oh je, Sie holen sich noch den Tod. Kommen Sie mit in den hinteren Salon. Dort brennt ein Feuer, und wir kriegen Sie schnell wieder trocken. Sie lassen am besten alles hier stehen, und ich sage Henry Footman, er soll sich darum kümmern.“

Lily stellte seufzend ihren ramponierten Handkoffer ab und folgte dem kleinen Wirbelwind durch den schmalen Korridor. Von innen war das Haus ebenso wenig beeindruckend wie von außen, aber vermutlich sahen alle Häuser, die nur für eine Saison vermietet wurden, so aus. Jedenfalls für jemanden mit dem schmalen Geldbeutel ihrer Eltern, egal was für Ansprüche ihre Mutter hatte.

„Ist meine Schwester daheim?“

„Aber natürlich, Miss. Es ist noch nicht zehn Uhr. Sie sind alle noch im Bett. Gestern waren sie auf dem Ball bei Lady Cratthook und sind erst nach Mitternacht heimgekommen. Mr. Devenish und Mr. Piers sind keine Freunde von langen Nächten.“

„Ich erinnere mich, dass Annie auch nicht gern lange ausgeht“, sagte Lily und kämpfte sich aus ihrem durchnässten Mantel.

„Nun, manchmal muss es wohl sein“, erwiderte Ailish philosophisch.

„Lily.“

Beim Klang der vertrauten Stimme drehte sich Lily um, und ihr leerer Magen verkrampfte sich. Ihre Mutter hatte eine schöne Stimme, tief und klangvoll. Lily hatte viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, was sie daran störte. Das, was ihr bei ihrer Mutter fehlte – die Wärme.

„Hallo, Mama.“

Mrs. Devenish gab Ailish ein Zeichen, und die Magd eilte mit Lilys Gepäck hinaus.

„Hast du meinen Brief nicht erhalten, Lily?“

Lily konzentrierte sich darauf, die nassen verwirrten Bänder ihrer Haube zu öffnen, aber eine Locke ihrer rötlichbraunen Haare hatte sich darin verfangen, und sie konnte den Knoten nicht lösen.

„Nein, Mama. Ich habe seit dem letzten August keinen Brief mehr von dir erhalten.“

„Meine Güte. Wie bedauerlich. Wir haben nicht erwartet …“

„Ich habe euch vor einer Woche einen Brief gesendet, in dem ich mein Kommen ankündigte. Ich weiß, dass du ihn bekommen hast, weil Annie erwähnte, dass du ihn gelesen hast. In dem Brief, in dem sie meine Ankunft bestätigte.“

„Nun ja, aber mehr auch nicht, weißt du. Bei all den Vorbereitungen auf die Hochzeit sind wir ziemlich durcheinander. Momentan ist wirklich kein guter Zeitpunkt für einen Besuch. Wir werden keine Zeit haben, uns mit dir zu beschäftigen.“

„Das braucht ihr auch nicht, Mama. Ich bin gekommen, weil Annie …“ Endlich gelang es Lily, den Knoten zu öffnen und atmete tief durch. Aber besser, sie schob es nicht Annie in die Schuhe. „…, weil Annie heiraten wird und ich noch Zeit mit ihr verbringen möchte, bevor sie mit ihrem neuen Gatten fortgeht.“

Mrs. Devenish ging zum Tisch und nestelte an dem Strauß aus pinken und malvenfarbenen Blumen.

„Trotzdem …“

Was auch immer ihre Mutter noch gegen ihren Besuch vorbringen wollte, blieb ungesagt, weil die Tür aufsprang, Annie hereinstürmte und sich Lily in die Arme warf.

„Oh Lily, wie wundervoll, dass du hier bist. Ich habe dich so vermisst!“

„Anne. Etwas mehr Zurückhaltung, bitte.“

Annie zog sich bei der Ermahnung ihrer Mutter sofort zurück, aber sie führte Lily an der Hand zum Feuer.

„Deine Handschuhe sind ganz nass! Zieh sie aus und wärme dich. War die Kutsche sehr schlimm? Als wir auf dem Ball waren, dachte ich, dass du gewiss zwischen lauter nach Zwiebeln und Knoblauch stinkenden Leuten sitzen müsstest, während ich tanzte und Champagner schlürfte. Nun ja, eigentlich war es Limonade, aber trotzdem fühlte ich mich plötzlich schuldbewusst. Bitte sage mir, dass es nicht so schlimm war.“

Lily lachte und log, während sie ihre Handschuhe abstreifte.

„Es war überhaupt nicht schrecklich. Die meiste Zeit habe ich geschlafen.“

Annie lächelte und schüttelte den Kopf.

„Ich wette, so war es nicht. Du bist gewiss erschöpft. Ailish bringt dein Zimmer in Ordnung und macht dir einen Kakao, dann kannst du schlafen. Und wenn es das Wetter erlaubt, machst du heute Nachmittag mit mir und Lord Sherbourne eine Runde durch den Park. Ich möchte, dass du ihn sofort kennenlernst.“

Mrs. Davenish hatte sie mit einem Blick beobachtet, den beide nur zu gut kannten und zu ignorieren gelernt hatten. Doch nun mischte sie sich ein.

„Ich glaube nicht, dass Lord Sherbourne zwei Passagiere in seinem Wagen mitnehmen möchte, meine liebe Anne. Die modernen Sportfahrzeuge sind nicht dafür gebaut, größeres Gewicht zu transportieren.“

Annie drückte Lilys Hand.

„Nein, Mama. Warum gehen wir beide nicht nach oben, damit du dich umziehen kannst, Lily?“

Lily folgte ihr die Treppe hinauf. Sie war dankbar, dem finsteren Blick ihrer Mutter zu entrinnen. Sie hatte nicht erwartet, freundlich von ihr begrüßt zu werden, und schon lange gestand sie ihrer Mutter nicht mehr die Macht zu, sie zu verletzen. Doch diese missmutige Feindseligkeit zermürbte sie und warf sie in Gedanken zurück in unglücklichere Zeiten.

Die Bemerkung ihrer Mutter über ihr Gewicht hatte – ebenso wie sie selbst – bei Lily an Bedeutung verloren. Die Jahre, in denen Lily hinter den Kriegstrommeln herziehen und Pennies zählen musste, hatten bewirkt, was die Beleidigungen ihrer Mutter nicht zuwege gebracht hatten. Sie würde nie so gertenschlank sein wie Annie, die Piers in Aussehen und Figur sehr ähnelte. Doch die Jahre in der Gesellschaft von Soldaten hatten sie gelehrt, dass viele Männer eine ganz andere Meinung über diese Dinge hatten als ihre Mutter. Viele fanden anscheinend Gefallen an ihren üppigen Hüften und Brüsten und hatten keine Hemmungen, es Tim mitzuteilen. Anfangs hatte sie befürchtet, er würde sich über diese Kommentare ärgern, aber ihm gefiel es offenbar durchaus, wenn man ihr Aussehen lobte.

Das Gästezimmer neben Annes Zimmer war klein aber nett, und aus dem nassen Fensterchen sah Lily die Wipfel dunkelgrüner Bäume. Es regnete nicht mehr, und als sie mit dem Ärmel die kondensierte Feuchtigkeit von der Scheibe gewischt hatte, sah sie die Sonne langsam durch die Lücken zwischen den Wolken kriechen, und es öffnete sich ein Stück blauer Himmel.

Lily lächelte. Sie war erschöpft, innerlich und äußerlich tat ihr alles weh – aber die Sonne kam zum Vorschein, und sie war glücklich, Annie zu sehen.

„Ich bin so froh, dass ich gekommen bin, Annie. Du hast mir schrecklich gefehlt.“

Annie umarmte sie und begann von hinten Lilys Kleid aufzumachen, so wie Lily es bei ihr gemacht hatte, als sie Kinder waren.

„Es ist mir egal, was Mama sagt, Lily. Marcus … Lord Sherbourne … gibt nichts auf den äußeren Schein und sein dummes Fahrzeug. So ist er ganz und gar nicht, und manchmal ärgert sich Mama darüber, obwohl sie es hinter diesem gewissen Lachen verbirgt. Du weißt schon, dem voller Luft. Ich kann es kaum erwarten zu hören, wie du ihn findest.“

„Ich werde ihn gewiss mögen, wenn du es tust, Liebes.“

„Ich hoffe es. Er kann sehr charmant sein, aber manchmal … Wie auch immer, Piers hält ihn für einen Prachtkerl. Sie reden schon mal auf Latein oder Griechisch oder so. Du weißt, wie manche Leute den armen Piers missachten, weil er nicht höflich über Politik reden kann. Dann verkriecht er sich in irgendeine Ecke. Aber Marcus holt ihn persönlich da heraus. Es war das Erste, was mir an ihm auffiel, als wir uns letztes Jahr begegneten.“

Kluger Mann, dachte Lily. Er musste bemerkt haben, dass er bei Annie mit Komplimenten nicht weiterkam. Der direkte Weg zu ihrem Herzen ging über Piers.

„Das ist wirklich ein sehr gutes Zeichen. Wie lange wird Piers dieses Mal hierbleiben?“

„Er besucht eine Reihe von Vorlesungen für sein Stipendium, pendelt zwischen hier und Oxford. Es ist großartig, ihn hier zu haben, obwohl ihm der ganze Rummel, den Mama so liebt, zuwider ist. Er versucht, den Bällen und so weiter so weit wie möglich zu entgehen. Anscheinend ist es eine große Ehre, an diesen Vorlesungen teilnehmen zu dürfen, und er ist quietschfidel. Nicht einmal Mamas Andeutungen ziehen ihn herunter. Oh, ich bin so glücklich, dass du hier bist. Ich habe dich so vermisst.“

Ihre Stimme klang gebrochen, als sie ihre Arme um Lily schlang.

Sie drückte Annie und hielt sie schweigend fest, bis die Haltung ihrer Schwester ein wenig lockerer wurde. Lily hatte schon fast vergessen, dass Annie fünf Zentimeter größer war als sie. Sie hatte sich immer als die Größere gefühlt, und nun fand sie es irgendwie seltsam, von ihrer größeren jüngeren Schwester umarmt zu werden.

Annie war auch dünner, als Lily sie in Erinnerung hatte, und sie spürte ihre Rippen unter der Hand.

Sie war etwas besorgt, aber dann erinnerte sie sich, dass sie auch ein Nervenbündel war, bevor sie mit Tim durchbrannte. Obwohl es damals anders gewesen war. Sie waren beide mittellos und machten sich gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Familien auf den Weg zu seinem Regiment in Portugal. Annie hingegen würde einen begüterten Angehörigen der sozialen Oberschicht heiraten, der sie und ihre Familie mit jedem Komfort und allen nur möglichen Vorteilen versorgen konnte.

Schließlich machte Annie sich frei und zog ihr Tüchlein aus dem Ärmel, um sich die Nase zu putzen.

„Was meintest du mit Mamas Andeutungen bezüglich Piers?“, fragte Lily. „Sie kann doch wohl nicht wollen, dass er so jung heiratet. Er ist ja kaum neunzehn.“

„Nicht heiraten. Eine Stellung finden. Sie bedrängt ihn, er solle Marcus begleiten und im Auswärtigen Amt Leute kennenlernen. Marcus hat Piers gern, darum denkt sie vielleicht, Marcus kann ihn überzeugen, wo sie es nicht kann.“

„Lord Sherbourne ist im Auswärtigen Amt?“

Annie runzelte die Stirn.

„Nun ja, er arbeitet dort, obwohl ich nicht genau weiß, als was. Der ältere Bruder von Piers’ Freund ist dort ein Unter-Unter-Staatssekretär oder so etwas und sagt, dass Marcus dort gut angesehen ist. Vielleicht hatte Marcus früher ein Amt, bevor er den Titel erbte? Es ist ein sehr alter Titel und er ist sehr reich, darum braucht er wohl nicht selbst seinen Unterhalt zu verdienen.“

Oh ja. Sie verstand. Kein Wunder, dass Mama sich wie im Himmel fühlte.

„Ich weiß aber, dass er viel gereist ist“, fuhr Annie fort. „Anscheinend kennt er jeden Ausländer hier in London. Seine Mama entstammt wohl dem italienischen Adel.“

Annie schwieg, als Ailish mit einem Tablett eintrat, auf dem Kakao stand, sowie eine Platte mit Butterbroten. Lily lief das Wasser im Mund zusammen und sie bedankte sich bei Ailish.

Als die Magd gegangen war, sagte Annie ein wenig brüsk: „Nun iss etwas und ruh dich aus, und dann kommst du mit uns auf die Ausfahrt.“

Lily lachte und schüttelte den Kopf.

„Ich werde deinen netten freundlichen Lord bald kennenlernen, Annie, aber meine Garderobe entspricht nicht den Londoner Standards.“

„Hm. Nun, dagegen müssen wir etwas tun …“

„Annie“, unterbrach sie Lily. „Mir geht es gut, so wie es ist. Ich bin nicht gekommen, um herumzuziehen, sondern um Zeit mit dir zu verbringen.“

„Nun, für heute können wir daran wohl nichts mehr ändern. Aber wenigstens wirst du ihn kennenlernen, wenn er mich abholen kommt. Ich glaube, du wirst ihn mögen. So wie die meisten Leute, wenn sie den Mut aufbringen, ihn anzusprechen. Er ist sehr … Wie hat Piers es genannt? Laissez-Faire. Das trifft es.“

3. KAPITEL

„Lily, dies ist Lord Sherbourne. Marcus, dies ist meine liebe Schwester, Mrs. Lily Walsh.“

Lily sah zu dem Mann, der mit ihren Eltern am Fenster des Salons stand. Sie hatte das Gefühl, es müsse noch jemand anders hier sein. Dann schaute sie sich den Verlobten ihrer Schwester an.

Dies war Lord Sherbourne?

Freundlich? Nett? Laissez-Faire?

Sie hatte ihn sich wie eine sanftere Version ihres Vaters vorgestellt, der ein großer Mann mit hellbraunen Haaren, einem leicht gerundeten aber immer noch gut aussehenden Gesicht, schläfrigen blauen Augen und einem angenehmen Lächeln war.

Sie hätte nicht weiter danebenliegen können. Das Einzige, das einigermaßen übereinstimmte, war die Größe. Ansonsten hätte dieser Mann eine gute Vorlage für einen der Schurken in einem der Schauerromane abgegeben, die Eleanor so liebte. Nicht einer von der hässlichen und verzerrten Art, sondern er war eher der gut aussehende Count, der zu gut war, um echt zu sein.

Seine pechschwarzen Haare und tiefliegenden Augen waren ziemlich auffällig, aber sein Gesicht war schön – sehr schmal, scharfe Züge und zwei tiefe Falten an beiden Seiten eines harten Mundes. Als er sich ein wenig umdrehte, sah sie, dass seine Augen wie goldener Bernstein leuchteten. Das konnte aber auch daran liegen, dass die Nachmittagssonne von Westen hereinschien. Tigeraugen. Sogar noch perfekter geeignet für einen von Eleanors schurkischen Counts.

Nett?

Und dann lächelte er und kam mit einer gleitenden Bewegung auf sie zu, die gut zu dem Bild des Tigers passte. Oder eher eines Panthers?

„Mrs. Walsh. Endlich begegnen wir uns. Ihre Schwester spricht sehr oft von Ihnen.“

Lily schaute zu ihrer Schwester. „Haben Sie so wenige Gesprächsthemen?“

Sie hatte es leichthin gesagt und gemeint, aber sofort bereute sie ihre Worte. Mama hasste ihre traurigen Versuche, humorvoll zu sein, und sie sah ihrer Mutter den Ärger am Gesicht an. Doch Annies Zukünftiger lachte. Vielleicht wollte er aber auch nur höflich sein.

„Durchaus nicht. Aber ich mag nun mal faszinierende Menschen.“

Lily machte große Augen bei diesem Kompliment für Annie und sie in einem einzigen kurzen Satz. Sie wusste immer noch nicht, ob er nett oder freundlich war, aber sie hielt ihn für ziemlich clever.

Sein Lächeln wurde etwas schwächer, und er blickte sie nachdenklich an. Wahrscheinlich wollte er ihre Eignung als künftige Schwägerin einschätzen. Dieser Gedankengang konnte nicht gut enden. Sie würde gern ein wenig abrücken, hielt ihre Hände aber still, weil sie sonst zappeln würden.

Dann drehte er sich um und lächelte Annie an. „Anne sagt, Sie werden uns heute Nachmittag nicht auf unserer Ausfahrt begleiten. Wie wäre es mit morgen?“

„Oh, Lily ist nicht hier, um in der Gegend herumzuscharwenzeln, Lord Sherbourne“, mischte sich Mrs. Devenish ein. „Sie ist nur hier, um etwas Zeit mit Annie zu verbringen, bevor sie wieder nach Bi… nach Hause fährt. Sie ist Witwe, müssen Sie wissen.“

Lord Sherbourne verneigte sich knapp und richtete ein charmantes Lächeln an ihre Mutter.

„Das ist mir bewusst, Mrs. Devenish. Aber nach fünf Jahren würde selbst der strengste Pedant Mrs. Walsh nicht verurteilen, wenn sie mit ihrer Familie etwas unternimmt, solange sie in London ist. Es sähe sogar eher merkwürdig aus, wenn sie es nicht täte.“

Oha! Lily musste die Lippen zusammenpressen, um nicht offen zu lächeln. Das hatte ihre Mutter in die Knie gezwungen.

Lily hatte gar nicht die Absicht, ihre Familie bei ihren Aktivitäten zu begleiten, aber es war schön zu sehen, wie ihre Mutter besiegt wurde, besonders in solch einem freundlichen, beinahe neckenden Ton. Seltsamerweise schien es ihrer Mutter nichts auszumachen. Sie lächelte sogar.

„Der morgige Ausflug ist völlig unbedenklich“, fuhr Lord Sherbourne fort. „Lediglich ein Museumsbesuch. Ich habe Piers eine private Besichtigung der neuen assyrischen Ausstellung versprochen, bevor sie nächste Woche der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.“

Dankbarkeit und Bestürzung huschten über das Gesicht ihrer Mutter, aber sie hatte ihre eigenen Waffen und zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen. „Das wäre das Richtige. Für ein Museum muss man nicht nach der neuesten Mode gekleidet sein.“ Sie warf demonstrativ einen Blick auf Lilys dunkelgraues Wollkleid, und Lord Sherbourne folgte mit gesenkten Wimpern ihrem Beispiel. Ihr war, als werde sie von einer lauernden Katze beobachtet.

„Natürlich nicht. Hauptsache, wir sind besser angezogen als einige der Ausstellungsstücke. Ich habe nie verstanden, warum die Menschen der Antike unbedingt Bettlaken anziehen wollten. In heißem Klima mögen sie angenehm kühl sein, aber man stelle sich den Skandal vor, wenn dann jemand hinten auf die Schleppe tritt.“

Annie kicherte, Mrs. Devenish errötete leicht und sogar sie schien beinahe lachen zu müssen. Auch Lily lächelte bei der Vorstellung einer Gruppe entblößter Römer, die verzweifelt ihre rutschenden Togen festhielten. Aber dann sah sie Lord Sherbournes Blick. Plötzlich stellte ihre lebhafte Fantasie sich ihn mitten auf dem Römischen Forum vor, wo er nichts tat, um das Laken festzuhalten, das von seinen sehr breiten Schultern glitt.

Das Bild verging so schnell, wie es gekommen war, und sie wandte sich ab, um sich zu räuspern.

Mrs. Devenish trat eilig vor und nahm Lilys Arm. „Komm mit, meine liebe Lily. Mal sehen, ob du etwas Passendes für so einen schönen Ausflug in deinem Koffer hast. Annie, ihr beide fahrt jetzt besser los in den Park, bevor das Wetter wieder umschlägt. Ich fände es schrecklich, wenn dein schönes neues Promenadenkleid ruiniert würde.“

4. KAPITEL

Meine liebe Lily.

Selten hatte Marcus einen weniger liebevollen Kosenamen gehört.

Er lenkte seinen Wagen durch das Tor in den Hyde Park. Die Kieswege dort waren an den Rändern immer noch ein wenig nass, aber die Pferde freuten sich offenbar darüber und zuckten begeistert mit dem Schweif.

Anne hatte noch nicht viel gesagt seit ihrer Abfahrt von Brook Street. Er spürte, dass ihre Gedanken sie niederdrückten. So war sie immer, wenn sie von ihrer Mutter zurückkamen und diese sich wieder einmal von ihrer unangenehmen Seite gezeigt hatte. Es war einer seiner Gründe gewesen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Seine Theorie über Menschen war, dass sie entweder ihren Müttern ähnelten oder von ihnen abgestoßen wurden. Anne gehörte offenkundig zur letzteren Gruppe.

Er hatte angenommen, die ältere Schwester würde zu den „Ähnlichen“ gehören, und Annes große Zuneigung für ihre ältere Schwester sei nur ein Mangel an besseren Alternativen. Doch bei ihrem kurzen Kennenlernen hatte er bereits festgestellt, dass Lily völlig anders war als Mrs. Devenish, aber auch verschieden von Annie. Er konnte noch nicht sagen, wie sie in die Devenish-Familie passte.

„Ich wünschte, Lily wäre mitgekommen“, sagte Anne mit uncharakteristischer Jähheit. „Ich hätte darauf bestehen sollen.“

„Schon möglich. Aber das hätte vielleicht deine Mutter aufgebracht und es deiner Schwester am Ende noch schwerer gemacht.“

Sie schaute zu ihm auf, ihr hübsches Gesicht wurde eingerahmt von einer Hauben-Kreation aus blassrosa Satin mit weißen Bändern.

„Das stimmt. Ich wünschte nur, sie würden besser miteinander auskommen. Es ist so … anstrengend und quälend.“

„Wenn es schon immer so war, wird sich das wohl kaum ändern. Versuche dir keine Sorgen darüber zu machen. Deine Schwester machte auf mich nicht den Eindruck, dass die ‚charmanten‘ Kommentare deiner Mutter sie besonders beunruhigten. Deine Mutter tat mir eher leid. Es muss frustrierend sein, Giftpfeile so abprallen zu sehen.“

Sie kicherte.

„So war es nicht immer. Lily hat sich früher oft gewehrt, und es gab heftige Kämpfe, aber das war, bevor sie mit siebzehn Jahren Tim heiratete und mit ihm fortging.“

„Siebzehn!“ Der Bericht, den er über die Devenishs in Auftrag gegeben hatte, enthielt keine Altersangaben. „In dem Alter kann man sich kaum allein die Nase putzen, geschweige denn heimlich heiraten und einem Soldaten in den Krieg folgen.“

„Nun, ich war damals zwölf, und so kam sie mir viel älter vor. Und viele Frauen heiraten mit siebzehn.“

Er bemerkte eine gewisse Trotzhaltung. Es war ihm bereits aufgefallen, dass Anne das Image ihrer rebellischen Schwester stets zu schützen versuchte. Das gefiel ihm an ihr. Loyalität war gut.

„Vielleicht tun sie es, aber eigentlich ist es zu früh. Von meinen vier Schwestern heiratete nur eine, bevor sie zwanzig war, und sie ist mit Abstand die Unglücklichste von ihnen.“

„Oh.“

Er seufzte. Vielleicht war Enttäuschung in der Ehe nicht unbedingt das beste Gesprächsthema.

„Erzähle mir mehr von ihr“, sagte er einladend, „damit ich morgen nichts Dummes sage.“

Annes Miene hellte sich auf.

Gut. Das würde sie für den Rest des Weges beschäftigen. Zum Glück konnte man sie leicht besänftigen. Ganz oben auf der Liste der unerwünschten Eigenschaften für seine zukünftige Gattin war langes Schmollen. Darauf folgte ständige Nörgelei wie bei Mrs. Devenish und die Neigung zu Langeweile und Hilflosigkeit. Er musste zwar heiraten, aber er wollte sich verdammt noch mal keine „Schlingpflanze“ mit spitzen Dornen aufhalsen.

Er lauschte Annes Beschreibung des Lebens und Charakters ihrer Schwester. Es sagte ebenso viel über sie aus wie über Lily. Annes Vertrauen in die Fürsorge ihrer Schwester hatte schon früh begonnen und war geblieben angesichts der mangelnden mütterlichen Zuwendung ihrer Mutter. Irgendwie drehte sich alles in ihrer Erzählung nur um die drei Kinder und nicht um die Eltern. Gute-Nacht-Geschichten, Nachtwachen am Krankenbett, Unterricht, lange Spaziergänge in den Wäldern von Kent und eine aus Ästen und Wolldecken gebaute Festung.

Es klang wie eine idyllische Kindheit, wenn in diesem Bericht nicht ganz auffällig keine Rede von den Eltern wäre. Marcus fand dies eigentlich gut, zumindest für Anne. Für ihre fünf Jahre ältere Schwester war jedoch wahrscheinlich alles ganz anders gewesen. Sie hatte keine Geschwister gehabt, um sich hinter ihnen zu verstecken oder sie als Schutzschilde zu verwenden.

„Ist sie eifersüchtig auf dich?“, fragte er, als Anne schwieg.

„Lily? Auf mich?“

Der ungläubige Ton klang etwas übertrieben, und er musste seine aufkommende Ungeduld zurückdrängen. Es gab leider einige der Punkte auf seiner Liste unpassender Eigenschaften einer zukünftigen Ehefrau, die auf Anne zutrafen. Heiligmäßigkeit und Naivität waren zwar nicht so schlimm wie Missgunst und Boshaftigkeit, aber sie konnten bisweilen genauso ärgerlich sein.

„Warum nicht? Du bist jünger und hübscher. Der Star der vergangenen drei Saisons. Du hast ein halbes Dutzend Anträge bekommen und bist das Lieblingskind deiner Eltern. Die meisten Frauen in London wären eifersüchtig auf dich. Warum nicht auch sie?“

Sie wurde feuerrot, und er bereute seine Offenheit. Es war nicht sein Ziel, sie in eine peinliche Situation zu bringen. Ganz im Gegenteil.

„Du irrst dich in ihr.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig und sie umklammerte ihr Retikül. „Sie ist nicht neidisch, weil sie nicht gern wie ich wäre. Wenn überhaupt, dann ist es genau andersherum. Lily mag ein schwieriges Leben haben, aber wenigstens hat sie gelebt …“ Sie schaute ihn kurz an, aber sofort wieder fort, um den Blick nach unten auf die Schnüre ihres Retiküls zu richten und nervös daran zu zupfen.

Na so etwas. Wo kam das denn her?

Ihm blieb eine Antwort erspart, weil erste schwere Regentropfen fielen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass die Wolken sich wieder zugezogen hatten.

„Wir sollten besser zurückkehren, bevor dein schönes Promenadenkleid ruiniert wird.“

Sie zog noch fester an den Schnüren, und er wünschte, er hätte nicht die Worte ihrer Mutter wiederholt. Er wurde allmählich nachlässig auf seine alten Tage. Marcus seufzte und lenkte das Gespann zur Straße zurück. Je eher sie verheiratet waren und Anne sich in ihre neue Rolle in Sherbourne Hall einfügte, umso besser. Er wurde der Spielchen in der feinen Gesellschaft zunehmend überdrüssig.

Er glaubte nicht an einen Himmel, aber falls einer existierte und seine Mutter ihm von oben aus zuschaute, hoffte er sehr, dass ihr sein Sinn für Kindespflicht gefiel.

5. KAPITEL

„Es ist unhöflich, jemanden so anzustarren“, sagte die halb bekleidete Frau mit tiefer Stimme, ohne von ihrem Spiel aufzuschauen.

Lily hätte beinahe aufgeschrien, denn sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie niemanden hatte näherkommen hören. Man würde doch annehmen, dass jemand von Lord Sherbournes Statur mehr Geräusche machte.

„Ich habe nicht gestarrt, sondern bewundernd geschaut.“

„Hm. Ich sehe, warum. Sehr hübsch.“ Er stellte sich neben sie und betrachtete die Marmorstatue. Dargestellt war eine kniende junge Frau, die ihre Hand wie mitten im Spiel ausgestreckt hielt. Ihr Gesichtsausdruck war jedoch weit entfernt davon, kindlich auszusehen.

„Ich bewundere die Kunstfertigkeit“, betonte sie, doch nun fiel ihr eine entblößte Brust auf, ebenso wie das Gewand, das sich an den schlanken Körper anzuschmiegen schien. Wieder verdarb ihr ein Mann die Freude an einem wunderschönen Kunstwerk mit einem anzüglichen Kommentar. Obwohl … eigentlich war es gar nicht anzüglich gewesen. Aber irgendwie …

„Das Gesicht passt nicht zu dem Körper“, stellte er fest und näherte sich der Statue. Dadurch kam er auch ihr etwas zu nahe, und sie fing seinen Geruch auf – nach kühlen Pinienwäldern oben in den Bergen von Spanien. Sie würde gern abrücken, aber das wäre unhöflich.

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie höflich.

„Ihr Gesicht ist sehr … starr. Es hat keinen Charakter. Der ist nur in ihrem Körper zu erkennen. Hier.“

Er nahm ihre behandschuhte Hand und hob sie an, sodass sie den Kopf der Statue verdeckte. Sie stand da, mit ihrer Hand in seiner.

Wenn er wollte, dass sie die nunmehr kopflose Figur ansehen sollte, funktionierte es nicht. Sie hatte ihre Hände immer für unvorteilhaft groß gehalten, aber in seiner Hand wirkten sie wie die eines Kindes. Es verwirrte sie.

„Und nun schauen Sie nur auf das Gesicht.“ Er bewegte ihre Hand nach unten. „Sehen Sie es?“

Lily blinzelte ein paarmal und versuchte sich zu konzentrieren.

Sie runzelte die Stirn. Er hatte recht. Das Gesicht der Frau war nur aus einfachen klassischen Linien geformt – eine schmale gerade Nase und in kleine Locken gelegte Haare. Das typische Abbild einer griechischen Schönheit. Es war … nun, es sollte schön sein, aber es war nur … seelenlos.

Sie schnaubte enttäuscht. Vorher hatte sie die Statue für anders und wundervoll gehalten, aber nun …

„Wie schade.“ Sie seufzte. „Es ist brillant gemacht, aber es steckt mehr Ausdruck in ihren Händen als im Gesicht. Es müsste so schön und verloren und verträumt aussehen wie ihr Körper, aber so ist es nicht. Ich frage mich, warum. Er war so ein versierter Künstler.“

Lord Sherbourne ließ ihre Hand los und ging an der Statue vorbei. Dann lehnte er sich an einen Sockel, auf dem der Kopf eines missmutig blickenden römischen Generals stand. Seine Haltung war entspannt, ein Bein legte er locker über das andere, doch seine Miene war konzentriert. Er ähnelte so noch mehr einem dunklen Helden, als wenn er lächelte.

„Vielleicht hatte der Künstler ja Angst.“ Er ließ seinen Blick zu ihr schweifen, dann wieder zu der Statue.

„Vor was?“

„Seinem Traum ein Gesicht zu geben. Träume sind gut und schön, wenn sie in ihrer Nische bleiben. Sie können jedoch Chaos und Verwüstung anrichten, wenn man zulässt, dass sie in den Mittelpunkt rücken.“

Diese Worte hatten auf sie eine viel intimere Wirkung als der Beinahe-Kommentar über die knappe Bekleidung der Statue.

„Ich glaube, Träume mögen nicht gern in Nischen gehalten werden, Lord Sherbourne. Dann rebellieren sie schon mal.“

Er verlagerte seine bequeme Haltung an dem Podest ein wenig. Sie würde ihm sehr gern sagen, er solle sich nicht mehr anlehnen, damit dem unbezahlbaren Marmorkopf nichts passierte.

„Rebellionen enden selten gut, Mrs. Walsh.“

Autsch. Das war nah an ihrer Schmerzgrenze.

„Das stimmt wohl. Doch die meisten Träumer halten sich für die Ausnahme von dieser Regel. Oder sie sind wie Pygmalion, der die perfekte Statue erschuf, sich aber dann nicht von ihr trennen konnte.“

„Himmel, Mrs. Walsh. Sie sind insgeheim eine Romantikerin.“

„Sie haben damit angefangen, über Träume und falsche Köpfe zu sprechen“, sagte sie etwas verärgert. „Ich versuchte mir lediglich eine rationale Erklärung zu überlegen.“

„Griechische Romantik und römischer Rationalismus. All das in so einem kleinen Paket. Es muss eng sein da drinnen.“

Sie musste widerwillig lachen.

„Es ist nicht höflich, Scherze über meine fehlenden Zentimeter zu machen.“

„Oh, Ihnen fehlt es an nichts. Anne sagte, Sie hätten schon immer die Angewohnheit gehabt, aus größeren Ansammlungen wegzugehen. Fanden Sie die von mir zusammengestellte Gruppe langweilig?“

„Nein, nein, durchaus nicht. Alle sind sehr … angenehm. Aber wenn man in einer Gruppe ein Kunstwerk anschaut, sagt jeder seine Meinung dazu und hält sie für die einzig richtige. Manchmal sehe ich mir Dinge lieber allein an, ohne vorher darüber nachzudenken.“

Er antwortete nicht. Das Schweigen war beinahe schlimmer als seine Bemerkungen. Sie lächelte höflich. Nun sollte sie besser zu den anderen zurückgehen. Es war nicht gerade angemessen, zusammen mit dem Verlobten ihrer Schwester die Statue einer halbnackten Frau zu betrachten.

„Und Sie haben ganz recht, Lord Sherbourne. Ich sollte zurückgehen, bevor Mama merkt, dass ich nicht da bin.“

Er lächelte nicht zurück, nickte nur langsam.

„Ja. Zurück in unsere Nischen.“

„Ihre Nische ist viel geräumiger als meine.“ Sie konnte ihre kleine Spitze nicht zurückhalten. Etwas rumorte in Annies nettem und freundlichen Lord, und Lily begann sich zu fragen, ob er eigentlich vertrauenswürdig war.

„Ich glaube, das ist nicht ganz richtig, Lily Walsh, aber darüber werden wir nicht diskutieren. Kommen Sie. Es gilt, zurück in den Schoß der Familie zu gehen für Sie.“

„Ich finde den Weg auch allein.“

Er zuckte mit den Achseln.

„Wie Sie wollen. Sie zuerst.“

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