Ein Hausboot für zwei

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Traumhaft, schwärmt Sebastian bei der Ankunft auf seinem neuen Hausboot am See - da stockt ihm der Atem. Verstört starrt er auf die langen, wohlgeformten Frauenbeine, die plötzlich auf halber Treppe vor ihm auftauchen. Er hat einen weiblichen Untermieter? Als kurz darauf noch der Kopf dazu erscheint, traut der smarte Architekt seinen Augen kaum: Das ist doch Nelly Robson, seine junge Kollegin, mit der er sich immer streitet, dass die Funken fliegen! Sebastian schaltet auf stur und begrüßt sie äußerst kühl - ohne zu ahnen, wie heiß ihm bald in Nellys Nähe werden wird ...…


  • Erscheinungstag 24.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777067
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Und die Hochzeitsgäste könnten eine hübsche Schachtel mit silbernen und pinkfarbenen Bonbons geschenkt bekommen“, plapperte Vangie aufgeregt ins Telefon.

Sebastian starrte konzentriert auf den Bildschirm seines Computers und hörte gar nicht mehr hin, denn seine Schwester redete mittlerweile schon seit zwanzig Minuten über die Hochzeitsvorbereitungen. Doch genau genommen tat sie seit drei Wochen nichts anderes mehr.

„Was hältst du davon, Seb?“ Als er nicht sofort antwortete, nahm ihre Stimme einen ungeduldigen Ton an. „Seb? Bist du noch dran?“

Ja – zu seinem Leidwesen war er das.

Sebastian Savas brachte ein zustimmendes Brummen zustande, aber seine Aufmerksamkeit richtete sich nach wie vor auf die Baupläne für das Blake-Carmody-Projekt. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass in nur zehn Minuten das Treffen mit Max Grosvenor anstand, und er wollte gut vorbereitet sein.

Er hatte viel Zeit und Energie in dieses Projekt investiert, damit Grosvenor Design – das Architekturbüro, für das er seit Jahren arbeitete – den Zuschlag erhielt.

Auch für seine berufliche Zukunft würde das einen großen Erfolg bedeuten, denn er rechnete fest damit, als Bauleiter für dieses Projekt ernannt zu werden. In den vergangenen zwei Monaten hatten Max und er intensiv an den Entwürfen für das moderne achtundvierzigstöckige Blake-Carmody-Gebäude gearbeitet, das sowohl exklusive Eigentumswohnungen als auch Büro- und Einzelhandelsflächen beherbergen sollte. Und letzte Woche hatte Max ihre gemeinsamen Pläne den Investoren vorgestellt, während Sebastian nach Reno geflogen war, um die Bauarbeiten eines anderen Großprojekts zu überwachen.

Wenn Grosvenor Design tatsächlich den Zuschlag bekommen hatte, konnte der Grund für das heutige Treffen nur einer sein – Max würde ihn fragen, ob er die Bauleitung für das Blake-Carmody-Projekt übernehmen wolle.

Bei dem Gedanken daran musste Sebastian zufrieden lächeln.

„Du bist so schweigsam heute“, fuhr Vangie derweil unbeirrt fort. „Also, was findest du besser, Seb? Pink? Oder Silber? Für die Schachteln, meine ich. Ich habe auch noch an eine Schleife gedacht, oder wäre das zu viel des Guten? Und sind Bonbons nicht etwas kindisch? Sollten wir vielleicht lieber ganz klassisch weiße Hochzeitsmandeln nehmen? Seb?“

Die aufgekratzte Stimme seine Schwester brachte Sebastian augenblicklich in die Gegenwart zurück. Seufzend fuhr er sich mit einer Hand durch das Haar. „Ich weiß nicht, Vangie“, erwiderte er und konnte seine unterschwellige Gereiztheit kaum noch verbergen.

Denn genau genommen war es ihm vollkommen einerlei.

Es handelte sich um Vangies Hochzeit und nicht um seine. Und im Gegensatz zu ihr würde er niemals das Experiment Ehe eingehen. Er war einfach nicht der richtige Ansprechpartner für ihre Fragen.

„Wieso nimmst du nicht beides?“, schlug er vor, um überhaupt irgendetwas zu sagen.

„Wirklich?“ Vangie klang so begeistert, als hätte er vorgeschlagen, das Symphonie Orchester von Seattle auf dem Hochzeitsempfang aufspielen zu lassen.

„Nimm, was dir am besten gefällt, Vangie“, sagte er weiter. „Es ist deine Hochzeit.“

Es schien fast, als müsse sie die Hochzeit des Jahrhunderts organisieren. Aber seine Schwester war ganz aus dem Häuschen vor Glück. Noch! dachte er skeptisch, denn er glaubte nicht an die ewige Liebe. Aber das behielt er für sich. Schließlich wollte er ihr nicht den Spaß verderben.

„Ich weiß, dass es meine Hochzeit ist. Aber du bezahlst doch alles“, sagte sie pflichtbewusst.

„Mach dir deswegen keine Gedanken.“

Er war schon immer der Dreh- und Angelpunkt für seine Geschwister gewesen. Sie wandten sich an ihn, wenn sie einen Rat oder eine Schulter zum Ausweinen brauchten. Oder wenn er ihnen mit seinem Scheckbuch aus einer finanziellen Bedrängnis helfen musste. Es war so, seit er begonnen hatte, als Architekt gut zu verdienen.

„Ich könnte natürlich auch Daddy fragen …“

Bei diesen Worten musste Sebastian ein verächtliches Schnauben unterdrücken. Philip Savas zeugte Kinder. Aber er kümmerte sich nicht um sie. Und obwohl der alte Mann überaus reich war – denn er war der Besitzer einer internationalen Hotelkette –, zückte er nur ungern das Portemonnaie, es sei denn, es ging um seine eigenen Interessen. Wie zum Beispiel eine neue Ehefrau.

„Das würde ich an deiner Stelle gar nicht erst in Erwägung ziehen, Vangie“, warnte Sebastian. „Unser Vater ist ein aussichtsloser Fall.“

„Ich weiß“, erwiderte sie und klang plötzlich niedergeschlagen. „Ich wünschte nur … es wäre einfach alles perfekt, wenn er zur Hochzeit käme und mich zum Altar führen würde.“

„Hm“, brummte Sebastian nur. Wie oft musste Vangie noch von Philip Savas enttäuscht werden, um endlich zu kapieren, was für ein Mann er war?

Er selbst konnte seine Geschwister nur soweit es ging in allem unterstützen und ihnen finanziell unter die Arme greifen. Aber er besaß keinen Zauberstab, um aus dem alten Savas plötzlich einen fürsorglichen Vater zu machen. Denn in seinen dreiunddreißig Jahren hatte Sebastian ihn nie als einen solchen erlebt.

„Hat er dich angerufen?“, fragte Vangie hoffnungsvoll.

„Nein.“

Philip rief nur an, wenn er seinem ältesten Sohn – dessen Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit er genau kannte – ein Problem aufladen wollte. Und Sebastian seinerseits war an weiteren Annäherungsversuchen nicht mehr interessiert. „Hör zu, Vangie“, sagte er mit einem erneuten Blick auf die Uhr, „ich habe es etwas eilig, ich habe nämlich gleich ein Meeting mit meinem Chef …“

„Natürlich. Tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Sowieso tut es mir leid, dass ich dich ständig mit meinen Angelegenheiten belästige. Aber du bist die einzige Person aus der Familie, die ich hier vor Ort habe …“, seufzte sie traurig in den Hörer.

„Du hättest vielleicht doch lieber in New York heiraten sollen. Dort hättest du, was die Hochzeitsvorbereitung betrifft, sicherlich eine kompetentere Unterstützung gehabt.“ Nach seinem Universitätsabschluss hatte Sebastian bewusst ein Arbeitsangebot in Seattle angenommen, um endlich auf der anderen Seite der USA ein neues Leben fernab von seinen diversen Stiefmüttern und Halbgeschwistern zu beginnen. Es machte ihm nichts aus, sie zu unterstützen, aber er wollte nicht, dass sein Leben von ihnen beeinflusst wurde. Oder seine Arbeit. Was in seinem Fall ein und dasselbe war.

Es war wohl eine ironische Wendung des Schicksals – oder einfach nur Pech –, dass Vangie nach ihrem Abschluss an der Universität von Princeton ausgerechnet hierhergezogen war. Doch sie hatte gute Gründe. Zum einen stammte ihr Verlobter Garrett aus Seattle, und zum anderen hatte sie hier einen gut bezahlten Job gefunden.

„Ist es nicht fantastisch?“, hatte Vangie damals außer sich vor Freude gesagt. „Ich kann dich jetzt jederzeit besuchen kommen! Wir werden eine richtige Familie sein.“

Sebastian, der die Vorstellung von einer „richtigen Familie“ bereits während seiner Pubertät aufgegeben hatte, war weniger begeistert gewesen. Doch weil er sie nicht enttäuschen wollte, hatte er sich zu einer Umarmung und einem „Ja, das ist super“ gezwungen.

Letztendlich war es dann auch nicht so schlimm wie befürchtet, in derselben Stadt wie seine Schwester zu wohnen.

Vangie und Garrett arbeiteten beide für eine große Anwaltskanzlei in Bellevue, einer kleinen Stadt in der Nähe von Seattle. Und ihre Freizeit verbrachten sie miteinander oder mit ihren Freunden, sodass Sebastian sie nur selten zu Gesicht bekam.

Und wenn sie ihn zu einer ihrer Partys einluden, konnte er die Arbeit vorschieben. Es war auch keine Ausrede, sondern die Wahrheit, dass er immer bis spät abends im Büro saß.

Vangie tadelte ihn mit schwesterlicher Fürsorge dafür, dass er zu viel arbeitete, und sein zukünftiger Schwager hielt ihn offensichtlich für einen Langweiler, weil er immer nur seine Architektur-Projekte im Kopf hatte.

Aber das machte Sebastian nichts aus. Sie führten ihr Leben und er seins.

Leider war dieses optimale Gleichgewicht mit dem Näherkommen des Hochzeitstermins ins Wanken geraten. Die Vorbereitungen, die vor Monaten entspannt begonnen hatten, liefen mittlerweile auf Hochtouren und bedurften anscheinend einer ständigen Rücksprache.

Vor einiger Zeit hatte Vangie begonnen, ihn täglich anzurufen. Dann zweimal. Und jüngst hatte sie es sogar auf bis zu fünf Anrufe am Tag gebracht.

Am liebsten hätte er ihr klipp und klar gesagt: „Reiß dich zusammen. Du bist kein kleines Mädchen mehr, das seinen großen Bruder immer um Rat fragen muss.“

Aber er brachte es nicht übers Herz. Er kannte Vangie zu gut. Und er liebte sie, so wie sie war. Sebastian konnte nachvollziehen, was die Hochzeitsvorbereitungen für sie bedeuteten.

Sie hatte immer von einer heilen Familie geträumt, in der man füreinander da ist. Sebastian war ehrlich überrascht, dass sie überhaupt wusste, wie eine intakte Familie funktionierte.

„Natürlich weiß ich das“, war ihre empörte Antwort gewesen, als er ihr seine Zweifel diesbezüglich mitgeteilt hatte. „Und du weißt es genauso gut wie ich, auch wenn du aus deinem Einzelkämpfer-Dasein eine Tugend gemacht zu haben scheinst.“

Sebastian hatte ihr darauf nichts erwidert. Wenn sie an dem Glauben an eine perfekte Märchenwelt festhalten wollte – nur zu. Und so ließ er sie reden und träumen, wann immer sie anrief. Es sei denn, es stand – wie jetzt – ein wichtiges Treffen bevor.

Max hatte gestern Nacht auf seine Handy-Mailbox gesprochen, als Sebastian im Flieger von Reno nach Seattle saß, und gesagt, dass er dringend mit ihm sprechen müsse.

Und das konnte nur bedeuten, dass ihr Entwurf die beiden Investoren Steve Carmody und Roger Blake überzeugt hatte und Max ihm die Position des leitenden Architekten anvertrauen würde.

„Es gibt noch so viele Details, die entschieden werden müssen“, hörte er Vangie geistesabwesend sagen. „Die Servietten und die Tischdekoration zum Beispiel …“

„Darüber können wir ein anderes Mal reden“, unterbrach er sie so diplomatisch wie möglich. „Jetzt muss ich wirklich los. Wenn ich irgendetwas von Dad höre, sage ich dir Bescheid. Oder vielleicht meldet er sich ja auch bei dir.“

Sie wussten beide nur zu gut, wie unwahrscheinlich es war, dass Philip Savas eines seiner Kinder anrief. Das letzte Mal, dass Sebastian von ihm gehört hatte, war, als sein Vater seine neue persönliche Assistentin heiraten wollte. Es war die vierte in Folge, die es auf sein Geld abgesehen hatte. Wenigstens wusste der alte Mann mittlerweile, dass es sinnvoll war, einen notariellen Ehevertrag zu schließen.

„Das wäre ein schönes Zeichen von ihm“, gab Vangie seufzend von sich. „Aber vielleicht haben die Mädels etwas von ihm gehört.“

„Die Mädels?“, fragte Sebastian verwirrt, während er den Computer herunterfuhr.

Unsere Schwestern“, erklärte sie mit ungeduldiger Stimme, als sei es offensichtlich, von wem sie sprach. „Unsere Familie. Sie werden heute Nachmittag hier sein“, fügte Vangie freudestrahlend hinzu.

„Hier? Warum? Die Hochzeit ist doch erst nächsten Monat, oder nicht?“ Er war sicherlich in seine Arbeit versunken gewesen, aber es konnte doch unmöglich der gesamte Mai an ihm vorbeigerauscht sein.

„Sie kommen, um mir bei den Vorbereitungen zu helfen.“ Sebastian konnte das glückliche Lächeln auf Vangies Gesicht förmlich sehen. „Das macht man in normalen Familien so.“

„Einen ganzen Monat? Alle?“ Er hatte mittlerweile den Überblick darüber verloren, wie viele Halbgeschwister sie eigentlich waren.

„Nein, nur die Drillinge. Und Jenna.“

Also nur diejenigen, die über achtzehn waren. Du liebe Güte. Wie wollte Vangie es einen ganzen Monat mit vier aufgedrehten, knapp volljährigen Mädchen aushalten? Hoffentlich hatte sie sich das auch gut überlegt.

„Na dann viel Spaß. Soll ich mich darum kümmern, sie vom Flughafen abholen zu lassen?“

„Nein, nicht nötig. Sie kommen alle zu verschiedenen Zeiten an, und so habe ich sie gebeten, einfach ein Taxi zu nehmen.“

„Sehr gute Idee, Schwesterchen.“ Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. Wenigstens hatte Vangie trotz ihres Vorbereitungswahns für die Hochzeit nicht den letzten Rest an Verstand verloren und ihm nicht die leidige Organisation der Abholung aufgehalst.

Sebastian nahm die Mappe mit den Entwürfen. „Wo hast du sie untergebracht?“

Es war eine Pflichtfrage. Vielleicht würde er es am Sonntag sogar schaffen, vorbeizuschauen und sie alle zum Abendessen einzuladen – wie es sich für eine „normale“ Familie gehörte.

„Bei dir natürlich.“

Sebastian knallte die Mappe entgeistert auf den Schreibtisch. „Wie bitte?“

„Wo sollen sie bitte sonst schlafen?“, fragte Vangie ehrlich erstaunt. „Du hast doch mindestens vier Schlafzimmer in deinem riesigen Penthouse! Und in meiner dreißig Quadratmeter-Wohnung kann ich sie ja schlecht beherbergen. Außerdem steht es doch außer Frage, dass sie bei ihrem großen Bruder wohnen, oder nicht? Wir sind schließlich eine Familie!“

Sebastian kochte vor Wut.

„Keine Angst, Seb“, fuhr sie unbekümmert fort, bevor er etwas sagen konnte. „Du wirst praktisch gar nicht bemerken, dass sie da sind.“

„Vangie! Sie können nicht …“

„Doch, natürlich können sie auf sich selbst aufpassen“, erklärte Vangie, die offensichtlich taub für Einwände war. „Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Wir telefonieren später noch mal. Und denk daran, mir Bescheid zu sagen, wenn du etwas von Dad hörst.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, hatte sie aufgelegt.

Einen Augenblick lang starrte Sebastian fassungslos den Hörer an und knallte ihn dann wütend auf.

Nicht einmal im Traum würde er für einen ganzen Monat sein Penthouse mit seinen vier Halbschwestern teilen! Schon nach wenigen Tagen würden sie ihn in den Wahnsinn treiben. Drei zweiundzwanzigjährige und eine achtzehnjährige, die zusammen – da war er sich sicher – jeden Zentimeter seiner Wohnung in Beschlag nehmen würden. Vor seinem geistigen Auge konnte er schon das Chaos von Kleidern, Schuhen, Seidenstrümpfen und Schminkutensilien sehen.

Es machte ihm nichts aus, seine Geschwister finanziell zu unterstützen, aber er würde nicht zulassen, dass sie sein Zuhause besetzten! Er mochte sich eine derartige Situation gar nicht erst ausmalen.

Sebastian schob diesen Gedanken vorerst von sich, nahm die Mappe mit den Entwürfen und eilte zu Max’ Büro, das ihm jetzt mehr denn je wie ein letzter sicherer Zufluchtsort vorkam.

Gladys, Max’ Sekretärin, blickte von ihrem Computer auf und bedachte ihn mit einem herzlichen Lächeln. „Er ist nicht da.“

„Nicht da?“, wiederholte Sebastian mit gerunzelter Stirn. „Wie kann das sein? Wir waren doch verabredet.“

Außerdem war Max immer in seinem Büro, es sei denn, er musste vor Ort die Bauarbeiten kontrollieren. Und es war unmöglich, dass zwei Termine sich in seiner Agenda überschnitten, dafür war er zu organisiert und diszipliniert.

„Musste er außerplanmäßig zu einer Baustelle?“

„Nein. Er ist auf dem Weg zurück vom Hafen. Wahrscheinlich steckt er im Verkehr fest. Ich rufe bei dir im Büro durch, wenn er hier ist, okay?“

„Hafen?“, murmelte Sebastian verwirrt. Er kannte alle Projekte ihres Architekturbüros und wusste, dass es keins im Hafengebiet gab.

Max war – von dem Moment an, da Sebastian angefangen hatte, für ihn zu arbeiten – sein großes Vorbild: ein Musterbeispiel an Zielstrebigkeit, Kreativität und Zuverlässigkeit. Und zugleich die Vaterfigur, die er immer vermisst hatte.

Und während Sebastian es von Philip Savas gewohnt war, versetzt zu werden, beunruhigte ihn die Tatsache, Max nicht zur vereinbarten Zeit anzutreffen.

„Geht es ihm nicht gut?“

„Es könnte ihm nicht besser gehen, würde ich sagen“, erwiderte Gladys fröhlich. Obwohl sie nur zehn Jahre älter war als ihr Chef, wachte sie über ihn wie eine Henne über ihr Ei. „Ich bin sicher, dass er bald da ist.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch. „Guten Tag, Sie sprechen mit dem Büro von Mr Grosvenor.“ An dem plötzlich erhellten Gesichtsausdruck konnte er ablesen, wer am anderen Ende der Leitung war.

„Ja, das ist er. Er steht genau vor mir. Hm …“, sagte sie und schaute lächelnd in Sebastians Richtung, „Ja, ich denke, er wird deine Verspätung überleben. Ja, Max. Ja, ich werde es ihm sagen.“

Gladys legte den Hörer auf. „Max ist gerade ins Parkdeck gefahren. Er sagt, dass du in seinem Büro auf ihn warten kannst, wenn du willst.“

„Okay, das werde ich“, erwiderte Sebastian und ging verwirrt an ihr vorbei.

Er war jedes Mal überwältigt, wenn er Max’ Büro an einem sonnigen Tag betrat. Obwohl er bereits wusste, was ihn erwartete, raubte der Panoramablick ihm immer noch den Atem.

Sein eigenes Büro, fast genau so groß und lichtdurchflutet wie das von Max, war nach Norden ausgerichtet. Von seinem Schreibtisch aus konnte er die Küste sehen und – wenn er seinen Stuhl ein wenig drehte – die Fähren, welche die Bucht von Seattle durchquerten.

Aber von Max’ Büro hatte man das Gefühl, auf das Paradies zu schauen. Hinter den Seen und Kanälen, die Seattle umgaben, erstreckte sich der imposante Gebirgszug der Kaskadenkette. Unten auf der glitzernden Wasseroberfläche tummelten sich unzählige Segelboote und Schiffe. Und wenn man den Blick nach Süden gen Himmel richtete, erhob sich der Mount Rainier. Er schien so nah, dass man meinte, den schneebedeckten Gipfel des majestätischen Vulkans berühren zu können.

Beim ersten Besuch in Max’ Büro war Sebastian mit vor Erstaunen offenem Mund wie angewurzelt stehen geblieben. „Ich weiß gar nicht, wie du es schaffst, dich von diesem atemberaubenden Blick nicht von der Arbeit ablenken zu lassen.“

„Man gewöhnt sich dran“, hatte Max mit einem lässigen Schulterzucken erwidert.

Und jetzt, während er andächtig die Landschaft vor dem Fenster betrachtete, zweifelte Sebastian daran, dass er sich je an den erhabenen Anblick des Mount Rainiers gewöhnen würde. Als er vor Jahren an die Nordwest-Pazifikküste der Vereinigten Staaten gezogen war, hatte er sich selbst das feierliche Versprechen gegeben, eines Tages den über viertausend Meter hohen Gipfel des Rainiers zu besteigen.

Aber er war bis heute nicht dazu gekommen.

Für Sebastian stand die Karriere an erster Stelle, und so hatte er sich auf die immer neuen beruflichen Herausforderungen konzentriert. Er wollte sich einen Namen als Architekt machen. Und sich auf diese Weise sein eigenes Vermögen erarbeiten.

Natürlich stammte er bereits aus einer reichen Familie. Philip Savas hatte es mit seinen Hotels zu einem Millionen-Imperium gebracht. In einer anderen Familie hätten der Reichtum und die Beziehungen des Vaters einem angehenden Architekten den beruflichen Weg geebnet. Aber in seinem Fall war es nicht so gewesen. Sebastian bezweifelte, dass sein Vater überhaupt wusste, womit er sein Geld verdiente. Zumindest hatte er nie Anstalten gemacht, ihn in seiner Laufbahn zu unterstützen.

Philip Savas besaß Gebäude, er schuf sie nicht. Und er zeigte nicht das geringste Interesse an Sebastians architektonischen Visionen.

Ein einziges Mal hatten sie über seine Zukunft geredet – damals war Sebastian achtzehn. Sein Vater nahm es als gegeben hin, dass er nach seinem Schulabschluss anfangen würde, im Familienunternehmen zu arbeiten. Als Sebastian ihm sagte, dass er andere Pläne hatte, bedachte Philip ihn nur mit einem missbilligenden Blick und verließ ohne einen weiteren Kommentar den Raum.

Ende der Diskussion.

Man hätte auch sagen können, dass es das Ende ihrer Beziehung war – wenn sie je eine wirkliche Vater-Sohn-Beziehung gehabt hätten.

Zumindest war die Gleichgültigkeit seines Vaters für ihn ein zusätzlicher Ansporn gewesen, sich in der Arbeitswelt zu beweisen.

Die schlichte und zeitlose Eleganz, die ihn in Max’ Büro umgab, und der Blick aus dem Fenster – von dem man zahlreiche von Grosvenor Design kreierte Gebäude sehen konnte – verstärkten jetzt das Gefühl in Sebastian, an einem wichtigen Punkt in seiner Karriere angekommen zu sein.

Er öffnete gerade die Mappe und breitete die Entwürfe und die Verbesserungsvorschläge, die er am Morgen ausgearbeitet hatte, auf dem Schreibtisch aus, als die Tür aufflog und Max voller Elan den Raum betrat.

Sebastian blickte auf – und starrte seinen Chef einen Moment lang fassungslos an. „Max?“

Natürlich war es Max, der vor ihm stand. Der große schlanke Körper, das markante kantige Gesicht, die grau melierten Haare sowie das breite Grinsen waren unverkennbar.

Aber wo war seine Krawatte? Der elegante Anzug? Das perfekt gebügelte Oxfordhemd? Und seine schwarzen Designerlederschuhe? In anderen Worten – wo war seine typische Businesskleidung, in der Sebastian seinen Chef in den vergangenen fünf Jahren ausschließlich gesehen hatte?

„Denk immer daran – die Kleidung ist die Visitenkarte eines Menschen“, hatte Max ihm schon damals bei dem Einstellungsgespräch eingetrichtert.

Und Sebastian hatte sich diesen Ratschlag zu Herzen genommen. Auch jetzt trug er seine eigene Version der Grosvenoruniform: eine dunkelblaue Stoffhose und ein Nadelstreifen-Hemd mit der passenden Krawatte.

Max hingegen steckte in einer ausgeblichenen Jeans und einem alten Sweatshirt, das der Aufschrift zufolge noch aus seinen Universitätszeiten stammte. Darüber trug er eine blaue Windjacke. Abgerundet wurde das ungewohnt lässige Erscheinungsbild von seiner vom Wind zerzausten Frisur und den auffällig neu wirkenden Segelschuhen – die er mit nackten Füßen trug. „Entschuldige die Verspätung“, sagte er fröhlich, „aber ich war segeln.“

Sebastian musste sich zusammenreißen, damit seine Kinnlade nicht herunterklappte. Segeln? Max?

Es mochte zwar Tausende Personen geben, die sich auch an einem normalen Arbeitstag den Luxus leisteten, segeln zu gehen – aber nicht Max Grosvenor. Max Grosvenor war ein Workaholic.

„Eigentlich wollte ich vorher noch nach Hause fahren, um mich umzuziehen, aber ich hätte beim Segeln fast die Zeit vergessen“, erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln und zog sich die Jacke aus. „Und außerdem wollte ich dich nicht noch länger warten lassen.“ Max ließ sich in seinen Bürostuhl fallen und blickte einen Moment lang schweigend auf die Entwürfe für das Blake-Carmody-Gebäude, die vor ihm ausgebreitet lagen, sodass Sebastian seine Verwirrung erst einmal beiseiteschob. „Wir haben den Zuschlag bekommen“, unterbrach Max schließlich die Stille und grinste Sebastian breit an.

Dieser einfache Satz genügte, um alle Anspannung von ihm abfallen zu lassen. Sebastian lächelte befreit.

„Ich habe noch ein paar Leute ins Team geholt und einige Veränderungen an dem Projekt vorgenommen, während du in Reno warst“, fuhr Max fort. Mit einem Kopfnicken deutete er Sebastian, sich zu setzen. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber die Zeit drängte.“

„Nein, natürlich nicht.“ Auch wenn ein Großteil des Projekts auf seinen Ideen basierte, so war Max doch immer noch der Chef und hatte das letzte Wort. Außerdem hätte niemand an Sebastians Stelle nach Reno fahren können. Das dortige Krankenhaus-Projekt stammte allein von ihm, und er hatte die Bauarbeiten von Anfang an betreut.

„Ich wusste, dass du es verstehen würdest“, erwiderte Max lächelnd. Er faltete die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich entspannt im Stuhl zurück. „Ich habe Mr Carmody gesagt, dass du einen wesentlichen Beitrag zur kreativen Ausarbeitung des Entwurfs beigesteuert hast.“

„Danke.“ Sebastian war froh, dass Max von vornherein mit den Auftraggebern geredet hatte. So würden sie sich nicht überrumpelt fühlen, wenn jetzt ihm die Leitung übertragen wurde.

„Ich hoffe also, dass du es mir nicht übel nimmst, wenn ich persönlich die Aufsicht über das Blake-Carmody-Projekt übernehme.“

Sebastian blinzelte verwundert.

„Du warst in der entscheidenden Phase in Reno“, fuhr Max fort. „Außerdem arbeitest du zurzeit auch noch parallel an zwei anderen Projekten und bist damit mehr als ausgelastet, oder?“

„Ja“, stieß Sebastian mühsam hervor. Aber das hieß doch nicht, dass er nicht gewillt oder in der Lage war, sein Arbeitspensum zu erhöhen.

Max lehnte sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. „Ich wusste, dass du es verstehen würdest“, sagte er lächelnd.

Er hatte kein Recht, enttäuscht zu sein. Die Entscheidung seines Chefs war logisch nachvollziehbar. Das ambitionierte Projekt trug seine Unterschrift, egal wie sehr Sebastian daran mitgearbeitet hatte. Außerdem war es auch eher Sebastians Wunsch als eine feste Abmachung gewesen, dass er die Leitung übernehmen würde. Doch diese Erwartung kam nicht von ungefähr, denn in den letzten Monaten hatte Max immer wieder darüber geredet, dass er mit der Arbeit kürzertreten und sich mehr Ruhe gönnen wolle.

Noch dazu kam er gerade vom Segeln, Himmelherrgott noch mal!

„Rodriguez wird sich um die Büroeinheiten des Gebäudes kümmern. Und Chang um die Geschäfte und die Einkaufspassage.“

Das war vernünftig. Frank Rodriguez und Danny Chang hatten von Anfang an zum kreativen Team gehört und mir ihren jeweiligen Fachkenntnissen zum Projekt beigetragen. Sebastian nickte.

„Und Nelly wird für die Wohnkomplexe verantwortlich sein.“

Was?“ Sebastian versteifte sich unwillkürlich. „Nelly Robson?“ Er traute seinen Ohren nicht. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

Das Lächeln verschwand aus Max’ Gesicht. „Selbstverständlich ist es mein Ernst“, erwiderte er in geschäftsmäßigem Ton.

„Aber sie hat kaum Erfahrung! Wie lange arbeitet sie hier? Seit sechs Monaten? Sie ist ein totaler Anfänger.“

„Sie hat schon mehrere Preise für junge Architekten gewonnen. Außerdem ist sie mit dem renommierten Balthus-Stipendium ausgezeichnet worden.“

„Sie zeichnet nette kleine Entwürfe“, stellte Sebastian trocken fest. Gemütliche Wohlfühlhäuser. Sie ist Innendekorateurin, keine Architektin, dachte er.

Er hatte nur ein einziges Mal mit Nelly Robson an einem Projekt zusammengearbeitet – es war während ihres ersten Monats bei Grosvenor Design gewesen, und sie hatte auch nur an der vorbereitenden Diskussionsphase teilgenommen. Sie waren mit ihren unterschiedlichen Ansichten sofort aufeinandergeprallt.

Er hatte ihr direkt und ohne Schnörkel gesagt, dass er ihre Ideen für dummes Zeug hielt. Und sie war der Meinung gewesen, dass er nur an überdimensionalen Wolkenkratzern interessiert sei, die wie Phallus-Symbole wirkten.

Es war also eher eine Untertreibung zu sagen, dass sie aufeinandergeprallt waren.

„Unsere Kunden mögen ihre Ideen.“

Du magst sie, hätte Sebastian am liebsten gesagt, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Du magst ihren kurvigen Körper, ihr langes honigblondes Haar, ihre sinnlichen Lippen, die kleinen Grübchen in ihren Wangen und ihr strahlendes Lächeln.

„Sie macht ihre Sache sehr gut“, sagte Max in wohlwollendem Ton und blickte versonnen aus dem Fenster.

Sie hat ihm den Kopf verdreht, dachte Sebastian bitter.

Autor

Anne McAllister
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