Ein Herz für Lord Luzifer

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"Lord Luzifer" nennt man Baron Lucius Daventry wegen der unheimlichen Maske, die er seit einer schweren Kriegsverletzung trägt. Die junge Angela überläuft ein eiskalter Schauer, als er sie unvermittelt aufsucht: Sie soll sich mit ihm verloben? Will er sie wie sein teuflischer Namensvetter ins Verderben reißen?


  • Erscheinungstag 21.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506458
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Northamptonshire, England, 1818

Wer hat an so einem schönen Tag die Vorhänge zugezogen?“ Eilig ging Angela Lacewood, die Haube auf ihrem Kopf zurückgezogen und in einer Hand ein paar dicke Handschuhe, in den Salon von Netherstowe. „Hier ist es wie in einem Grab!“

Sie hatte im Garten gearbeitet und den strahlenden Sonnenschein des Spätfrühlings genossen, als der Butler sie gerufen hatte, um einen unerwarteten Gast zu begrüßen. Angela konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sie jemand in Netherstowe besuchen wollte, während ihre Familie im Ausland verreist war. Im Grunde war es ihr jedoch nicht besonders wichtig.

Sie würde die Person so schnell wie möglich abwimmeln, um sich wieder in ihre Welt zurückzuziehen.

Als sie durch den verdunkelten Raum schritt, um die Vorhänge zu öffnen, hatten sich ihre Augen noch nicht an das Halbdunkel innerhalb des Hauses gewöhnt. Aus den Schatten ertönte eine tiefe männliche Stimme, die so klang, als wollte sie jemand in Angst und Schrecken versetzen.

„Lassen Sie die Vorhänge geschlossen! Ich habe sie zugezogen, und so soll es auch bleiben, bis ich wieder gehe.“

Überrascht von der brüsken Anweisung ließ Angela ihre Handschuhe fallen und stolperte über den Lieblingsschemel ihrer Tante. Beinahe wäre sie gestürzt, wenn sie in der Dunkelheit nicht von ein paar kräftigen Armen aufgefangen worden wäre.

„Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Die Stimme gehörte zweifellos zu derselben Person, die sie festgehalten hatte, denn sie flüsterte so nah an ihrem linken Ohr, dass es sich fast wie ein Kuss anfühlte. Aber konnte diese sanfte, volle und verführerische Stimme dieselbe sein wie jene schroffe, wegen der sie soeben schmachvoll gestolpert war?

Vielleicht stammen sie doch von ein und derselben Person, dachte Angela. Beide brachten ihr Herz und ihren Atem zum Rasen … aus sehr unterschiedlichen Gründen.

„W…Wer sind Sie, Sir? Und warum sind Sie nach Netherstowe gekommen?“ Die Fragen waren ihr gerade über die Lippen geschlüpft, als sie auch schon die Antwort auf die erste Frage erriet. Ihr Puls ging noch schneller – jedoch aus Angst … oder etwas anderem. Sie war sich nicht sicher.

Bevor der Besucher sie wieder freigab, spürte sie die warme Liebkosung seines Atems an ihrem bloßen Hals. Einen Moment glaubte sie, seinen Widerwillen wahrzunehmen, so als wollte er sie eigentlich gar nicht loslassen. Oder vielleicht war es ihr eigener Unmut, sich aus der Umarmung zu lösen, war es doch das erste Mal, dass sie in den Armen eines Mannes lag.

Selbst wenn dieser Mann der Teufel in Person war.

„Lord Lucius Daventry, Miss Lacewood. “ Er verbeugte sich steif über ihrer Hand. „Zu Ihren Diensten.“

Vielleicht nicht der Teufel persönlich, aber jemand, der ihm in der verschlafenen Landschaft von Northamptonshire wohl am nächsten kam. Trotz des abgeschiedenen Lebens, das sie von der Londoner Gesellschaft führte, wusste Angela, dass ihr Gast von den Witzbolden des ton „Lord Luzifer“ genannt wurde. In letzter Zeit hatten auch die Leute im Dorf angefangen, diesen Namen zu verwenden – allerdings nie in Gegenwart Seiner Lordschaft.

„Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie erschreckt und mir die Freiheit genommen habe, mich in Ihre häuslichen Angelegenheiten einzumischen.“ Er deutete auf das Fenster. „Meine Augen reagieren empfindlich auf helles Licht.“

War das vielleicht der Grund, weshalb er tagsüber nur selten zu sehen war? Gerüchten zufolge gab es allerdings wesentlich verruchtere Motive für die nächtlichen Umtriebe Seiner Lordschaft.

Ihre Augen hatten sich nun so an das Halbdunkel im Raum gewöhnt, dass Angela die scharfen Konturen einer merkwürdigen Maske erkennen konnte, die Lucius Daventry ein diabolisches, seinem Ruf entsprechendes Aussehen verlieh. Ein großer Lederlappen bedeckte seine linke obere Gesichtshälfte vom Wangenknochen bis zur Schläfe. Unter einem schmalen Schlitz war sein linkes Auge zu sehen.

Ist es nur sein Auge, das kein Licht mehr vertragen kann? fragte sich Angela. Oder war es auch sein Stolz? Vor Waterloo galt Seine Lordschaft als der bestaussehende Junggeselle Großbritanniens. Auch wenn Angela über wenig Erfahrung verfügte, um Vergleiche anzustellen, hatte sie immer gedacht, dass dieser Ruf ihm kaum gerecht wurde.

„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Sir? Lord und Lady Bulwick und meine Cousinen sind vor zwei Wochen zu einer Reise auf den Kontinent aufgebrochen. Ich erwarte sie erst in einigen Monaten zurück.“

So sehr sie auch versuchte, die Freude darüber in ihrer Stimme zu unterdrücken, wollte es ihr nicht gelingen. In diesem Frühling und Sommer hatte sie das ganze Haus Woche um Woche für sich allein, und niemand würde sie kritisieren oder bevormunden. Diese Aussicht war das Paradies auf Erden.

„Mein Bruder ist im Internat“, beeilte sie sich hinzuzufügen.

Für gewöhnlich war Miles immer der Erste, an den sie dachte, doch heute hatte sie ihre Gedanken absichtlich in andere Richtungen gelenkt. Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, sich um die Zukunft ihres Bruders zu sorgen, wenn sie keine Mittel hatte, um ihm zu helfen.

Lord Daventry schüttelte den Kopf. „Ich bin gekommen, um Sie zu sehen, Miss Lacewood.“

„Mich? Warum?“ Zu spät schlug sich Angela die Hand vor den Mund, um sich an der ungebührlichen Frage zu hindern. Andererseits hatte sie den Mann bereits zweimal nach dem Grund seines Besuchs gefragt. Genauso oft hatte er es unterlassen, sie aufzuklären.

Was er auch jetzt nicht tat.

„Könnten wir uns setzen?“, fragte er stattdessen.

„Natürlich.“ Als Angela auf dem Lieblingssessel ihrer Tante Platz nahm, besann sie sich ihrer Manieren. „Möchten Sie gerne etwas trinken, Mylord? Bitte entschuldigen Sie, dass ich so eine schlechte Gastgeberin bin. Ich habe mich noch nie allein um Besuch gekümmert.“

„Nein, danke.“ Seine Lordschaft wählte einen Sessel, der in einiger Entfernung zu ihr und tiefer im Schatten lag. „Das hier ist genau genommen kein gewöhnlicher Besuch.“

Der Mann fing an, ihre Geduld zu strapazieren. Zuerst hatte er ihren erquicklichen Nachmittag im Garten gestört, sie dann erschreckt und schließlich alle möglichen verwirrenden Gefühle in ihr heraufbeschworen, die sie gar nicht empfinden wollte.

„Wenn es kein gewöhnlicher Besuch ist, was ist es dann, Sir?“

Tante Hester hätte vor Wut geschäumt, wenn sie gehört hätte, dass Angela in diesem Ton mit einem vermögenden und Ehrenmann mit Titel sprach, doch Lord Daventry ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Alles zu seiner Zeit, Miss Lacewood. Wenn Sie so freundlich wären, sich noch etwas zu gedulden. Um meines Großvaters willen“, meinte er in einem Ton, der mehr Gefühle verriet, als er seit seiner Anweisung, die Vorhänge geschlossen zu halten, gezeigt hatte.

„Ihr Großvater?“ Angela schoss von ihrem Sessel hoch. „Ist dem Earl etwas zugestoßen?“

Ihr Gast bedeutete ihr, wieder Platz zu nehmen. „Sie beide sind in den vergangenen Jahren gute Freunde geworden, nicht wahr?“

Dieser Mann antwortet offenbar nie auf eine Frage, die ihm direkt gestellt wird, dachte Angela.

„Ich kann nicht für Ihren Großvater sprechen, aber er ist mir teurer als sonst irgendwer … abgesehen von meinem Bruder.“

Der liebe Earl of Welland gab Angela immer das Gefühl, klug, anmutig und begabt zu sein. Dabei hatte sie die Hoffnung längst aufgegeben gehabt, diese Eigenschaften jemals zu besitzen.

„Ich kann Ihnen versichern, Miss Lacewood, dass mein Großvater ebenfalls die größte Achtung vor Ihnen hat. Es war sehr freundlich von Ihnen, ihn so oft zu besuchen, als ich … abwesend war.“

Auf dem Kontinent, wo er unter dem verehrten Duke of Wellington gekämpft hatte. Ob Lord Daventry wusste, wie viel sie von seinem Dienst in der Kavallerie wusste? Seine Briefe hatte sie dem Earl vorgelesen und über die Abenteuer gestaunt, von denen er mit trockenem, bescheidenem Witz berichtet hatte.

„Mir gefiel die Vorstellung nicht, dass er in diesem großen Haus allein ist. Ganz ohne Gesellschaft – abgesehen von den Dienern.“

„Mein Großvater ist so etwas wie eine Lieblingsbeschäftigung von Ihnen, nicht wahr? Soviel ich weiß, gibt es noch ein paar andere solcher Personen in der Gemeinde, denen Sie Ihre Zeit widmen.“

Obwohl ihr Besucher weder seine wohlklingende Stimme hob, noch in scharfem Ton sprach, vermutete Angela eine subtile Spitze in seiner Bemerkung. Fühlte er sich von ihr kritisiert, weil er seinen Dienst für den König und das Land vor seine familiären Pflichten gegenüber dem Großvater, der ihn aufgezogen hatte, gestellt hatte?

„Neben Ihrem Großvater gibt es noch andere, die ein bisschen Aufmunterung vertragen können, Sir. Ich tue mein Bestes, ihnen dabei zu helfen, da ich nicht über die Mittel verfüge, sie anderweitig zu unterstützen.“ Wie schon oft, bedauerte Angela diesen Missstand auch jetzt. „Einsamkeit macht weder vor Rang noch Wohlstand halt.“ Entgegen ihrer Absicht wurde ihr Ton bissiger. „Doch falls Sie mit ‚Lieblingsbeschäftigung‘ andeuten wollen, dass ich auf meine Freunde herabsehe oder mich wegen meiner kleinen Dienste an ihnen für etwas Besseres halte, dann täuschen Sie sich.“

Warum bemühte sie sich überhaupt, diesem überheblichen Menschen ihre Beweggründe zu erklären? Die Familie verlachte seit Langem ihre Neigung, sich um notleidende Menschen zu kümmern. Tante Hester bezeichnete diese Menschen immer als „Angelas verlorene Schafe“. Sogar sie selbst verstand nicht ganz, was sie dazu veranlasste, sich um Menschen zu sorgen, für die sich sonst niemand interessierte.

Ob es damit zusammenhing, dass sich nie jemand für sie interessiert hatte und sie daher eine gewisse Seelenverwandtschaft mit den Vernachlässigten empfand?

Der breite Mund Seiner Lordschaft ließ für einen Moment den Hauch eines Lächelns erahnen. „Ich bitte Sie, Miss Lacewood. Sie sind ja so kratzbürstig wie ein Igel. Nichts liegt mir ferner, als Ihre Gutmütigkeit anzuzweifeln. Sie haben viel mehr das Recht dazu, gut über sich selbst zu denken als diejenigen, die sich nur mit dem glücklichen Zufall ihrer Geburt oder Schönheit rühmen können, jedoch nichts dafür getan haben.“

Es war ein nüchternes Kompliment – weder ausgeschmückt noch poetisch. Angela nahm an, dass er sich damit indirekt selbst getadelt hatte. Dennoch gefiel ihr irgendwie die bescheidene Art seines Lobs. Wenn es etwas großspuriger ausgefallen wäre, hätte sie wahrscheinlich befürchtet, er wolle sich über sie lustig machen.

„Wenn ich kratzbürstig erscheine, Sir, dann, weil ich mich mit Situationen wie dieser nicht auskenne.“ Sie versuchte, die Bänder ihrer Haube zu lösen. „Sie sind wie aus dem Nichts aufgetaucht, um mich zu besuchen. Dabei empfange ich sonst nie Gäste. Sie sagen, dies sei kein gewöhnlicher Besuch, doch anstatt mir Ihr Anliegen zu nennen, stellen Sie meine Freundschaft zu Ihrem Großvater infrage. Es kommt mir so vor, als würde ich Blindekuh mit Ihnen spielen.“

Lord Daventry faltete seine großen Hände und legte sie unter sein Kinn. „Für manche ist Blindekuh ein unterhaltsamer Zeitvertreib, Miss Lacewood.“

„Nicht für diejenigen, die immer die Blinde Kuh sein müssen.“ Das wusste sie nur zu gut.

Zu ihrem Erstaunen lachte Seine Lordschaft.

„Touché, Miss Lacewood! Ich beginne zu verstehen, warum Großvater Ihre Bekanntschaft so hoch schätzt.“

Hoch schätzt. Natürlich hatte Angela diese Wendung schon einmal gehört und zu wissen gemeint, was es bedeutete. Als sie es jedoch aus dem Mund von Lord Daventry hörte – geformt von seiner Zunge und seinen Lippen –, war es ihr, als würde ihr zum ersten Mal seine eigentliche Bedeutung bewusst.

Eine kühle Vorahnung ergriff von ihr Besitz, die sie einerseits mit Furcht, andererseits mit Widerwille erfüllte, denn plötzlich erahnte sie den Grund für Lord Luzifers Besuch. Wie sein Namensvetter es über die Jahrhunderte mit anderen Sterblichen getan hatte, war er gekommen, um ihr einen Handel zu unterbreiten.

Und ihre Seele zu stehlen.

Er war dabei, es gründlich zu verpfuschen.

Dieser Umstand ärgerte Lucius Daventry, auch wenn er sich dafür beglückwünschte, diese Tatsache vor Miss Lacewood zu verbergen – so wie er die meisten seiner Gefühle verbarg. Es gab nur wenige Dinge, die ihn so wütend machten wie das schlechte Abschneiden bei einer Aufgabe, die er sich selbst gesetzt hatte. Insbesondere bei dieser, denn sehr viel hing ab, dass er sie erfolgreich erfüllte.

Die junge Dame wollte wissen, warum er gekommen war. Je länger er mit seiner Antwort wartete, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie seiner Bitte nachkam. Doch er musste unbedingt ihre Einwilligung erzielen.

Wenn er sich nur seiner eigenen Haltung sicher gewesen wäre!

Lucius Daventry war nicht daran gewöhnt, in Bezug auf irgendetwas gespalten zu sein. Er war immer stolz darauf gewesen, sich hohe Ziele zu setzen und dann all seine Energie darauf zu verwenden, diese zu erreichen … Bis heute.

Das Problem war Miss Lacewood. Auf der Fahrt nach Netherstowe hatte er angenommen, dass aus dem armen, pausbäckigen Wildfang aus seiner Erinnerung eine untersetzte, unelegante Frau geworden wäre. So jemand hätte sein Angebot sicherlich bereitwillig angenommen, ohne dass er sein Herz in Gefahr gebracht hätte.

Stattdessen hatte sich die kleine pummelige Raupe in einen anmutigen, modisch gekleideten Schmetterling verwandelt. Als Miss Lacewood ihm in die Arme gefallen war, hatte er daran denken müssen, wie lange es her war, dass er eine so zarte und wohlduftende Frau in den Armen gehalten hatte. Ihre betörende Schönheit und ihre Gutherzigkeit stellten eine große Gefahr für den hart erkämpften Frieden in ihm dar. Auch wenn Lucius es sich nur schwer eingestehen konnte, jagte ihm die Dame einen größeren Schrecken ein, als es eine kampfbereite Einheit der französischen Kavallerie getan hätte.

Seinem Großvater zuliebe war Lucius bereit, sich mit seinen schlimmsten Ängsten zu konfrontieren, doch vielleicht müsste er das gar nicht …

„Zweifellos gibt es Gentlemen, die weitaus jünger als mein Großvater sind und ebenfalls Wert auf Ihre Bekanntschaft legen, Miss Lacewood. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Neugier, aber dürfte ich fragen, ob es jemanden Bestimmtes gibt, der Ihnen den Hof macht?“

Einen Moment erwiderte sie nichts. Lucius fragte sich, ob er zu weit gegangen war.

Als sie schließlich antwortete, deutete nichts in ihrer Stimme auf die erwartete Empörung hin. Stattdessen sprach Miss Lacewood in einem Ton sanften Tadels, der seine Verteidigungsmauern zum Einstürzen brachte.

„Müssen Sie sich über mich lustig machen, Sir?“

„Das tue ich gewiss nicht!“ Lucius sprang auf, um sich in den dunkelsten Schatten des Salons zurückzuziehen. „Warum gehen Sie davon aus, dass ich mich über Sie lustig mache?“

„Warum nehmen Sie an, dass ich einen Verehrer hätte?“

Miss Lacewood zog sich die Haube vom Kopf und legte sie auf den Schemel, über den sie zuvor in seine Arme gestolpert war. Dann stand sie auf und ging zur anderen Seite des Raums hinüber, wo ein paar Sonnenstrahlen durch schmale Spalten der geschlossenen Vorhänge fielen. Einer schien wie der Zauberstab einer guten Fee auf ihren Kopf zu zielen und tauchte ihren blonden Lockenkopf in goldenes Licht.

Die Antwort auf ihre Frage war so offenkundig, dass Lucius nicht einfach nur wie ein Narr dastehen und sie anstarren konnte.

Wenn er ihre Erscheinung mit einem einzigen Wort hätte beschreiben müssen, hätte er edel gesagt. Ihre großen, strahlenden Augen waren von dem warmen Braun eines jungen Rehkitzes mit goldenen Sprenkeln. Ihre Lippen waren so voll, dass sie förmlich danach verlangten, geküsst zu werden. Ihre weichen, runden Gesichtszüge erinnerten ihn an pflückreife Pfirsiche.

Ihre Schönheit betörte ihn und wiegte seinen inneren Wärter, der streng über jede seiner Gedanken und Regungen wachte, in einen tiefen Schlaf.

Ohne darüber nachzudenken, sprach er aus, was ihm durch den Kopf schoss. „Ich wundere mich nur darüber, dass Sie nicht einhundert Verehrer haben.“

„Ich würde sagen, dass Sie mir schmeicheln wollen, Sir, aber ich glaube nicht, dass Sie viel für Schmeicheleien übrig haben. Es sei denn, Sie wollen etwas Bestimmtes von mir.“

Ihre Worte bewegten ihn. Eine verheißungsvolle Stimme flüsterte ihm zu, dass sie ihm ähnlich war, doch Lucius wusste, dass er diesen Verheißungen nicht trauen konnte.

„Ich will tatsächlich etwas Bestimmtes von Ihnen, Miss Lacewood.“

Er hatte seinen inneren schlummernden Wächter wachgerüttelt, denn ihm sollten keine weitere Worte, Töne, Gesten oder Blicke entweichen, die nicht von ihm beabsichtigt waren. Nur er allein sollte um die Gedanken wissen, die kalt und erbarmungslos in seinen Geist drangen, und um die Gefühle, die sein Herz erfassten.

„Ich möchte etwas und ich bin gewillt, Sie großzügig dafür zu entschädigen.“

„Tatsächlich?“ Sie spannte sich an. „So etwas habe ich mir schon gedacht. Was wünschen Sie?“

Es war offensichtlich, dass sie Angst hatte, sosehr sie es auch zu verhehlen versuchte. Sie konnte sich noch so sehr hinter ihrer Maske der Tapferkeit verstecken – er wusste, dass sie sich vor ihm fürchtete.

Welche Frau würde das nicht tun?

Besser Angst als Mitleid. Seit Waterloo war das zu Lord Daventrys Motto geworden.

„Lassen Sie uns zuerst darüber sprechen, was ich Ihnen als Gegenleistung anbiete.“

„Wie Sie wünschen.“ Miss Lacewood trat näher ans Fenster. Vielleicht plante sie, ihn zu blenden und die Vorhänge aufzureißen, falls er sie bedrohen sollte. „Ich muss Sie jedoch warnen. Meine Situation ist vielleicht bescheiden, aber ich habe nur wenige Bedürfnisse. Ich bezweifele, dass Sie mir etwas anbieten können, das mich in Versuchung bringen würde.“

Ich wünschte, ich könnte dasselbe von Ihnen sagen. Die Wörter prickelten ihm auf der Zunge wie Zitronensaft und wollten ausgesprochen werden. All seine Willenskraft zusammennehmend, konnte sich Lucius daran hindern, doch sie hinterließen einen verführerisch süßen Nachgeschmack.

„Beurteilen Sie es selbst, meine Liebe.“ Das letzte Wort klang ebenfalls köstlich in seinen Ohren. „Ich glaube, Ihr Bruder hätte gern einen Offiziersposten in der Kavallerie.“

Angela Lacewood wurde von einem Zittern erfasst, wie Lucius es bei Soldaten gesehen hatte, die den kalten Stahl einer Klinge im Bauch spürten. Dennoch gelang es ihr, mit fester Stimme zu antworten, was er bewunderte.

„Ihre Information ist korrekt, Sir. Schon als kleiner Junge wollte Miles als Offizier in das alte Regiment unseres Vaters in Indien eintreten.“

„Offizierspatente sind nicht gerade günstig.“ Lucius lehnte sich gegen einen Sessel. „Dasselbe gilt für eine angemessene Ausstattung für einen Offizier in Indien.“

„Das habe ich ebenfalls festgestellt, Sir.“

„Lord Bulwick ist nicht bereit, die Ambitionen Ihre Bruders zu unterstützen?“ Lucius kannte die Antwort bereits. Er fragte lediglich, um den Wert seines Angebots in Miss Lacewoods Augen in die Höhe zu treiben.

„Seine Lordschaft ist lediglich ein angeheirateter Verwandter.“ Offenbar wiederholte Miss Lacewood die Antwort, die sie als Reaktion auf ihr Flehen von ihrem Onkel erhalten hatte. „Er ist der Meinung, seine Pflichten erfüllt zu haben, da er meinen Bruder und mich nach dem Tod unserer Eltern bei sich aufgenommen hat. Er möchte, dass Miles eine Anstellung in der Stadt findet.“

Lucius nickte. Etwas anderes hätte er vom unleidlichen Lord Bulwick auch nicht erwartet. „Ich würde ein Patent für Ihren Bruder erwerben und dafür sorgen, dass er entsprechend ausgestattet ist.“

„Und was würden Sie als Gegenleistung von mir erwarten?“ Angela straffte die Schultern.

Lucius ertappte sich bei dem Wunsch, diese Schultern nackt zu sehen und ihre Konturen mit den Fingerspitzen nachzuzeichnen, denn er zweifelte nicht daran, dass sie genauso schön waren wie ihr anmutiger Nacken.

Wie würde Miss Lacewood reagieren, wenn er mit langsamen, zielstrebigen Schritten auf sie zugehen und ihr die kurzen Ärmel ihres Kleides über die Schultern schieben würde?

Ob sie ohnmächtig werden oder schreiend davonrennen würde? Für ihn kam es einer gefährlichen Schwäche gleich, sich solchen Fantasien hinzugeben.

Gefährlich? Vielleicht. Schon einmal hatte er eine gefährliche Dame umworben und sich von ihrem tödlichen Charme verführen lassen.

„Ich würde Sie lediglich um einen Gefallen bitten, meine Liebe.“ Hinter seiner Festung aus Möbeln hervortretend, wagte er es, sich ihr zu nähern. „Es ist eher eine Bagatelle.“

Aus einer leichten Veränderung in ihrer Haltung und einem schnellen Seitenblick schloss Lucius, dass die junge Dame vor ihm zurückweichen wollte. Dennoch verharrte sie an Ort und Stelle. „Des einen Bagatelle ist des anderen Freud.“

„So ist es.“ Lucius blieb stehen.

Der Abstand zwischen ihnen war jetzt nicht sehr groß. Wenn beide ihre Hände ausgestreckt hätten, hätten sie sich berühren können.

„Was Sie sagen, ist in diesem Fall sehr passend“, fügte er hinzu. „Was ich von Ihnen verlange, wird Sie nur wenig Zeit und Mühe kosten. Einem anderen wird es jedoch eine riesige Freude sein.“

„Ihnen?“

„Nein.“ Vielleicht wäre das früher so gewesen, aber diese Zeit gehörte der Vergangenheit an.

„Wem dann?“

„Vielleicht werden Sie es erraten, wenn ich Ihnen meinen Wunsch sage.“

„Ich würde mich freuen, ihn endlich zu hören.“

Lucius ging langsam in die Knie. Es war ein lächerliches, unnötiges Ritual, doch er verspürte das Bedürfnis, es auszuführen. „Miss Lacewood, ich möchte Sie bitten, sich mit mir zu verloben.“

Weder bewegte sich die Dame, noch sprach oder blinzelte sie. Sie stand da wie eine goldene Statue, die auf ihn herabstarrte.

Ihre Augen waren jedoch lebendig. Sie strahlten Argwohn und Abneigung aus – neben andere Dingen, die Lucius nicht so leicht identifizieren konnte. Er musste sich dazu zwingen, ihrem Blick standzuhalten und sie still und herausfordernd zugleich anzusehen, um sie dazu zu bringen, in sein Angebot einzuwilligen.

Endlich atmete sie tief ein und benetzte ihre schön geschwungenen Lippen mit der Zungenspitze, woraufhin in Lucius alle möglichen Gefühle aufstiegen, die er nur schwer ignorieren konnte.

„Es ist mir eine Ehre, dass Sie mir einen Antrag machen, Mylord“, sie schüttelte den Kopf, „doch ich kann Sie nicht heiraten.“

Lucius ertappte sich dabei, wie er zum zweiten Mal in einer halben Stunde lachte. Das stellte eine Art Rekord auf. Für einen Moment wurden all die Sorgen, die ihm auf den Schultern lasteten, leichter.

„Ich verstehe, Miss Lacewood.“ Genauso langsam, wie er sich auf den Boden gekniet hatte, erhob er sich wieder, bis er ihr wieder in die Augen schaute. „Aber wissen Sie, darum geht es mir gar nicht.“

2. KAPITEL

Angela wusste nicht, ob sie es bedauern oder erleichtert darüber sein sollte, dass sie ihre Handschuhe zusammen mit ihrer Haube auf dem Schemel hatte liegen lassen. Hätte sie sie in der Hand gehabt, als Lord Daventry ihr ein weiteres Rätsel aufgab, wäre das Verlangen, ihn damit zu schlagen, vielleicht zu groß gewesen, als dass sie ihm hätte widerstehen können.

„Sind Sie heute Morgen aufgewacht, Sir, und haben sich gesagt: ‚Das ist ein guter Tag, um meine Nachbarin zu verärgern‘?“

Seine Lordschaft lachte wieder. „Falls mir so etwas je in den Sinn kommen würde, kann ich Ihnen versichern, Miss Lacewood, dass Sie ganz unten auf der Liste meiner potenziellen Opfer stehen würden. Bitte verzeihen Sie, dass ich nicht offener gesprochen habe. Mein jahrelanger Umgang mit der gehobenen Gesellschaft hat nicht dazu beigetragen, diese lobenswerte Eigenschaft zu fördern.“

Auf merkwürdige Art und Weise klangen seine Worte tatsächlich so, als würde er diesen Umstand aufrichtig bedauern. Seine grünen Augen – zuvor hart, kühl und undurchdringlich wie Jade – waren weich geworden, bis sie so anziehend auf Angela wirkten wie ein Garten an einem frischen Sommermorgen bei Sonnenaufgang.

Gegen ihren Willen stellte sie fest, wie sie nachsichtig wurde. „Ich hätte es besser wissen und nicht davon ausgehen sollen, dass jemand wie Sie, Mylord, mir ernsthaft einen Antrag machen würde.“

„Im Gegenteil.“ Ein brüsker Unterton schwang in seiner verführerischen Stimme mit. „Jemand wie ich würde sich nicht anmaßen, Ihnen einen Antrag zu machen, Miss Lacewood.“

„Aber Sie sagten …?“

„Ich habe Sie gebeten, meine Verlobte zu werden – nicht meine Frau. Bevor Sie mir jetzt abermals vorwerfen, Sie absichtlich verärgern zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass aus dem einen nicht zwangsläufig etwas anderes hervorgehen muss.“

In neunundneunzig von hundert Fällen war das jedoch der Fall – es sei denn, das Paar wollte sich und seine Familien einem Skandal aussetzen.

Einst hatte sich Angela kindischen Träumereien von einer Hochzeit mit einem Mann wie Lord Daventry hingegeben – einem vermögenden und sehr gut aussehenden Mann mit Titel. Eine Art Märchenprinz, der sie von Netherstowe weggeholt hätte, wo sie sich häufig nicht viel wichtiger als ein Küchenmädchen fühlte.

Seitdem hatte sie genügend Erfahrungen in der Welt gesammelt, um zu wissen, wie unwahrscheinlich es war, dass irgendein Mann um die Hand eines mittellosen, ungebildeten Mädchens vom Land anhielt, das sich nie in der Gesellschaft bewegt hatte. Auch hatte sie erkannt, dass eine Ehe ihr nicht unbedingt die Zuflucht bieten würde, die sie sich einst ausgemalt hatte. Aus diesen Gründen hatte sie sich mit einem beschaulichen, ehelosen Leben abgefunden und sich für ihre Verwandten nützlich gemacht, damit sie ihr nicht übelnahmen, dass sie ihr Unterkunft und Verpflegung gewähren mussten.

Solange sie Sonnenschein, frische Luft, Musik und Freundschaften haben konnte, würde sie zufrieden sein. Wäre nur Lord Daventry nicht mit seinem ungewöhnlichen Angebot an sie herangetreten, mit dem er ihre dummen, jugendlichen Sehnsüchte nach mehr neu entfacht hatte.

„Ob beabsichtigt oder nicht – leider verwirren Sie mich schon wieder, Sir.“ Und das nicht nur mit Worten.

Nie zuvor hatte sie sich in einem Moment so sehr über jemanden geärgert und sich im nächsten so stark zu dieser Person hingezogen gefühlt. Es reichte! Sie hatte nicht wenig Lust, direkt in die … Speisekammer zu gehen. Wie gerne hätte sie ihre aufgewühlten Emotionen mit einem dicken Stück Sandkuchen besänftigt – am besten so reichhaltig, dass er nur schwer verträglich wäre.

„Was auch immer Sie von mir wollen, Lord Daventry, ich bin anscheinend außerstande, es zu begreifen.“ Beim Gedanken an den Kuchen lief ihr das Wasser im Mund zusammen, sodass sie schlucken musste, um weiterzureden. „Zweifellos gibt es viele andere junge Damen, die Ihnen nur zu gerne entgegenkommen würden.“

Ihr Gast setzte zum Reden an, doch Angela kam ihm zuvor. „Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Mylord. Richten Sie Ihrem Großvater herzliche Grüße von mir aus.“

Sie drehte sich um und wollte davonstürmen. Bevor sie jedoch einen Schritt getan hatte, ergriff Seine Lordschaft ihre Hand, um sie zurückzuhalten.

Noch bevor sie ihm ihre Hand entziehen konnte, sprach Lord Daventry das aus, woran sie ihn zuvor gehindert hatte. „Bitte, Miss Lacewood, bleiben Sie hier und hören Sie mich an. Ich brauche Ihre Hilfe. Mein Großvater stirbt.“

Seine Worte trafen Angela wie ein herber Schlag. Sie zuckte zusammen, und im gleichen Moment gaben ihr die Knie nach. Wenn Seine Lordschaft ihre Hand nicht so fest umschlossen gehalten hätte, wäre sie vielleicht zu Boden gesunken.

„Er stirbt?“ Sie legte sich die freie Hand an die Stirn in dem Versuch, die durcheinanderwirbelnden Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. „Das kann nicht sein. Als ich ihn gestern in Helmhurst besuchte, sah er besser aus als in letzter Zeit.“

Doch der Earl war kein junger Mann. Außerdem war er schon immer, seit sich Angela erinnern konnte, kränklich gewesen. „Ich muss sofort zu ihm!“

Trotz ihrer rasenden Gedanken fiel ihr etwas auf.

„Warum haben Sie es mir nicht gleich gesagt?“ Als sie Lord Daventry ihre Hand entriss, stellte sie überrascht fest, wie kühl sich die warme Luft des Salons auf ihrer Haut, wo er sie eben noch berührt hatte, anfühlte. „Es war überaus gefühlskalt von Ihnen, Ihre Spielchen mit mir zu spielen und mich in Unwissenheit über den Zustand Ihres Großvaters zu lassen.“

Ein leichtes Stirnrunzeln verriet, dass ihr Tadel Seine Lordschaft getroffen hatte.

Einen Anflug von Schuld unterdrückend, wandte sich Angela von ihm ab. Sie musste so schnell wie möglich nach Helmhurst zu ihrem lieben Freund, dem Earl.

Kaum hatte sie einen Schritt in Richtung Tür gemacht, als ihr Lord Daventry den Weg abschnitt. „Ich kann Sie nicht gehen lassen, Miss Lacewood.“

„Das sollten Sie aber.“ Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, doch er hielt sie abermals fest.

„Lassen Sie mich auf der Stelle los!“, rief sie, ohne ihren lächerlichen Wunsch zu beachten, in seinem Griff, der sich seltsamerweise wie eine Umarmung anfühlte, zu verweilen.

„Ich kann Sie nicht gehen lassen“, wiederholte er, „bis Sie sich nicht beruhigt haben. Mein Großvater schwebt in keiner unmittelbaren Gefahr, und ich will nicht, dass er erfährt, was seine Ärzte mir gesagt haben.“

Angela gab auf, doch ihr Atem ging so flach und schnell, als hätte sie mit aller Kraft gegen den Baron gekämpft. „Wie können Sie in einem Moment behaupten, dass der Earl sterben würde, und im nächsten, dass er nicht in Gefahr sei?“

„In keiner unmittelbaren Gefahr“, korrigierte Lord Daventry sie. „Sie sollten mir aufmerksamer zuhören, Miss Lacewood. Auch wenn der Zustand meines Großvaters nicht schlechter als gewöhnlich zu sein scheint, haben mir seine Ärzte versichert, dass er höchstens noch drei Monate zu leben hat.“

Eine dunkle, tränenreiche Wolkenfront warf plötzlich einen langen Schatten auf den bevorstehenden Sommer, der Angela vor wenigen Minuten noch so verheißungsvoll erschienen war.

Lord Daventry lockerte seinen Griff.

„Ich möchte nicht, dass ihm seine restliche Zeit verdorben wird, weil er erfährt, wie schlecht es um ihn bestellt ist. Wenn Sie ihn wiedersehen möchten, dann brauche ich Ihr Wort, dass Sie meine Wünsche respektieren.“

Gern hätte sie etwas Mitgefühl für den Baron aufgebracht, doch das hatte er unmöglich gemacht. Sie legte die Hände auf seinen maßgeschneiderten Anzug und schob ihn weg. Ein wenig enttäuscht registrierte sie, dass er sie ohne großen Widerstand losließ.

„Wenn der Earl nichts von alldem weiß, können Sie versichert sein, dass ich nicht mit ihm darüber sprechen werde. Ich würde es auch nicht tun, wenn Sie mich nicht darum gebeten hätten.“

„Sie müssen gar nichts sagen, um alles zu verraten, Miss Lacewood. Ihr Gesicht ist wie ein offenes Buch für jeden, der darin lesen will – Ihre Augen noch mehr.“

Eine kalte Woge des Entsetzens strömte durch Angela.

Sprach Lord Daventry die Wahrheit oder stellte er ihr wieder nur eine Falle? Wenn Letzteres der Fall war, konnte er dann auch die widersprüchlichen, allzu intensiven Gefühle in ihr erkennen, die er in ihr wachrief?

Lord Daventry fühlte, dass es in ihm brodelte, wie in einem verschlossenen Topf. Angela Lacewood hatte den Deckel während ihres Gesprächs mehrmals angehoben, und jedes Mal war kochend heißer Dampf aufgestiegen. Obwohl Lucius es hasste, wenn jemand seine Selbstbeherrschung auf die Probe stellte, musste er zugeben, dass diese vorübergehenden Ausbrüche ihn wahrscheinlich daran gehindert hatten, ganz in die Luft zu gehen.

Wenn nur der bleibende Eindruck davon, wie Miss Lacewood sich in seinen Armen angefühlt hatte, seinen Körper nicht in Flammen aufgehen lassen würde!

Sie senkte die Lider, vielleicht, um sich vor seinem musternden Blick zu schützen. „Wenn ich es möchte, bin ich sehr wohl dazu in der Lage, eine fröhliche Miene aufzusetzen, Sir. Außerdem ist das Sehvermögen Ihres Großvaters nicht mehr so gut wie einst. Ich würde nie etwas tun, was ihm Kummer bereitet.“

„Das glaube ich, meine Liebe.“

Das letzte Wort entging Lord Daventrys innerem Zensor. Er beeilte sich, fortzufahren, in der Hoffnung, dass sie ihm keine Bedeutung beimessen würde. Wenn er sie davon überzeugen konnte, ihm zu helfen, was momentan unwahrscheinlich erschien, würde er sich daran gewöhnen müssen, solche Kosewörter zu benutzen.

Bei diesem Gedanken geriet er in Alarmbereitschaft.

„Nun müsste ich wissen, inwieweit Sie gewillt sind, meinem Großvater etwas vorzuspielen, um ihn in seinen letzten Monaten glücklich zu machen.“

Die Wörter brannten ihm in der Kehle, während er sprach. Es hatte mehrere lange Nächte gedauert, in denen er in die kalte, dunkle Schönheit des Sternenhimmels geschaut hatte, um zu seinem Entschluss zu gelangen.

Wenn er sie nur davon überzeugen könnte, ihm zu helfen.

Mit großen Augen richtete sie den Blick wieder auf ihn. Aufgrund des Triumphs in ihren goldbraunen Tiefen wusste Lucius, dass sie nun begriffen hatte, worauf sein Vorschlag abzielte.

„Sie wollen so tun, als würden wir heiraten, um den Earl zufriedenzustellen?“

„So ist es. Großvater hat sich bei seinem Versuch, uns zusammenzubringen, außergewöhnlich plump verhalten.“

Einen Moment umspielte der Anflug eines Lächelns ihre Lippen. Offenbar hatte der Earl auch Miss Lacewood mit seinen Vorstellungen behelligt und sich als Kuppler aufgespielt.

„Seine fortwährende Litanei über Ihre Tugenden ist bei mir auf taube Ohren gestoßen, denn ich habe nicht die Absicht zu heiraten – nicht einmal meinem Großvater zuliebe“, erklärte Lucius.

Die junge Dame konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. „Aber Sie würden sich mit mir verloben?“

Lucius nickte. „Unter der Voraussetzung, dass Sie die Verlobung auflösen, sobald … sie ihren Zweck erfüllt hat. Als Gegenleistung für Ihre Mithilfe werde ich Ihren Bruder dabei unterstützen, das angestrebte Offizierspatent zu erwerben.“

Einen Augenblick sah sie ihn schweigend an. Trotz seiner vorherigen Äußerung, sie sei wie ein offenes Buch, konnte Lucius nicht erraten, was sie dachte oder wie sie reagieren würde.

„Einen Anreiz wie diesen würde ich nicht von Ihnen verlangen, Mylord“, sagte sie endlich. „Wenn ich mich dafür entscheide, zu tun, worum Sie mich bitten, dann, weil ich den Earl ebenfalls glücklich machen möchte.“

„Dennoch würde ich darauf bestehen, Miss Lacewood.“ Lucius sah davon ab, die junge Dame zu beleidigen und sie darüber zu unterrichten, dass eine derartige Vereinbarung ihm als Absicherung dafür dienen würde, dass sie die Verlobung löste, sobald sie ihrem Zweck erfüllt hätte.

Schließlich war es das Vorrecht einer jeden Frau, ihre Meinung in dieser Hinsicht zu ändern. Ein kleiner Skandal in der Region wäre das Ergebnis, aber nicht mehr. Wenn ein Gentleman hingegen eine Frau sitzen ließ, würde der Fall mit Gewissheit zum Geschwätz des ton werden und vermutlich vor einem Gericht oder – noch schlimmer – in der Zeitung landen.

Falls die Aussagen seines Großvaters über Angela Lacewood stimmten, stand es nicht zu erwarten, dass sie ihn hereinlegen und gegen seinen Willen auf eine Heirat beharren würde. Allerdings konnte ein Adeliger mit einem stattlichen Vermögen nie vorsichtig genug sein. Ihm würde die ganze Angelegenheit weniger beunruhigend erscheinen, wenn er zu gegebener Zeit einen gewissen Einfluss auf Miss Lacewood ausüben könnte.

„Jetzt, da Sie über meine Absichten informiert sind, Miss Lacewood, wüsste ich gerne, ob es für Sie denkbar wäre, meinem Wunsch zu entsprechen.“

„Es wäre … für mich denkbar, Mylord“, erwiderte sie schließlich.

Lucius atmete die Luft aus, die er unwillkürlich angehalten hatte.

„Doch für meine Entscheidung werde ich mehr Informationen benötigen“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Was würde eine Verlobung zwischen uns beiden genau bedeuten?“

„Woher um alles in der Welt soll ich das wissen“, entgegnete Lucius in aufbrausendem Ton.

Diese ganze Angelegenheit strapazierte ihn über die Maßen. Da half es nicht gerade, dass er nur schwer eine gleichgültige Fassade bewahren konnte.

„Was auch immer nötig ist, um Großvater davon zu überzeugen, dass wir beide heiraten werden, würde ich sagen.“ Er ärgerte sich über sich selbst, weil er nicht weiter geplant hatte als bis zu diesem Gespräch, das nicht gerade nach seinen Vorstellungen verlaufen war.

„Müssten wir zusammen in der Gesellschaft auftreten?“ Miss Lacewood machte eine Bewegung mit ihren Händen, die so aussah, als würde sie etwas aufschrauben. Auf den zweiten Blick erkannte Lucius, dass sie mit einem schmalen Ring an ihrem kleinen Finger spielte. „Ich meine, die Gesellschaft, die man in diesem ruhigen Teil des Landes vorfindet?“

Da Lucius nicht sicher war, welche Antwort sie hören wollte, entgegnete er das, was ihm selbst am liebsten wäre. „Ich wüsste nicht, warum wir das tun sollten. Ich erhalte nur noch selten Einladungen – und falls doch, schlage ich sie fast immer aus. Ich wüsste nicht, warum sich das ändern sollte, nur weil ich eine Verlobte habe.“

Eine gewisse Anspannung schien in ihrer Haltung nachzulassen. Hatte sie seine Antwort für zufriedenstellend befunden, obwohl er sich als ungesellig zu erkennen gegeben hatte? Vielleicht würden sie am Ende doch gut miteinander auskommen.

„Wäre es mir erlaubt, Helmhurst noch öfter als sonst zu besuchen?“ Diesmal gab es keinen Zweifel daran, was sie als Antwort hören wollte.

Auch wenn Lucius der Gedanke nicht zusagte, die letzten kostbaren Monate in der Gesellschaft seines Großvaters mit einer anderen Person zu teilen, zwang er sich zu nicken. „So oft Sie wünschen.“

Miss Lacewood unternahm erst gar nicht den Versuch, ihre Freude über seine Antwort zu verhehlen.

„Noch etwas?“, fragte er. Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können.

Auf seine Frage lief sie so rot an, dass Lucius es trotz des schwachen Lichts im Raum sehen konnte.

„Ein Kuss?“

Das bebende Flüstern ihrer Frage fühlte sich wie ein harter, unerwarteter Schlag in den Magen an. Lucius befahl sich, nicht auf Miss Lacewoods geschwungene, volle Lippen zu starren. Unter keinen Umständen durfte er sich vorstellen, wie es wäre, sie zu küssen. Oder darüber nachdenken, ob sie von einem anderen Mann geküsst worden war.

Auf einmal war es Lucius, als könnte er in der Ferne Signalhörner hören, die zum Rückzug riefen.

„Ich hätte nie hierherkommen sollen.“ Er machte auf dem Absatz kehrt, ging raschen Schrittes zur Tür des Salons und nahm seinen Mantel und seinen breitrandigen Filzhut von der Sessellehne auf, wo er sie abgelegt hatte.

„Das war eine lächerliche Idee – überhaupt nicht umsetzbar. Es tut mir leid für die Unannehmlichkeiten, Miss Lacewood. Ich werde selbst hinausfinden.“

Auf dem Weg zur Eingangshalle warf sich Lucius seinen Mantel über die Schultern, setzte sich eilig den Hut auf und zog sich ihn tief ins Gesicht.

Hinter sich hörte er Schritte.

„Bitte, Lord Daventry, würden Sie einen Moment warten?“

Lucius wurde langsamer, glaubte jedoch die Stimme des Generals Wellington zu hören: „Die Kleine hat dir Beine gemacht, was, Daventry? Bleib stehen und nimm es wie ein Mann.“

Als Lucius die Eingangstür erreichte, drehte er sich um und sah seine Verfolgerin an.

Damit hatte Miss Lacewood offenbar nicht gerechnet. Als er sich zu ihr umdrehte, lief sie direkt in ihn hinein. Wenn er die Tür nicht im Rücken gehabt hätte, wären sie vielleicht zusammen auf den Boden der Empfangshalle gestürzt. Stattdessen hoben sich Lucius’ Arme wie von selbst, um Miss Lacewood zum wiederholten Mal an diesem Nachmittag zu umarmen.

Ihre wilden Locken kitzelten seine Nase. Sie rochen so frisch und süß wie der Garten, aus dem man sie gerufen hatte. Wenn Sonnenstrahlen eine feste Form hätten annehmen können, hätten sie sich sicherlich wie Miss Lacewoods goldene Strähnen angefühlt.

Sie hob ihm das Gesicht entgegen, und für einen irrsinnigen flüchtigen Moment wollte Lucius ihr den Kuss geben, den sie angesprochen hatte. Der Kuss, für den ihre Lippen wie geschaffen waren.

Doch bevor er Möglichkeit dazu hatte, sprudelten die Worte aus ihrem verführerisch geöffneten Mund hervor: „Es tut mir leid.“

Plötzlich kam er wieder zu Sinnen, so als hätte er den Kopf in eiskaltes Wasser getaucht.

„Es tut mir so leid, dass ich in Sie hineingerannt bin.“ Sie klang vollkommen verunsichert. „Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie mit meiner Frage in Verlegenheit gebracht habe.“

Sie legte ihm eine Hand an die Wange.

Lucius zuckte unter der sanften, mitleidigen Berührung ihrer zarten Finger zusammen.

Autor

Deborah Hale

Deborah Hale konnte es nie richtig glauben, wenn ihre Eltern erzählten, sie hätte schon mit sieben Monaten zu sprechen begonnen. Aber wie auch immer, eines ist sicher: Deborah liebt es, Geschichten zu erzählen, seit sie denken kann.

In ihrer Jugend las sie unendlich viele Romane über das Meer und schrieb...

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