Ein schottisches Herz in Flammen

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Als Korsettmacherin versorgt die schöne Mary sowohl die Damen der feinen Gesellschaft als auch die halbseidene Unterwelt mit den verführerischsten Stücken. Geschickt sammelt sie dabei Informationen über den verlorenen Schatz von Arkaig, den sie und ihre Clanmitglieder suchen. Bei einem heiklen Bordellbesuch rettet sie der gut aussehende Unternehmer Thomas West aus einer brandgefährlichen Situation. Doch Thomas‘ Hilfe hat ihren Preis! Während sie ihm hilft, seine eigenen Ziele zu erreichen, verliert Mary beinahe ihre Pflichten gegenüber ihrem Clan aus den Augen. Und damit nicht genug: Thomas‘ feurige Küsse bringen auch ihr Herz in Gefahr!


  • Erscheinungstag 27.04.2024
  • Bandnummer 161
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526838
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gina Conkle

Gina Conkle schreibt sinnliche, in der georgianischen Ära angesiedelte Liebesromane. Ihre erfrischende Art, das Genre des historischen Liebesromans mit originellen Dialogen und erotischem Prickeln zu würzen, macht ihre Bücher so beliebt. Ihre Schriftstellerkarriere begann in Südkalifornien, und trotz des vielen Sonnenscheins begeistert sie sich mehr für Bücher als für den Strand und zieht Steinburgen solchen aus Sand vor.

PROLOG

Schottland, 1738

Männer waren das Problem – oder besser gesagt, ein bestimmter französischer Mann und der Kuss, den er ihrer Mutter auf dem Deck eines Schiffes stahl. Mary beobachtete den Kuss, während der Wind ihr das Haar zerzauste. Als pflichtbewusste Tochter war Geduld ihre Tugend. Jedes Mal wartete sie in Leith am Ufer auf ihre Mutter. Ihr Wiedersehen lief immer gleich ab – eine liebevolle Umarmung, während die weichen Locken ihrer Mutter ihre Wange umschmeichelten und ihr der Duft von Rosenwasser in die Nase stieg.

Mit geschlossenen Augen schwelgte sie in der Wärme und Zärtlichkeit dieses Moments.

„Du siehst genauso aus wie ich, als ich fünfzehn war“, flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr.

„Nur dass du hübscher bist“, flüsterte Mary zurück und wünschte, es wäre das letzte Mal gewesen, dass ihre Mutter fortgegangen war.

Es war nie das letzte Mal. Denn es reichte nie.

„Bleibst du eine Weile zu Hause, Mama?“ Hoffnungsvoll sah sie ihrer Mutter in die rätselhaften grauen Augen, die ihren eigenen so ähnlich waren.

„Mein liebes, süßes Mädchen, lass uns diesen herrlichen Tag nicht mit solchen Dingen verderben.“

In der Tat, das taten sie nie. Mary schob ihre Gefühle beiseite und versuchte, jede Sekunde des Zusammenseins mit ihrer Mutter zu genießen. An diesem Morgen schlenderten sie beieinander untergehakt durch Leith und sprachen über die letzte Reise ihrer Mutter, die sie zu einer Töpferei in Niderville geführt hatte, die eine Französin betrieb.

„So reizend, Madame Andre“, erzählte ihre Mutter. „Als Geschäftsfrau bestimmt sie ihr Schicksal selbst. Merk dir das, Mary.“

Ihre Mutter schien den Mann vom Schiff bereits vergessen zu haben.

Dabei hatte er ihr Leben verändert.

Einen Monat später waren die rosigen Wangen ihrer Mutter bleich, und ihr schwarzes Haar war stumpf und fettig. Ausgemergelt und schwach, wie sie war, konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. Kein Mensch kümmerte sich um sie, außer einem alten Arzt, Dr. Ross, der sich ein Taschentuch vor die Nase hielt. Verständlich. Der Gestank von Urin und Schweiß schwängerte die Luft. Nach der Untersuchung warf er das Taschentuch in den brennenden Kamin. Mary sah zu, wie die Flammen das Tuch verschlangen. Was für eine Verschwendung. Dr. Ross hätte das Taschentuch bei seinem nächsten Besuch wieder verwenden können.

Der fiebrige Blick ihrer Mutter folgte ihm. „Was … habe ich?“

Der Arzt kramte in seiner Tasche, die Flaschen klirrten leise.

„Sie haben die Franzosenkrankheit, Madam.“

„Aber wie …?“

„Waren Sie in letzter Zeit in Frankreich?“

„Ja, in Lothringen“, murmelte sie. „Aber das Fieber – ich dachte, es wäre … vorbei.“

Dr. Ross seufzte schwer. „In Paris, ja. Aber es gibt Berichte darüber, dass die Krankheit in den Provinzstädten weiter grassiert.“ Er stellte ein Fläschchen mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit darin auf den Nachttisch. „Nehmen Sie das gegen Ihre Beschwerden.“

Das Kerzenlicht brachte das Glas der fast leeren Flasche zum Funkeln.

„Braucht sie nicht mehr als das?“, fragte Mary.

Traurige, von Alter und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Augen begegneten den ihren. „Nein.“

Dr. Ross schloss seine Tasche, das Klicken des Messingverschlusses war ein unangenehmes Geräusch. So kalt, so endgültig. Als würde es das Ende besiegeln. Mary war beinahe übel vor Sorge um ihre Mutter. Sie hatte letztes Jahr über die Krankheit gelesen, viel war darüber nicht bekannt. Wunden im Mund, schreckliche Schweißausbrüche. Die Hälfte der Erkrankten wurde von der Krankheit dahingerafft. Die andere Hälfte genas zwar, dies aber unter schrecklichen Qualen. Doch Dr. Ross gab keine weiteren Ratschläge.

„Darf ich jetzt auf das Bett klettern und Mama umarmen?“, flüsterte das Kind neben ihr.

Ihre Schwester Margaret, noch keine fünf Jahre alt, saß auf einem Schemel neben ihr und schwang ungeduldig mit den Beinen.

„Später“, sagte Mary und streichelte Margarets tintenschwarzes Haar. „Zuerst müssen wir uns um sie kümmern, du und ich, und wenn Dr. Ross zurückkommt, wird er dich zu einem Engel erklären, weil du Mama geheilt hast.“

„Ich werde nicht zurückkehren“, sagte er.

Mary sprang auf. „Das verstehe ich nicht.“

Die dünne Gestalt von Dr. Ross überragte sie, seine knochigen Finger krümmten sich um den Griff seiner Tasche.

„Die Luft hier drin ist verdorben. Auch du solltest dich nicht länger hier aufhalten. Nimm deine Schwester, und sucht euch woanders eine Unterkunft.“

„Aber meine Mutter …“

„Wird bald tot sein.“

Sie ließ das parfümierte Taschentuch fallen, das sie sich bis eben vors Gesicht gehalten hatte – das Gewicht war plötzlich zu schwer.

Nein … das konnte nicht sein. Nicht ihre Mutter.

„Sie können doch sicher etwas tun“, sagte sie verzweifelt.

„Nein, das kann ich leider nicht.“

Ein Hustenanfall erfasste ihre Mutter. Mary griff nach dem Ärmel des Arztes, nicht bereit, das Schicksal einfach so hinzunehmen.

„Ich kann sie nicht allein lassen.“

„Was ist mit der kleinen Margaret?“, zischte er. „Ist sie dir völlig gleichgültig? Denn wir wissen beide, dass sie niemand mehr hat, der für sie sorgt, wenn du stirbst.“

Mary ließ sich nicht beirren und versuchte verzweifelt, ihn zum Bleiben zu überreden, aber seine Miene blieb abweisend. Schließlich gab sie auf und ließ ihn los. Zu lange hatte Dr. Ross die Last der Familiengeheimnisse der Fletchers getragen. Die Exzentrik ihrer Mutter, die Gleichgültigkeit ihres Vaters, die winzigen Verbrennungen an ihren Fingern – das geordnete Chaos ihres Lebens.

Sie kannte es nicht anders. Aber dieses Leben, ihr Leben, war gerade im Begriff, in tausend Stücke zu zerbrechen.

Betrübt nahm Dr. Ross seinen Hut. „Ich muss die Königliche Krankenstation alarmieren. Und wir alle müssen beten, dass diese Seuche sich nicht weiter ausbreitet.“

Eine Seuche?

Sie ließ sich gegen die Wand sinken. Dr. Ross verließ den Raum, der dicke Teppich dämpfte seine Schritte. Ihr war die Kehle wie zugeschnürt. Das Zimmer schien sich um sie zu drehen. Dunkel getäfelte Wände ragten über ihr auf, schwer und erdrückend schienen sie immer näher zu kommen.

Dieser Albtraum war real.

Ein kleiner Körper, der sich an sie schmiegte, verhinderte, dass sie einen Zusammenbruch erlitt. Sie blickte nach unten.

Blaue Augen, untertassengroß, sahen sie flehend an. „Ich habe Angst.“

Mary fiel auf zittrige Knie und zog ihre Schwester in eine verzweifelte Umarmung.

„Schhhh. Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf dich auf.“

Zuversichtliche Worte, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie unterdrückte sie mit aller Macht und atmete Margarets süßen, unschuldigen Duft ein. Bis auf die Knochen erschöpft, klammerte Mary sich an sie. Kindliche Atemzüge, die ihr Ohr streiften, begannen, die Anspannung in ihr zu lösen. Die beiden Seelen, die sie am meisten auf dieser Welt liebte, befanden sich in diesem Raum. Sie würde sie beide retten.

„Sei ein Schatz“, sagte sie und richtete sich auf. „Und zieh deiner Puppe das hübsche blaue Kleid an, das wir zusammen genäht haben.“

Kleine Hände umfassten vertrauensvoll ihre Wangen.

„Darf ich Mama das Kleid zeigen?“

„Ja.“ Sie küsste Margaret auf die Stirn. „Ab mit dir.“

Ihre kleine Schwester huschte davon und nahm das letzte bisschen Freude mit. Mary schob sich eine lockige Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Sie stand auf, während ihre Gedanken sich überschlugen. Wie konnte sie ihre Mutter und ihre Schwester retten? Vielleicht konnte ein anderer Arzt helfen. Es gab Gerüchte über einen vielversprechenden neuen Arzt in der Drummond Street.

„Ich weiß … was du … denkst“, keuchte ihre Mutter. „Aber es ist … sinnlos.“

Mary wandte sich dem Bett zu. „Du weißt, dass ich dich nicht verlassen kann.“

„Du musst. Um … um deiner Schwester willen.“

Mary beugte sich vor und sagte entschlossen: „Ich kann für euch beide sorgen.“

Ein rasselndes Geräusch ließ sie aufschrecken. Es war das traurige Lachen ihrer Mutter.

„Ist das nicht … das, was du … immer getan hast?“

„Dann lass mich …“

„Nein! Margaret ist das Wichtigste, ich bin verloren. Du musst für sie da sein, bitte.“ Mühsam holte sie Luft. „Sie braucht dich jetzt.“

Heiße Tränen schossen Mary in die Augen, und mit ihnen kam der Schmerz, gnadenlos und überwältigend. Der drohende Verlust ihrer Mutter. Ihre kaputte Familie. Sie musste der Wahrheit in ihr hässliches Gesicht blicken – ihre Mutter würde sterben.

Und eine Entscheidung musste getroffen werden.

Für ihre Schwester. Oder ihre Mutter.

Sie schwankte, als wollte der Boden sie verschlingen – was ein Teil von ihr sich sogar wünschte.

„Du kannst … es tun“, sagte ihre Mutter.

Konnte sie das? Nein, sie glaubte nicht, dass sie es übers Herz bringen könnte, ihre Mutter ihrem Schicksal zu überlassen.

Als sie im zarten Alter von zehn Jahren gewesen war, hatte eine Hebamme ihr ein Neugeborenes in die Arme gelegt, das ganz glitschig gewesen war. Marys Herz war voller Liebe gewesen, und sie hatte Margaret gebadet und gewickelt. Aber Liebe war nicht genug gewesen. Das Baby konnte ihre Familie nicht zusammenhalten. Kaum zwei Monate später brach ihre Mutter zu einer Reise ins Baltikum auf. Ein weiteres Abenteuer, so nannte sie es. Im folgenden Jahr zogen ihr Vater und ihr Halbbruder in eine kleine Wohnung über dem Geschäft ihres Vaters ein, während die Frauen in Mary King’s Close in der High Street blieben.

Mary hatte die Hauptlast dieses neuen Arrangements getragen. Aber das hatte keine Rolle gespielt. Die kleine Margaret wurde sehr, sehr geliebt.

„Geh zu deinem Vater. Erzähl ihm von dem Fieber“, sagte ihre Mutter. „Und organisiere für morgen eine Kutsche nach Arisaig.“

„Du schickst mich weg?“ Mary brach die Stimme.

„Zum Clan MacDonald of Clanranald. Meine Verwandten werden … auf euch aufpassen.“

Mary streichelte ihrer Mutter die totenblasse Wange. „Was ist mit dir?“

Die Schatten unter den Augen ihrer Mutter schienen immer tiefer zu werden. „Mary …“

„Nein, Mama!“, rief sie entsetzt. „Zwing mich nicht, dich zu verlassen.“

Aber ihre Mutter erteilte schon mit letzter Kraft Anweisungen. In der Küche befänden sich Silbermünzen in der Suppenterrine von Niderville. Sie seien für sie bestimmt. Für ihre Zukunft und Margarets Zukunft. Ihre Reisetruhe habe einen doppelten Boden. Dort solle sie das Geld verstecken, und wenn die Zeit reif sei, es auch benutzen.

Ermattet ließ ihre Mutter den Kopf in die Kissen sinken.

„Liebe Mary … du bist mit einem scharfen Verstand gesegnet. Nimm das Geld und fange ein neues Leben an … So Gott will.“

Mary schlug das Herz hart gegen die Rippen. Warum sollte Gott ihr die Mutter wegnehmen? Den einzigen Menschen, der sie verstand? Ihr Vater, ein exzentrischer Silberschmied, war freundlich zu ihr, aber für ihn ging die Sonne über ihrem Halbbruder auf und unter, dem Spross aus seiner ersten Ehe. Seine älteste Tochter stammte aus seiner zweiten Ehe mit dem schönen Mädchen vom Clan MacDonald of Clanranald. Seine jüngste Tochter? Ihre Abstammung väterlicherseits war umstritten. Der Silberschmied behauptete, seine eigensinnige Frau habe seinen Ruf geschädigt, aber ihre Mutter war Marys strahlender Morgenstern. Sie hatte ihre älteste Tochter stets ermutigt, ihren Verstand zu gebrauchen und ihre Talente zu nutzen und sich niemals von einem Mann unterkriegen zu lassen.

Und jetzt lag sie im Sterben.

„Sei … klug“, sagte ihre Mutter. „Lass dir von Männern nicht den Kopf verdrehen, wie sie mir den Kopf verdreht haben.“

„Das werde ich nicht.“ Sie schmiegte sich an die Sterbende.

Um die spröden Lippen ihrer Mutter bildete sich ein Lächeln. „So ein … gutes Mädchen. Du siehst … aus wie ich … als ich fünfzehn war.“

Mary richtete sich auf, ihr Herz und ihre Seele zerbröckelten. „Ach a-mhàin gu bheil thu nas fheàrr.“ Nur dass du hübscher warst.

Ihre Mutter lächelte bei diesen Worten, während ihre Augenlider zu flattern begannen. Tränen strömten Mary übers Gesicht, und es überkam sie eine schreckliche Erkenntnis. All die Jahre hatte sie sich bemüht, es ihrer Mutter recht zu machen. Ein fleißiges, verantwortungsbewusstes Mädchen zu sein. Ihre Haltung, ihre Manieren, ihre Sprache – alles war immer tadellos gewesen.

Aber Liebe war nicht genug. Das war sie nie.

1. KAPITEL

London, Oktober 1753

Um sich auf einen Abend im Bordell vorzubereiten, galt es für die abenteuerlustige Jungfer, das richtige Maß an Rouge auf ihren Wangen aufzutragen. Zu viel, und die Männer würden sie für eine der Huren halten. Zu wenig, und die Männer würden denken, sie wäre eine Putzfrau mit Hang zum Luxus, den sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Wobei Selbstbewusstsein das Allerwichtigste war.

Selbstbewusstsein war, wie sich herausstellte, die beste Maske – und daran mangelte es Mary Fletcher zum Glück nicht.

Sie streifte sich den Samtumhang von den Schultern, übergab ihn einem Diener und stürzte sich ins wilde, orgienhafte Nachtleben. Der Raum war gefüllt mit Männern, die ihre Augen an halbbekleideten Frauen weideten, die auf erhöhten Sockeln posierten. Mit kichernden Nymphen, die nackt wie Gott sie schuf in einem Springbrunnen badeten, und einer rothaarigen Venus, die in einer Pappmaché-Muschel saß. Die natürlich rosa war. Mittendrin wirbelten Frauen in hauchdünnen, griechisch anmutenden Gewändern um eine Harfenspielerin – die Stimmung war faszinierend. Fast traumartig.

Mary blieb stehen. Neben ihr klappte Cecelia MacDonald, ihre Partnerin für diesen Abend, ihren Fächer auf.

„Na, was sagst du?“

Mary versuchte sie mit einem unbekümmerten „Nicht viel, fürchte ich“ abzuspeisen.

Cecelia schnaubte leise.

„Das glaube ich dir nicht.“

Cecelia tat recht daran, an ihr zu zweifeln, aber Mary hatte nicht vor, ihr Herz auszuschütten. Sie strich das weiße Seidenkleid, das sie trug, glatt, ihr bestes, wenn auch eine seltsame Wahl angesichts der Umgebung. Zarte grüne Ranken und Frühlingsblumen waren kunstvoll auf den Stoff gestickt worden. Es war ein Kleid, das eher zu einem Mittagessen als zu einer nächtlichen Ausschweifung gepasst hätte, wenn man einmal von den zwei rosa Halbmonden absah, die auf dem Mieder prangten.

„Wenn du es unbedingt wissen musst, ich habe bemerkt, dass der Organisator des heutigen Abends die Mythologien vermischt hat. Meiner Meinung nach ein bedauerlicher Fehler.“

„Wie meinst du das?“, fragte Cecelia.

„Nymphen sind hauptsächlich griechisch, und Venus ist eindeutig römisch. Man hat quasi zwei Welten, seien sie sich auch noch so ähnlich, zusammengeworfen, und das finde ich schade.“

Haselnussbraune Augen funkelten hinter einer grünen Seidenmaske. „Du bist zum ersten Mal in einem Bordell, und das ist es, worüber du nachdenkst?“

Ja, so war es, Marys Verstand hörte nie auf zu arbeiten. Allerdings war sie auch absolut fasziniert von ihrer Umgebung, die eine nahezu sinnliche Wirkung auf sie hatte. Von den prachtvollen hohen Decken bis hin zu den vergoldeten Spiegeln – es war wie im Märchen. Sie konnte nicht anders, als sich mit großen Augen umzusehen.

Sie befeuchtete sich die Lippen. „Mein zweiter Gedanke war, wie haben sie einen Springbrunnen in einem Ballsaal zum Laufen gebracht?“

Cecelia kicherte. „Die Männer sind wohl kaum hier, weil sie sich für technische Details interessieren.“

„Und wir sind auch nicht hier, um über meine Eindrücke von Madame Bedwells Etablissement zu sprechen.“

Es handelte sich um das Maison Bedwell, ein Luxusbordell am Soho Square, dem früheren King’s Square. Das Haus war ein eleganter, ansehnlicher Backsteinbau, der von Sir Christopher Wren entworfen worden war. Irgendwo unter dem palastartigen Dach traf sich eine Geheimgesellschaft. Eine Gruppe, die so geheim war, dass deren Mitglieder Namen wie Lady Pink und Lord Blue annahmen, um ihre Identität zu verbergen, sogar voreinander. Aber nicht alle von ihnen waren Jakobiten, wie Mary und Cecelia durch einen kürzlichen Fund erfahren hatten – ein Buch, das ihnen zufällig in die Hände gefallen und dessen Inhalt verschlüsselt gewesen war. Eines der Mitglieder der Gesellschaft besaß vermutlich den letzten Teil des verlorenen Schatzes von Arkaig. Goldene Livres, eine Unterstützung, die die Franzosen vor sieben Jahren an Bonnie Prince Charlie und seine Rebellen geschickt hatten.

Ein Schatz, der verschwunden war.

Allein aus diesem Grund fand sich Mary in dieser Lasterhöhle wieder. Die Highlander wollten ihr Geld zurück.

Sie und Cecelia gehörten einem schottischen Bündnis an, das geschworen hatte, es zu finden. Vier lange Jahre hatten sie nach dem Schatz gejagt. Im vergangenen Sommer hatten sie der Countess of Denton bereits einen Teil des Schatzes abgenommen. Das Bündnis war hungrig nach mehr. Um ihre Identität zu schützen, trug Mary eine Maske, obwohl das mehr eine Vorsichtsmaßnahme als eine Notwendigkeit war. Als Inhaberin von „Fletcher’s House of Corsets and Stays“ schwamm sie nicht in denselben gesellschaftlichen Gewässern wie die anwesenden Männer. Sie verkaufte ihre Waren an deren Haushälterinnen und Gouvernanten, nicht an deren Ehefrauen und Töchter.

Aber heute Abend war sie ein Hai in Seide. Eine Jägerin.

Eine Berührung an ihrem Ellbogen, und Cecelia sagte: „Komm mit mir.“

Sie kehrten in die Halle zurück, wo aufgeblasene Wichtigtuer Münzen in die weiß behandschuhte Hand des Lakaien warfen, der ihnen die schwarz lackierte Eingangstür öffnete.

Trotz des Lärms senkte Cecelia die Stimme. „Ich werde mich oben mal ein wenig umsehen.“

„Wo Madame Bedwells Nymphen ihr Handwerk ausüben …“, entgegnete Mary grinsend.

Cecelia ignorierte die Bemerkung und wies mit dem Kinn auf einen breiten Gang, der von der Halle abging.

„In der Zwischenzeit wirst du das Spielzimmer in Augenschein nehmen. Eine Stunde sollte ausreichen, danach treffen wir uns hier wieder.“

Mary öffnete ihren Fächer mit einer trägen Handbewegung. Heute Abend war ihr erster Streifzug durch das Bordell, und sie waren nur aus einem Grund hier – um nach Hinweisen zu suchen. Am Ende des Ganges standen die Doppeltüren weit offen. Der süße, dunkle Duft von Tabak und tiefes männliches Lachen wurden zu ihnen herübergetragen. Dort drüben befand sich eine Bastion der Männlichkeit.

„Warum das Spielzimmer?“, fragte sie beiläufig. „Ich spiele nicht.“

„Und du hast auch keinen Sex.“

Marys Wangen verfärbten sich rot. „Ich bin nicht unschuldig.“

Cecelia bedachte sie mit einem abschätzenden Blick. „Wann hast du das letzte Mal einen Mann geküsst?“

Mary schüttelte den Kopf. „Das ist irrelevant.“ Fünf Jahre, flüsterte eine innere Stimme ihr zu. Fünf lange Jahre.

Mit dem Fächer in der einen Hand band Cecelia sich nun ihre Maske neu. „Du wärst ganz schön überfordert, wenn du nach oben gingest, das wissen wir beide.“

Mary ließ den Blick Richtung Spielzimmer wandern. Cecelia hatte nicht ganz unrecht. Jede Faser in ihrem Körper schien zu kribbeln; sie fühlte sich so lebendig wie lange nicht mehr, nur weil sie in einem Bordell war. Und ihr war vor Aufregung fürchterlich heiß.

„Der heutige Abend dient nur der Beobachtung“, sagte Cecelia. „Achte auf alles, was auf jakobitische Umtriebe hindeuten könnte.“

„Das ist alles? Das klingt nicht sehr schwierig.“

„Das sollte es auch nicht sein. Man muss nur lächeln, freundlich sein und zuhören – wie man es eben von uns Frauen in der Gesellschaft erwartet. Ich nenne es die Kunst des stillen Beobachtens.“

„Auf diese Weise hast du bislang deine Informationen gesammelt?“

Cecelia machte mit einer Hand eine wegwerfende Geste. „Männer wollen eine schöne Frau immer kennenlernen, was bedeutet, dass sie unbedingt mit dir werden reden wollen.“

Mary presste die Lippen zusammen. Schönheit war Cecelias Waffe. Für Mary war sie ein Ärgernis und das Thema stets ein Streitpunkt. Oft ging es auch um die Macht der Frauen, insbesondere darum, dass Mary ihre Macht nutzen sollte – etwas, das ihr zutiefst widerstrebte.

„Obendrein habe ich viele Freunde“, sagte Cecelia und lächelte geheimnisvoll.

„Du meinst bezahlte Spione.“

„In der Tat, sie werden bezahlt. Aber vergiss nie: Schönheit ist so wertvoll wie jede Münze. Nur du entscheidest, wie du sie ausgibst.“

Daraufhin schnaubte Mary. Gelassen steckte Cecelia sich eine Nadel ins Haar und lächelt so ungerührt, als verstünde sie die Ängste ihrer Freundin, wäre ihr aber im zarten Alter von fünfundzwanzig Jahren schon meilenweit voraus.

„Pass auf dich auf, Mary.“

„Immer.“

Mit einem kurzen Blick verabschiedeten sie sich voneinander.

Mary verstaute ihren Fächer in ihrem Retikül, ein harmloses Accessoire, während sich eine verräterische Münze tief in Cecelias Tasche verbarg. Das Vorzeigen der Münze garantierte den Zutritt zu der Geheimgesellschaft, die sich im Maison Bedwell versammelte; wann und wo sie sich im Bordell traf, war das Geheimnis. Cecelia würde es hoffentlich heute Abend erfahren.

Mary sah zu, wie ihre Gefährtin die große Treppe hinaufstieg, elegant und ohne Eile, wobei sie den Saum ihres grünen Seidenkleides hinter sich her schleifte. Huren mit knappen Röcken und Kleidern aus fast durchsichtigem Stoff erklommen die Treppe ebenfalls, mit liebeshungrigen Männern im Schlepptau.

In Madame Bedwells Etablissements musste es eine Fülle von Geheimnissen geben. Lächeln, freundlich sein und zuhören, und sie würde sie alle aufdecken. War es wirklich so einfach, Menschen – Männer – zu täuschen?

Aus dem Spielzimmer drang Gelächter, und es wurde laut applaudiert. Zwei Lakaien in rosafarbener Livree hielten mit voll beladenen Tabletts darauf zu. Einer hatte rotes Haar, breite Schultern und ein reizendes Lächeln. Er zwinkerte ihr zu.

Ein leises Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Sie lächelte zurück. War sie auf den Geschmack des Abenteuers gekommen?

Unwillkürlich strich sie sich übers Mieder, hinter dem sich ihre vollen Brüste verbargen. Vielleicht hatte sie das. Die Türen zum Spielsalon standen weit offen. Nur eine bestimmte Art von Frau würde durch diese Türen gehen.

Für eine Nacht würde sie diese Frau sein.

2. KAPITEL

Aufrecht schritt sie in Madame Bedwells Spielzimmer. Eine hübsche Blondine in schwarzer Seide saß an einem Tisch, der mit grünem Stoff bezogen war. Es wurde Faro gespielt, so wie es aussah. Die Blondine mischte die Karten, während sich die Männer mit Händen voller Geld um ihren Tisch drängten. Hinter ihr hatte sich ein riesiger, grobschlächtiger Kerl positioniert, der alles im Blick behielt. Kein Mann, dem man freiwillig in die Quere kam.

Mary schlenderte leicht enttäuscht an den verschiedenen Spieltischen vorbei. Wenn Madame Bedwell im Ballsaal keine Kosten scheute, war sie hier knauserig. Der Teppich war dünn, die getäfelten Wände waren zerkratzt und die Seidenkorsette der Huren zerschlissen. Keine dieser Frauen schenkte ihr einen zweiten Blick. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Männer zu umgarnen. Kapitäne zur See, stämmige Bankiers, Männer von Format. Keiner, der nach Geheimbund aussah.

Sie rümpfte die Nase. Die Kunst des stillen Beobachtens war hier nicht so reizvoll.

Seufzend verlangsamte sie ihre Schritte und zwang sich, den Raum in sich aufzunehmen.

Tische und Stühle standen dicht an dicht. Das Gerede war vulgär. Würfelgeklapper, grölende Männer, kichernde Frauen. Gemälde von zweifelhafter Qualität hingen an den Wänden. Uninspirierte Darstellungen von nackten Frauen. Marys Blick glitt von einem Bild zum nächsten. Alle sahen irgendwie gleich aus – viel Haut und leere Augen –, bis auf eines am Ende des Raumes.

Eine Gänsehaut überzog ihre Haut. Eine spärlich bekleidete Frau rekelte sich auf einem Stuhl, eine rote Blume in der ausgestreckten Hand. Mary sah die Blume an. War es eine Tartan-Rosette? Es war schwer zu sagen, da der Qualm unzähliger Zigarren den Raum mit der niedrigen Decke vernebelte. Männer und ihre Stumpen.

Aber die Frau auf dem Gemälde …

Sie trat darauf zu, bis ihre Nase nur noch wenige Zentimeter davon entfernt war. Es war eine Schärpe aus schwarz-gelbem Karomuster, auf der die Rosette saß. Man musste schon sehr nah herangehen, um den kleinen Schlüssel unter der Rosette zu erkennen. Mary untersuchte den schlichten Holzrahmen des Gemäldes.

Auf dem zerkratzten Messingschild, das an das Holz genagelt war, stand „Zum Gedenken an Betty Burke“.

Ein Kribbeln breitete sich in ihr aus. Betty Burke war die Identität, die Charles Stuart angenommen hatte, als er sich als irisches Dienstmädchen verkleidete und aus Schottland floh. Man hätte sogar sagen können, dass die Züge des Dienstmädchens auffallend männlich waren, sogar denen des Prinzen ähnlich.

Da hatte jemand Sinn für Humor bewiesen.

Und Mary hatte ihren ersten Anhaltspunkt gefunden.

Mit triumphierend erhobenem Kinn machte sie einen halben Schritt zurück. Wenigstens trug die Frau eine Chemise und ein Korsett, was mehr war als die anderen Frauen auf den Bildern am Leibe hatten.

Noch ein Schritt und …

„Solltest du nicht weniger anhaben?“, rief einer der Männer lallend.

Sie wandte sich um. Ein glatzköpfiger Matrose starrte sie über einen der Spieltische hinweg an.

Ein weißbärtiger Kapitän zur See drehte sich in seinem Stuhl um. „Natürlich nicht“, sagte er. „Dann würde einem doch das Vergnügen entgehen, sie zu entkleiden.“

Die Männer grölten vor Lachen. Mary wollte sich an dem Tisch vorbeizwängen.

„Ich scheine Ihr Spiel gestört zu haben. Bitte verzeihen Sie mir, Sir.“

Der Bärtige packte ihr Handgelenk mit einer Hand. „Du bist aber eine ganz Artige, meine Kleine.“ Er klopfte sich auf den Schenkel. „Komm zu mir.“

„Auf Ihren Schoß?“, fragte Mary erschrocken.

„Der beste Platz im Haus.“

Vor Entsetzen hätte sie sich fast verschluckt, aber die guten Manieren verbaten es ihr, darauf hinzuweisen, dass er keinen Schoß hatte. Sein Bauch wölbte sich beinahe bis zu seinen Knien.

„Danke, aber ich bin nicht an einem Kartenspiel interessiert.“

Eine grinsende Dirne schlenderte vorbei. „Du bist wohl ins falsche Zimmer gestolpert, was?“

Ihre Wertschätzung für diese Frauen stieg um eine Stufe. Wie schafften sie das nur Nacht für Nacht? Die Frauen in Madame Bedwells Diensten trällerten, flirteten und lachten ohne Unterlass, und sie, Mary war zu gereizt, um zu lächeln, freundlich zu sein und zuzuhören. Was ja auch eine nutzlose Strategie war, wenn ein betrunkener Mann ihr Handgelenk mit seiner verschwitzten Pranke festhielt.

Sie versuchte, sich loszureißen. „Lassen Sie mich los, Sir.“

Der Kapitän lachte und zog sie mit einem Ruck näher an sich heran, als würden sie ein Spiel spielen. Langsam wurde sie richtig wütend.

„Hören Sie schlecht?“ Sie zerrte fester, eine Strähne löste sich aus ihrer Frisur und fiel ihr übers Auge. „Lassen. Sie. Mich. Gehen.“

Der Kapitän drückte ihr Handgelenk fest, aber ihr Stolz verbot es ihr aufzuschreien, als er seinen massiven Körper vom Stuhl hievte und aufstand.

„Du hast eine scharfe Zunge.“

„Sie haben ja gar keine Ahnung, wovon Sie reden.“

Sie standen so dicht voreinander, dass sie seine buschigen weißen Nasenhaare sehen konnte. Schweiß rann ihm von den Schläfen, und seine Augen hatte er verärgert zusammengekniffen. Was für ein abscheulicher Trottel. Sie straffte die Schultern und bedachte ihn mit hochmütigem Blick.

„Dies ist mein erster Besuch in diesem Etablissement, und ich bin bereits zu einem Schluss gekommen.“

Der Kapitän beugte sich bedrohlich vor. „Was könnte das sein?“

Sie ließ sich nicht beirren und beugte sich ebenfalls vor. „Dass hier die besten Schauspielerinnen Londons arbeiten. Das müssen sie auch sein, wenn sie mit jemandem wie Ihnen ins Bett gehen.“

Eine Hure, die an einer Wand lehnte, schlug sich eine Hand vor den Mund. Eine andere wandte sich kichernd ab. Zum Glück eilten die beiden ihr nicht zu Hilfe. Mary musste sich diesem Kampf allein stellen – das Missgeschick einer abenteuerlustigen Jungfer.

„Glaubst du, du bist zu gut für einen wie mich?“, fragte der Kapitän grollend.

„Definitiv bin ich zu gut für einen wie Sie.“

Sein Gesicht verfärbte sich vor Zorn dunkelrot, er schubste sie, und sie taumelte rückwärts gegen eine Wand.

„Lass sie los, Culpepper“, sagte eine tiefe, männliche Stimme.

Die Erkenntnis schoss ihr bis in die Zehenspitzen. Keine Wand, sondern ein Mann. Fest, groß und solide wie ein Fels.

Eine besitzergreifende Hand glitt um ihre Taille. Sie schluckte schwer, als sie den muskulösen Körper ihres Retters hinter sich spürte. Sie nahm ihn so deutlich wahr, als trennten sie nicht mehrere Lagen Stoff und ein Korsett aus Fischbein-Stäben.

Der Kapitän blickte übellaunig drein. „Ich habe sie zuerst gesehen.“

„Das spielt keine Rolle. Sie ist hier, um mich zu treffen.“ Der Mann klang überaus selbstbewusst. „Die ganze Nacht, wenn du es genau wissen willst, Culpepper.“

Die ganze Nacht? Was er damit meinte, war eindeutig, und wurde noch dadurch unterstrichen, dass er begann, ihr mit warmen Fingern über den Hals zu streicheln.

Ein Duft nach Zedernholz stieg ihr in die Nase, und ihr Atem beschleunigte sich, so gut roch der Mann hinter ihr.

Aber der Kapitän namens Culpepper hatte ihr Handgelenk immer noch fest im Griff. An den Nachbartischen ließen die Männer ihre Karten sinken, und der Blick des Aufsehers fiel auf das Geschehen. Seine Haltung änderte sich, als würde er gleich den Faro-Tisch verlassen, an dem er gerade stand, um nachzusehen, was los war. Sie runzelte die Stirn, ein wenig verzweifelt. An ihrem ersten Abend hier rausgeschmissen zu werden, wäre höchst unrühmlich – sie, die noch nie irgendwo rausgeschmissen worden war.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gern gehen, ohne weiteres Aufsehen zu erregen“, sagte sie laut in die Runde. An Culpepper gerichtet fügte sie hastig hinzu: „Es gibt hier viele Frauen. Ich bin mir sicher, dass eine von ihnen gern das Vergnügen Ihrer Gesellschaft genießen wird.“

„So wie ich mich an Ihrer erfreuen werde“, sagte der Mann hinter ihr.

Er spielte mit dem goldenen Medaillon, das an einem schwarzen Band hing, welches sie um den Hals trug. Jede seiner federleichten Berührungen löste ein Kribbeln in Mary aus. Das Pochen ihres Pulses dröhnte ihr in den Ohren. Culpepper hätte etwas sagen können, aber der Mann hinter ihr war zu präsent, als dass sie es wahrgenommen hätte.

Wer war er?

Mit seiner Hand auf ihrem Bauch hielt er sie gerade so fest, dass es ihr nicht unangenehm war, er ihr aber gleichzeitig zeigte, dass er das Sagen hatte. Sie umschloss seine Hand mit ihrer eigenen und spürte große, warme, raue Finger. Ein Mann, der sprach wie ein Gentleman. Eindeutig gebildet.

Lange Finger verschränkten sich mit ihren.

„Sind Sie zufrieden?“, flüsterte er an ihrem Ohr. Sie fühlte sich seltsam verbunden mit diesem Fremden.

Es war das erste Mal, dass ein Mann ihre Hand hielt, wenn es auch nicht romantischer Natur war. Es war mehr ein Griff als ein Händchenhalten, entschied sie, doch genug, um sie durcheinanderzubringen.

Drei Tische weiter meldete sich ein schwarzhaariger Herr zu Wort, der mit seinen Karten herumwedelte.

„Lass sie gehen, Culpepper. Dies ist kein Bordell in Wapping Wall. Frauen mit Masken zahlen für ihren Eintritt, und für Frauen ohne Masken zahlen wir Eintritt.“ Er bedachte den Kapitän mit einem ernsten Blick. „Halt dich an die Regeln oder du bist weg.“

Culpepper grummelte vor sich hin und ließ sie los. „Mein Fehler, Mylord. Ich habe es nicht böse gemeint.“

Sie rieb sich das schmerzende Handgelenk; es lag ihr auf der Zunge, darauf hinzuweisen, dass sie die Leidtragende war. Die Vernunft zwang sie aber, die Worte herunterzuschlucken. Männer. Sie hatten das Feingefühl und die Finesse von Holzklötzen. Eines war sicher: Der schwarzhaarige Herr hielt an seinem Tisch Hof. Ebenso bemerkenswert war eine große blonde Frau in Lederhosen und hohen Stiefeln, die danebenstand, als würde sie Seine Lordschaft bewachen.

Madame Bedwells Bordell war ein außergewöhnliches Etablissement. Hier versammelten sich die seltsamsten Gestalten Londons.

Ein Mann mit wässrigen Augen am Tisch des Kapitäns räusperte sich laut und wies auf seine Karten.

„Captain, sind Sie dabei? Oder nicht?“

Culpepper blickte säuerlich zu Mary und dem Mann hinter ihr. „Ich bin dabei“, brummte er und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen.

Erleichtert sank sie gegen ihren bulligen Retter. Wieder kribbelte es in ihrem Bauch. Das Getöse ging weiter.

Männer redeten, Frauen lachten, Karten wurden gemischt. Sie versuchte, sich umzudrehen, aber sein starker Arm hielt sie an Ort und Stelle.

„Wir sind noch nicht fertig“, murmelte er an ihrem Ohr.

„Nein?“

„Culpepper hat zu viel getrunken“, sagte er. „Und er nimmt Beleidigungen nicht gut auf.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann mich gut selbst verteidigen.“

Sein leises Lachen vibrierte in ihrem Rücken. „Wie man gesehen hat.“

Sie pustete sich die Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. „Sie, soviel ich weiß, sind auch gut darin, solche Leute in Schach zu halten.“

„In der Tat.“

Sie legte den Kopf schief und nahm wieder einen Hauch von Zedernholz wahr. „Und jetzt bieten Sie mir Ihre Dienste an, um mich in Sicherheit zu bringen.“

„Dies allerdings nicht umsonst.“

Die Wärme, die von ihm ausging, legte sich um sie wie eine kuschelige Decke. Sie wollte nicht gehen und war sogar versucht, sich an seinen verlockenden Körper zu pressen, um ihm noch näher zu sein.

„Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss“, sagte sie. „Aber im Gegensatz zu den anderen maskierten Frauen hier bin ich weder adlig noch wohlhabend.“

„Das macht Ihre Anwesenheit bei Madame Bedwell umso interessanter, Miss Fletcher.“

Sie verspannte sich augenblicklich. Woher kannte er ihren Namen? Was ging hier vor? „Da sind Sie im Vorteil, Sir, denn im Gegensatz zu Ihnen kenne ich Ihren Namen nicht.“

Sie ließ die freie Hand hinter sich gleiten und packte den behosten Oberschenkel des Gentlemans. Er war massiv und unnachgiebig.

„Bewegen Sie Ihre Hand ein paar Zentimeter höher“, sagte er leise. „Und Sie werden einen aufschlussreicheren Teil meiner Anatomie finden.“

Hitze stieg in ihr auf. Sie atmete mehr von seinem Zedernholz-Duft ein.

Er roch wie ein Fehler, den sie teuer bezahlen würde.

„Ziehen Sie Ihre Krallen ein“, sagte er. „Dann können wir unser Gespräch an einem freundlicheren Ort fortsetzen.“

„Warum sollte ich? Wenn ich Sie doch einfach so stehen lassen könnte?“

Sein Atem kitzelte sie am Hals, als er flüsterte: „Sind Sie nicht das kleinste bisschen neugierig?“

Um Himmels willen, sie war es. Allein seine Stimme jagte ihr eine süße Gänsehaut über den Rücken.

„Auf einen Mann, der mich erpressen will?“, gab sie verächtlich zurück.

„Ein hartes Wort, Erpressung. Sie haben mir in der Vergangenheit vertraut, Miss Fletcher. Es ist in Ihrem Interesse, mir wieder zu vertrauen.“

Im Spielsalon brach schallendes Gelächter aus, was es ihr schwer machte, sich zu konzentrieren. Oder lag es nur an dem Gentleman hinter ihr, dass sie nicht klar denken konnte? Langsam ließ er seinen muskulösen Arm sinken, und plötzlich war sie frei.

Sie berührte die Stelle, an der seine Hand gelegen hatte, und drehte sich fassungslos um.

Glänzende blau-grüne Augen begegneten ihrem Blick. Diese Augen wirkten wie geschliffene Glasstücke. Sie gehörten zu Mr. Thomas West, dem Besitzer eines Walfangunternehmens. Er war ein großer Mann mit einer Narbe auf der Wange und einer Aura von Gefahr, die von ihm ausging. Goldene Strähnen schimmerten in seinem braunen, im Nacken zusammengebunden Haar. Er war rasiert und sein Halstuch gestärkt, ein Zeichen für seinen Anstand. Aber sie ließ sich nicht täuschen. Den schroffen Seemann umwehte ein Hauch von salziger Luft, wohin er auch ging.

Er hätte genauso gut ein Pirat sein können.

„Mr. West.“ Kühl sah sie ihn an, während sie die Arme um sich schlang.

„Miss Fletcher.“

Unverhohlen betrachtete er ihre Seidenmaske und ihr aufgetürmtes Haar, und es war, als würde er mit seinem Blick eine Funken sprühende Spur auf ihrer Haut hinterlassen – vor allem, als er ihn auf ihrem Dekolleté verweilen ließ. Er verzog den Mund und leckte sich über die Lippen, als gefiele ihm, was er sah.

Um ihre Fassung wiederzuerlangen, schob Mary sich energisch die Strähne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, hinters Ohr und versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu wirken.

„Ich könnte mir denken, dass Sie einige Fragen haben“, sagte sie. Er hob den Blick und sah ihr ins Gesicht.

„Ein paar.“

„Dann wird es Sie freuen, dass ich sie nicht beantworten werde. Also brauchen Sie sich gar nicht erst die Mühe zu machen, zu fragen.“

Er grinste und schüttelte den Kopf. „Keine einzige Frage?“

„Nein.“

Die Erinnerung an seine Berührung beunruhigte sie. Immerhin waren sie Geschäftspartner. Während der Herbstsaison kaufte sie bei West and Sons Shipping Fischbein für ihren Laden und Öl für ihre Lampen. Dann war sie immer adrett gekleidet. Halstuch, Mütze, Wollmantel.

Einmal hatte sie seine Werft im Howland Great Wet Dock besucht, um einen Schlüssel zu schmieden. Will MacDonald, ein Mitglied ihres Bündnisses, hatte den Kontakt hergestellt. Sie war froh, dass Mr. West ihre damalige Begegnung nicht erwähnte.

Ebenso erfreut war sie darüber, dass er sie nicht über die schädlichen Auswirkungen eines Bordellbesuchs belehrte. Der geringe Spielraum, der den adligen Frauen gewährt wurde, galt nicht für Normalsterbliche wie sie. Mit ihren fast dreißig Jahren war sie ohnehin schon zu lange auf der Welt und hatte zu viel gesehen, um sich darum zu kümmern, was man über sie dachte. Vielleicht verhielt es sich bei Mr. West genauso? Er hatte etwas Ungeschliffenes an sich. Ein Mann, der das Meer gezähmt, mit Meeresungeheuern gekämpft und überlebt hatte, um darüber Geschichten zu erzählen. Er war natürlich ein Gentleman, aber diese Narbe und sein verlockender Duft – gefährlich …

Sie holte ihren Fächer hervor, um sich kühle Luft zuzufächeln.

„Mir wäre es lieber, Sie würden einfach weggehen und vergessen, dass Sie mich gesehen haben.“

„Lügnerin“, sagte er und lächelte sanft.

Gegen ihren Willen stimmten die kleinen Fältchen, die sich in seinen Augenwinkeln gebildet hatten, sie milde.

„Geben Sie es zu, Miss Fletcher. Sie sind genauso überrascht, mich hier anzutreffen, wie ich überrascht bin, Ihnen an diesem ungewöhnlichen Ort über den Weg zu laufen.“

Sie schürzte die Lippen. „Vielleicht.“

Er schaute sie so intensiv an, dass ihr ganz warm wurde.

„In Anbetracht Ihres Aufeinandertreffens mit Culpepper ist es ratsam, dass wir bei unserer Geschichte bleiben.“ Er sah sich rasch im Raum um und senkte die Stimme. „In den frühen Morgenstunden geht es hier oft recht lebhaft zu.“

„Lebhaft“ war eine freundliche Beschreibung für einen Raum voller lärmender, betrunkener Männer. Die Kellner eilten mit schäumenden Bierkrügen herein und sorgten dafür, dass die Gäste immer genug zu trinken hatten.

„Mit unserer Geschichte meinen Sie, dass ich Ihretwegen hier bin“, sagte sie.

„Exakt.“

Sie berührte ihre Maske wie einen Talisman. Im Bordell schien es zu brodeln, es war sein eigener Kosmos. Die Atmosphäre war schwülstig-verrucht, alle gängigen Konventionen schienen außer Kraft gesetzt zu sein. Frauen schlenderten durch den Raum, mit wiegenden Hüften, aber keine war maskiert. Früher am Abend hatte ihr Plan, an Informationen über den Geheimbund zu gelangen, ihr Gespräch mit Cecelia dominiert, sodass sie über die Einzelheiten von Madame Bedwells Hausordnung kaum etwas wusste.

„Kommen oft wohlhabende Frauen hierher?“, fragte sie, vollkommen in den Bann geschlagen von dem Schauspiel, das vor ihren Augen stattfand.

„Ich weiß nicht, wie oft sie kommen, aber ja, es sind eigentlich immer welche da.“

Neugierig sah sie ihn an.

„Kommen Frauen hierher, um Sie hier zu treffen?“ Erstaunen zeigte sich in seinen blau-grünen Augen, bevor sie sich verdunkelten.

„Darauf zu antworten, wäre … taktlos.“

„Dennoch haben Sie nicht gezögert zu behaupten, ich wäre hier, weil wir eine Verabredung hätten.“

„Um Ihnen zu helfen. Und schließlich sind wir ja auch beide hier – in diesem Bordell mit seinen zahlreichen Zimmern. Sie könnten mich in eines davon eingeladen haben.“

Ein Meer von Möglichkeiten eröffnete sich ihr, eine reizvolle Metapher für das verbotene Terrain, auf dem sie und der große, vernarbte Seemann sich befanden. Beinahe begehrlich sah er sie an, und sein Blick sandte ihr wohlige Schauer über den Rücken.

Faszinierend.

Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn unter langen Wimpern hervor. „Und ich habe Sie dafür bezahlt, mich hier zu treffen?“

Sein Lachen hatte etwas Raues, Gewaltiges an sich. „Sie haben bezahlt und werden es nicht bereuen.“

Rasch fächelte sie sich frische Luft zu. Sie balancierten an einem gefährlichen Abgrund.

„Wenn eine Frau sich ein eigenes Zimmer besorgt hat, wie lädt sie dann einen Gentleman ein?“, fragte sie.

Ein offenbar von ihr verzauberter Mr. West musterte sie, was sie ganz schwindelig machte.

„Sie teilt es ihm direkt mit.“

„Ein interessantes Konzept.“ Sie zuckte mit den Schultern, scheinbar gleichgültig. „Wo ist das Geheimnis? Die Verführung?“

Sein Lächeln war das eines Piraten. Und sie war der Leckerbissen, den er wollte.

„Aufrichtigkeit ist verführerisch – wenn man sie richtig einsetzt.“

Sie dachte darüber nach. „Wollen Sie damit sagen, dass Männer es vorziehen, der Jäger zu sein? Und Frauen ihre Beute?“

„Das sind die Regeln der Natur, Miss Fletcher.“

Sie tippte ihm mit ihrem Fächer gegen die Brust und flüsterte: „Manchmal allerdings ist es überaus reizvoll, die Regeln über Bord zu werfen, Mr. West.“

Er atmete scharf ein. Sein glutvoller Blick drohte sie zu versengen. Sie strich mit ihrem Fächer leicht über die obersten Knöpfe seiner Weste.

„Ich frage mich, ob Sie tief im Inneren wünschen, Sir, dass man mit Ihnen spielt.“

Seine elegant geschwungenen Lippen zuckten. „Das ist etwas, was ich wohl mal in Betracht ziehen sollte.“

Es knisterte zwischen ihnen, sie betrachteten einander angespannt. Der überfüllte, lärmige Raum trat in den Hintergrund, so sehr war sie gefangen von der Gegenwart des Piraten vor ihr. Es verging eine kleine Ewigkeit, in der Mr. Wests Blick sie festhielt, ihr bis tief in die Seele zu blicken schien. Sie machte einen halben Schritt zurück, suchte Abstand zu diesem Mann, der etwas zutiefst Beunruhigendes in ihr auslöste.

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, lächelte höflich, und ihr Gespräch begann, sich um unverfängliche Themen zu drehen: die scheußliche Luft im Raum, die wachsende Menschenmenge und der Mangel an Sitzplätzen, wenn man nicht spielen wollte. Sie war dankbar für Mr. Wests stillschweigendes Einverständnis, ihren sinnlichen Flirt nicht fortzusetzen, doch er schien nur Augen für sie zu haben. Und das ausgerechnet in einem Bordell, in dem es jede Mengen Sirenen gab, deren einzige Aufgabe lautete, Männer anzulocken.

Als sie ihm in die Augen sah, war es fast, als würde die Zeit stehen bleiben.

Eine Kostprobe von ihm. Das ist alles, was ich will.

Ihr Körper war ein Verräter! Sie musste sich zusammenreißen!

Im Augenwinkel nahm sie das Gemälde wahr, das sie vorhin so aufgeregt studiert hatte. Das künstlerische Abbild von Betty Burke. Sie ließ die Schultern sinken: Die Pflicht rief. Das Bündnis, ihr Clan, das Gold – die Gründe, aus denen sie sich überhaupt ins Maison Bedwell gewagt hatte.

Ihr Blick fiel auf die gemalte Rosette. Sie hatte genug gesehen.

Sie trat näher an Mr. West heran, passte dabei auf, ihn nicht zu berühren. „Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, dass Sie mich von hier fortbegleiten.“

„Einverstanden.“

Er legte ihr eine Hand an den Ellbogen, und sie nahm alles an ihm bewusst in sich auf. Seine Berührung, sein entschlossenes Auftreten, den Zedernholz-Duft, der ihn umhüllte. Sie lächelte insgeheim, während sie nebeneinander hergingen. Wie primitiv, dass sie einen Mann roch. Sie kannte seine Augen, seinen Mund, den Verlauf seiner Narbe, aber sie konnte nicht sagen, was Mr. West trug, abgesehen von seinem Halstuch und der Hose aus feinem Tuch – ziemlich merkwürdig für eine Frau, die ihre Münzen mit Nadel und Faden verdiente.

Sie wollte ihr Versäumnis gerade mit einem Seitenblick korrigieren, als sich eine Stimme vernehmen ließ.

„Hätte nicht gedacht, dass Sie sie so eisig mögen. Ich würde fast meinen, das Wort ‚arktisch‘ träfe es noch besser.“

Der dunkelhaarige Lord hatte gesprochen, während er die Karten in seiner Hand betrachtete.

„Lord Ranleigh.“ Mr. West drehte sich um, und Mary mit ihm. „Sie wissen so gut wie ich, dass eine Frau im Bett umso heißer brennt, je kühler sie sich gibt … Wenn man weiß, was man zu tun hat, versteht sich.“

Selbstgefälliges Männerlachen schallte über die Tische. Mary wollte etwas sagen, aber verkniff es sich in letzter Sekunde.

Gaben Männer ihre Manieren an der Garderobe ab, wenn sie ein Bordell betraten?

Seine Lordschaft musterte sie interessiert.

Sie starrte zurück.

Mit seiner pfeilgeraden Nase und dem akkurat frisierten Haar, das wie polierter Stahl glänzte, strahlte er Weltläufigkeit und Selbstbewusstsein aus. Er trug ein edles Jackett aus cremefarbener, zart gemusterter Seide, das auf einem Zugwebstuhl hergestellt worden sein musste. Das teure Gewebe war gewiss eine Kreation aus Mailand oder Wien, wie Mary vermutete. Er mochte reich und arrogant sein, aber der Mann war ihr in gewisser Weise zu Hilfe gekommen.

Ein Schauer überlief sie, als sein Blick den ihren traf.

Elegant und tödlich kam ihr in den Sinn. Kein Mann, mit dem man sich anlegen sollte.

Lord Ranleighs vieldeutiger Blick vermittelte eine Botschaft, deren Bedeutung sie nicht zu erfassen vermochte. Sie war zu unerfahren für diese spezielle Art der Kommunikation. Oder ihre Sinne waren überreizt.

Seine Lordschaft wedelte mit der Hand, als wollte er sie wegschicken. „Genießen Sie den Abend.“

Sie war froh, den Raum endlich verlassen zu können, doch als sie durch die Tür trat, lief ihr abermals ein Schauer über den Rücken. Sie spähte über die Schulter. Lord Ranleigh studierte seine Karten, während die Blondine in den hohen Stiefeln sich tief über ihn beugte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei hielt sie ihren rasiermesserscharfen Blick fest auf Mary gerichtet.

Definitiv keine Frau, der man im Dunkeln begegnen wollte.

3. KAPITEL

Als sie die Eingangshalle erreichten, strömte gerade eine größere Gruppe Gentlemen in das Maison Bedwell, wobei ihre Mäntel und Hüte nass vom Regen waren. Sie drückten dem an der Tür Wache haltenden Diener Münzen in die Hand und warfen ihre durchnässte Kleidung in die Arme eines wartenden Lakaien. Miss Fletcher löste sich von Thomas, öffnete ihren Fächer und wandte sich ihm zu.

„Ich danke Ihnen, Mr. West. Ihre Hilfe war von unschätzbarem Wert.“

„Es war mir ein Vergnügen.“

Aber die Schottin strebte bereits auf die Neuankömmlinge zu.

War er entlassen worden? Mit verschränkten Armen wartete er darauf, was sie als Nächstes tun würde.

Sie schien jemanden zu suchen. Er würde sie noch einen Moment im Auge behalten, aber ihr später nicht folgen. Er wusste, wie stolz diese Frau war. Miss Fletcher sah zwar verführerisch wie ein Stück Konfekt in weißer Seide aus, aber ihre Schönheit hatte einen gewissen Biss. In London gab es nicht mehr viele Walfanggesellschaften, und die Korsettmacherin hatte den Ruf, kühl und eigensinnig zu sein. Das musste sie auch. Das Geschäft mit Korsetts und dem entsprechenden Zubehör war größtenteils eine Männerdomäne.

Das ließ ihn innehalten – Miss Fletcher könnte mit einem Mann hergekommen sein.

Er lehnte sich mit einer Schulter an die Wand.

Konkurrenz war unvermeidlich.

Er würde abwarten und sehen, wer es war. Die Männer in der Eingangshalle starrten sie an, als wäre sie ein Naturwunder. Was sie in gewisser Weise auch war.

„Narren“, sagte er leise.

Sie übersahen den interessanteren Teil von ihr. Die Schwielen und Narben an ihren Fingern. Ihre kurzen Nägel und geröteten Fingerknöchel. Diese Männer nahmen nur ihre äußere Hülle wahr. Beinahe hatte er Mitleid mit ihnen. Miss Fletcher war nicht von ihrer Sorte. Ihr Gang war zu forsch, ihr Blick zu direkt und ihr Wesen zu konzentriert. Ihre Art zu leben, würde sie zu Tränen rühren – und abstoßen.

Da stellte sich die Frage: Warum war sie hier?

Ihm wäre fast die Kinnlade heruntergeklappt, als er sie am anderen Ende des Spielzimmers erblickt hatte. Er hatte eine vielversprechende Partie Hazard aufgegeben, um herauszufinden, was ausgerechnet sie in diesem Etablissement verloren hatte. Ihr anschließendes Gespräch war allerdings nicht besonders erhellend gewesen.

Miss Fletcher war ein Rätsel. Ihre Haut schimmerte in dem Licht, das die Kronleuchter verströmten, wie Perlmutt. Ihre Lippen waren voll und elegant geschwungen. Dass sie ihre üppigen Rundungen in dem Kleid, das sie trug, so wenig dezent zur Schau stellte, hatte ihn verblüfft. Überaus freizügig, wenn man bedachte, dass die Korsettmacherin sonst eher züchtig und rechtschaffen auftrat.

Einer der Neuankömmlinge sprach sie an und deutete auf die Eingangstür. Sie schenkte ihm ein Lächeln, und der junge Mann schmolz praktisch auf der Stelle dahin. Doch Miss Fletcher war keine geübte Verführerin. Sie schien sich nicht der Wirkung, die sie auf die Männer hatte, bewusst zu sein. Nachdem sich einige der Männer eine Abfuhr von ihr eingehandelt hatten, zog die Männerschar weiter in den Ballsaal. Sie schlossen die großen Türen hinter sich, und plötzlich herrschten ein wenig Ruhe und Frieden.

Miss Fletcher stand in der Mitte der Halle und betrachtete deren Decke.

„Ziemlich trügerisch“, murmelte sie.

Er blickte ebenfalls nach oben. Die hohe Decke war mit kunstvollen Fresken versehen. „Was ist trügerisch?“

Überrascht richtete sie den Blick auf ihn. „Sie sind ja immer noch hier“, sagte sie.

„Wo sollte ich sonst sein? Ich habe doch gesagt, ich begleite Sie sicher hinaus.“

Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Was für ein ehrenwerter Mann Sie sind, Mr. West, aber das ist nicht nötig.“ Sie rührte sich nicht von der Stelle. Er blieb ebenfalls, wo er war. So hatte sie also beschlossen, mit der Situation umzugehen. Trotz ihrer außergewöhnlichen Begegnung heute Nacht an diesem außergewöhnlichen Ort wollte Miss Fletcher so tun, als ob dieses Zwischenspiel nie stattgefunden hätte und sie nichts anderes als ihre geschäftliche Beziehung miteinander verband.

Das gefiel ihm nicht.

„Was ist mit den Fresken?“, fragte er.

Sie machte eine vage Geste, die die ganze gewölbte Decke einschloss.

„Sehen Sie es nicht? Nackte Frauen rekeln sich im Gras. Nackte Frauen, die auf Schaukeln sitzen und dabei lachen. Und nackte Frauen, die auf …“ Sie schnaubte verächtlich und verstummte, als ein Diener ihr ihren Umhang brachte.

„Bitte“, sagte Thomas, als sie wieder allein waren. „Machen Sie weiter.“

Die Schottin warf sich den schwarzen Samt über die Schultern. „Ich muss wirklich aufbrechen. Meine Freundin wartet auf mich.“

Eine Freundin?

„Aber Sie sind noch nicht fertig.“ Er deutete auf die Fresken. „Wir sind in einem Bordell, Miss Fletcher. Unbekleidete Frauen sind Teil des Geschäfts.“

Sie nickte langsam, während sie ihren Umhang schloss. „In der Tat, wir sind in einem Bordell, aber diese Fantasiefrauen sind viel zu fröhlich.“

„Warum sollten sie nicht fröhlich sein?“

„Ihre Fröhlichkeit ist eine Täuschung.“

„Dann ist es nicht ihre Nacktheit, die Sie stört“, stellte er fest. „Es ist ihr Benehmen.“

Miss Fletcher kam stirnrunzelnd auf ihn zu. Er grinste, erfreut darüber, dass er sie offenbar aus der Reserve gelockt hatte.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte er.

„Nicht … ganz.“

Er legte den Kopf schief. „Was dann?“

Miss Fletcher musterte ihn abschätzend. „Es ist kein angemessenes Gesprächsthema.“

„Was ist mit unserem Gespräch im Spielzimmer?“, konterte er herausfordernd. „War das in Ihren Augen etwa angemessen?“

Sie belohnte ihn mit einem freundlichen Lächeln. „Mr. West, ich versuche nur, feinfühlig zu sein und Rücksicht zu nehmen.“

„Sie brauchen auf mich keine Rücksicht zu nehmen.“

„Ah ja, stimmt“, sagte sie und kam noch näher. „Sie haben eine Vorliebe für Offenheit.“

„So wie die meisten Männer.“

Die Schottin fixierte ihn prüfend.

„Dann werden Sie meine taktlose Feststellung zu schätzen wissen, dass Sie, wie die meisten Männer, offenbar glauben, die Sonne gehe mit Ihnen auf und unter.“

Er lachte. Was für ein vorwitziges Stück! Mit ihrem schwarzen Samtumhang, der ihre üppigen Kurven umhüllte, gab sie ein bezauberndes Bild ab, aber ihr hübscher Mund spuckte noch mehr Frechheiten aus.

„Und wie die meisten Männer glauben Sie, dass Frauen sich nach Ihrer Männlichkeit verzehren. Die Wahrheit ist, dass die meisten Frauen das nicht tun.“

Er versuchte, ungerührt zu wirken. „Es hat sich noch nie eine Frau beschwert.“

Miss Fletcher steckte einen Finger in das Knopfloch seines Mantels, was ein körperliches Erdbeben in ihm auslöste.

„Oh, ich bin sicher, die Sterne haben geleuchtet, und der Mond hat heller als sonst geschienen“, sagte sie leise.

Trotz aller Bemühungen, es zu unterdrücken, musste er grinsen. „Ich habe nie behauptet, dass ich zu Poesie inspiriere.“

Ihr Lächeln sagte ihm, dass er mit einer Pistole zu einer Kanonenschlacht gekommen war.

„Ich habe versucht, Sie zu warnen.“

Sanft zog sie an seinem Mantel, den er bei seiner Ankunft im Maison Bedwell nicht abgelegt hatte, und es schoss ihm direkt in die Lenden.

Verdammter Mist – diese Frau würde einen Mönch in die Knie zwingen.

Er fühlte sich leicht beleidigt, war höchst neugierig und unfassbar erregt. Eine seltsame Mischung. Die Schottin nahm ihn Stück für Stück auseinander, doch je mehr sie redete, desto faszinierter war er von ihr und ihrem vornehmen Edinburgher Akzent. Miss Fletcher besaß die Gabe, so zu sprechen, als hätte jedes ihrer Worte besonderen Gehalt. Sie hatte eine Stimme, die ihn in kalten Winternächten wärmen würde.

Das war das erste Mal, dass eine Frauenstimme Lust in ihm weckte. Was würde als Nächstes kommen? Dass er ihre Knie anhimmelte?

„Sie klingen selbstbewusst“, sagte er ein wenig mürrisch.

Miss Fletcher zuckte leicht mit den Schultern und ließ seinen Mantel los. „Das bin ich auch. Als einzige weibliche Korsettmacherin in London vertrauen sich mir die Frauen an. Viele Frauen, und ich habe festgestellt, dass sich ihre Geschichten bemerkenswert ähneln.“

Er stieß sich von der Wand ab und vermisste ihre Hand an seinem Mantel.

„Was haben sie denn so zu erzählen?“

Die Türen zum Ballsaal schwangen auf. Eine rehäugige Dirne und ein fassförmiger Mann, dessen Krawatte lose flatterte, eilten durch die Halle. Ein Lakai huschte herbei und schloss die goldverzierten Türen des Ballsaals, als könnte er auf diese Weise für ein wenig Anstand sorgen.

Miss Fletcher beobachtete den Lakaien, setzte ihre Kapuze auf und verbarg somit ihr prachtvolles Haar.

„Jeden Tag kommen Frauen in meinen Laden. Keine von ihnen ahnt, dass ihre Geschichten einander ähneln. Und glauben Sie mir, Sir. Sie sind ehrlich. Etwa die Hälfte der Frauen berichtet, dass sie im Bett Begeisterung vortäuschen, wenngleich es ihnen auch nicht unangenehm ist, während andere gestehen, dass sie den Akt einfach nur über sich ergehen lassen. Ich fürchte, die Anzahl derer, die sich wirklich am Liebesspiel erfreuen, ist recht überschaubar.“

Sein Blick wurde finster.

„Wollen Sie damit sagen, dass die meisten Frauen in London kein Vergnügen im Bett finden?“

Ihre Antwort war ein langes, gequältes Ausatmen. „Sie sind ein kluger Mann, Mr. West. Rechnen Sie mal nach. Die meisten Frauen, die zu mir kommen, sagen, es sei ihre eheliche Pflicht.“ Sie warf einen Blick hinauf zu den Fresken. „Wir wissen beide, dass es für Huren nichts anderes als ihre Arbeit ist.“

Er blickte irritiert zur bemalten Decke. Diese herumtollenden Frauen. Ihr Lächeln war übertrieben.

„Und Sie? Was ist mit Ihnen?“

Die dreiste Frage war einfach so aus ihm herausgeplatzt. Sie ging weit über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus, aber dies war ein außergewöhnlicher Abend, an dem die üblichen Regeln keine Geltung mehr hatten. Miss Fletcher schob sich lediglich eine verirrte Strähne aus der Stirn, reagierte aber nicht weiter auf seine Unverschämtheit.

„Ich muss wirklich gehen“, sagte sie nur. „Meine Freundin wartet.“

Er spannte sich an wie ein Raubtier, das sich seine Beute schnappen wollte. „Ihre Freundin? Oder Ihr Freund?“

Sie begann rückwärtszugehen. Das Gespräch war beendet.

„Versprechen Sie mir, dass Sie diese Nacht vergessen“, bat sie ihn.

„Unseren Flirt?“ Er folgte ihr. „Auf gar keinen Fall.“

„Es darf nicht wieder vorkommen“, sagte sie.

„Warum nicht?“

Ein Lakai in rosafarbener Livree öffnete ihr die Tür und tat sein Bestes, um nicht weiter aufzufallen. Der Regen hatte aufgehört, ein dichter Nebel war an seine Stelle getreten. Miss Fletcher glitt in die Nacht hinaus, und Thomas trat zu ihr auf die Eingangsstufe.

„Bitte, folgen Sie mir nicht“, sagte sie.

„Sie wollen nicht, dass ich Sie zu Ihrer Kutsche bringe?“

„Ich bin eine selbstständige Frau, Mr. West. Und steige schon seit Jahren ohne Hilfe in Kutschen und auch wieder hinaus.“

Genau das war das Problem – die Korsettmacherin brauchte keinen Mann.

Seine gute Erziehung verlangte, dass er sie begleitete und ihre Sicherheit gewährleistete. Er sah sich um und hielt Ausschau nach ihrer Freundin, die nirgendwo zu entdecken war. Lampen hingen in den Bäumen, die vor dem Maison Bedwell standen. Kutschen säumten die Straße, ihre Lampen spendeten ein wenig Licht, dahinter wurde es schwarz. In ihrem Umhang würde Miss Fletcher gleich in dieser Dunkelheit verschwunden sein.

Aber sie bewegten sich beide nicht von der Stelle.

Sie sah ihn eindringlich an. „Lassen Sie mich gehen.“

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