Ein skandalöser Kuss

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Ein lautes Krachen, ein heftiges Schleudern - und plötzlich findet Nell sich in einer höchst unziemlichen Position wieder: Sie liegt auf dem Gentleman, mit dem sie die Kutsche nach Bath geteilt hat. Ist der Schreck über den Unfall der Grund für den atemberaubenden Kuss, den der attraktive Mitreisende ihr stiehlt? Ein Kuss, der Nells Leben gründlich auf den Kopf stellt. Denn Viscount Bromwell hält sie für die adlige Lady Eleanor: Unter diesem falschen Namen ist Nell auf der Flucht! Nie darf er erfahren, wer sie wirklich ist - egal, wie viele Küsse er ihr noch raubt …


  • Erscheinungstag 16.07.2013
  • Bandnummer 0548
  • ISBN / Artikelnummer 9783954466665
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wie lange träume ich schon davon, diese faszinierenden Geschöpfe in ihrer natürlichen Umgebung zu erforschen; zu beobachten, wie sie ihre Netze spinnen und ihr Überleben sichern und sie dabei genauso wenig zu stören wie irgendein x-beliebiges Exemplar einer der vielen anderen Tiergattungen, die ihre Welt bevölkern.

– aus Das Spinnennetz von Lord Bromwell

England 1820

Dieser Mann gehörte eindeutig nicht hierher. Dessen war Nell Springley sich sicher, nachdem sie den einzigen anderen Fahrgast in der Postkutsche nach Bath zum wiederholten Male gemustert hatte. Als sie in London zugestiegen war, hatte er geschlafen, und obwohl das Gefährt die ganze Zeit rumpelte und gefährlich hin und her schwankte, schlief er immer noch, die Arme vor der Brust verschränkt und den modischen Kastorhut so tief in die Stirn gezogen, dass die Krempe seine Augen verdeckte.

Ohne Zweifel war er begütert, dem eleganten indigoblauen Gehrock aus feinem Wollstoff und den gut sitzenden ockerfarbenen Pantalons nach zu urteilen. Der aufwendig geschlungene Knoten seines blendend weißen Krawattentuchs verriet die Hand eines kunstfertigen Kammerdieners. Nell musterte die perfekt passenden Ziegenlederhandschuhe, die schlanke Finger modellierten, und dann die Reitstiefel, die so blank poliert waren, dass sich ihre Röcke darin spiegelten.

Ein Mann, der sich solche Garderobe leisten konnte, pflegte in seiner eigenen Kutsche zu reisen.

Vielleicht war er ein Spieler, der sein Vermögen durchgebracht hatte. Wenn er zu der Sorte gehörte, die Freiluftboxkämpfe bevorzugte, würde das die Sonnenbräune in seinem Gesicht erklären, von dem sie allerdings nur die untere Partie sehen konnte.

Oder er war ein ehemaliger, aus dem Dienst Seiner Majestät ausgeschiedener Marineoffizier. Sie konnte sich seine hoch­gewachsene Gestalt gut in der Uniform mit den Goldtressen auf den Schultern vorstellen. Auf dem Achterdeck stehend und Kommandos rufend, musste er einen umwerfenden Anblick geboten haben.

Genauso gut konnte er jemand sein, der ein nächtliches Zechgelage hinter sich hatte, bei dem sein gesamtes Geld für Brandy und Cognac draufgegangen war, und der nun seinen Rausch ausschlief. In dem Fall hoffte sie, dass er nicht wach wurde, ehe sie Bath erreichten. Sie verspürte nicht den Wunsch, sich mit einem Trunkenbold zu unterhalten. Auch nicht mit sonst jemandem.

Sie fuhren über eine besonders halsbrecherische Furche der Straße, und die Kutsche machte einen Satz, der das Gepäck im Stauraum durcheinanderrüttelte. Der Begleitreiter fluchte, und Nell hielt sich an der Sitzkante fest. Ihr Schutenhut war ihr in die Stirn gerutscht, sodass sie nichts mehr sehen konnte.

„Etwas ruckartig, in der Tat.“

Welch tiefe, freundliche Stimme! Nell rückte vorsichtig ihren Hut zurecht, hob den Blick und schnappte unwillkürlich nach Luft. Ihr Mitreisender war ohne Zweifel der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte.

Er hatte sich den Kastorhut aus der Stirn geschoben, sodass sie seine graublauen Augen sehen konnte, aus denen er sie liebenswürdig anblickte. Sein Gesicht war kantig, seine Nase schmal und gerade, und die kleinen Fältchen um seine Augen ließen vermuten, dass er trotz seiner jungen Jahre mehr Welterfahrung hatte als sie.

Nun ja, mehr Welterfahrung als sie hatten die meisten Menschen.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie ihr Gegenüber anstarrte. Die Wangen gerötet, als habe man sie beim Lauschen ertappt, senkte sie den Blick und verschränkte die Hände auf dem Schoß.

Aus dem Augenwinkel nahm sie dabei ein krabbelndes Etwas auf dem sandfarbenen, doppelt rot gestreiften Sitzbezug neben sich wahr.

Eine Spinne! Eine widerliche, fette braune Spinne, die sich in ihre Richtung bewegte.

Mit einem unterdrückten Aufschrei schoss Nell hoch, verlor das Gleichgewicht – und plumpste ihrem Mitreisenden auf den Schoß, nicht ohne ihm dabei den Hut vom Kopf zu stoßen.

„Keine Angst!“ Seine vornehme Aussprache war nur ein weiterer Beweis dafür, dass er zur feinen Gesellschaft gehörte.

Nell errötete wenn möglich noch tiefer und rutschte hastig auf den Platz neben ihm. „Ich … ich bitte vielmals um Verzeihung“, stammelte sie in dem Gefühl, hoffnungslos töricht zu erscheinen, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass die verirrte dunkle Locke in seiner Stirn ihn sehr jungenhaft und alles andere als einschüchternd aussehen ließ.

„Kein Grund, Angst zu haben“, betonte ihr Reisegefährte noch einmal. „Es ist nur eine Tegenaria parietina. Ganz harmlos, wirklich.“

Vor lauter Verlegenheit über ihre kindische Reaktion wusste Nell nicht, was sie sagen sollte. Also glättete sie stattdessen ihre Röcke und warf einen Blick auf die Bank gegenüber, die sie so überstürzt verlassen hatte.

Die Spinne war verschwunden.

„Wo ist sie?“, rief sie alarmiert und richtete sich ungeachtet des Schwankens der Chaise halb von ihrem Sitz auf. „Wo ist die Spinne?“

Der junge Mann hielt ihr den Kastorhut hin. „Da drin.“

Er bewahrte sie in seinem Hut auf?

Als Nell ihn ansah, lächelte er entschuldigend. „Ich interessiere mich sehr für Spinnen.“

Gut aussehend hin, weltmännisch her – er schien ziemlich exzentrisch zu sein. Vielleicht sogar geistig verwirrt.

„Halten Sie sie von mir fern.“ Nell rückte so weit fort von ihm und seinem Hut wie nur möglich. „Ich finde Spinnen eklig.“

Der junge Gentleman stieß einen Seufzer aus, beinahe so, als wäre ihre Abneigung nicht normal, sondern ein ernst zu nehmender Charakterfehler. „Wie schade.“

In Anbetracht der Dinge, die sie sich in den letzten Tagen hatte zuschulden kommen lassen, erschien es Nell eher lächerlich, der Aversion gegen Spinnen geziehen zu werden.

„Die meisten Spinnen tun einem nichts.“ Mit dem Blick, den der junge Mann der Kreatur in seinen Hut schenkte, bedachte man normalerweise ein gehätscheltes Schoßhündchen. „Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass sie nicht so schön sind wie manch anderes Insekt – Schmetterlinge zum Beispiel –, aber auf ihre Art sind sie genauso nützlich wie Bienen.“

Lächelnd blickte er sie an, und Nell wurde schlagartig klar, dass er ein Mann war, dem die Frauen zu Füßen lagen. „Gleichgültig, was Sie von meinen Spinnen halten – darf ich mich vorstellen? Ich …“

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen schnellte die Kutsche hoch, beinahe so, als wäre sie ein lebendes Wesen, dann prallte sie donnernd wieder auf dem Boden auf, und Nell wurde von ihrem Sitz geschleudert. Ihr Mitreisender fing sie auf und hielt sie fest, während der Kutscher vergeblich versuchte, die panisch wiehernden Pferde unter Kontrolle zu bringen, und die Chaise sich seitwärts neigte.

Mit einem dumpfen Krachen stürzte das Gefährt schließlich um, und Nell fand sich, alle viere von sich gestreckt und zwischen den Sitzbänken eingeklemmt, auf ihrem Mitreisenden liegend wieder.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Er musterte sie auf eine Weise, die ihr das Blut schneller durch die Adern trieb, als selbst das Umstürzen der Kutsche es vermocht hatte.

Sie empfand keine Schmerzen, spürte nur die intensive Nähe seines Körpers unter ihrem und die Berührung seiner Arme, die er schützend um sie geschlungen hatte. „Ich denke ja. Und Sie?“

„Es scheint, als wäre ich unverletzt. Aber ich vermute, wir haben einen Radbruch. Oder die Achse ist hinüber.“

„Ja, sicher. Natürlich“, murmelte sie. Sein Brustkorb unter ihr hob und senkte sich unter Atemzügen, die so rasch und abgehackt gingen wie ihr Herzschlag. Obwohl doch die unmittelbare Gefahr vorüber war.

„Am besten, ich sehe mir erst einmal an, was passiert ist.“

Sie nickte.

„Am besten sofort.“ Sein Blick verfing sich mit ihrem, und sein schönes, sonnengebräuntes Gesicht war auf einmal viel zu nah.

„Sofort, ja“, bestätigte sie und befahl sich erfolglos, von ihm herunterzurutschen.

„Vielleicht kann ich helfen.“

Sie schluckte. „Ja. Sicher.“

„Ich frage mich …?“

„Was denn?“

„Ob ich nicht ein Experiment wagen sollte.“

„Ein Experiment?“ Es fiel ihr schwer, seinen Gedankengängen zu folgen, und was er mit dem Experiment meinte, begriff sie schon gar nicht.

Ohne Vorwarnung, ohne auch nur ihren Namen zu kennen, geschweige denn ihr vorgestellt worden zu sein, wie es sich gehörte, hob der junge Mann den Kopf …

… und küsste sie.

Die Berührung seiner Lippen auf ihren fühlte sich so leicht an wie Schmetterlingsflügel, so köstlich und unwiderstehlich wie süße warme Brötchen und heißer Tee an einem kalten Tag – und erregender als alles, was sie kannte. Ganz anders jedenfalls als der unwillkommene Kuss vor ein paar Tagen, mit dem der eingebildete, herrische Lord Sturmpole ihr Leben zerstört hatte.

Dieser Kuss dagegen war gefühlvoll, zärtlich, aufregend … sinnlich. Genau wie der Mann, dessen Lippen sie auf ihren spürte.

Und der sie urplötzlich von sich schob, nach Luft ringend wie ein Ertrinkender, und hastig von ihr fortrutschte, bis er mit dem Rücken gegen den nunmehr in der Senkrechten befindlichen Kutschenboden stieß.

„Um Himmels willen, verzeihen Sie!“, brachte er entsetzt hervor. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.“

Nell rutschte ebenfalls rückwärts und lehnte sich gegen das Kutschendach.

„Geht mir genauso.“ Die Scham über ihre Lüge trieb ihr abermals die Röte in die Wangen. Sie wusste genau, was über sie gekommen war – heftiges, ungehöriges Verlangen.

Kaum hilfreich, wenn man möglichst unbeachtet und unbemerkt reisen wollte.

„Es muss der Schreck über den Unfall gewesen sein.“ Er kam auf die Füße und wirkte ehrlich verlegen, als er gebeugt in dem niedrigen Inneren der Chaise vor ihr stand. „Wenn Sie erlauben, sehe ich erst einmal nach, was los ist.“

Er griff über seinen Kopf nach der Türklinke, stieß den Wagenschlag auf und zog sich gelenkig durch die Öffnung nach oben.

Nell richtete ihren Hut und versuchte sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Sie befand sich in einer umgestürzten Kutsche. Verletzungen hatte sie keine davongetragen. Ihre Kleidung war derangiert, aber nicht zerrissen oder schmutzig. Ihre Schute hatte den Unfall weitgehend unversehrt überstanden, aber der Kastorhut des jungen Gentlemans war irreparabel zerdrückt, zweifellos samt der Spinne darin.

Sie war geküsst worden von einem gut aussehenden Fremden, der über seine Tat aufrichtig zerknirscht schien, trotz der unfassbar törichten Bereitwilligkeit, mit der sie den Kuss erwidert hatte.

Wahrscheinlich war sie verhext oder unter einem schlechten Stern geboren. Wie sonst erklärten sich die Schwierigkeiten, die sie neuerdings heimsuchten? Ihre Anstellung als Gesellschafterin Lady Sturmpoles, die ihr zunächst wie ein Glücksfall erschienen war, hatte sich unversehens in ein komplettes Desaster verwandelt. Erleichtert, wenigstens in letzter Minute noch diese Postkutsche erreicht zu haben, musste sie ausgerechnet in ein Gefährt geraten, das umstürzte. Und wie froh war sie gewesen, die Chaise mit nur einem einzigen Mitreisenden teilen zu müssen, der obendrein schlief … und siehe da, was daraus geworden war.

So unvermittelt, wie er verschwunden war, tauchte der junge Gentleman wieder in der Türöffnung auf. „Es sieht so aus, als wäre die Achse gebrochen. Ehe sie nicht repariert ist, kann die Kutsche nicht aufgerichtet werden, deshalb müssen wir uns wohl nach einem anderen Transportmittel umsehen. Heben Sie die Arme, dann ziehe ich Sie heraus.“

Nickend gehorchte sie. „Ich fürchte, Ihr Hut ist nicht mehr zu retten und die Spinne auch nicht.“

Er seufzte und streckte die Arme durch die Öffnung. „Bemitleidenswertes Geschöpf. Wenn ich es da gelassen hätte, wo es hingehört, wäre es sicher noch am Leben.“

Oder auch nicht, dachte sie, als sie ihre Hände in seine legte.

So anstrengungslos, wie er sie in die Höhe zog, musste er stärker sein, als er aussah. Anscheinend war seine Kleidung nicht gepolstert wie die der meisten modebewussten jungen Herren, die auf diese Art Muskeln vortäuschten, die sie nicht hatten.

Als sie halb draußen war, stellte sie fest, dass der Morgen graute. Dann entdeckte sie den stattlichen Kutscher in seiner grünen Uniform. Er lag mit einer blutenden Stirnwunde am Straßenrand, sein breitkrempiger Hut ein paar Yards weiter. Der Begleitreiter hatte die Pferde abgeschirrt und hielt die vier verstörten Tiere am Zügel. Sein roter Uniformrock war dreckbespritzt; über seiner Schulter hing eine ziemlich betagte Donnerbüchse. Eins der Pferde hatte sich ein Bein gebrochen, sein linker Hinterhuf hing in einem unnatürlichen Winkel herab. Gottlob hatten auf den Dachplätzen keine Passagiere gesessen. Wäre die Kutsche voll gewesen, hätte es Verletzte und Tote gegeben.

Der junge Gentleman streckte die Arme hoch, um ihr herunterzuhelfen.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich an seine Schultern zu klammern und fallen zu lassen. Er hatte seine Hände um ihre Taille gelegt und hielt sie sicher, und wieder spürte Nell, wie eine Woge heißen, ungewohnten, unwillkommenen Verlangens durch ihren Körper strömte.

Er ließ sie los, kaum dass ihre Füße den Boden berührten. Als wolle er ihr zeigen, dass er kein lüsterner Flegel war und den geraubten Kuss aufrichtig bedauerte.

„Wenn mit Ihnen alles in Ordnung ist, kümmere ich mich jetzt um den Kutscher.“ Der junge Gentleman machte eine knappe Verbeugung, mit der er auch bei Almack’s Ehre eingelegt hätte, und eilte zum Straßenrand.

Er ging neben dem Verletzten in die Hocke, zog die verschmutzten Handschuhe aus und strich dem Mann die ergrauten Haare aus der Stirn. Dann untersuchte er die Wunde schnell und fachmännisch.

Vielleicht war er Arzt.

„Muss ich sterben?“, erkundigte sich der Kutscher ängstlich.

„Das bezweifle ich doch sehr.“ Der junge Gentleman sprach in einem Ton ruhiger Gelassenheit. „Kopfwunden bluten stark, auch wenn sie nicht tief sind. Sonst noch irgendwelche Verletzungen?“

„An der Schulter. Hab mir bald das Gelenk rausgedreht, als ich die Gäule zu halten versuchte.“

Der junge Mann nickte und begann den Bereich abzutasten. Als er einen bestimmten Punkt berührte, zuckte der Kutscher zusammen.

„Ah.“ Der Gentleman seufzte, und die Augen des Kutschers weiteten sich erschrocken. „Was?“

Der junge Mann lächelte. „Nichts Ernstes, Thompkins. Nur eine Zerrung, und Sie sollten in der nächsten Zeit nicht kutschieren. Aber ich glaube nicht, dass es bleibende Schäden gibt.“

„Dem Himmel sei Dank“, murmelte der Verletzte erleichtert.

Dann runzelte er die Stirn, und seine Angst verwandelte sich in Zorn. „Dieser verdammte Köter! Ich hätte das dämliche Vieh überfahren sollen, statt ihm auszuweichen und dabei eine Bodenwelle zu erwischen und …“

„Thompkins, es ist eine Dame anwesend, bitte verzichten Sie auf Derbheiten“, schalt der Arzt sanftmütig und stand auf.

Der Kutscher warf Nell einen entschuldigenden Blick zu. „Verzeihen Sie, Miss.“

„Kann ich irgendwie helfen?“ Angesichts der Umstände nahm sie dem Mann seine Wortwahl kein bisschen übel.

Der junge Gentleman band sein Krawattentuch ab und hielt es ihr hin. „Damit könnten Sie die Wunde säubern. Vorausgesetzt, Sie fallen beim Anblick von Blut nicht in Ohnmacht.“

„Aber nein.“ Sie nahm das Krawattentuch entgegen. Dem Stoff entströmte ein exotischer Duft, den sie nicht kannte.

„Dann kümmere ich mich um die Pferde“, sagte der junge Mann, während er geistesabwesend seinen Hemdkragen aufknöpfte und seinen Hals und ein Stück seines Oberkörpers entblößte, die beide genauso sonnengebräunt waren wie sein Gesicht.

Ein Schiffsarzt also.

Der Kutscher machte Anstalten, sich aufzusetzen. „Vielleicht sollte ich …“

„Sie sollen sich nicht anstrengen“, befahl der junge Gentleman. „Genießen Sie die Gesellschaft Ihrer hübschen Pflegerin, Thompkins, und überlassen Sie die Pferde mir. Erzählen Sie der jungen Dame, wie ich damals versucht habe, Ihr Gespann zu lenken, und wir im Graben gelandet sind.“

Der Fahrer grinste, dann verzog er das Gesicht. „Jawohl, Mylord.“

Mylord? Ein Arzt, der von Adel war? Wie interessant … aber sie machte sich wohl besser Gedanken darüber, wie sie nach Bath kam, und was sie tun sollte, wenn sie dort war.

„Ich muss nur noch kurz etwas mit Ihrer Pflegerin besprechen.“ Der junge Gentleman nahm sie beim Ellbogen und zog sie ein paar Schritte fort.

Von seinem Verhalten beunruhigt, ging sie über die Unschicklichkeit der Berührung hinweg und versuchte das Prickeln zu ignorieren, das sie auf ihrer Haut hervorrief. „Ist der Kutscher doch ernsthaft verletzt?“, fragte sie besorgt.

„Nein, ich glaube nicht, dass seine Gehirnerschütterung lebensbedrohlich ist“, entgegnete er zu ihrer Erleichterung. „Aber ich bin kein Arzt.“

„Nein?“, platzte sie überrascht heraus. Seine Untersuchung hatte so fachkundig gewirkt.

Er schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich verfüge über medizinische Grundkenntnisse, genug um zu wissen, dass Thompkins, wenn irgend möglich, bei Bewusstsein bleiben sollte, bis es uns gelingt, einen Arzt aufzutreiben. Können Sie das übernehmen, während ich mich um das verletzte Pferd kümmere und anschließend zur nächsten Poststation reite?“

„Ja, ich denke, ich kann ihn wach halten.“

Das erfreute Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte, sandte einen neuerlichen prickelnden Schauer durch ihren Körper. Sie ging zu dem Verletzten zurück und versuchte sich zu beruhigen, während der junge Gentleman in Richtung des Begleitreiters davoneilte.

Als sie Thompkins das Blut von der Stirn abzutupfen begann, hörte sie den jungen Gentleman nach den Pistolen fragen.

„Im Waffenkasten unter meinem Platz“, erwiderte der Begleitreiter und deutete mit dem Kinn auf den erhöhten Sitz an der hinteren Wand der Kutsche.

„Geben Sie mir die Zügel, während Sie das arme Tier von seinem Elend erlösen“, bot der junge Gentleman an.

„Sie wollen, dass ich den Gaul erschieße?“ Der Begleitreiter schüttelte entgeistert den Kopf. „Ausgeschlossen. Mich am Eigentum der Krone vergreifen? Das wäre ja noch schöner! Davon abgesehen bin ich für die Post zuständig, nicht für die Pferde.“

„Das Tier hat ein gebrochenes Bein. Da kann man sicher eine Ausnahme machen.“

„Ich sage Ihnen doch, ich bin für die Post zuständig, nicht für das Gespann!“

„Und ich weigere mich mit anzusehen, wie das arme Geschöpf unnötig leidet.“

Sie weigern sich …? Wer zum Teufel sind Sie?“

„Halten Sie das Maul, Snicks“, rief der Kutscher dazwischen, „und lassen Sie den Viscount tun, was getan werden muss.“

Er war ein Viscount? Ein Viscount hatte sie geküsst?

„Wenn nötig, zahle ich für das Pferd.“ Der junge Adlige machte eine so grimmige Miene, als er auf die umgekippte Kutsche zumarschierte, dass man hätte meinen können, es mit einem komplett anderen Menschen zu tun zu haben.

Der Begleitreiter schwieg, als der Viscount den Waffenkasten öffnete und eine Pistole herausnahm, die, ebenso wie die Donnerbüchse, aussah, als stamme sie aus dem vorigen Jahrhundert.

Die Hand mit der Waffe hinter dem Rücken haltend, trat der Viscount vor das verletzte Tier. Er murmelte etwas, das wie eine Bitte um Verzeihung klang, dann hob er die Pistole, zielte zwischen die großen, klaren braunen Augen und schoss.

„Ging nicht anders“, murmelte der Kutscher rau. „Dem Gaul war nicht mehr zu helfen.“

Ja, das stimmte wohl. Nell wandte sich wieder Thompkins’ Kopfwunde zu und fuhr fort, das Blut abzutupfen. Das Herz war ihr schwer, wenn sie an das bedauernswerte Tier dachte und an den Mann, der es hatte erschießen müssen.

Der Viscount steckte sich die Pistole in den Hosenbund und kam zu ihr und dem Kutscher zurück. Mit der Waffe, der sonnengebräunten Haut und dem unordentlichen Haar sah er aus wie ein sehr attraktiver, sehr eleganter Pirat.

Pirat. Die See. Ein Viscount, der sich mit Spinnen beschäftigte. Spinnen, die aus Übersee stammten …

Du liebe Güte! Er musste Lord Bromwell sein, der Naturforscher, der durch sein Buch über seine Reiseabenteuer in aller Welt zum Stolz der Londoner feinen Gesellschaft und zum Liebling der Klatschpresse geworden war. Wie so viele andere, hatte auch Lady Sturmpole Das Spinnennetz besessen und darüber geredet, ohne sich indes die Mühe gemacht zu haben, das Werk zu lesen.

Kein Wunder, dass er trotz der misslichen Lage so gelassen blieb. Ein Mann, der einen Schiffbruch und die Angriffe von Kannibalen überlebt hatte, steckte einen Kutschenunfall sicher spielend weg. Und was den Kuss anging – zweifellos sah er sich häufig weiblicher Aufmerksamkeit und Begierde ausgesetzt, und wahrscheinlich hatte er gedacht, sie gehöre auch zu den Frauen, die sich ihm scharenweise an den Hals warfen, betört von seinem guten Aussehen und seiner Berühmtheit.

Und weil er berühmt war, würde die Presse sich gewiss für den Postkutschenunfall interessieren. Und möglicherweise herausfinden, dass es außer ihm noch einen Fahrgast gegeben hatte, nach ihrem Namen und ihrem Reiseziel fragen und den Gründen für ihre Reise …

Ihr wurde so mulmig bei dem Gedanken, dass sie sich wünschte, diese Kutsche nicht erwischt zu haben, nie nach London gefahren zu sein, nicht Bath als Reiseziel gewählt und vor allem, niemals ihn getroffen zu haben.

2. KAPITEL

Glücklicherweise bin ich mit einem nüchternen Wesen gesegnet, das mir ohne emotionalen Ballast zu handeln gestattet. Daher blieb ich gelassen, als das Schiff unterging, und versuchte, meinen Kameraden so gut wie möglich zu helfen. Erst nachdem das Schiff gesunken war und der Sturm nachließ, als wir es geschafft hatten, ein paar überlebenswichtige Dinge zu retten und uns auf dem winzigen Eiland im weiten Ozean wiederfanden, legte ich den Kopf auf die Knie und weinte.

– aus Das Spinnennetz von Lord Bromwell

Genau wie Bromwell es vermutet hatte, erregte ein unordentlich gekleideter Reiter ohne Hut und ohne Mantel, der auf einem schweißbedeckten Pferd in den Hof des Crown and Lion preschte, beträchtliches Aufsehen.

Ein Stallknecht, der mit einem Mehlsack über der Schulter auf dem Weg zur Küchentür war, blieb wie angewurzelt stehen und gaffte ihn offenen Mundes an. Zwei nachlässig gekleidete Männer, die im Eingang herumlungerten, reckten die Hälse. Der Waschfrau rutschte beinahe ihr riesiger Weidenkorb mit nasser Wäsche von der Hüfte, und ein neugieriger kleiner Stiefelputzerjunge achtete nicht auf seinen Weg und stieß um ein Haar mit den Müßiggängern zusammen, was ihm eine Kopfnuss von einem der beiden einbrachte.

„Wir hatten einen Kutschenunfall“, rief Bromwell dem Stallmeister entgegen, der gefolgt von zwei Pferdeknechten, einem Stallburschen und einem Mann in Livree aus der Stalltür geeilt kam.

Bromwell glitt von seinem erschöpften Pferd und übergab dem Stallburschen die Zügel. Unterdessen versammelten sich die Knechte, der Livrierte, die Müßiggänger, der Stiefelputzerjunge sowie die Waschfrau um ihn. „Die Postkutsche nach Bath hatte einen Achsbruch. Etwa drei Meilen von hier.“

„Nein!“, stieß der Stallmeister aus, als sei ein solches Vorkommnis völlig undenkbar.

„Doch.“ Bromwell richtete seinen Blick auf den Wirt, der an der Tür des Schankraums erschienen war. Der Mann wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze ab, die seinen fetten Bauch umspannte, und kam in einem Tempo herbeigeeilt, das nichts weniger als eindrucksvoll war bei jemandem mit seiner Leibesfülle.

„Mein Gott, sind Sie’s wirklich, Lord Bromwell?“, rief er dröhnend. „Ich hoffe, Sie sind unverletzt?“

„Mir geht es bestens, Mr Jenkins.“ So gut es ging, klopfte er sich den Schmutz von der Hose. „Meinen Reisegenossen allerdings weniger. Wir brauchen einen Arzt und eine Kutsche, und da wir darin nicht alle Platz finden werden, auch noch ein Pferd für mich. Natürlich komme ich für die Kosten …“

„Mylord!“, protestierte der Wirt entsetzt und legte sich die Hand aufs Herz, als sei er tödlich beleidigt. „Nicht doch.“

Bromwell lächelte und akzeptierte das großzügige Angebot mit einem Nicken. Er mochte Jenkins und hatte oft kaum mit ansehen können, wie herabsetzend sein Vater den Mann behandelte.

„Du da, Sam“, wandte der Wirt sich an den Stallmeister. „Lass meine Kutsche anspannen und sattel Brown Bessie für Seine Lordschaft. Und nimm den guten Sattel, hörst du?“

Er legte dem Stiefelputzerjungen die Hand auf die Schulter. „Johnny, lass alles stehen und liegen und lauf den Doktor holen“, wies er ihn an. „Und mach schnell.“

Flink tat der Junge wie ihm geheißen, und der Stallmeister und die Pferdeknechte verschwanden im Stall, das Kutschpferd am Zügel mit sich führend. Die Waschfrau setzte sich den schweren Wäschekorb auf die andere Hüfte und machte sich auf den Weg zur Waschküche. Auch die beiden Müßiggänger trollten sich in Richtung Eingang, wo sie den besten Blick auf ankommende Reiter und Fuhrwerke hatten.

„Kommen Sie herein und trinken Sie was, Mylord“, bot Jenkins an. „Es dauert einen Moment, bis die Kutsche und das Pferd fertig sind, und ich nehme an, Sie werden sich waschen wollen.“

Bromwell rieb sich über die Wange und stellte fest, dass auch sein Gesicht schmutzig war. „Ja, in der Tat, waschen wäre gut.“ Er folgte dem Wirt zum Haus, einem zweistöckigen Fachwerkbau mit Schankstube und Speiseraum im Erdgeschoss und Schlafzimmern im oberen Stockwerk, und obwohl er mit den Jahren uneitel geworden war, weil er fand, dass er im Vergleich mit seinen Freunden wenig Anlass hatte, mit seinem Aussehen zu prahlen, drängte sich ihm auf dem Weg über den strohbestreuten Hof die Frage auf, was seine Reisegefährtin von seinem Erscheinungsbild gehalten haben mochte.

Wobei die wichtigere Frage wohl die war, was in Teufels Namen ihn geritten hatte, sich ihr gegenüber derart unschicklich wie ein Sittenstrolch zu gebärden. Zugegeben, sie war hübsch, mit ihren grünen Augen und der schlanken Figur, die sich unter der schlichten grauen Pelisse verbarg. Aber hübsche Frauen kannte er zur Genüge, sogar vollkommen nackt, nach seinem Aufenthalt in der Südsee. Und obgleich er auf den ersten Blick erkannt hatte, dass sie anziehend aussah, hatte es ihn keine Mühe gekostet, so zu tun, als schliefe er. Wenigstens war ihm auf diese Art erspart geblieben, sich unterhalten zu müssen, und am Ende war er sogar tatsächlich eingenickt.

Wenn nicht, hätte er sich wahrscheinlich schon eher gefragt, wieso eine Frau, die sich so gewählt ausdrückte und so tadellose Manieren hatte, ohne männliche Begleitung reiste.

Vielleicht eine Gouvernante oder eine höhere Bedienstete, die jemanden besuchen wollte?

Egal, wer sie war; dafür, dass er sie geküsst hatte, konnte er sich nur in Grund und Boden schämen. Was er auch getan hätte, wäre der Kuss nicht die verblüffendste, erregendste Erfahrung gewesen, die er je gemacht hatte.

„Sieh mal, Martha, wen ich hier habe. Lord Bromwell, und er wäre fast umgekommen“, kündigte der Wirt ihn seiner Frau an, als sie die Schankstube betraten. „Seine Postkutsche hatte einen Achsbruch.“

Die rundliche, warmherzige Mrs Jenkins schnappte erschrocken nach Luft. Sie eilte herbei, als wolle sie sich vergewissern, ob Bromwell unversehrt war.

„Es gab keine Toten, und niemand wurde ernsthaft verletzt, jedenfalls soweit ich es beurteilen kann“, beruhigte Bromwell die Wirtin. „Mr Jenkins hat schon nach dem Arzt geschickt und sorgt für ein Ersatzfuhrwerk.“

„Dem Himmel sei Dank!“ Mrs Jenkins seufzte erleichtert. „Aber rede ich mir nicht seit Jahr und Tag den Mund fusselig, dass diese alten Kutschen ausgemustert gehören, weil sie nicht mehr sicher sind?“, fuhr sie, die Fäuste in die Hüften gestemmt, fort und sah die beiden Männer an, als wären sie persönlich für das Unglück verantwortlich und hätten die Macht, sämtliche Mängel bei der Königlichen Post zu beheben.

„Ja, Annie, tust du“, pflichtete Mr Jenkins ihr bei, weil es das Beste war, Mrs Jenkins beizupflichten, wenn sie etwas äußerte, was auch Bromwell mit der Zeit herausgefunden hatte. „Sarah soll Wein ins Blaue Zimmer bringen. Seine Lordschaft wird sich unterdessen ein wenig frisch machen. Sag ihr, vom besten. Lord Bromwell kann einen guten Tropfen gebrauchen.“

„Frisches Wasser und saubere Handtücher sind schon oben, Mylord.“ Mrs Jenkins verschwand in ihrer Küche.

„Sie hat recht“, sagte der Wirt und ging voraus, obwohl Bromwell sich im Crown and Lion auskannte wie in der heimischen Ahnenhalle. „Diese alten Kutschen sind eine Schande, jawohl.“

Bromwell folgte ihm schweigend durch die Schankstube, wo einige der Gäste sich nach ihm umdrehten und aufgeregt zu tuscheln anfingen.

Nicht nur wegen seines derangierten Äußeren. Bromwell hörte sie seinen Namen flüstern und natürlich, wie hätte es anders sein können, auch die Wörter Schiffbruch und Kannibalen.

Würde er sich je an diese Art neugieriger Musterung gewöhnen, an die Aufregung, die jedes Mal entstand, wenn er einen Raum betrat? Er seufzte unhörbar, während er hinter Jenkins die Treppe erklomm. Sicher, es freute ihn, dass sein Buch so viel Widerhall fand und das Interesse der Menschen an der Natur zunahm, aber in Momenten wie diesem wünschte er sich seine frühere Anonymität zurück.

Ob die junge Dame in der Kutsche ihn erkannt hatte? Und war das vielleicht der Grund für die überwältigende Leidenschaft, mit der sie seinen Kuss erwidert hatte?

Und wenn, was sollte er tun, wenn er sie wiedersah? Wie sollte er sich verhalten?

Jenkins stieß die Tür zu seinem besten Zimmer auf. „Der Wasserkrug ist frisch gefüllt, und die Handtücher liegen auch schon bereit.“ Er deutete mit dem Kinn zu dem Waschstand.

„Danke, Jenkins.“

„Rufen Sie, wenn Sie etwas brauchen, Mylord.“

„Mache ich“, versprach Bromwell, als der Wirt die Tür hinter sich zuzog.

Das beste Zimmer des Crown and Lion war klein, verglichen mit seinen Gemächern auf dem väterlichen Anwesen und im Londoner Stadthaus der Familie, aber es war behaglich und anheimelnd mit der Dachschräge und den blau-weiß karierten Baumwollvorhängen, den sauberen Laken und dem schlichten weißen Waschgeschirr. Ein farbenfroher Teppich lag auf den hölzernen Dielen, die bei jedem Schritt knarrten, genau wie die Seilverspannung unter der Matratze, wenn er sich aufs Bett fallen ließ.

Sein Freund Drury hatte sich darüber beschwert, nachdem er vor ein paar Jahren einmal Weihnachten eine Nacht hier geblieben war. Bromwell zog seinen dreckbespritzten Gehrock aus und krempelte die Hemdsärmel hoch.

Er konnte sich die verblüfften Mienen seiner Freunde lebhaft vorstellen, wenn er ihnen von seiner heutigen Heldentat erzählte. Nicht dass er das unglückliche Pferd erschossen hatte – das würden sie als selbstverständlich voraussetzen –, sondern dass er, der gute alte dröge Buggy, wie seine Freunde ihn nannten, eine Frau küsste, deren Namen er nicht einmal kannte. Noch schockierter würden sie sein, wenn er ihnen gestand, wie gern er es noch einmal täte.

Nein, nicht einmal. So oft wie möglich.

Er wusste, dass Männer ihren Trieben folgten, und in dieser Hinsicht war er völlig normal – das konnten bestimmte sehr willige weibliche Wesen aus der Südsee bezeugen –, aber in England pflegte er die Gebote der Schicklichkeit zu wahren.

Bis heute.

Vermutlich bin ich durch den Unfall innerlich aus dem Gleichgewicht geraten, beschied er, während er sich Wasser ins Gesicht spritzte, ein Handtuch nahm und sich energisch trocken rieb. Er hatte erlebt, wie unterschiedlich Männer reagierten, wenn sie in eine Zwangslage gerieten. Manch einer, der an Land beherzt und mutig war, wurde bei Sturm und schwerer See zum hilflosen Jammerlappen, während es andere gab, denen er nichts zugetraut hätte und die sich in der Not als tapfere Retter ihrer Kameraden erwiesen.

„Ich bringe Ihnen Ihren Wein, Mylord.“ Mrs Jenkins’ Stimme, die von draußen hereinklang, riss ihn aus seinen Gedanken. Oder, wie sein Vater es ausgedrückt hätte, seinen verdammten Tagträumereien.

„Treten Sie ein“, forderte er die Wirtsfrau auf und rollte die verknitterten Hemdsärmel herunter.

Temperamentvoll stieß Mrs Jenkins die Tür auf und hielt ihm ein gefülltes Weinglas hin.

„Es grenzt an ein Wunder, dass niemand zu Tode gekommen ist“, erklärte sie mit zornblitzenden Augen, während ihr beachtlicher Busen förmlich wogte vor Entrüstung. „Ich sage Jenkins seit wer weiß wie lange, dass diese alten Kutschen nichts mehr taugen. Sie sollten Ihren Freund Drury bitten zu klagen, Mylord. Man sagt ihm nach, dass er noch nie eine Verhandlung verloren hat.“

Bromwell trank den Wein in einem Zug aus. Er war ausgezeichnet. „Drury vertritt ausschließlich strafrechtliche Fälle“, erwiderte er und stellte das Glas ab. „Hier handelt es sich aber um einen Unfall, verursacht durch einen Straßenköter, dem Thompkins ausweichen wollte. Damit kann ich nicht vor Gericht gehen.“

Er zog seinen verschmutzten Gehrock an, bei dessen Anblick sein ehemaliger Kammerdiener vermutlich in Tränen ausgebrochen wäre. Da er nicht gewusst hatte, wie lange er auf Reisen sein oder ob er überhaupt zurückkehren würde, hatte er Albert ein verdientermaßen hervorragendes Zeugnis geschrieben und ihn mit einer großzügigen Abfindung entlassen. Nach seiner Rückkehr war er noch nicht dazu gekommen, einen neuen einzustellen – sehr zum Verdruss des Butlers in der Londoner Stadtresidenz seines Vaters, obwohl Millstone hatte einräumen müssen, dass der Viscount einen bemerkenswert eleganten Krawattenknoten zu schlingen verstand. Kein Wunder, nachdem er auf See stundenlang geübt hatte.

Was würde Millstone zu dem Kutschenunfall sagen? Wahrscheinlich würde er nur seufzend den Kopf schütteln und erklären, manche Menschen hätten unverschämtes Glück, aber dennoch täte Seine Lordschaft gut daran, sich eine neue Kutsche zuzulegen, anstatt mit der Post zu reisen. Er könne es sich doch gewiss leisten.

Könnte er tatsächlich, wenn er nicht eine neue Expedition planen würde.

Er stellte sich vor, Millstone zu erzählen, dass er die junge Dame geküsst hatte. Der arme Mann würde wahrscheinlich schockiert in Ohnmacht fallen. Genauso schockiert und verblüfft wie er selber, als ihm aufgegangen war, dass man eine Frau, die man kaum kannte, nicht küsste.

Vielleicht hatte sein Vater recht, und er war zu lange von England fort gewesen.

„Sind die Kutsche und das Pferd fertig?“, fragte er die Wirtsfrau, die keine Anstalten machte zu gehen.

„Ich denke doch, Mylord.“

„Gut.“ Als er aus dem Fenster spähte, hingen dicke Wolken am Himmel. „Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen, Mrs Jenkins, ich muss mich beeilen.“

Die Wirtsfrau lächelte. „Immer der perfekte Gentleman.“

Leider nicht, dachte er, als er an ihr vorbeiging. Nicht immer.

Nell faltete das weiße Krawattentuch zusammen und warf einen Blick in den grauen Himmel. Den dunklen Wolken nach zu urteilen, zog ein heftiges Unwetter heran.

„Keine Angst, Miss.“ Der Kutscher wollte den Kopf heben, zuckte jedoch vor Schmerz zusammen. „Lord Bromwell wird gleich da sein und Hilfe mitbringen. Der Junge reitet wie der Teufel.“

Sie schenkte dem Mann ein Lächeln, aber er schien zu ahnen, dass sie nicht wirklich beruhigt war, denn er tätschelte ihr die Hand. „Ich kannte ihn schon als Sechsjährigen. Er sieht nicht so aus, doch er ist der beste und unerschrockenste Reiter, den ich kenne.“ Thompkins fielen die Augen zu.

„Aber anscheinend kein besonders guter Kutscher?“, fragte Nell in dem Bemühen, ihn wach zu halten.

Zu ihrer Erleichterung hob er die Lider. „Zugegeben, damals hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert, aber da war er erst fünfzehn.“

„Fünfzehn? Er hätte schwer verletzt oder gar getötet werden können!“

Thompkins sah sie finster an. „Glauben Sie, das wäre mir nicht klar gewesen? Natürlich weigerte ich mich, aber er ließ nicht locker. Er hatte sich alles zurechtgelegt, alles ganz vernünftig begründet, dass er geschickt sei und dass er nur eine Meile kutschieren wolle und dergleichen. Nachgegeben habe ich schließlich nur, weil ich wusste, dass er mit irgendetwas prahlen wollte, wenn er wieder in der Schule war. Damit seine Freunde ihn ernst nahmen. Obwohl er so viel wert ist wie sie alle zusammen und es damals schon war, und das habe ich ihm auch gesagt. Aber er sah mich nur an mit diesem Blick, Miss, und ich brachte es nicht fertig, es ihm zu verwehren. Wir hatten keine Passagiere in der Kutsche an dem Tag, und wenn die Straße an der einen Stelle nicht so verteufelt glatt gewesen wäre …“

Thompkins verstummte, als dächte er nach. „Sie hätten ihn sehen sollen“, fuhr er schließlich fort und lächelte bei der Erinnerung. „Wie einer dieser römischen Wagenlenker stand er auf dem Kutschbock und hielt die Zügel wie ein alter Hase. Bis diese rutschige Stelle kam und wir im Graben landeten. Die Kutsche war kaum beschädigt, wir verspäteten uns nur unwesentlich. Aber denken Sie nicht, dass das einen Unterschied gemacht hätte, als sein Vater erfuhr, was passiert war.“

Seufzend runzelte der Fahrer die Stirn. „Sie hätten hören sollen, wie der Earl sich aufgeführt hat. Jeder andere Vater wäre stolz gewesen, dass der Junge es überhaupt wagt und dann so weit kommt, aber nicht er. So wie der Earl brüllte, hätte man meinen können, der junge Lord Bromwell habe das Familienvermögen verspielt oder jemanden umgebracht.“

Thompkins grinste. „Der Viscount, der gute Junge, erklärte seinem Vater, er habe mich unter Druck gesetzt und gedroht, dafür zu sorgen, dass ich meinen Posten verliere. Das war natürlich eine Lüge, aber er äußerte sie so überzeugend, dass der Earl ihm glaubte. Danach sagte Lord Bromwell keinen Ton mehr. Er stand bloß da, von oben bis unten verdreckt und mit blutender Lippe, so unbeteiligt, als hielte sein Vater eine Rede im House of Lords.“ Thompkins lachte in sich hinein. „Adelig oder nicht – er ist schon ein ganz schöner Schlawiner. Haben Sie sein Buch gelesen?“

„Leider nein“, erwiderte Nell bedauernd.

„Ich auch nicht, ehrlich gesagt … weil ich nicht lesen kann“, gestand der Kutscher. „Aber ich kenne die Geschichte von seiner Flucht vor den Wilden und dem Schiffbruch. Und der Tätowierung natürlich“, setzte er stolz hinzu.

Nell wollte erneut das Blut von seiner Stirn tupfen und hielt mitten in der Bewegung inne. „Lord Bromwell hat eine Tätowierung?“

„Ja“, Thompkins senkte die Stimme, „aber er verrät nicht, was sie darstellt. Oder wo sie ist. Nur dass er sie hat. Ein paar Bekannte von ihm haben sogar eine Wette platziert, in dem Buch bei White’s, aber bislang gibt es keinen Gewinner.“

Das Wettbuch in dem vornehmen Herrenclub war Nell ein Begriff, ebenso wie die Tatsache, dass die Gentlemen, die dort Mitglied waren, unvorstellbar verrückte Wetten abschlossen.

Thompkins blickte an ihr vorbei zur Straße. „Da kommt er, dem Himmel sei Dank.“

Nell sah über ihre Schulter. Tatsächlich, ein Reiter näherte sich, und es war Lord Bromwell. Da er keinen Hut trug, war sein Haar vom Wind zerzaust, und sein Rock sah genauso schmutzig aus wie seine ehedem blanken Reitstiefel.

„Der Wirt des Crown and Lion schickt uns seine Kutsche. Sie dürfte in Kürze mit dem Arzt hier sein.“ Lord Bromwell brachte das robuste braune Reitpferd zum Stehen und saß ab.

Als er auf sie zukam, sah Nell sich außerstande, dem unverwandten Blick seiner blauen Augen zu begegnen. Die Erinnerung an seine Umarmung und seinen Kuss war zu frisch, zu lebhaft und viel zu verstörend. Stattdessen tupfte sie Thompkins weiter die Stirn ab, obwohl die Wunde inzwischen nicht mehr blutete.

„Unser Patient ist gut versorgt, wie ich sehe?“

„Oh ja, Mylord“, erwiderte Thompkins, ehe sie etwas sagen konnte. „Bloß mein Schädel tut mir teuflisch weh.“

„Ist Ihnen schwindlig oder fühlen Sie sich müde?“

„Kein bisschen, Mylord. Es war ausgesprochen kurzweilig mit der jungen Dame.“

Lord Bromwell begann mit der Stiefelspitze auf den Boden zu klopfen. „Kurzweilig?“

„Ja, ich habe ihr von Ihrem Abenteuer mit der Kutsche erzählt, und dann sprachen wir über Ihr Buch.“

Sie riskierte es, zu Lord Bromwell hochzuschauen, und musste feststellen, dass er mit dem verwegen zerzausten Haar, dem leichten Bartschatten und dem offenen Hemd noch attraktiver aussah als ohnehin schon. Allerdings machte er eine ernste Miene, und der Ausdruck seiner blauen Augen verriet ebenso wenig, was in ihm vorging, wie sein sinnlicher Mund, mit dem er sie so unendlich erregend geküsst hatte.

Sie schluckte schwer und senkte den Blick.

„Ich wusste nicht, dass Sie der berühmte Lord Bromwell sind.“ Hoffentlich konnte er ermessen, was das bedeutete. Aber ihre bereitwillige Reaktion auf seinen Kuss nicht einmal damit entschuldigen zu können, dass sie seinem Ruhm erlegen war … sie mochte sich gar nicht vorstellen, was das über sie aussagte.

„Vergeben Sie mir, dass ich mich nicht gleich zu Anfang vorgestellt habe. Und Sie sind …?“

„Eleanor Springford, Mylord.“ Sie konnte nur beten, dass er die Röte, die ihr in die Wangen schoss, für Schüchternheit hielt.

„Wir sprachen auch über Ihre Tätowierung, Mylord“, teilte Thompkins dem Viscount der Vollständigkeit halber mit. Ein mutwilliges Funkeln stand in seinen Augen.

„Tätowierungen sind allgemein üblich unter den Südsee-insulanern.“ Lord Bromwell klang, als spräche er von etwas so Selbstverständlichem wie Teetrinken. „Oh, da kommt ja Jenkins’ Kutsche.“

Er wandte sich zum Gehen, und Nell fragte sich, was dieser Mann von ihr halten würde, wenn er die Wahrheit über sie wüsste.

3. KAPITEL

Ich glaube, es sind die große Neugier und der Unwille, ein Phänomen zu akzeptieren, ohne es erklären zu können, die den Wissenschaftler von anderen Menschen unterscheiden. Es reicht ihm nicht, dass etwas da ist; er will wissen, wie und weshalb es funktioniert, und im Falle der Natur, weshalb ein Tier sich so verhält, wie es sich eben verhält.

– aus Das Spinnennetz von Lord Bromwell

In einer halben Stunde wird das Abendessen serviert, Mylord.“ Jenkins trat in die enge Schlafkammer, die Bromwell bezogen hatte, damit Miss Springford das komfortablere, größere Zimmer haben konnte. „Mrs Jenkins ist heilfroh, dass sie heute Nachmittag noch ein Huhn geschlachtet hat. Andernfalls wäre sie außer sich, das kann ich Ihnen versichern. Wo Sie es doch sind, der uns beehrt, und alles.“

„So oft, wie ich schon hier war“, Bromwell fuhr sich mit der Bürste durchs Haar, um nicht auszusehen wie ein Wegelagerer, wenn er nach unten ging, „müsste sie eigentlich wissen, dass ich alles gern esse, was aus ihrer Küche kommt. Besonders natürlich ihr Gebäck. Als ich auf dem schmalen Eiland mitten im Ozean gestrandet war, hätte ich meine Seele verkauft für ein kleines Stück von ihrem Kuchen.“

„Nicht doch, Mylord, was Sie da sagen, ist gotteslästerlich, wahrhaftig!“ Trotz seines Protests strahlte Jenkins vor Stolz; fast so, als habe er den besagten Kuchen persönlich gebacken. „Ich werd’s Mrs Jenkins aber ausrichten. Wird Sie gern hören.“

„So gern, wie ich ihren Kuchen mag, hoffe ich.“ Bromwell warf einen Blick in den Spiegel. Seine Frisur wirkte nun wieder halbwegs ordentlich, wenn ihm auch auffiel, dass er die Haare schneiden lassen musste.

„Und da ist auch schon Johnny mit Ihrem Gepäck, Mylord.“

Bromwell bedankte sich, als der Junge seinen Koffer hereinbrachte.

Mit einem kurzen Nicken verließ Jenkins das Zimmer. Johnny folgte ihm, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen. „Wurden Sie wirklich fast von den Kannibalen gefressen, Mylord?“, fragte er mit großen Augen.

„Fast“, bestätigte Bromwell ernst. „Aber sie haben uns nicht gekriegt.“

Die Augen des Jungen wurden wenn möglich noch größer.

„Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest?“ Bromwell machte Anstalten, die Tür zu schließen.

Johnny nickte und setzte sich in Bewegung.

Als die Tür ins Schloss gefallen war, seufzte Bromwell. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, diesen Teil der Reise in seinem Buch weggelassen zu haben. Alle fragten ihn nur danach statt nach seinen anderen, viel faszinierenderen Erlebnissen und Beobachtungen.

Jedenfalls in gemischter Gesellschaft, korrigierte er sich, während er seine verschmutzte Kleidung auszog. Die Neugier der Männer, mit denen er nach dem Dinner beim Port oder in seinem Club zusammensaß, galt den Frauen und den Gepflogenheiten der körperlichen Liebe in der Südsee.

In Erwartung schlüpfriger Einzelheiten sahen sie sich unweigerlich enttäuscht, wenn er stattdessen Flora und Fauna der Inseln zu beschreiben begann, Spinnen inklusive. Manchmal erzählte er seinen Zuhörern auch von den Festlichkeiten der Insulaner und von ihren Tänzen, dem otea, den nur Männer tanzten, dem upa upa, der Paaren vorbehalten war, und dem hura, der auf Hawaii hula genannt wurde, den ausschließlich Frauen tanzten.

In Gedanken versunken, zog er ein frisches weißes Hemd an und wechselte auch Hosen und Strümpfe. Was wohl Eleanor Springford von den Tänzen gehalten hätte?

Und was würde sie erst davon halten, dass er daran teilgenommen hatte? Das, zusammen mit dem unverschämten Kuss, würde sie zweifellos zu dem Schluss gelangen lassen, dass er kein Gentleman war. Obwohl man ihre bereitwillige Reaktion auch nicht wirklich als damenhaft bezeichnen konnte.

Autor

Margaret Moore
Margaret Moore ist ein echtes Multitalent. Sie versuchte sich u.a. als Synchronschwimmerin, als Bogenschützin und lernte fechten und tanzen, bevor sie schließlich zum Schreiben kam. Seitdem hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre gefühlvollen historischen Romane erhalten, die überwiegend im Mittelalter spielen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit...
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