Eine Familie für Marilee

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Zärtlich streichelt Marilee über ihren Bauch. Es ist das Baby ihrer großen Liebe Justin, das sie unter dem Herzen trägt. Doch werden sie jemals eine richtige Familie sein? Nach einer einzigen wunderbaren Liebesnacht verließ Justin sie plötzlich ohne ein Wort des Abschieds …


  • Erscheinungstag 03.09.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517829
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Im Morgengrauen hatte es zu schneien begonnen.

Die Schneeflocken, von denen einige die Größe kleiner Federn hatten, fielen inzwischen so dicht und schnell, dass Marilee Cash Schwierigkeiten hatte, das Texaco-Schild an der Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen. Die Straßen in Amarillo wurden allmählich unpassierbar, und auf der Interstate 27 herrschte kaum noch Verkehr. Die Interstate 40, die die Interstate 27 einige Kilometer nördlich des Roadrunner Truck Stops kreuzte, war aufgrund des Schneetreibens bereits gesperrt worden.

Ein Trucker, der es noch vor der Sperrung bis zum Roadrunner geschafft hatte, war vor einer Weile in das kleine Restaurant gekommen, wo Marilee als Kellnerin arbeitete. Den Schnee von seinen Kleidern klopfend, hatte er von über ein Meter achtzig hohen Schneeverwehungen und verlassenen Autos erzählt, die an den Straßenrändern langsam unter den Schneemassen begraben wurden.

Versonnen blickte Marilee aus dem Fenster.

„Hey, Süße! Wie wäre es mit einem Nachschlag?“, riss eine tiefe Stimme sie mit einem Mal aus ihren Gedanken.

Eilig wandte Marilee sich vom Fenster ab. Es war der Trucker, der kurz zuvor aus dem Sturm hereingekommen war.

„Ich komme schon!“ Sie holte die Kaffeekanne, um den Becher des Kunden aufzufüllen.

Eine Stunde verging, und noch immer zeigte der Sturm keine Anzeichen abzuflauen. Das Schnellrestaurant war fast leer. Außer Marilee waren noch Calvin, Besitzer des Roadrunner und gleichzeitig Koch, und zwei weitere Bedienungen da.

Calvin kam aus der Küche und kratzte sich den allmählich lichter werdenden Kopf, während er aus dem Fenster blickte.

„Ihr Mädchen solltet lieber nach Hause gehen, solange das noch möglich ist.“

Marilee zögerte. „Bist du dir sicher? Was, wenn plötzlich eine Horde gestrandeter Reisender hereinkommt?“

„Das wäre nicht das erste Mal, oder?“ Dann grinste er. „Und wenn es so wäre, würden wir eben gemeinsam eine Party feiern. Nun geht schon, Mädels. Ich meine es ernst.“

Die beiden anderen Bedienungen mussten nicht lange überredet werden. Sie wollten unbedingt nach Hause zu ihren Ehemännern und Kindern.

Auf Marilee dagegen wartete niemand.

Kein Mensch in Amarillo wusste etwas über ihren familiären Hintergrund. Sie hatte nur erzählt, dass sie im Osten von Texas aufgewachsen war und dass ihre Eltern tot waren. Es gab keinen Grund, ihren Mitmenschen zu erzählen, dass ihre Mutter tot war, weil ihr Vater sie ermordet hatte. Und dass ihr Vater vom Bundesstaat Texas wegen Mordes hingerichtet worden war. Sie mied dieses Thema, so gut es ging. Dennoch war es Teil ihrer Vergangenheit – ob es ihr nun gefiel oder nicht.

Sie war fast neunzehn gewesen, als es passiert war, und dreiundzwanzig, als ihr Vater zum Tode verurteilt worden war. Sie war zur Beerdigung ihrer Mutter und zur Gerichtsverhandlung ihres Vaters gegangen. Danach hatte sie sich selbst als Waise betrachtet, obwohl es noch weitere vier Jahre gedauert hatte, bis es tatsächlich wahr geworden war. In einem Restaurant eingeschneit zu werden konnte Marilee also nicht schocken. Im Gegenteil: Sie wäre lieber bei der Arbeit geblieben.

Die beiden anderen Bedienungen waren gegangen, noch bevor Marilee auch nur in ihre Schneestiefel geschlüpft war. Als sie schließlich aus dem Pausenraum trat, hatte Calvin seine Lieblingsserie eingeschaltet und es sich mit einer Flasche Bier auf der Eckbank vor dem Fernseher gemütlich gemacht.

„Ich schätze, ich sehe dich dann“, sagte sie. Sie wollte gerade durch die Tür nach draußen treten, als ein schwarzer Pick-up vom Highway auf den Parkplatz bog.

Ihr reichte ein Blick, um zu wissen, wer es war. Justin Wheeler, der Mann ihrer Träume. Seit sechs Monaten kam er jede Woche ins Roadrunner. Und jedes Mal, wenn er hier einkehrte, saß er an einem von Marilees Tischen und lachte und scherzte mit ihr. Sie wusste, dass es für ihn nur eine ganz alltägliche lockere Unterhaltung war – nicht jedoch für sie. Sie mochte alles an ihm: von der Art, wie er seinen Stetson leicht schräg auf dem Kopf trug, bis hin zu seiner Körperhaltung, seinen Bewegungen. Wenn er lächelte, bekam er lustige kleine Fältchen um die Augen, und auf seiner linken Wange erschien ein Grübchen.

Ja, Justin Wheeler war der Inhalt unzähliger süßer Träume. Dabei wusste Marilee nicht viel über ihn. Nur, dass er das einzige Kind eines Ehepaares war, das sein Vermögen durch Rinderzucht und Öl gemacht hatte. Und dass er Single war und Calvins paniertes Beefsteak und den niederländischen Apfelkuchen liebte.

„Sieht so aus, als käme da noch ein Nachzügler“, sagte sie und deutete auf den Mann, der aus dem Truck kletterte.

Calvin drehte sich um. „Du liebe Güte, es ist dieser Cowboy … wie war noch mal sein Name?“

„Wheeler. Justin Wheeler“, entgegnete Marilee und wurde rot, als Calvin sie vielsagend angrinste und ihr zuzwinkerte.

„Du kennst seinen Namen, was?“, fragte er.

Sie zuckte die Schultern. „Ich habe ihn schon einmal bedient“, gab sie leise zurück. Verlegen senkte sie den Kopf und widmete sich scheinbar konzentriert den Knöpfen ihres Mantels.

Im nächsten Moment kam Justin durch die Tür ins Restaurant gestürmt.

„Junge, was zum Teufel machen Sie noch draußen auf der Straße?“, rief Calvin. „Haben Sie noch nicht bemerkt, dass es schneit?“

„Doch, das habe ich“, erwiderte Justin, nahm seinen Stetson ab und klopfte ihn leicht gegen sein Bein, um ihn vom Schnee zu befreien. „Ich müsste einmal Ihr Telefon benutzen, wenn ich darf. Mein Handy funktioniert nicht, und ich muss mir für heute Nacht hier im Ort ein Zimmer suchen. Bei diesem Wetter werde ich es unter keinen Umständen bis nach Hause schaffen.“

„Ich habe vor etwa einer Stunde gehört, dass alle Zimmer ausgebucht sind“, meldete Marilee sich zu Wort.

Justin wandte sich zu ihr um und lächelte strahlend. „Hey, Süße. Ich habe gar nicht gesehen, dass Sie dort stehen.“

Sie erwiderte sein Lächeln und ermahnte sich, dass es ihm nichts bedeutete, wenn er sie „Süße“ nannte. Es war einfach ein in Texas gebräuchlicher, guter alter Ausdruck für eine junge Frau. Dennoch fühlte sie sich seltsam gut, wenn er sie so nannte – beinahe besonders.

„Ich war gerade auf dem Sprung“, erklärte sie. „Aber wenn Sie hungrig sind, kann ich Ihnen noch etwas holen, bevor ich gehe.“

Er schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich brauche nur ein Zimmer für die Nacht.“

„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen“, erwiderte Marilee. „Im Radio sagen sie, dass jedes Motel zwischen hier und Lubbock komplett ausgebucht ist.“

„Sie hat recht“, bestätigte Calvin. „Ich bezweifle, dass Sie noch irgendwo ein Zimmer finden. Aber Sie dürfen natürlich gern das Telefon benutzen.“

Marilee zeigte ihm den Apparat, reichte ihm ein örtliches Telefonbuch und zog sich dann in die Nähe von Calvins Eckbank zurück. Beide sahen zu, wie Justin einen Anruf nach dem anderen machte, und lauschten, wie er die Gespräche immer wieder erfolglos beendete.

Als er schließlich den Hörer auflegte, hatte sein Blick sich verfinstert. „Also, Sie hatten offenbar recht. Sämtliche Motels sind ausgebucht. Ich nehme an, Sie kennen nicht zufällig jemanden, der mir für diese Nacht ein Zimmer vermieten kann?“

Calvin runzelte die Stirn. „Nein, tut mir leid“, sagte er. „Aber selbstverständlich sind Sie herzlich eingeladen, im Roadrunner zu übernachten. Ich denke, ich werde die Nacht hier auf der Eckbank verbringen.“

„Sie könnten mit zu mir nach Hause kommen“, platzte Marilee heraus – und konnte nicht fassen, dass sie das wirklich gesagt hatte.

Sobald die Worte ausgesprochen waren, wünschte sie sich, sie zurücknehmen zu können. Nur weil er in ihren Träumen aufgetaucht war, bedeutete das noch lange nicht, dass er auch Teil ihres Lebens sein wollte.

Justin überraschte ihre Einladung ebenso sehr wie Marilee selbst. Zum ersten Mal erwischte er sich dabei, in ihr mehr zu sehen als die groß gewachsene, schlaksige Kellnerin, die ihr braunes Haar zu einem Knoten hochsteckte und den vorderen Teil des Restaurants betreute.

Etwas verlegen bemühte Marilee sich, locker mit der Situation umzugehen und zu wirken, als sei die Einladung etwas ganz Normales. Doch innerlich hoffte sie, dass er ablehnen würde.

„Ich habe kein zusätzliches Schlafzimmer, nur eine große Couch. Und es ist nichts Besonderes. Sie möchten vielleicht gar nicht …“

„Ich nehme die Einladung an“, unterbrach er sie. Er fragte sich, ob er so überrascht aussah, wie er sich fühlte.

„Wirklich?“

Er deutete mit der Hand auf den Schneesturm, der vor dem Fenster tobte. „Süße, Ihre Einladung ist das Beste, was mir heute passiert ist. Soll ich Sie im Wagen mitnehmen oder …“

„Nein. Mein Auto steht hinter dem Restaurant auf dem Parkplatz. Fahren Sie mir einfach hinterher.“

Skeptisch betrachtete er die Straßenverhältnisse. „Die Straßen sind ziemlich rutschig. Vielleicht wäre es besser, wenn ich …“

„Ich passe schon seit neun Jahren sehr gut auf mich selbst auf“, erwiderte sie ruhig. „Da ich allein hergekommen bin, kann ich auch wieder nach Hause fahren.“ Dann wandte sie sich Calvin zu. „Wenn du Hilfe brauchst … du hast ja meine Nummer.“

Calvin nickte. Er war sich nicht ganz sicher, was er von ihrem spontanen Angebot halten sollte. Aber sie war eine erwachsene Frau. Und sie schien – selbst wenn er nur wenig über sie wusste – eine kluge Frau zu sein. Er nahm an, dass sie wusste, was sie tat.

„Pass auf dich auf“, sagte er.

Sie lächelte, denn sie wusste, dass er sie damit nicht nur ermahnen wollte, vorsichtig zu fahren.

„Das werde ich. Bis morgen dann.“

„Aber komm nicht her, bevor die Straßen vom Schnee geräumt sind, ja?“

Sie nickte und winkte ihm zum Abschied zu. Dann sah sie Justin an.

„Fertig?“, fragte sie und machte sich auf den Weg Richtung Tür.

„Ja. Ich bin direkt hinter Ihnen.“

Als er ihr nach draußen ins Schneegestöber folgte, fiel ihm etwas ein: Vielleicht hätte er bei seiner Familie anrufen sollen, um Bescheid zu geben, dass es ihm gut ging. Er entschloss sich, das nachzuholen, wenn er erst einmal sicher bei Marilee zu Hause angekommen war.

Zu seiner Überraschung lenkte Marilee ihr Oldsmobile geschickt über die verschneiten Straßen. Sie nahm die engen Kurven, als wäre sie ihr ganzes Leben lang schon in schwerem Schneetreiben gefahren. Nur einmal drohte sie auf ein geparktes Auto zuzuschlittern. Justin hielt unwillkürlich den Atem an und glaubte, dass sie dem Wagen in die Seite fahren würde. Doch stattdessen lenkte sie kurz gegen, brachte das Fahrzeug wieder in die Spur und fuhr mit reichlich Platz an dem Auto vorbei.

Er erwischte sich dabei, wie er anerkennend lächelte. „Gut gemacht“, murmelte er und folgte ihr um eine weitere Kurve. Plötzlich bemerkte er, dass sie den linken Blinker gesetzt hatte. Er bremste sacht ab und hoffte, dass er die Kurve nehmen würde, ohne ins Schlittern zu geraten. Einen Augenblick später bogen sie auf eine Auffahrt. Das weiße Haus, zu dem die Auffahrt gehörte, war winzig. Gegen den starken Schneefall war es beinahe unsichtbar. Eine lange, schmale Veranda erstreckte sich über die gesamte Front.

Als Marilee aus dem Wagen stieg, beobachtete er, wie sie den Mantelkragen hochschlug und den Kopf einzog, um sich gegen den eisigen Schnee zu schützen. Während Justin ihr folgte, fiel ihm ein, dass er hätte anbieten können, sie durch den Schnee zu tragen oder wenigstens den verschneiten Weg frei zu räumen. Doch bevor er sie aufhalten konnte, war sie schon auf der Veranda.

Sie stampfte mit den Füßen auf, um ihre Schuhe vom Schnee zu befreien, und er tat es ihr nach. Als sie ungeschickt an ihren Schlüsseln herumfingerte und sie ihr schließlich auf den Boden fielen, nahm er an, dass es an ihren kalten Fingern lag.

Er ahnte nicht, dass sie langsam, aber sicher in Panik geriet.

Nachdem er ihr ins Haus gefolgt war, wurde er sofort von einer wohligen Wärme umhüllt. Neugierig sah er sich im Wohnzimmer um und verglich es mit seinem Farmhaus. Jäh durchzuckte ihn ein Schuldgefühl, weil er den Luxus, den sein Leben zu bieten hatte, als selbstverständlich erachtete. Es war nicht so, als würde sie auf einer Orangenkiste hocken und vom Fußboden essen, doch die Möbel waren alt und abgenutzt und die Teppiche zwar sauber, aber fadenscheinig.

Marilee bemerkte, wie er sich in ihrem Zuhause umsah, und wusste, dass er Besseres gewohnt war. Doch sie weigerte sich, sich für ihr Heim zu entschuldigen. Sie warf ihm einen Seitenblick zu, hoffte, dass ihre Nervosität nicht zu offensichtlich war, und deutete auf einen kleinen Schrank.

„Sie können Ihren Mantel in den Wandschrank hängen“, sagte sie. „Ich werde mich schnell umziehen und uns dann etwas zu essen machen, ja?“

Justin fühlte sich unbehaglich – und offenbar ging es ihr nicht anders. Er lächelte und nickte ihr zu, als sie das Zimmer verließ. Dann sah er sich nach dem Telefon um. Der Apparat stand auf einem Tisch neben der Couch. Er nahm an, dass das Sofa für diese Nacht sein Bett sein würde. Es war zwar ein bisschen zu kurz für ihn, doch die Vorstellung, draußen im kalten Truck schlafen zu müssen, war weit weniger reizvoll.

„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz Ihr Telefon benutze?“, rief er. „Ich muss meiner Familie Bescheid geben, dass es mir gut geht.“

„Nein. Telefonieren Sie ruhig“, hörte er sie antworten.

Justin ließ sich neben dem Apparat nieder und wählte eine Nummer. Kurz darauf begann das Telefon bei ihm zu Hause zu klingeln.

„Hallo?“

„Dad? Ich bin es. Justin.“

„Justin! Gott sei Dank, dass du anrufst. Deine Mutter und ich sind vor Sorge fast umgekommen. Alles okay mit dir? Wo steckst du?“

„Mir geht es gut, Dad. Ich wusste, dass ihr euch Sorgen machen würdet. Ich bin bis Amarillo gekommen, bevor sie die Straßen gesperrt haben. Für heute Nacht habe ich mir ein Zimmer genommen. Sobald die Straßen morgen früh geräumt sind, werde ich nach Hause fahren.“

„Das ist gut. Fahr aber wirklich bitte erst weiter, wenn es sicher ist.“ Dann fügte er hinzu: „Ich nehme an, dass die Motels voll von gestrandeten Reisenden sind. Du hast Glück, dass du überhaupt noch eine Unterkunft für die Nacht gefunden hast.“

Er blickte sich im Zimmer um und bemerkte die Flammen, die im Gasofen tanzten.

„Ja, Dad, du hast recht. Ich habe tatsächlich großes Glück gehabt. Sag den Leuten, dass sie den Rindern eine Extraportion Heu geben sollen, und sorg dafür, dass sie meine Pferde sicher in den Stall bringen.“

„Schon passiert.“

Justin lächelte. „Hört sich an, als hättest du alles unter Kontrolle. Sag Mutter, dass ich angerufen habe. Ich sehe euch dann morgen.“

Er hatte gerade aufgelegt, als Marilee ins Wohnzimmer zurückkam. Und er war beinahe erleichtert, dass er das Gespräch beendet hatte – denn er war sich nicht sicher, ob er hätte weitersprechen können. Irgendwo zwischen der Eingangstür und hier hatte Marilee, die Kellnerin, sich in eine Traumfrau verwandelt. Der strenge Knoten war gelöst, und ihr schokoladenbraunes lockiges Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug ein Paar alte Mokassins und eine Levis-Jeans, die wie angegossen saß und ihre wohlgeformten Hüften betonte. Das uralte Texas A&M University Sweatshirt, das sie anhatte, hätte die Fülle ihrer Brüste verhüllen sollen – tat es aber nicht.

„Konnten Sie telefonieren?“, fragte sie.

Er nickte.

„Gut, dass es geklappt hat und Sie jetzt angerufen haben. Wenn dieser Sturm noch länger anhält, werden wir irgendwann bestimmt im Dunkeln sitzen.“

Justin nickte wieder. Tief in seinem Inneren fragte er sich, was geschehen würde, wenn der Strom tatsächlich ausfiel …

„Sind Sie hungrig?“, fragte Marilee.

Abermals nickte er wortlos.

Fragend hob sie die Augenbrauen. Justin war ziemlich wortkarg … Doch sie wusste, dass seine Schweigsamkeit ganz sicher nichts mit seiner Intelligenz zu tun hatte. Marilee hatte sich schon oft mit ihm unterhalten und ihn nie als dumm empfunden. Unmerklich zuckte sie die Schultern. Vielleicht war ihm einfach nur kalt.

„Das Badezimmer ist den Flur hinunter … die erste Tür zu Ihrer Linken. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in die Küche. Ich habe frischen Kaffee aufgesetzt. Die Fernbedienung für den Fernseher ist übrigens da drüben in dem Regal unter dem Gerät. Fühlen Sie sich wie zu Hause, okay?“

Wieder nickte er. Schließlich fand er doch noch seine Stimme wieder, um wenigstens eine kurze Antwort herauszubringen. „Okay.“

Er beobachtete, wie sie das Zimmer verließ. Und beinahe ehrfürchtig nickte er. Ja, nur Gott hatte etwas so Perfektes wie Marilee erschaffen können.

Ein paar Minuten später kam er in die Küche und blieb abrupt in der Tür stehen. Ganz leise lief im Hintergrund das Radio. Doch Justin hörte genug von der Musik, um zu wissen, dass Marilee sich in ihrem Rhythmus wiegte. Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf etwas anderes als ihre Hüften. Der verführerische Duft des frisch aufgebrühten Kaffees drang in sein Bewusstsein und erinnerte ihn daran, warum er eigentlich in die Küche gekommen war.

„Der Kaffee riecht gut“, sagte er.

Marilee drehte sich um. In der einen Hand hielt sie eine halb geschälte Kartoffel, in der anderen ein Messer. Sie deutete mit der Kartoffel auf einen Schrank.

„Becher sind da drin“, erklärte sie. „Bedienen Sie sich.“

Justin schenkte sich Kaffee ein und trat zur Seite. Marilee begann derweil, die geschälten Kartoffeln zu waschen.

„Ich würde gern helfen“, sagte er.

„Können Sie kochen?“, fragte sie.

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und grinste. „Äh … ich kann Milch über Cornflakes gießen.“

Sie verdrehte die Augen. „Typisch Mann. Ihr bietet eure Hilfe bei etwas an, von dem ihr genau wisst, dass ihr es überhaupt nicht beherrscht. Damit geht ihr auf Nummer sicher, gar nichts machen zu müssen.“

Er lachte. „Sie haben eine ziemlich schlechte Meinung vom männlichen Geschlecht.“

Sie dachte an ihren Vater. „Bisher habe ich noch keinen Mann getroffen, der mir einen Grund gegeben hätte, meine Meinung zu ändern.“ Dann lächelte sie. „Bis auf Calvin vielleicht. Er ist ein guter Boss. Der beste, den ich je hatte.“

Justin lehnte sich gegen die Anrichte und trank seinen Kaffee, während er ihr bei den Essensvorbereitungen zusah. Ruhig und geschickt zerhackte und rührte, zerschnitt und dünstete sie. Und schon bald erfüllte der Duft von leckerem, bodenständigem Essen den kleinen Raum. Nachdenklich beobachtete er sie. Mit einem Mal fiel ihm auf, dass er sie zwar im letzten halben Jahr häufig gesehen hatte, jedoch bis auf ihren Vornamen nichts über sie wusste.

„Marilee?“

„Hm?“

Die Tatsache, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte aufzusehen, empfand er teils als amüsant, teils als kränkend. Er war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden – vor allem nicht von attraktiven Frauen.

„Mir ist aufgefallen, dass ich nicht einmal Ihren Nachnamen kenne. Und da Sie so freundlich waren, mir Schutz vor dem Sturm zu gewähren …“

Unvermittelt hörte sie auf, in den Töpfen zu rühren. Justin glaubte bemerkt zu haben, wie sie zusammenzuckte – es wirkte fast so, als müsste sie sich innerlich gegen seine Frage wappnen. Doch als sie aufblickte und ihm zulächelte, verwarf er den Gedanken schnell wieder. Vermutlich hatte er sich getäuscht.

„Cash. Mein Nachname ist Cash. Und bevor Sie fragen – nein, ich bin nicht mit Johnny verwandt.“

Autor

Sharon Sala
Es war ein Job, den sie hasste, der sie dazu brachte, ihre ersten Zeilen auf einer alten Schreibmaschine zu verfassen und es war ihre Liebe zu diesem Handwerk, die sie schreiben ließ. Ihre ersten Schreibversuche landeten 1980 noch unter ihrem Bett. Ein zweiter Versuch folgte 1981 und erlitt ein ähnliches...
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