Eine königliche Affäre

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Niemals könnte Cassie Kyriakis die Königin von Aristo werden! Das weiß Kronprinz Sebastian genau. Trotzdem kann er bei einem Empfang im Palast nicht den Blick von ihrer eleganten Erscheinung wenden. An jede Nacht ihrer heimlichen Affäre erinnert er sich plötzlich. Aber eben auch daran, warum sie enden musste: Cassie geriet unter Mordverdacht. Dafür hat sie gebüßt. Doch warum weicht sie so beharrlich seinen Blicken aus? Bei einem privaten Besuch will Sebastian den Grund wissen - und macht schockiert eine Entdeckung, die den Thron seines Landes ins Wanken bringen könnte


  • Erscheinungstag 15.05.2010
  • Bandnummer 1923
  • ISBN / Artikelnummer 9783862954636
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Cassie war ungeheuer erleichtert, dass sie es geschafft hatte, sich zwei Stunden lang erfolgreich hinter den massiven Säulen und üppigen Topfpflanzen, die den Palast von Aristo zierten, zu verbergen. Und damit gleichzeitig jede Begegnung mit der Presse und Sebastian Karedes zu vermeiden.

Doch dann stand sie ihm plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Ihr Herzschlag stockte, als ihre Blicke sich begegneten. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein einziges Wort hervor. Während verräterische Röte in ihre Wangen stieg, fragte sich Cassie, ob Sebastian überhaupt ahnte, wie oft sie sich in den letzten sechs Jahren vor diesem Moment gefürchtet hatte.

„Cassie …“ Seine tiefe Stimme streichelte ihre Haut wie kostbarer Samt, und Cassie spürte, wie sich ihre empfindlichen Nackenhärchen aufrichteten. „Ich habe dich nur per Zufall entdeckt. Wie lange bist du schon da?“

Verlegen befeuchtete sie ihre Lippen mit der Zungenspitze. „Ich … bereits den ganzen Abend über“, stammelte sie verwirrt.

„Verstehe …“

Cassie wandte den Blick zur Seite und wunderte sich, wie man mit so wenigen Buchstaben so viel sagen konnte. Ein einziges Wort, das tiefstes Unbehagen und Misstrauen ausdrückte und noch etwas, das sie nicht interpretieren konnte.

„Und was tust du hier? Ich kann mich nicht erinnern, deinen Namen auf der offiziellen Gästeliste gesehen zu haben.“

Es … es ist Teil meines Bewährungsprogramms“, gestand sie widerstrebend und spürte, wie sie erneut rot wurde. „Ich habe nach meiner … Haftentlassung einen Job im Waisenhaus angenommen und arbeite bereits seit elf Monaten dort.“

Als er nicht gleich antwortete, zwang Cassie ihren Blick zurück zu Sebastians Gesicht und wünschte bereits in der nächsten Sekunde, sie hätte es nicht getan. Um seinen gut geschnittenen Mund spielte ein sardonisches Lächeln.

Du kümmerst dich um Kinder?“

Cassie straffte die Schultern und hob das Kinn. „Ja, und ich genieße jeden einzelnen Tag mit ihnen. Heute Abend bin ich zusammen mit einigen anderen Pflegern und Lehrern dieser Einrichtung hier. Sie haben darauf bestanden, dass ich mitkomme.“

Ein weiteres, lastendes Schweigen zerrte an Cassies Nerven. Sie hätte alles darum gegeben, einfach wegbleiben und sich genau diese Szene ersparen zu können. In den letzten Stunden hatte sie sich wie ein Proband in einem brisanten, gefährlichen Spiel gefühlt, dessen Regeln sie nicht kannte und dessen Ausgang völlig ungewiss war. Und sich jetzt Sebastians kritischem, abschätzigem Blick ausgesetzt zu sehen, machte es ihr unmöglich, gefasst und unbefangen zu bleiben, wie sie es sich im Fall einer Begegnung mit dem Kronprinzen von Aristo geschworen hatte.

Nervös spielte sie mit den winzigen Perlen ihres Armbands, dem einzigen Erinnerungsstück an ihre Mutter, als könne ihr das die nötige Kraft geben, die nächsten Minuten zu überstehen, ehe sie sich endlich davonstehlen konnte.

„Nun, dann …“, murmelte Sebastian, immer noch mit diesem ironischen Lächeln auf den Lippen. „Als königlicher Schirmherr der sozialen Einrichtung, in der du jetzt tätig bist, hätte ich eher vermutet, du würdest dich angesichts eurer beachtlichen Leistung zusammen mit deinen Kollegen stolz in die erste Reihe stellen. Stattdessen versteckst du dich …“

Cassie schob ihr Kinn noch ein Stück weiter vor. „Um der Presse, die mich auf Schritt und Tritt verfolgt, Gelegenheit für ein Exklusivfoto und ein Interview zu geben? Nein danke! Nicht, bevor meine Bewährungszeit vorbei ist.“

Sebastians dunkle Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich bin überrascht, dass du ihnen deine Geschichte nicht längst verkauft hast, aber vielleicht ist es ja gut, dass wir uns vorher getroffen haben und ich dir noch einen Rat geben kann. Ein einziges Wort über unsere … frühere Verbindung, und ich sorge dafür, dass du dahin zurückkehrst, wo du nach der Meinung eines Großteils der Bevölkerung hingehörst … ins Gefängnis. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Cassie fühlte sengende Wut in sich aufsteigen. „Absolut!“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Himmel! Wie sie den arroganten Kerl in diesem Moment hasste! Die Ungerechtigkeit, die sie in den letzten Jahren hatte erleiden müssen, war schlimm genug. Aber von Sebastian derart verurteilt und bedroht zu werden, erschien ihr unerträglich. Aber solange sie nur auf Bewährung draußen war, durfte sie nichts riskieren. Sie würde einfach allen zeigen, dass sie nichts zu verbergen hatte, und – schweigen.

Sebastian war sich der neugierigen Gäste und taxierenden Blicke in seinem Rücken sehr wohl bewusst. Er hatte seine Bodyguards, die im Hintergrund standen und ihn keine Sekunde aus den Augen ließen, bei Cassies überraschendem Anblick spontan um ein paar Minuten Intimsphäre gebeten und wusste, dass sie ihn jeden Moment wieder umringen konnten.

In seiner Stellung war es ihm einfach nicht vergönnt, mal eben so ein Schwätzchen mit einer alten Bekannten zu halten. Was in diesem Fall, dank ihrer belastenden Vergangenheit, ohnehin einem Eklat gleichkam.

Aber er hatte Cassandra Kyriakis seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen und wollte sicherstellen, dass sie, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, keine Gefahr für seine Zukunft als nächster König von Aristo bedeutete. Schließlich waren sie damals nicht im Guten auseinandergegangen … Tatsächlich war er so unglaublich wütend gewesen, als sie ihre Affäre beendete, dass diese Enttäuschung noch immer zwischen ihnen stand.

Sie irgendwann, einem scheuen Reh gleich, hinter einer der prächtigen Blumeninseln verschwinden zu sehen, hatte Sebastian derart schockiert und aufgescheucht, dass er zunächst hoffte, seine Fantasie hätte ihm einen bösen Streich gespielt. Es hatte ihn alle Erfahrung seiner zweiunddreißig Jahre als Mitglied der königlichen Familie von Karedes gekostet, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen.

So hatte er zunächst die offizielle Eröffnungsrede gehalten und sich den wichtigsten Gästen, Gönnern und Sponsoren gewidmet, während er unablässig darüber nachdachte, wann und wie er Cassie ein paar Minuten allein erwischen konnte.

Doch jetzt, da sie vor ihm stand, bezweifelte Sebastian, dass dies eine gute Idee gewesen war. Mit jeder Pore nahm er ihre beunruhigende Anwesenheit wahr. Seine Nasenflügel bebten, um den vertrauten, verführerisch femininen Duft in ganzer Fülle aufzunehmen, und brennendes Verlangen in seinen Lenden machte es ihm unmöglich, still zu stehen.

Es frustrierte ihn zutiefst, feststellen zu müssen, dass sein Körper nach all den Jahren noch mit der gleichen, fast verzweifelten Intensität auf diese Frau reagierte, die absolut außerhalb seiner Reichweite existierte. Dabei war er wirklich der ehrlichen Überzeugung gewesen, über Cassie hinweg zu sein. Aber ein einziger Blick aus ihren wundervollen smaragdgrünen Augen hatte gereicht, um ihm zu zeigen, wie fest sie noch in der Tiefe seines Herzens verankert war …

Doch trotz ihres engelsgleichen Aussehens blieb die Tatsache bestehen, dass sie ein Partygirl war, das ihn mit ihrem Charme eingefangen und heiß gemacht hatte, nur um ihn, als er fest am Angelhaken hing, wieder ins kalte Wasser zurückzuwerfen.

Vor und nach Cassie hatte Sebastian viele Frauen ihres Schlages getroffen, doch wirklich unter die Haut gegangen war ihm nur sie. Und keine andere hatte von sich aus Schluss gemacht und damit seinen Stolz brutal in den Staub getreten.

Langsam ließ er seinen Blick über ihre gertenschlanke Gestalt wandern. Cassie trug ein blassrosa Kleid, das die perfekten Brüste und fast knabenhaften Hüften zärtlich zu umspielen schien. Es reichte bis knapp zu den Knien ihrer endlos langen Beine, die sie damals so häufig in lustvoller Ekstase um seine Hüften geschlungen hatte. Die Arme waren nackt, bis auf ein schmales Perlenarmband am zarten Handgelenk, mit dem sie nervös herumspielte.

Sebastian musste sich selbst nachdrücklich daran erinnern, dass sie mit diesen femininen, feingliedrigen Händen ihren eigenen Vater getötet hatte. Die auf Totschlag reduzierte Anklage schützte sie in den Augen der Öffentlichkeit nicht davor, als Mörderin gesehen zu werden.

Und dennoch … wenn er sie jetzt anschaute, wirkte sie so harmlos, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Unsicher und ängstlich, und als sie jetzt den Blick senkte, glaubte er, ungeweinte Tränen in ihren wundervollen Augen gesehen zu haben.

Sofort machte sich ein Anflug von Schuldgefühl in ihm breit. Er hätte vielleicht nicht ganz so grob sein sollen. Doch er musste absolut sichergehen, dass sie kein Sterbenswörtchen über ihre vergangene Liebesbeziehung fallen lassen würde.

Besonders jetzt nicht, da Aristo nach dem unerwarteten Tod von König Aegeus, seinem Vater, verunsichert und in Aufruhr war. Dazu noch die Korruptionsgerüchte auf höchster Ebene und das Geheimnis um den verschwundenen echten und den gefälschten halben Stefani-Diamanten, dem Herzstück der Krone, die ausreichten, um seine Krönung zum neuen König zu gefährden.

Und deshalb musste er mit Cassie eine Vereinbarung treffen, die ihn absicherte, aber unbedingt mit äußerster Diskretion und unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden musste. Die Presse war wie eine Meute von Bluthunden, wenn es um die königliche Familie ging. Außerdem hatte er noch eine offene Rechnung mit Cassie zu begleichen.

Ein altes Sprichwort besagte, dass Rache am wirkungsvollsten kalt serviert wurde, aber das vertrug sich nicht mit seinem Temperament. Was Sebastian im Sinn hatte, würde heiß wie die Hölle sein … verzehrend wie ein Buschbrand, weil er den ungleichen Punktestand von damals unbedingt revidieren musste. Und wo konnte er das besser tun als auf dem Spielfeld, wo sie ihn so unfair geschlagen hatte … in seinem Bett.

Ein Palastangestellter war näher getreten und räusperte sich diskret, um die Aufmerksamkeit des Prinzregenten auf sich zu lenken. Sebastian wandte sich ihm zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und drehte sich wieder zurück, nur um festzustellen, dass Cassie in den wenigen Sekunden wie vom Erdboden verschluckt schien.

Möglichst unauffällig ließ er seinen Blick über die Köpfe der Anwesenden schweifen, um ihr silberblondes Haar oder einen rosafarbenen Hauch ihres Kleides zu erhaschen, vergeblich.

„Suchen Sie nach jemand Bestimmtem, Eure Hoheit?“, fragte der aufmerksame Diener. „Ich könnte den Sicherheitsdienst benachrichtigen, wenn Sie es wünschen.“

Sebastian bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. „Nein, das ist nicht nötig.“

Der Mann verneigte sich ehrerbietig und zog sich zurück. Erst in diesem Moment fiel Sebastian das schmale Armband auf, das zu seinen Füßen auf dem Marmorboden lag, wo Cassie noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Mit einer unauffälligen Geste nahm er es an sich und steckte es in die Hosentasche.

Da erschien auch schon ein weiterer Hofangestellter, dem Sebastian nach kurzem Gespräch folgte. Dabei lächelte er in sich hinein, während er die Hand in die Tasche schob, das Schmuckstück umfasste und Perle für Perle durch seine Finger gleiten ließ. Cinderella mochte vor ihm geflohen sein und den Ball verlassen haben, aber dieser Prinz würde sie mit etwas viel Passenderem zurücklocken als mit einem verlorenen Schuh …

„Cassie, was ist los?“, fragte Angelica ihre Mitbewohnerin, sobald die das Zimmer betreten hatte. „Du bist ja völlig aufgelöst! Alles in Ordnung mit dir?“

Cassie schlug die Tür hinter sich zu, lehnte sich zitternd dagegen und schloss die Augen, während sie die Handballen an die Schläfen presste, um den Druck in ihrem Innern zu mildern.

„Nein, nein … ich habe nur schreckliche Kopfschmerzen“, behauptete sie, öffnete die Augen und stieß sich von der Tür ab. „Ist Sam okay?“

„Aber natürlich“, versicherte ihr Angelica. „Zuerst war er ein wenig ungnädig, aber nachdem ich ihm versicherte, du würdest so bald wie möglich zurückkommen, hat er sich von mir ins Bett bringen lassen und sich seitdem nicht einmal gerührt. Ich habe eben erst nach ihm geschaut.“

„Das ist gut …“, murmelte Cassie und ließ einen erleichterten Seufzer hören, den ihre Mitbewohnerin mit einem Stirnrunzeln quittierte.

„Unbedingt“, stimmte Angelica ihr zu. „Aber um dich mache ich mir Sorgen, Sweetheart. Dein Sohn ist inzwischen fünf Jahre alt. Es wird höchste Zeit, dass er sich ein wenig von dir abnabelt.“

„Du hast ja recht, aber er ist immer noch nicht darüber hinweg, dass er im Gefängnis so lange von mir getrennt war …“ Cassie dachte an die grauenvolle Zeit zurück, als Sams verzweifelte Schreie monatelang in ihrem Kopf widerhallten, nachdem man ihren kleinen Sohn ihren Armen entrissen hatte. Sie durfte ihm zwar hinter den hohen Mauern und unüberwindbaren Gittern das Leben schenken und ihn sogar bei sich behalten, bis er drei Jahre alt war, doch dann nahm man ihn ihr weg.

Alles, was Cassie in den Jahren der Haft auszustehen hatte, war nichts, verglichen mit der Tortur, von heute auf morgen auf ihren kleinen Liebling verzichten zu müssen. Ihn nicht mehr sehen zu können … nicht berühren, liebkosen …

Noch heute quälten sie Albträume aus dieser Zeit, aus denen sie schweißgebadet aufwachte, aus Angst, jemand könne in ihre kleine Wohnung einbrechen und das Einzige stehlen, woran ihr in diesem Leben noch etwas lag … ihren Sohn.

„Du bist es, die endlich darüber hinwegkommen muss“, erwiderte Angelica. „Lass die Vergangenheit ruhen, Cassie. Deine Arbeit im Waisenhaus ist dein Ticket in ein neues Leben, das dich von dieser Insel wegführt, sobald deine Bewährungszeit vorbei ist.“

Cassie ließ erneut einen tiefen Seufzer hören und nickte dann.

„Apropos Waisenhaus … wie ist denn diese Benefiz-Gala im Palast gelaufen? Hast du Prinz Sebastian gesehen? Ist er wirklich so umwerfend attraktiv, wie es einem diese Hochglanzmagazine weismachen wollen?“, fragte Angelica mit vor Neugier funkelnden Augen.

„Hmm … ja, das ist er wirklich“, bestätigte Cassie widerwillig und fühlte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen beim Gedanken an seinen intensiven Blick, der sie bis in die Seele berührt hatte. Sie war ein hohes Risiko eingegangen, indem sie so überstürzt die Veranstaltung verlassen hatte, aber sie hätte es keine Sekunde länger in Sebastians beunruhigender Nähe aushalten können.

Die Luft zwischen ihnen knisterte vor sexueller Energie wie eh und je. Cassie hatte geahnt, dass es so kommen würde, sollten sie einander erneut begegnen. Ob es ihm genauso ergangen war?

Automatisch wanderten ihre Finger zum linken Handgelenk, und Cassie erstarrte.

„Oh, nein!“, rief sie verzweifelt aus.

„Was ist passiert?“, wollte Angelica aufgeschreckt durch ihre hörbare Panik wissen. „Du bist ja weiß wie ein Geist.“

Cassie wandte sich hastig um und schritt mit gesenktem Blick den Weg zur Wohnungstür ab, öffnete sie und schaute auch noch hinaus in den Flur. „Ich habe mein Armband verloren!“, erklärte sie, als sie zurückkam. „Das von meiner Mutter, mit den Perlen. Es muss auf dem Heimweg aufgegangen sein. Ich bin mir ganz sicher, dass ich es im Palast noch umhatte.“

„Vielleicht ist es im Taxi heruntergefallen. Ruf doch einfach die Zentrale an und bitte sie, nachzuschauen.“

Cassie schnitt eine kleine Grimasse. „Ich bin nicht mit dem Taxi nach Hause gekommen.“

Angelicas Augen weiteten sich ungläubig. „Soll das etwa heißen, du bist mitten in stockfinsterer Nacht mit diesen Schuhen an den Füßen den ganzen Weg hierhergelaufen?“

Nein, ich bin gerannt, als sei der Teufel hinter mir her, fühlte sich Cassie versucht zu sagen, zwang sich aber stattdessen zu einem sorglosen Lächeln. „Ich hatte einfach das Gefühl, etwas frische Luft zu brauchen. Der Palast war hoffnungslos überfüllt und ziemlich … stickig“, erklärte sie ihrer verblüfften Freundin.

„Ich hol dir eine Taschenlampe“, entschied Angelica spontan. „Wenn du willst, bleibe ich bei Sam, während du deinen Weg zurück zum Palast abgehst. Oder möchtest du bis morgen früh warten, damit wir zusammen suchen können?“

Cassie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, bis dahin findet es vielleicht jemand anderer und steckt es einfach ein. Ich werde ein paar Blocks zurücklaufen und den Boden absuchen. Ich bin sicher, es ist irgendwo hier in der Nähe verlorengegangen.“

„Nimm aber unbedingt dein Handy mit“, riet Angelica ihr. „Man weiß nie, wer sich um diese Zeit auf der Straße herumtreibt. Außerdem würde ich mich an deiner Stelle umziehen. In dem Kleid fällst du selbst nachts auf wie ein bunter Hund!“

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer schaute Cassie rasch nach Sam, zog seine Decke zurecht und küsste ihn zärtlich auf das dunkle widerspenstige Haar, bevor sie ihr Kleid gegen einen Trainingsanzug und Turnschuhe tauschte.

Er sieht so friedlich aus, dachte sie mit zärtlichem Lächeln, und er gleicht seinem Vater so sehr …

Der Anblick ihres kleinen Sohnes fuhr Cassie jedes Mal wie ein Dolchstich ins Herz. Der Gedanke, dass er seinem Vater niemals in die schwarzbraunen Augen schauen würde, die seinen so sehr glichen, machte sie traurig. Niemals würde Sam seinem Daddy in die Arme rennen können, sich von ihm herumwirbeln lassen und versichert bekommen, wie sehr er geliebt wurde. Nie den Schutz und die Unterstützung von ihm bekommen, die er so dringend brauchte.

In seinem kurzen Leben war er schon um so viel betrogen worden, ähnlich wie sie selbst, aber Cassie war entschlossen, ihm alles zu geben, was in ihrer Macht stand, um ihn für diesen Verlust zu entschädigen. Sobald ihre Bewährungszeit zu Ende war, würden Sam und sie Aristo verlassen und irgendwo auf der Welt noch einmal ganz von vorn anfangen.

Dort, wo niemand wusste, wer sie war, was sie getan hatte und – was noch viel wichtiger war – wessen Kind sie heimlich geboren hatte …

2. KAPITEL

Die holperigen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen waren zwar von den Straßenlaternen einigermaßen beleuchtet, trotzdem war Cassie unbehaglich zumute. Unheimliche Schatten schienen sie auf Schritt und Tritt zu bedrohen.

Verzweifelt suchte sie den Boden im gebündelten Lichtschein von Angelicas Taschenlampe ab, doch außer einigen Zigarettenstummeln oder weggeworfenen Kaugummis war nichts zu finden. Plötzlich fühlte sie sich an ihren Vater erinnert, der in seinem Amt als Bürgermeister eine Kampagne ins Leben gerufen hatte, um die Altstadt von Aristo sauber zu halten, während sein eigenes Heim im Dreck verkam.

Cassie schauderte und zwang die belastenden Erinnerungen in den Hinterkopf zurück. Mit gesenktem Blick bewegte sie sich in Richtung Palast, so weit sie es wagte. Sie war nur noch drei Blocks von der hohen, umlaufenden Mauer entfernt, da setzte ihr Herz einen Schlag aus, als der Schein der Taschenlampe einen männlichen Sportschuh streifte.

Mit einem Schreckenslaut richtete Cassie sich auf und leuchtete Sebastian Karedes mitten ins Gesicht. Er trug schwarze Joggingsachen, ähnlich den ihren, und musterte aufmerksam ihre entsetzte Miene.

„Suchst du irgendetwas, Cassie?“

Nie hätte sie gedacht, dass sie lieber einem Räuber auf nachtdunkler Straße begegnen würde als dem Mann, den sie einst über alles geliebt hatte. Sie hatte in ihrem Leben aus guten Gründen mehr Angst gehabt als viele andere, aber dies hier besaß eine ganz andere Qualität.

Sebastian hatte die Macht, ihr Leben zu zerstören, wie selbst ihr unberechenbarer Vater es nie fertiggebracht hätte. Alles, wofür sie so lange und hart gekämpft hatte, schien für sie plötzlich von dem Verlauf der nächsten Minuten abzuhängen. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog.

„Ich … ich scheine mein Armband verloren zu haben.“ Sie richtete die Taschenlampe wieder auf den Boden. „Ich dachte, ich würde es vielleicht wiederfinden.“

„Du bist gegangen, ohne dich zu verabschieden“, hielt er ihr vor, ohne auf das verlorene Schmuckstück einzugehen. „Ich hatte gehofft, dich noch für ein paar Minuten privat sprechen zu können. Es gibt einige Dinge, die ich unbedingt mit dir klären muss.“

Cassie löschte das Licht, aus Angst, er könne im Schein der Lampe ihr Entsetzen sehen. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee, wenn man uns zusammen sieht, Sebastian? Du weißt doch, wie die Presseleute sind. Du wirst demnächst zum König gekrönt, und mit einer Exgefangenen im Gespräch überrascht zu werden, ist ganz sicher nicht deinem guten Ruf förderlich.“

„Ich sehe hier niemanden“, erwiderte er gelassen. „Wir können aber auch zu dir gehen, dort wird man mich ganz sicher nicht vermuten.“

Cassie war froh, dass er ihre aufflackernde Panik im Dunkeln nicht sehen konnte. Sam hatte durch die Gefängniszeit einen sehr leichten Schlaf und machte ab und zu noch ins Bett, wenn er unter Albträumen litt. Danach wachte er meist voller Unbehagen auf und rief nach ihr.

„Nein!“, sagte sie viel zu laut und heftig. „Ich … ich meine, das ist nicht so günstig, ich … ich wohne nicht allein.“

„Ein Mann?“

„Eine weibliche Mitbewohnerin, mit der ich mir das Apartment teile.“

„Dann hast du zurzeit keinen Liebhaber?“

Cassie fühlte, wie sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Ohne ihn erneut mit der Taschenlampe anzustrahlen, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen, würde sie wohl keinen Aufschluss darüber bekommen, wie diese Frage gemeint war. Denn sein steifer Ton gab nichts preis. Doch selbst dann zweifelte sie daran, ob es ihr je gelingen würde, diesen Mann zu durchschauen.

Sebastian war ein Meister darin, seine Gefühle zu verbergen, falls er überhaupt welche hatte. Das war auch schon damals so gewesen. Wie oft hatte sie sich gefragt, ob seine Unnahbarkeit und herablassende Haltung nur eine Art Maske oder ein angeborener Part seiner Persönlichkeit war. Bis heute war sie sich nicht ganz schlüssig darüber.

Von klein auf hatte man Sebastian auf seine Rolle als zukünftiger König vorbereitet, der seinen Vater nach dessen Tod auf dem Thron ablösen sollte. König Aegeus war vor wenigen Monaten gestorben. Dass Sebastian in dieser Situation riskierte, mit ihr gesehen zu werden, überraschte und verstörte Cassie. Außerdem hatte sie Angst, sich zu verraten, wenn er ihr so nahe war. Ihr Puls raste, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das konnte sie ja noch auf bloße Panik schieben. Aber warum spannten ihre Brüste und waren plötzlich so empfindsam …?

„Ich treffe mich hin und wieder mit jemandem“, log sie dreist und hoffte, damit der unterschwelligen Anziehung zwischen ihnen ein abruptes Ende zu bereiten.

„Der gleiche Typ, wegen dem du damals unsere Affäre beendet hast?“ Der bittere Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„N…ein, es ist jemand ganz anderer.“

Wie leicht doch eine Lüge auf die andere folgt, wenn man erstmal damit angefangen hat, dachte Cassie traurig. Trotzdem hatte sie keine Wahl, wenn sie ihr Geheimnis wahren wollte.

„Wie ernst ist es dir mit dieser Beziehung?“

„Ziemlich.“

„Ernsthaft genug, um deine Freiheit zu riskieren?“

Cassie ließ entsetzt die Taschenlampe fallen. „Was willst du wirklich von mir, Sebastian?“

Bedächtig bückte er sich nach der Taschenlampe, hob sie auf, machte sie an und leuchtete Cassie mitten ins totenblasse Gesicht. „Wie wäre es, wenn wir zum Palast zurückgehen und das in meiner Privatsuite besprechen?“

Cassie blinzelte und versuchte, dem blendenden Lichtkegel auszuweichen. „Ich glaube nicht, dass wir etwas zu besprechen haben. Zumindest nichts, was für mich von Interesse sein könnte.“

„Oh, im Gegenteil! Ich denke, es wird dich sogar sehr interessieren“, widersprach er und knipste die Taschenlampe wieder aus. „Ich habe nämlich etwas von dir …“

Und ich von dir … dachte sie mit wehem Herzen und war nicht zum ersten Mal an diesem Abend froh über die Dunkelheit, die sie einhüllte wie ein schützender Mantel.

„Mein Armband?“, fragte sie so gelassen wie möglich. „Hast du es bei dir?“

„Nein, es ist im Palast.“

Autor

Melanie Milburne
<p>Eigentlich hätte Melanie Milburne ja für ein High-School-Examen lernen müssen, doch dann fiel ihr ihr erster Liebesroman in die Hände. Damals – sie war siebzehn – stand für sie fest: Sie würde weiterhin romantische Romane lesen – und einen Mann heiraten, der ebenso attraktiv war wie die Helden der Romances....
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