Eine Lady lebt gefährlich

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Ist der Ruf erst ruiniert, sündigt es sich ganz ungeniert. So könnte das Motto von Lady Sesily Talbot lauten. Kein Mensch aus der Londoner High Society schaut zweimal hin, wenn die unabhängige Schönheit einen Gentleman in die dunklen Gärten hinter einem Ballsaal in Mayfair lockt … Doch diese Treffen sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Nur Caleb Calhoun, der beste Freund ihres Bruders, ahnt, dass Sesily im Schutz der Nacht verwegenen Plänen nachgeht, um Frauen in Not zu helfen. Um sie bei ihren gefährlichen Aktivitäten zu beschützen, sucht er, wann immer es geht, ihre Nähe. Allerdings begibt er sich damit selbst in Gefahr – denn Sesilys verlangenden Kuss, den er ihr vor langer Zeit gestohlen hat, kann er einfach nicht vergessen …


  • Erscheinungstag 04.04.2023
  • Bandnummer 390
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516211
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Eine Woche, bevor ich die Arbeit an diesem Buch beendete,

sagte meine siebenjährige Tochter zu mir,
ich solle es den Menschen widmen,

„die während der Pandemie geholfen haben“.

Ich erkenne eine gute Idee, wenn ich sie höre.

Für diejenigen im Gesundheitssystem,

in den Schulen, auf den Bauernhöfen
und in der Lebensmittelzubereitung,

beim Transport und den Lieferdiensten
und für alle, die dafür gearbeitet haben,
dass wir gesund bleiben.

Danke.

PROLOG

Vergnügungspark Vauxhall Gardens

Oktober 1836

Erst als die Stelzenläuferin näher kam, begriff Sesily Talbot, dass jemand ein Spielchen mit ihr trieb.

Sie hätte es sofort bemerken müssen, sobald sie das Boot verlassen und die zum Fluss gelegenen Tore der Vauxhall Gardens durchschritten hatte. Da war dieser Tänzer gewesen, verkleidet als gigantischer Pfau mit strahlend blauen Schwanzfedern, die so weit gespreizt waren, wie ein Stadthaus in Marylebone breit war. Er hatte sie abgefangen, als sie sich von den ausgetretenen Pfaden entfernen wollte, und auf die Tanzfläche gezogen.

Dort hatte der wunderschöne Vogel sie in einem wilden, wirbelnden schottischen Tanz festgehalten. Zu einem Tanz hatte Sesily noch nie nein sagen können, und so machte sie gerne mit, bis sie trotz des kühlen Oktoberabends atemlos und erhitzt war. Erst dann entzog sie sich dem heiteren Treiben, um einen ruhigeren Ort zu suchen. Eine Stelle, an der sie für sich bleiben konnte. Wo sie ihre Geheimnisse für sich behalten konnte.

Sesily war gerade einmal eine Minute in der Dunkelheit abgetaucht gewesen, als die Feuerschluckerin sie gefunden hatte. Sie baute sich vor ihr auf, mitten auf dem Pfad, der sich unter einem Netz aus Drahtseilen hindurch wand und jene herbeilockte, die es tiefer in die anzüglicheren Bereiche des Parks zog.

Rote Papierlaternen glühten verführerisch hinter der Künstlerin, die sich Sesily in den Weg gestellt hatte. Ihr Gesicht war weiß geschminkt wie bei einem Clown, hellblaue Augen zwinkerten ihr zu, als sie ihre Fackel näher hielt und die tiefschwarze Nacht entflammte.

Sesily wusste, was von ihr erwartet wurde, und zögerte nicht, „Oh“ und „Ah“ zu rufen. Sie ließ zu, dass die Künstlerin mit einem tiefen Knicks und einem bezaubernden „Nicht diesen Weg, Mylady“ ihre Hand ergriff. Sie führte Sesily zurück zum Licht, fort von der Route, die sie eingeschlagen hatte.

Schon da hätte sie merken können, dass sie eine Schachfigur war.

Kein Bauer, sondern eine Königin. Gleichwohl jemand, mit dem gespielt wurde.

Sie bemerkte es nicht. Später wunderte sie sich über ihre Begriffsstutzigkeit – das war ungewöhnlich für ihre achtundzwanzig Jahre. Ungewöhnlich für jemanden, der es genoss, Bescheid zu wissen. Ungewöhnlich für eine Frau, die ihre Lebensaufgabe darin sah, alles unter Kontrolle zu haben und die Fäden in der Hand zu halten.

Stattdessen verbrachte Sesily Talbot die nächste Stunde damit, selbst eingewickelt zu werden.

Geködert von einer Wahrsagerin.

Unterhalten von zwei Mimen.

Erheitert von einem unzüchtigen Puppenspiel.

Immer wieder versuchte sie, tiefer in den Park hineinzugelangen – fort von den offiziellen Aufführungen, hin zu jener Art Unterhaltung, die zu Gerüchten und Skandalen führte und sie von der Leere in ihrer Brust ablenken sollte. Doch immer wieder wurde sie abgefangen und daran gehindert, sich auf leichtsinnige Abenteuer einzulassen.

Abenteuer, die eher ihrem Ruf entsprochen hätten. Sesily Talbot war der Fleisch gewordene Skandal, die vollbusige Schönheit, die ungebundene Erbin und Königin des verwegenen Abenteuers. Die meisten Londoner nannten sie Sexily Talbot, wenn sie glaubten, sie würde nicht zuhören – als sei das etwas Schlechtes.

Mit achtundzwanzig Jahren war Sesily die zweitälteste und einzige unverheiratete Tochter des außerordentlich wohlhabenden Jack Talbot. Der ehemalige Bergarbeiter stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte sich aus dem Ruß hochgearbeitet und seinen Titel bei einem Kartenspiel gegen den Prinzregenten gewonnen. Als ob das nicht genug wäre, hatte sich der frischgebackene Earl of Wight darangemacht, mit seiner extravaganten Gattin und den fünf gefährlichen Töchtern im Schlepptau verheerende Schäden an der Aristokratie anzurichten. Die Töchter erschütterten die feine Gesellschaft mit ihren Skandalen, bis sie beneidenswerte Partien machten. Die Schmutzigen S nannte man sie, denn Seraphina, Sesily, Seleste, Seline und Sophie waren im Kohlenstaub geboren worden. Doch jetzt herrschten sie als Duchess, Marquise, Countess sowie als Gemahlin des reichsten Pferdezüchters Britanniens über London.

Und dann war da noch Sesily, die zehn Jahre damit verbracht hatte, Traditionen und Titel zu verspotten und Regeln und Vorschriften zu missachten. Was sie natürlich zur gefährlichsten der fünf Töchter machte. Sie interessierte sich nicht für die Spielchen des Adels. Sie kümmerte sich nicht um ihre angeblichen Konkurrentinnen, die sie vom anderen Ende des Ballsaals aus finster anstarrten. Sie verfolgte nicht die gleichen Ziele wie der Rest der Gesellschaft.

Leichtsinnige Sesily.

Sie ließ sich weder in die Schublade für alte Jungfern stecken noch an den äußersten Rand von Mayfair verbannen, wo die gefallenen Mädchen ihr Dasein fristeten.

Wilde Sesily.

Stattdessen blieb sie reich, adlig und heiter und interessierte sich ganz offenkundig nicht für die Meinungen der anderen. Sie war weder willens noch fähig, sich von ihrer Mutter, den Schwestern, einem Begleiter oder der Gesellschaft zähmen zu lassen.

Skandalöse Sesily.

Tadel half nicht. Genauso wenig wie Missachtung. Oder Missbilligung. Was dem Adel keine andere Wahl ließ, als sie zu akzeptieren.

Gelangweilte Sesily.

Allerdings nicht an diesem Abend. Langweile mochte sie schon häufig nach Vauxhall geführt haben, aber niemals alleine. Normalerweise kam sie mit einer Freundin, mit einem ganzen Dutzend Freunde. Sie kam, um sich lärmend unterhalten zu lassen und ein wenig von dem zu kosten, was ihr wieder einmal Ärger einbringen würde. Doch an diesem Abend wollte sie etwas anderes. Etwas hatte sie gepackt, hatte in ihr das Verlangen geweckt, die übelste Art von Ärger zu suchen. Sie wollte das Schicksal herausfordern. Es anschreien.

Enttäuschte Sesily. Wütende Sesily.

Beschämte Sesily.

Sie war auf die schlimmste nur denkbare Weise in Verlegenheit gebracht worden. Von einem Mann. Von einem hochgewachsenen, breitschultrigen, nervtötenden Mann mit grünen Augen, hemdsärmelig und mit einem albernen Hut im amerikanischen Stil, der ganz und gar nicht nach Mayfair passte, aber verwirrend gut das etwas zu kantige Kinn zur Geltung brachte. Der ganze Kerl war viel zu kantig und ausgesprochen ungeschliffen.

Er war der einzige Mann, den sie je gewollt hatte und nicht gewinnen konnte.

So viel zum Spitznamen Sexily.

Doch sie weigerte sich rundheraus, ihre Enttäuschung öffentlich zu zeigen. Das taten andere Leute, nicht aber Sesily.

Sesily Talbot riss sich zusammen, puderte sich das Gesicht und fuhr nach Vauxhall.

Wenn sie nicht so beschäftigt damit gewesen wäre, sich im Stillen der Enttäuschung dieses Abends hinzugeben, hätte sie natürlich schon viel eher gemerkt, dass sie beobachtet und hierhin und dorthin bugsiert wurde. Jedenfalls lange, bevor die Stelzenläuferin aus den Schatten der hohen Bäume trat, die den Weg zum hinteren Bereich von Vauxhall säumten. Den Dunklen Weg.

In den vergangenen zehn Jahren war Sesily bei den meisten Besuchen in Vauxhall Gardens irgendwann den aufmerksamen Blicken der Eltern, der Anstandsdame, der Schwester oder einer Freundin entwischt und den stets dunklen Pfad entlanggehuscht. Es zog sie unwiderstehlich zu diesem Ort, an dem es keine öffentlichen Darbietungen gab, der stattdessen eher Ungestörtheit bot. Der wegführte vom Feuerwerk, den Zirkusvorführungen und den Heißluftballons, hin zu anzüglicheren Dingen. Zu Vergnügungen, die man für verkommen halten könnte.

In all den Jahren hatte sie noch nie einen der Gaukler so weit oben an diesem Weg gesehen. So tief in der Dunkelheit

Und ganz gewiss nicht kurz vor Mitternacht in der letzten Woche der Vauxhall-Saison. Selbst zu dieser später Stunde drängten sich die Besucher im Park, und die Künstler sollten damit beschäftigt sein, die feiernden Menschenmassen zu unterhalten, die über die luxuriösen Verlockungen des Ortes staunten.

Und doch waren da der Tänzer und die Feuerschluckerin gewesen, und jetzt schenkte die Stelzenläuferin mit der riesigen Perücke und der übertriebenen Schminke ihr ein strahlendes Lächeln. „Nicht diesen Weg, Mylady!“, sagte auch sie.

In diesem Moment wusste Sesily Bescheid.

Sie blieb unvermittelt stehen, legte den Kopf in den Nacken, um zu der Künstlerin hoch über ihr aufzublicken, die in unglaublich üppige, prachtvolle Röcke gekleidet war – Röcke, in denen sich jede normale anständige Frau die Füße brechen würde. „Ich soll heute also überhaupt keinen Weg nehmen?“

Der kalte Herbstwind trug das laute Lachen zu Sesily herunter. Es wurde noch von dem hellen Feuerwerk unterstrichen, das in einem anderen Teil des Parks begonnen hatte und die staunenden Massen anlockte.

Sesily interessierte sich nicht für die tanzenden Sterne am Himmel. „Oder ist für mich heute Abend ein anderer Weg vorgesehen?“

Das Lachen wurde zu einem wissenden Lächeln, und die Stelzenläuferin wandte sich ab. Es war keine Frage, dass Sesily ihr folgen würde, und plötzlich kam sie sich vor wie ein Pfeil, abgeschossen von einem Bogen, der weit weg vom angepeilten Ziel ganz woanders landete.

Obwohl Ärger, Enttäuschung und dieses Gefühl, das sie sich niemals eingestehen würde, immer noch heiß in ihrer Brust brannten, konnte Sesily sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Ihr war nicht länger langweilig.

Sie folgte der Riesin durch die Bäume zu einem flackernden Licht in der Ferne. Das Licht wurde immer heller, bis sie eine Lichtung erreichten, auf der Sesily nie zuvor gewesen war. Auf einer erhöhten Bühne stand eine Zauberin, die überaus talentiert sein musste, denn sie schaffte es, das Feuerwerk am Nachthimmel auszustechen und die Aufmerksamkeit ihres dicht gedrängten Publikums zu fesseln, indem sie vor aller Augen einen Hund verschwinden ließ.

Ihr Blick fiel auf die Stelzenläuferin und wanderte sofort weiter zu Sesily. Sie verriet keinerlei Überraschung, während sie ihren Trick beendete und den Hund mit einer knappen Handbewegung und etwas Trockenfleisch wieder freiließ.

Heftiger Applaus brandete in der Lichtung auf, und sie verbeugte sich dankbar. Was war eine Künstlerin schon ohne ihr Publikum?

Damit waren die Zuschauer für den Rest des Abends entlassen. Rasch eilten sie davon, um ein weiteres Spektakel zu sehen – angetrieben von dem Wissen, dass ihnen nur noch wenige Stunden blieben, ehe der Park seine Pforten für den Winter schloss.

Binnen weniger Momente war Sesily mit der Zauberin und ihrem Hund allein auf der Lichtung. Die Stelzenläuferin war irgendwo in der Nacht verschwunden.

„Mylady“, sagte die Zauberin. Ihr lässiger italienischer Akzent füllte den Raum zwischen ihnen, die höfliche Anrede war klar wie der Nachthimmel. Sie wusste, wer Sesily war. Sie hatte auf sie gewartet, wie offensichtlich alle an diesem Abend. „Willkommen.“

Neugierig trat Sesily näher. „Wie ich sehe, lag es nicht an mir, dass dieser Abend so schwierig war. Sie haben mich in Schach halten lassen, bis Sie Zeit für mich hatten.“

„Bis wir Ihnen die Zeit schenken können, die Sie verdienen, Mylady.“ Die Zauberin machte eine tiefe, ausladende Verbeugung. Dabei hob sie ein kleines, vergoldetes Kästchen auf und stellte es auf den Tisch zwischen ihnen.

Sesily lächelte und sah den Hund zu den Füßen der Zauberin an. „Ihre Vorführung hat mich sehr beeindruckt. Ich nehme nicht an, dass Sie mir verraten, wie die Illusion funktioniert?“

Die goldgrünen Augen der Frau funkelten im Licht der Laternen. „Magie.“

Sie war jünger, als Sesily zuerst gedacht hatte. Eine dunkle Kapuze hatte ihr Gesicht versteckt, das sich als hübsch und frisch entpuppte – ein Gesicht, das Aufsehen erregte.

Sesily war stolz auf das Aufsehen, das sie selbst erregte, und so bewunderte sie die unverwechselbare Schönheit der Frau.

Allerdings hatte sie es nicht geschafft, den Blick des einzigen Menschen zu bannen, bei dem ihr wirklich daran gelegen war. Diesen einen Kopf hatte sie nicht verdreht, und in diesem Moment befand er sich an Bord des Schiffes nach Boston.

Sie schob den Gedanken beiseite. „Ihr Publikum haben Sie jedenfalls verzaubert.“

„Alle Menschen lieben das Schauspiel“, erwiderte die Frau.

„Doch sie können die Wahrheit im Schauspiel nicht erkennen.“ Sesily wusste das besser als die meisten.

„Das ist der Trick dabei.“ Die Zauberin öffnete das Kästchen. An ihren Fingern funkelten eine Reihe Silberringe. „Soll ich Ihnen einen anderen Trick zeigen?“

„Gerne“, erwiderte Sesily und lächelte strahlend, um das Klopfen ihres Herzens zu verbergen. Noch vor wenigen Stunden hatte sie an einem Abgrund gestanden; es war einer der seltenen Momente im Leben gewesen, in denen man begreift, dass es ein Vorher und ein Nachher geben wird.

Aber das war nur ein Gefühl gewesen. Eines, das heimlich, still und leise vergehen würde. Bis der Augenblick ganz verblasst sein und sie Mühe haben würde, sich an die Einzelheiten zu erinnern.

Es war nur ein Gefühl.

Dies hier dagegen war die Wahrheit.

Sie zögerte nicht und legte eine Hand in das leere Kästchen. Die Finger kratzen an dem glatten Eichenholz. Sie zog ihre Hand heraus und sagte: „Leer.“

Die Frau hob ganz hinreißend die Brauen, dann schloss sie den Holzdeckel mit einem festen Knacken und strich mit einer Hand über den Deckel. Sie öffnete das Kästchen erneut. „Sind Sie sicher?“

Begeistert und neugierig griff Sesily hinein und hielt den Atem an, als sie ein kleines silbernes Oval hervorzog. Sie drehte das Porträt in ihren Fingern und hielt es ins Licht.

„Das bin ja ich!“, rief sie überrascht.

Die andere neigte den Kopf. „Damit Sie wissen, dass es für Sie ist.“

Das ständige Abfangen. Die Intrigen. Das Herumbugsieren. Die Art, wie ihr Weg an diesem Abend von Anfang an geplant worden war. Ihre Finger schlossen sich um das kleine Porträt, der silberne Rahmen bohrte sich in ihre Haut.

Aber warum?

Als hätte sie die Frage gehört, lüftete die Zauberin mit einer eleganten Bewegung ihren Hut und hielt ihn Sesily hin. Die griff atemlos hinein.

Hier und jetzt würde sich alles ändern.

Zuerst dachte sie, der Hut sei leer, ihre Fingerspitzen streiften suchend das weiche Futter. Und fanden etwas.

Sie zog eine kleine eierschalenfarbene Karte heraus und hielt sie ins Licht.

Auf der einen Seite war eine verzierte Glocke, in der linken unteren Ecke stand eine Adresse in Mayfair.

Sie drehte die Karte um. Die kräftige, klare Schrift brannte sich in ihr Gedächtnis ein.

Nicht diesen Weg, Sesily.

Wir haben einen besseren.

Besuchen Sie mich.

Die Duchess

1. KAPITEL

South Audley Street, Mayfair

Das Londoner Stadthaus der Duchess of Trevescan

Zwei Jahre später

Es ist, als würdest du einen Kutschenunfall sehen.“

Auf dem Herbstball der Duchess of Trevescan stand Lady Sesily Talbot hinter dem Tisch mit den Erfrischungen, betrachtete die wimmelnde Menge aus Aristokraten und kommentierte sie für ihre Freundin und Gastgeberin. Dabei hatte sie Mühe, ihren Blick von der Masse der Kleider loszureißen – jedes war auf seine eigene Weise einzigartig und grässlich, denn diejenigen, die darüber entschieden, was in der Mode als letzter Schrei zu gelten hatte, verdammten momentan alle weiblichen Wesen dazu, sich in Spitze und Flitter, bunte Bänder und hochgestapelte Blumen zu hüllen, bis sie den mehrstöckigen Torten bei Hofe ähnelten. Nur wenige adelige Damen trugen noch jene unverfroren tief ausgeschnittenen Kleider über engen, knochenverstärkten Korsetts, die auch Sesily bevorzugte.

Mit einem Nicken deutete sie auf eine unglückliche Debütantin, die in einem Ozean aus Grenadine-Gaze fast verloren ging. „Es sieht aus, als sei sie mit den Schlafzimmervorhängen meiner Mutter ausgepolstert worden.“ Missbilligend schüttelte sie den Kopf. „Ich korrigiere mich. Es ist nicht ein Kutschenunfall. Es ist ein ganzer Ballsaal voll davon. Die Nachwelt wird uns mit Sicherheit streng für diese Mode verurteilen.“

„Wer redet denn hier von Mode?“ Neben ihr wischte die Duchess of Trevescan sich ein unsichtbares Staubkorn von ihrem atemberaubenden, hautengen saphirgrünen Mieder. Sie schürzte ihre kühn angemalten Lippen und überblickte die Menge mit scharfem Blick. Die Duchess war die beliebteste Gastgeberin von Mayfair, auch wenn kein einziges Mitglied des Adels das jemals zugeben würde.

„Die einzige Erklärung ist, dass die neue Königin ihr Geschlecht verabscheut. Warum sonst hätte sie das hier zur aktuellen Mode auserkoren? Zweifelsohne beabsichtigt sie, uns alle grauenhaft aussehen zu lassen. Sieh dir nur das an.“ Sesily deutete auf einen besonders unglücklichen Hut – eine übergroße, ovale Kreation, die das Gesicht der jungen Trägerin mit unzähligen Lagen aus rosa Spitze und Federn wie eine Muschel einfasste. „Als würde sie gerade ein zweites Mal geboren werden.“

Die Duchess hustete und verschluckte sich an ihrem Champagner. „Guter Gott, Sesily.“

Sesily schaute sie an, ein Bild der Unschuld. „Zeig mir, dass ich mich irre.“ Da die Duchess das nicht konnte, redete sie weiter. „Ich werde meiner Modistin sagen, sie soll dem armen Ding etwas schicken, in dem sie fantastisch aussieht. Zusammen mit einer Einladung zur Hüteverbrennung.“

Die Duchess unterdrückte ein Lachen. „Ihre Mutter wird dich niemals auch nur in ihre Nähe lassen.“

Das stimmte vermutlich. Sesily war bei adligen Müttern noch nie besonders populär gewesen, und das lag keineswegs ausschließlich an ihrer Weigerung, sich der Mode der Saison zu unterwerfen. Sesily versetzte die Aristokratie nicht nur durch ihre wunderschöne malvenfarbene Seide in Angst und Schrecken, sondern auch aus anderen, hoffentlich noch beunruhigenderen Gründen.

Als berüchtigt schwierige und unfeine Tochter eines Bergmanns, der zum Earl geworden war, weckte sie ohnehin Unbehagen in der feinen Gesellschaft, aber auch das war nicht der Hauptgrund für ihre Unbeliebtheit. Nein, sie war vor allem deshalb so furchterregend, weil sie dreißig Jahre alt, unverheiratet, reich und eine Frau war. Noch schlimmer, all das war sie gänzlich schamlos. Sie zog sich nicht zurück, um in schicklicher Gesellschaft ihr Leben zu fristen. Sie igelte sich nicht auf dem Land ein und wurde unsichtbar. Stattdessen ging sie ganz allein auf Bälle. In tief ausgeschnittenen, eng geschnürten Seidenkleidern, in denen sie ganz entschieden nicht wie eine Torte aussah. Und ohne Hüte, die nur für Debütantinnen oder alte Jungfern geschaffen waren.

Und das machte sie zur gefährlichsten aller gefährlichen Töchter des Earl of Wight.

Was für eine Ironie! Keine halbe Meile von Mayfair entfernt saß Queen Victoria auf dem Thron, während der Adel ängstlich vor Frauen zitterte, die sich weigerten, abgeschoben und weggeschickt zu werden, sobald sie zu alt wurden. Vor Frauen, die sich weigerten, zu heiraten, und sich auch sonst nicht für die Regeln und Vorschriften der feinen Gesellschaft mit ihren Titeln und Traditionen interessierten.

Sesily hatte kein Interesse an der ordentlichen, durch Regeln geprägten Welt des Adels. Nicht, wenn die restliche Welt ihr noch so viel zu bieten hatte. Raum zum Leben, Raum für Veränderungen.

Vor vielen Jahren, als Sesily und ihre Schwestern nach London gekommen waren, mit Kohlenstaub im Haar und dem schweren Dialekt Nordenglands, konnte man sie vielleicht noch beschämen. Aber zu viele verächtliche Blicke und zu viele bissige Bemerkungen hatten sie abgehärtet, und Sesily hatte rasch erkannt, dass das Urteil der Gesellschaft ihren hellsten Sternen entweder das Licht raubte oder sie noch heller brennen ließ.

Und sie hatte ihre Wahl getroffen.

Aus diesem Grund hatte die Duchess of Trevescan sie vor zwei Jahren hierher in die South Audley Street bestellt und Sesily mehr geboten als gebügelte Seide und eine perfekte Frisur. Gewiss, auf diese Dinge legte Sesily immer noch Wert – sie wusste eine gute Rüstung durchaus zu schätzen. Allerdings konnte sie in dieser Aufmachung genauso gut eine finstere Gasse in Covent Garden wie einen glanzvollen Ballsaal in Mayfair aufsuchen.

Am Ende waren es die finsteren Gassen, in denen Sesily sich einen Namen machte, zusammen mit einer ganzen Gruppe Frauen, die sie schon bald als ihre Freundinnen betrachtete. Die Duchess war es, die sie alle zusammengebracht hatte.

Die Duchess war viel zu jung an einen einsiedlerischen Duke verheiratet worden, der die Abgeschiedenheit seines Landsitzes auf den Scilly Isles dem Londoner Trubel vorzog. Sie weigerte sich, ihre Jugend in ebendieser Abgeschiedenheit zu vergeuden, und entschied sich stattdessen, in der Stadt zu leben, in einem der kostspieligsten Häuser Londons. Was ihr Treiben dort anging … „Was der Duke nicht weiß, macht ihn nicht heiß“, wie sie gerne sagte.

Der Duke hatte vielleicht keine Ahnung, doch der Rest Londons wusste Bescheid. Wenn es um Skandale ging, war die Frau, die alle einfach nur Die Duchess nannten, immer eine sichere Bank.

Es war die Aussicht auf einen Skandal, die die feine Gesellschaft Londons regelmäßig auf die Bälle der Duchess lockte. Die Leute bewunderten sie dafür, wie kühn sie ihren Titel führte und die Illusion von Anständigkeit aufrechterhielt. Sie gierten nach den Gerüchten, die am nächsten Morgen flüsternd die Runde machen würden, und diejenigen, die zugegen waren, hofften darauf, aus nächster Nähe Zeuge des wilden, wunderbaren Skandals werden zu können … schließlich waren Klatsch und Tratsch ihre wertvollste Währung.

Doch sosehr der Adel die Skandale zu schätzen wusste, so wenig wollten die vornehmen Mütter ihre Töchter in der Nähe jener Personen sehen, die sie verursachten. Und so würde Sesily niemals Gelegenheit bekommen, die Hüte dieses Bataillons aus Debütantinnen zu verbrennen, die in dem goldfunkelnden Ballsaal umherschwebten.

„Das ist schade“, sagte sie zu ihrer Freundin. „Aber keine Angst. Ich werde das Geschenk anonym schicken. Ich werde die gute Fee der grässlichen Modepüppchen sein, egal, ob ihre Mütter mich zum Tee einladen oder nicht.“

„Dann hast du aber viel Arbeit vor dir. Jedes Modepüppchen in diesem Jahr ist grässlich.“

„Dann habe ich ja Glück, dass ich reich bin. Und unbeschäftigt.“

„Heute Abend nicht“, antwortete die Duchess leise, und Sesilys Blick flog prompt durch den Raum zu dem blonden Haarschopf, der die übrigen Feiernden überragte. Kein Hut, trotzdem verdiente es dieser Kopf, vernichtet zu werden.

„Wann wird die Nachricht überbracht?“, fragte Sesily.

Die Duchess nippte an ihrem Champagner und folgte Sesilys Blick demonstrativ nicht. „Es dauert nicht mehr lange. Meine Dienerschaft weiß, was sie zu tun hat. Geduld, meine Liebe.“

Sesily nickte und ignorierte das Engegefühl in ihrer Brust. Die Aufregung. Das Abenteuer. Das Erfolgsversprechen. Die Aussicht auf Gerechtigkeit. „Das ist meine am schwächsten ausgebildete Tugend.“

„Tatsächlich?“, gab die Duchess zurück. „Ich hätte gedacht, das wäre die Keuschheit.“

Sesily lächelte. „Ich gebe zu, dass Laster mir mehr liegen.“

„Guten Abend, Duchess, Lady Sesily“, grüßte eine Frau mit sanfter, kaum hörbarer Stimme. Miss Adelaide Frampton war die schüchterne, scheue Königin der Mauerblümchen, der stets mitleidiges Getuschel folgte. Ein hässliches Entlein, aus dem niemals ein Schwan werden wird, armes Ding.

Das Getuschel von Mayfair würde jede andere, unbedeutendere Frau verletzen, doch Adelaide kam es sehr gelegen. Es gestattete ihr, unbeachtet zu bleiben, wenn sie sich in Gesellschaft befand. Nur wenige Menschen bemerkten, mit welch wachem Blick die warmen braunen Augen hinter den dicken Augengläsern die Welt beobachteten, während sie selbst praktisch in der Menge verschwand. Noch weniger Menschen wussten, dass dieser gleichsam unsichtbaren Person nichts, aber auch gar nichts entging.

„Miss Frampton“, sagte die Duchess. „Ich nehme an, alles ist gut?“

„Durchaus“, hauchte Adelaide kaum hörbar. Durch die hohen offenen Fenster hinter ihnen strömte eine kühle Brise herein. „Es ist schrecklich warm hier, finden Sie nicht?“

Sesily griff nach der silbernen Schöpfkelle in der riesigen Kristallschale und schwenkte sie herum, während sie den Mut sammelte, sich ein Glas des lauwarmen orangefarbenen Likör-Gemischs einzuschenken. „Das sieht ja grässlich aus.“

„Auf Veranstaltungen, zu denen junge Damen eingeladen sind, ist Ratafia Vorschrift“, erwiderte die Duchess.

„Hm. Ich habe als junge Dame niemals nach Ratafia verlangt …“ Sesily verstummte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt jemals nach Ratafia verlangt habe.“

„Du hast also schon von Geburt an viel Alkohol vertragen?“

Sesily lächelte ihre Freundin an. „Gleich und gleich gesellt sich gern, könnte man sagen.“

Die Duchess seufzte gelangweilt. „Irgendwo hier ist ein Lakai mit Champagner.“ Natürlich. In Trevescan House floss der Champagner wie Wasser.

„Ich muss sagen, Lady Sesily“, mischte Adelaide sich ein, „es ist ziemlich warm.“

„Ich verstehe“, antwortete Sesily. Ihr Blick suchte die Menge ab, und sie stellte fest, dass der Blondschopf, den sie zuvor beobachtet hatte, sich den Türen näherte, die in den dunklen Garten dahinter führten.

Für Champagner blieb keine Zeit. Die Nachricht für den Earl of Totting war angekommen.

Sesily schenkte sich ein Glas mit dem widerlich aussehenden Gebräu ein. Bevor sie jedoch die Kelle in die Schale zurücklegen konnte, stieß jemand sie am Arm an, etwas von der orangefarbenen Flüssigkeit schwappte über den Rand des Glases und verteilte sich auf dem strahlend weißen Tischtuch.

„Oh nein! Lassen Sie mich Ihnen helfen, Lady Sesily.“

Lady Imogen Loveless zog ein Taschentuch aus ihrem Retikül – zumindest versuchte sie es. Sie wühlte in der Tasche herum, warf zuerst planlos einen Stift und ein Stück Papier auf den Tisch neben die Kristallschale, ließ eine kleine muschelförmige Dose mit Goldverschluss auf den Plüschteppich unter dem Tisch fallen – „Nur Riechsalz“, beeilte sie sich zu erklären. „Keine Sorge – das hält sich!“

Stirnrunzelnd schaute Sesily zur Duchess, die Imogens hastige Bemühungen gleichermaßen erheitert und verblüfft beobachtete. Die Verblüffung gewann, als Imogen drei Haarnadeln aus ihrem Retikül zog. Sie schien jedoch zu wissen, dass sie diese nicht auf den Tisch legen durfte, und steckte sie stattdessen ohne Umschweife in ihre zerzauste Frisur, wild und gewagt, wie sie war. Anschließend zog sie das Taschentuch hervor und schwenkte es triumphierend. Es war zerknittert und mit einer Reihe chaotischer, schiefer Stiche bestickt, die vage an eine Muschel erinnerten. Sesily hatte noch nie etwas gesehen, das so gut zu ihrer Besitzerin gepasst hätte.

Sie stellte ihr Likörglas auf den Tisch und nahm das Stückchen Stoff mit einem Lächeln entgegen. „Danke, Imogen.“

„Nicht hinsehen, meine Lieben“, sagte eine ältere Matrone auf der anderen Seite des Tisches. Sie wurde von zwei grässlich gekleideten, blassen und unerfahrenen Mädchen flankiert, die so ein Chaos offensichtlich noch nie erlebt hatten.

„Du meine Güte“, sagte Imogen, als ihr Blick auf eines der Mädchen fiel. „Dieser Hut ist wirklich …“ Sie hielt kurz inne. „… unglaublich“, beendete sie schließlich ihren Satz.

Adelaide stieß ein winziges, kaum hörbares amüsiertes Schnauben aus, und Sesily tat, als würde sie sich nur für ihr Punsch-Glas interessieren.

„Besonders gut gefällt mir die …“ Imogen suchte nach einem Wort und bewegte dafür die Hand in einem großen Oval vor ihrem Gesicht herum. „… Verzierung.“

Die Großmutter der Mädchen knurrte missbilligend.

„Lady Beaufetheringstone“, sagte die Duchess und lehnte sich über Sesilys Arm zur Kristallschale. „Darf ich Ihnen und Ihren …“

„Enkelinnen“, blaffte die Dame. „Das wäre nett, Duchess, da wir demnächst aufbrechen müssen.“ Sie senkte ihre Stimme zu einem immer noch sehr gut hörbaren Flüstern. „Aus offenkundigen Gründen möchte ich nicht, dass ihr zusammen mit diesen Damen das Puderzimmer aufsucht“, wies sie die jungen Damen an.

Sesily unterließ es, darauf hinzuweisen, dass den armen, blassen Mädchen etwas Farbe ganz guttäte. Stattdessen wischte sie ihre klebrige Hand ab und starrte die ältere Frau direkt an, bis das Trio davoneilte. Zweifelsohne tuschelten sie über die armen unglücklichen Seelen, die am Tisch mit den Erfrischungen lauerten.

„Versuch, keinen Ärger zu machen“, sagte die Duchess leise.

„So was würde ich doch nie tun“, erwiderte Sesily unbekümmert. „Ich hatte nur beschlossen, mein Dasein als gute Fee bei diesen beiden Mädchen zu beginnen. Ich sollte sie zum Tee einladen.“

Die Duchess hob eine Braue. „Du trinkst keinen Tee.“

Sesily grinste. „Die beiden auch nicht, wenn ich mit ihnen fertig bin.“

„Sesily Tabot, sei vorsichtig, oder das, was man über dich sagt, wird wahr werden.“

Natürlich war es bereits wahr. Oder das meiste davon. Zumindest das Beste davon. Was leider vom Großteil der feinen Gesellschaft für das Schlimmste gehalten wurde. Aber über Geschmack ließ sich eben nicht streiten.

Adelaide lehnte sich ein Stück zurück und schaute auf den Boden zwischen ihnen, wo nur noch Imogens mintgrüne Röcke zu sehen waren. „Warum ist Imogen unter dem Tisch?“

Die Duchess seufzte in Richtung des Saals voller Gäste. „Kannst du es ihr bei dieser Gesellschaft verübeln?“

Sesily schluckte ein Lachen herunter. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, Adelaide?“

„Oh, ja“, sagte Adelaide. „Ihr Puderzimmer ist das beste von ganz London, Euer Gnaden. Man kann sehr gut jede Unterhaltung mit anhören.“

„Tatsächlich?“, fragte die Duchess, als würden sie über das Wetter reden.

„Anscheinend ist Viscount Coleford mit seiner neuen Gattin zugegen.“ Zufälligen Beobachtern würde der Unterton in Adelaides Stimme entgehen, aber für ihre drei Freundinnen war er kristallklar.

Sesily warf ihrer Gastgeberin einen überraschten Blick zu. „Wirklich?“

Coleford war ein abscheulicher Rüpel, voller Gehässigkeit, die er alle spüren ließ, die ihm zu nahe kamen – solange die Betreffenden schwächer waren als er. Er hatte soeben zum dritten Mal geheiratet, nachdem seine beiden ersten Frauen auf tragische Weise umgekommen waren … wobei natürlich kein Angehöriger des Adels diese merkwürdigen Zufälle öffentlich in Frage stellen würde.

Wie vielen seiner Standesgenossen hatte man ihm viel zu lange gestattet, seine Macht auszukosten. Weshalb er auf ihrer Liste stand – wie so viele seiner Freunde.

Doch der Viscount war heute Abend nicht ihr Ziel.

„Feinde im Anmarsch“, murmelte die Duchess, während sie einem vorbeitanzenden Paar ein strahlendes Lächeln schenkte – dem Verleger mehrerer höchst beliebter Zeitungen in London und seiner wunderschönen Gattin, die Sesily aus ihren regelmäßigen Besuchen in der exklusivsten Spielhölle der Stadt kannte.

Eine kluge Zutat für das Spiel des Abends, das sogleich beginnen würde.

„Wie es aussieht, ist der Earl of Totting heute Abend in Begleitung von Matilda Fenwick hier.“ Adelaide schob ihre Augengläser auf die Nase und schüttelte den Kopf, dass ihre roten Locken auf und ab hüpften. „Es heißt, sie würde schon bald eine Countess sein.“

Tilly Fenwick war die älteste Tochter eines sehr reichen Kaufmanns, der nach einem Titel gierte. Ihr stand ein schreckliches Leben an der Seite eines Mannes bevor, den seine Macht trunken gemacht hatte und der Frauen nur zum Vergnügen vernichtete.

Aus diesem Grund war die zukünftige Countess zu ihnen gekommen.

Sesily ließ ihren Blick durch den Ballsaal schweifen und entdeckte rasch die breiten Schultern, die sie schon den ganzen Abend beobachtete. Am anderen Ende des Raums bewegte sich der Earl of Totting, einer der stattlichsten Männer von London – und gleichzeitig einer der übelsten Kerle der Stadt – mit lässiger, graziöser Eleganz auf die offenen Türen zu.

Eine Brise wehte herein und brachte eine knackige Novemberkälte mit sich.

„Eine unmenschliche Hitze hier drin“, bemerkte Adelaide.

Sesily zitterte und traf den kühnen Blick ihrer Freundin. „Ist mir auch gerade aufgefallen. Es ist eindeutig viel zu stickig.“

Totting näherte sich dem Ausgang.

Imogen kam unter dem Tisch hervor und schwenkte die Pillendose. „Gefunden!“

„Das sind wunderbare Neuigkeiten“, sagte Sesily und drückte ihr das Taschentuch in die Hand. „Danke.“

Imogen stopfte das Taschentuch in ihr Retikül und begann, ihre verstreuten Habseligkeiten einzusammeln. Ihre Hände flogen nur so über den Tisch. Wenn irgendjemand zusehen würde, würde ihm nichts Unstatthaftes auffallen, zumindest nichts, was man von Imogen nicht erwarten könnte.

Niemand würde die Pille sehen, die sie in das Glas Ratafia geworfen hatte.

Oder würde sich über Sesily Gedanken machen, die den Stift und das Papier ihrer versponnenen Freundin aufhob und einen kurzen Blick auf die darauf gekritzelten Zahlen warf.

7/10

Sieben Minuten, dann noch einmal zehn.

Stirnrunzelnd schaute Sesily Imogen an. „Das ist alles?“

Das war nicht viel Zeit.

Imogen blinzelte. „Kennst du Margaret Cavendish? Die Autorin?“

„Was?“

Ihre Freundin lächelte. „Der Vertrag. Es ist hinreißend. ‚Ich werde dich zu einer Sternschnuppe der Zeit machen‘, schreibt sie. Es ist so poetisch.“

Imogen würde ein Gedicht selbst dann nicht erkennen, wenn Byron persönlich sie mitten in der Nacht entführen würde. Verwirrt legte Sesily den Kopf schräg. „Ich soll also …“ Sie hielt inne und senkte die Stimme, damit niemand anders sie hörte. „In siebzehn Minuten?“

„Sag ich doch, Sesily“, sagte Imogen. „Wenn jemand es schafft, dann du. Ich glaube an dich.“

„Nun, niemand hat jemals behauptet, ich wäre nicht schnell“, erwiderte Sesily trocken.

Ein dreistimmiges Kichern war die Antwort.

„Eine Sternschnuppe der Zeit, sagst du?“

„Ehrlich gesagt“, sagte Imogen und nahm Stift und Papier an sich, „bin ich in dem Buch nicht sehr viel weitergekommen. Ich habe zehn Minuten gelesen, danach habe ich geschlafen wie eine Tote.“

„Wie schrecklich“, warf Adelaide bedauernd ein.

Das war eine Untertreibung. Das Letzte, was sie brauchten, war eine Leiche im Garten.

Aber da war eine Sache, die noch schlimmer wäre, zumindest für Sesily. „Imogen, kannst du dich an irgendetwas erinnern, das du gelesen hast, kurz bevor du ins Bett gegangen bist?“

„An absolut gar nichts!“, rief Imogen entzückt aus. „Ist das nicht wunderbar?“

Sesily, Adelaide und die Duchess tauschten Blicke. Sesily hatte siebzehn Minuten, aber sie wäre die Einzige, die sich daran erinnern würde.

Ausgezeichnet.

Es war unglaublich, dass Imogen überall in der feinen Gesellschaft als hoffnungsloser Fall bekannt war. Die Gesellschaft sah selten die Wahrheit, wenn es um Frauen ging.

Sesily schaute auf die Türen. Die breiten Schultern waren verschwunden. „Ich ertrage die Hitze nicht länger.“

Daraufhin trat Adelaide um den Rand des Tisches mit den Erfrischungen herum, stolperte über das Tischtuch und stürzte zu Boden. Imogen stieß einen überraschten Schrei aus.

„Oh! Meine liebe Miss Frampton!“, rief die Duchess, womit die beiden Frauen die Aufmerksamkeit des ganzen Saals hatten.

So, wie es geplant war.

Nun ja, fast des ganzen Saals.

2. KAPITEL

Hoch über dem Ballsaal, auf der oberen Galerie, die um den gesamten Raum herumführte, nahm Caleb Calhoun ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeikommenden Lakaien. Er beobachtete, wie Sesily ihren Ratafia vom Tisch nahm und hinaus in den dunklen Garten schlüpfte, ohne den Tumult, den ihre Freundinnen veranstalteten, auch nur eines Blickes zu würdigen.

Er widerstand dem Drang, ihr zu folgen.

Ein anderer Mann würde es natürlich tun. Ein anderer Mann, der Geschäfte mit Sesilys ältester Schwester machte, der Pferdefleisch von ihrem Schwager und Bücher von ihrer Schwägerin gekauft und ihren Neffen – sein Patenkind – auf den Knien geschaukelt hatte, würde sich moralisch verpflichtet fühlen, ihr in den Garten zu folgen und sie vor allen Schwierigkeiten zu bewahren, die sie auf sich zu ziehen gedachte.

Ein anderer Mann, ein Mann von Ehre, würde ihr folgen und sein Bestes geben, sie vor allem zu bewahren, was im dunklen Garten auf sie lauern mochte.

Dieser andere Mann, dieser Inbegriff an Edelmut, würde sich jederzeit für die Dame in den Kampf stürzen.

Aber an Caleb Calhoun war nichts Edles.

Gewiss, er spielte seine Rolle und tat, als würde ihm nicht auffallen, wie sie den Raum mit ihrem strahlenden Lächeln, ihrem frechen Charme und ihrer unbändigen Schönheit erfüllte. Er tat, als würde er nicht bemerken, wie ihr lebhaftes, buntes Kleid eng über ihren vollen Brüsten, der schmalen Taille und den runden Hüften spannte – voller Sünde und Verlockung.

Er tat, als würde er sie nicht bemerken.

Dennoch stand er hier, über den Feiernden, und beobachtete sie – keine sechs Stunden, nachdem er zum ersten Mal seit über einem Jahr nach London zurückgekehrt war. Davor hatte der Atlantik es ihm unmöglich gemacht, sie zu beobachten.

Doch er hatte Caleb nicht davon abgehalten, während seiner Abwesenheit an sie zu denken.

Er biss die Zähne zusammen, wandte den Blick von der Tür zum Garten ab und schaute dorthin, wo Miss Adelaide Frampton durch den Ballsaal humpelte und viel Aufhebens um ihren verstauchten Knöchel machte. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Tumult, den Lady Imogen Loveless veranstalte, die heftig mit beiden Armen wedelte und immer wieder „Platz da, bitte machen Sie den Weg frei!“ rief.

Und die angeblich besten und klügsten Köpfe Londons schluckten das Spektakel.

Caleb nahm einen Schluck Champagner und wünschte, es wäre etwas Stärkeres. Er wünschte, er wäre irgendwo anders als hier, bei einem albernen, von einer Duchess ausgerichteten Ball, auf dem er niemals willkommen gewesen wäre, wenn die Duchess of Trevescan nicht regelmäßig das Wirtshaus in Covent Garden aufsuchen würde, dessen Miteigentümer er war. Sie war immer für einen Spaß, und noch besser, für ein Kartenspiel zu haben, und sie hielt es für einen großartigen Streich, reiche Amerikaner in das Stadthaus ihres abwesenden Gatten zu bitten, um die feine Gesellschaft zu schockieren.

Sie hatte nicht gezögert, als er ohne Einladung hier aufgekreuzt war.

Caleb war fünfunddreißig Jahre alt. Ganz allein hatte er sich aus der bitteren Armut auf den Straßen Bostons hochgearbeitet und war ein überaus wohlhabender Mann geworden. Ihm gefiel der Gedanke, dass sein Erfolg da herrührte, dass er stets zufrieden war mit dem, was er bekam. Geld und Macht auf der westlichen Seite des Atlantiks hatten ihm gereicht. In Boston war er ein König, doch hier strebte er nicht nach so einer Krone.

Caleb wusste sehr wohl, dass allein seine Anwesenheit im Haus eines Dukes ein gelungener Streich war, obwohl nur er allein wusste, was für ein Coup es tatsächlich war.

Außerdem verschaffte es ihm die Gelegenheit, Sesily Talbot nicht zu beobachten. Früher, als sie sich in seinem Wirtshaus an den Tresen gelehnt und sich selbst aus einer Flasche mit ihrem Lieblingsbourbon bedient hatte, war das wesentlich schwerer gewesen.

Nicht, dass sie das heute noch tun würde.

Er hatte gehört, dass sie die Schenke nur noch selten aufsuchte, und das war wohl auch besser so.

Warum sollte es ihn überhaupt interessieren? Er lebte auf der anderen Seite des Ozeans.

Sie war eine erwachsene Frau und sehr gut in der Lage, selbst auf sich aufzupassen.

Das war nicht sein Problem.

Er fluchte lautlos, und seine Aufmerksamkeit kehrte wieder zu den offenen Glastüren zurück, die hinaus in den dunklen Garten hinter dem Haus führten.

Wen traf sie dort?

Er stellte sein leeres Glas auf das Tablett eines Lakaien.

Angespannt knirschte er mit den Zähnen. Seine Kiefermuskeln taten bereits bei dem Gedanken daran weh, dass jeder Mann, der das Glück hatte, Sesily Talbot zu treffen, danach kein Gentleman mehr war.

Aber Caleb kannte diese Frau schon seit zwei Jahren. Sesily Talbot, die ganz London hinter Fächern und in den verschwiegenen Kartenzimmern nur Sexily nannte. Wenn er eines über diese Frau wusste, dann, dass sie gut für sich selbst einstehen konnte. Sie wusste um ihre Macht und setzte sie sehr präzise ein – bei Männern und Frauen gleichermaßen. Er hatte nie erlebt, dass sie einem Wortgefecht aus dem Weg gegangen wäre, und er hatte sie nie verlieren sehen.

Er hatte noch niemanden getroffen, der ihr ebenbürtig gewesen wäre.

Ich könnte es mit ihr aufnehmen.

Er könnte, aber er würde es nicht.

Trotzdem ging er Richtung Treppe und schaute dabei auf die dicht gedrängten feinen Pinkel unter sich herab. Er erkannte ein paar, die gerne einen geschmuggelten Bourbon tranken, und andere, die recht flink mit den Fäusten waren. Und zwar durchaus wohlüberlegt, wie er vermutete.

Herrgott, er hasste London! Er hasste es, wie die Stadt ihn zu ersticken drohte. Überall stieß er auf seine Vergangenheit und seine Sünden, und über allem lag die Drohung, dass alles ans Licht kommen könnte, wenn er zu lange bliebe.

Und dann war da noch Sesily Talbot, eine Versuchung, durch die die latente Drohung noch realer wurde.

Wenige Minuten später war er draußen auf der Terrasse. Der scharfe Wind pfiff durch den Stoff seines Gehrocks, und er zog die Schultern hoch.

Sie hatte keinen Umhang getragen, nicht einmal ein Schultertuch, und der kalte Wind würde sich auf ihrer nackten Haut unangenehm anfühlen.

Caleb bemühte sich, den Gedanken an ihre nackte Haut zu verscheuchen, und ging die Treppe hinunter, die von der Terrasse in den dunklen Garten führte. Er blieb stehen, um auf irgendein Geräusch zu lauschen. Dabei wusste er, dass sie wahrscheinlich nicht zu hören sein würde. Der raue Wind in den Blättern über ihm würde jedes Geräusch davontragen. Wenn er sie finden wollte, musste er sich auf seinen Instinkt und sein Wissen über Sesily Talbot verlassen.

Was nicht so schwierig wäre, da Caleb die letzten zwei Jahre damit verbracht hatte, immer wieder alles durchzugehen, was er über Sesily Talbot wusste.

Sie würde im Irrgarten sein.

Und es gab nur einen Grund, warum eine Frau wie Sesily an einem kalten Novemberabend einen Irrgarten betrat – um sich dort mit jemandem zu treffen, der sie warm halten würde.

Bei dem Gedanken erstarrte er, obwohl er sich in Erinnerung rief, dass Sesily Talbots spätabendliche Verabredungen ihn nichts angingen … oder irgendjemand anders. Im Laufe der Jahre hatten Sesilys Skandale – zusammen mit denen ihrer Schwestern – jedes Klatschblatt in London gefüllt und sie zum Objekt öffentlicher Missbilligung und geheimer Bewunderung werden lassen. Es gab genauso viele Familien, die sie mieden, wie solche, die sie mit großer Begeisterung willkommen hießen.

Wohin Sexily auch ging, die Aufmerksamkeit der feinen Gesellschaft war ihr sicher.

Selbst bis in den Irrgarten der Trevescans, dachte Caleb nicht wenig verärgert. Er wollte Sesily nicht in den Armen ihres neuesten Liebhabers entdecken.

Und schon gar nicht wollte er die Geräusche ihres Liebesspiels hören oder den leichten roten Schimmer sehen, der über ihre Haut jagte, während sie dieses Liebesspiel genoss.

Er löste die Faust, die er unwillkürlich geballt hatte.

Absolut kein Interesse.

Es ging ihn überhaupt nichts an, wen diese Frau traf oder was sie tief dort drinnen im Irrgarten trieb. Er sollte kehrtmachen.

Er trat durch den prachtvollen gewölbten Eingang.

Verdammt. Er würde nicht umkehren.

Im schwachen Licht einer weit entfernten Fackel konnte er kaum etwas erkennen. Vermutlich war die Fackel entzündet worden, um die Möchtegern-Skandalnudeln zum Ziel ihrer Wahl zu locken. In diesem Moment nahm Caleb in einem dunklen Gang zu seiner Linken eine Bewegung wahr.

Nicht nur eine Bewegung, sondern eine rasche Bewegung.

Sesily rannte aus dem Dunklen aus dem Irrgarten, direkt auf ihn zu.

Sie bemerkte ihn nicht sofort, da sie zu beschäftigt damit war, ihre aufwendigen Röcke zu ordnen. Sobald sie damit fertig war, schleuderte sie etwas zur Seite, in die Hecke. Der Gegenstand blitzte im Licht der nächsten Fackel auf. Es war ein Likörglas.

Als sie seine Anwesenheit bemerkte, blieb sie unvermittelt stehen, ihr Atem ging hastig und stoßweise. Nicht vor Erregung, sondern vor Anstrengung.

Eine Hand flog zu ihrer Brust, zum Ausschnitt ihres Kleides – saß er noch tiefer als vorher? Bei dem Gedanken, was sie möglicherweise getrieben hatte, um so heftig zu erröten, stieg Enttäuschung in ihm auf.

„Calhoun“, sagte sie schnell und überrascht, und er hasste diese Leichtigkeit in ihrem Tonfall. Die Vertrautheit darin, als würde er ihr gehören, selbst nach monatelanger Trennung. Und dann lächelte sie, als wären sie ganz woanders, nur nicht hier. Als würde sie sich freuen, ihn zu sehen.

„Was tust du hier?“

Er hatte nicht vor, darauf zu antworten. „Ich könnte dich dasselbe fragen.“

„Bist du überrascht, mich im Garten herumschleichen zu sehen?“, witzelte sie. Die Koketterie in ihren Worten war typisch für Sesily, doch zugleich wirkte sie gehetzt, als müsste sie rasch irgendwo hin. „Da wärst du ganz sicher der Einzige.“ Sie schaute über ihre Schulter, dann wieder zu ihm und lächelte breit und gewinnend. Sie bot ihm ein Dutzend Dinge, die er nur zu gerne annehmen würde, wenn er ein anderer Mann wäre. Wenn sie eine andere Frau wäre.

Doch wenn er ein anderer Mann wäre, wäre Caleb vielleicht entgangen, dass vor diesem Funkeln, das sinnliche Verführung, Entzücken und wildes Vergnügen versprach, kurz etwas anderes in ihren Augen aufgeblitzt war.

Ihm wäre ihre Angst entgangen.

Alarmiert schaute er hinter sie in die Dunkelheit und hoffte, sein beiläufiger Tonfall würde seinen Ärger verdecken. „Das war aber ein kurzes Stelldichein.“

Sie ignorierte die Bemerkung. Ihre Worte verrieten nicht die geringste Nervosität, als sie auf ihn zukam, um sich im Gang des Irrgartens an ihm vorbeizudrängen. „Warst du im Ballsaal?“

„Gibt es eine andere Möglichkeit?“

„Nachdem du gerade erst zurückgekommen bist?“ Sie schwieg. „Möglicherweise warst du nach dieser langen Trennung so am Boden zerstört, dass du die Feier einfach umgangen und direkt nach mir gesucht hast.“

Er presste die Lippen zusammen und achtete nicht auf das Trommelfeuer, das die Worte in seinem Inneren auslösten. „Ich soll in der Dunkelheit herumschleichen, in der vagen Hoffnung, dass du auftauchen könntest?“

„Ich bin sehr gut darin, aufzutauchen, sobald es Ärger gibt.“

„Ich glaube nicht, dass ich der Ärger bin, für den du heute Abend hier aufgetaucht bist.“

„Und damit sind meine Mädchenträume zerschmettert.“ Sie zog eine Uhr aus ihrem Retikül, überprüfte im Licht des Ballsaals hinter sich die Uhrzeit und drängte sich dann an Caleb vorbei. „Bist du unterwegs zu deinem eigenen Stelldichein?“ Sie spielte die Enttäuschte. „Ich sollte mich bemühen, mir nicht das Herz brechen zu lassen.“

Er ignorierte die Koketterie und stellte sich ihr in den Weg, sodass sie stehen bleiben musste. „Mit wem hast du dich getroffen?“

„Aber, aber, Mr. Calhoun“, sagte sie und tat schockiert. „Ein Gentleman würde niemals eine solche Frage stellen.“

„Ich habe nie behauptet, ich wäre ein Gentleman.“

Sie musterte ihn demonstrativ von oben bis unten, und ihr erhitzter Blick entfachte prompt ein Feuer in ihm. „Ich habe nie einen Beweis des Gegenteils gesehen.“

„Sesily …“, knurrte er warnend.

„Es tut mir wirklich leid, Amerikaner, aber ich habe es eilig.“

Er drehte sich um, als sie sich umdrehte und zum bogenförmigen Eingang des Irrgartens ging. „Musst du irgendwo hin?“

„Ich muss eher irgendwo weg, um genau zu sein“, erwiderte sie. Sie beschleunigte ihre Schritte und hielt auf die hellen Lichter des Ballsaals vor sich zu.

Er folgte ihr, problemlos mit ihr Schritt haltend. „Was hast du im Irrgarten gemacht?“

Sie wurde nicht langsamer, nicht einmal, als sie ihm ein breites, gut einstudiertes Lächeln zuwarf, das einen geringeren Mann geblendet hätte. „Eine Dame muss ihre Geheimnisse haben dürfen.“

Er sollte glauben, sie hätte in der Dunkelheit ein Rendezvous gehabt. Andere mochten das vielleicht glauben. Aber er hatte die Wahrheit in ihren Augen gesehen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand wusste, was sie in diesem Irrgarten getrieben hatte.

Was bedeutete, dass Caleb es herausfinden musste.

„Wohl wahr.“ Er blieb stehen, machte auf dem Absatz kehrt und lief erneut zum Irrgarten.

„Nein!“ Sie quiekte fast und schaute erneut auf ihre Uhr.

Er sah ebenfalls hin. „Was fürchtest du, zu verpassen?“

„Ganz im Gegenteil“, sagte sie und starrte zum Irrgarten. „Ich fürchte, ich könnte es nicht verpassen.“

„Sesily.“

Es fiel gerade genügend goldenes Licht vom Ballsaal auf sie, damit er sie sehen konnte, richtig sehen konnte. Er unterdrückte einen Fluch, während seine Brust enger wurde. Gleichgültig, worauf er gehofft hatte, die Zeit in der Ferne war nicht ausreichend gewesen, um an seiner Reaktion auf diese Frau etwas zu ändern. Ehrlich gesagt sollte ihn das nicht überraschen, denn Sesily Talbot war von Engeln erschaffen worden. Glatte, goldene Haut, dunkles Haar, das wie der Nachthimmel glänzte, und ein volles, wunderschönes Gesicht, das jeden Mann zu überwältigen drohte, selbst jetzt, als sie die Lippen schürzte und ihren nächsten Schritt bedachte.

Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre nach Southhampton zurückgekehrt – und dann weiter nach Boston geeilt. Mit dem Ozean zwischen ihnen konnte sie ihn wenigstens nicht in Versuchung führen.

Lüge.

Ein Geräusch hinter ihm bewahrte ihn davor, noch länger diesem Gedanken nachzuhängen. Im Irrgarten rührte sich etwas. Es war unmöglich zu überhören, da es weder anmutig oder affektiert noch verführerisch oder verstohlen klang. Es klang, als hätte jemand im Irrgarten ein großes Tier freigelassen. Einen Bullen oder Ochsen – irgendetwas, das jetzt wild durch die Gegend trampelte.

Und dabei stöhnte.

Caleb sah Sesily an. „Was hast du getan?“

„Warum glaubst du, ich hätte etwas damit zu tun?“ Ohne eine Sekunde zu zögern, packte sie seine Hand, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und zog ihn in den Schatten unter den nächsten Baum.

„Weiß meine Schwester, dass du wieder hier bist?“ Die Frage war vollkommen harmlos, als stünden sie im Ballsaal am Tisch mit den Erfrischungen, wo ihre Freundinnen ohne Zweifel immer noch Unheil anrichteten.

„Ja. Ich war zuerst im Sparrow.“ The Singing Sparrow, der singende Spatz. So hieß das Wirtshaus in Covent Garden, das Caleb und Sesilys ältester Schwester Seraphina Bevingstoke, der Duchess of Haven, gemeinsam gehörte.

„Und ich bin mal wieder die Letzte, die es erfährt“, sagte sie ruhig und drehte sich um, um ihn gegen den Baumstamm zu drücken.

Später würde er sich Vorwürfe machen, weil er ihr nicht widerstanden hatte. Weil er keine vierundzwanzig Stunden in diesem gottverdammten Land sein konnte, ohne dass seine Abwehr zusammenbrach.

Aber wie hätte er Sesily Talbot widerstehen können, als sie sich an ihn drückte, ihre Hände über seine Brust glitten, die Finger in seinen Haaren wühlten? Er war schließlich auch nur ein Mensch.

„Mir war nicht klar, dass ich dich über mein Kommen und Gehen in Kenntnis zu setzen habe.“ Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie eng an sich. Nur, um sicherzustellen, dass sie das Gleichgewicht behielten.

Aus keinem anderen Grund. Nicht etwa, weil er sie dort haben wollte.

„Und warum fängst du jetzt damit an?“, gab sie zurück. Die Frage wurde von einem weiteren Stöhnen aus dem Irrgarten begleitet, und Sesily schmiegte sich noch enger an ihn, bis ihre Leiber einander so nah waren, dass er eine heftige Abneigung gegen Stoffe entwickelte. „Ich habe geschworen, dass ich das nie tun würde“, sagte sie. Ihre Finger packten sein Haar und zogen sein Gesicht zu sich herunter.

Er wollte Widerstand leisten. „Was würdest du nie tun?“

„Dich küssen“, sagte sie, und die sachlichen Worte brachten kurz etwas in seinem Inneren zum Knistern.

Er wollte sie aufhalten.

Doch Sesily Talbot konnte man nicht aufhalten.

Mit einem kehligen Flüstern sprach sie weiter, fast mehr zu sich als zu ihm, selbst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Eine Bewegung, die ihn unwillkürlich dazu veranlasste, mit der Hand über die atemberaubende Wölbung ihres Pos zu streichen. „Du verdienst es nicht.“

Warum zur Hölle nicht?

Natürlich verdiente er es nicht. Aber er wollte wissen, warum sie dieser Meinung war. Sie hatte keinen Grund, so etwas zu denken.

„Doch leider … zwingen mich die Umstände …“

Nein. Er würde sie nicht küssen. Das wäre der reine Wahnsinn. Dabei spielte es keine Rolle, wie ihr Po oder ihre Brüste sich anfühlten oder dass sie die Lippen verführerisch vorschob. Oder die Tatsache, dass sie niemals einen Skandal provoziert hatte, wenn sie das nicht wollte.

Was zählte, war, dass sie die Schwester seiner Geschäftspartnerin war und dass diese so etwas wie eine Freundin für ihn geworden war. Was zählte, war, dass sie eine englische Dame, die Tochter eines Earls war. Die Schwägerin von vier der reichsten Männer Britanniens, von denen drei ehrwürdige Titel führten.

Was zählte, war, dass sie ein gottverdammter Wirbelsturm war.

Halt, Moment mal … hatte sie leider gesagt?

„Was für Umstände?“

Das Tier im Irrgarten fluchte wütend und schmerzerfüllt. Caleb wollte hinsehen, doch Sesily legte die Finger an sein Kinn und drehte seinen Kopf wieder zu sich.

Sie war da. Nur einen Atemzug entfernt.

Verdammt. Er würde sie nicht küssen.

Er war sich dessen fast sicher.

Und er tat es auch nicht. Sie küsste ihn zuerst.

Aber es war egal, wer wen küsste, denn das Einzige, was zählte, waren Sesilys volle, weiche Lippen auf seinen, heiß und süß und perfekt. Wie sollte er da widerstehen? Sie war hier, in seinen Armen, wie ein Geschenk, das er nicht verdient hatte. Ein Geschenk, das er nicht annehmen konnte.

Aber er war kein Narr. Er würde das Geschenk öffnen, es ansehen und davon kosten.

Nur für einen Augenblick.

Und dann würde er das tun, was richtig war.

Ihre Lippen wurden weicher, öffneten sich mit einem kleinen Seufzen, und er kostete davon. Seine Zunge glitt über ihre, während sie sich noch enger an ihn drückte. Sie war überwältigend – wie sie klang, wie sie aussah, wie sie sich anfühlte. Er wollte nicht aufhören, denn er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt so gut gefühlt hatte.

Als wäre alles in Ordnung.

Dabei war gar nichts in Ordnung.

„He!“

Sie brach den Kuss ab, als dieser wütende Schrei ertönte, laut und nah genug, um Caleb von seinem Ziel abzulenken – Sesily Talbot weiter zu küssen. Auf der Stelle. Doch um das tun zu können, mussten sie ungestört sein, was bedeutete, dass er dem Mann antworten musste, der gerade aus dem Irrgarten taumelte. Er hielt sich den Kopf, als hätte er grässliche Kopfschmerzen.

„Gib ihm keinen Grund, stehen zu bleiben“, flüstert Sesily, ehe der Mann den Kopf drehen konnte.

Sie wollte nicht gesehen werden.

Neugier flackerte in Caleb auf, doch er war klug genug, ihr nicht zuzusetzen. Stattdessen zog er sie noch enger an sich und drehte sich so weit um, dass sie im Schatten verborgen war. „Was ist passiert?“

Sie schüttelte den Kopf.

Was immer es war, sie brauchte seine Hilfe.

„In Ordnung“, flüsterte er und sah über ihren Kopf hinweg zu, wie der Mann wieder auf den Ballsaal zustrebte.

„Sind Sie das, Caleb?“, lallte der Mann. „Ich dachte, Sie wären auf Ihre Seite vom großen Teich zurückgekehrt. Pech für uns.“ Seine abfälligen Worte klangen schmutzig. „Weiß die Familie von diesem Mädchen, dass sie in eine amerikanische Jauchegrube gestiegen ist?“

Caleb erstarrte zu Stein, als er den Mann erkannte.

Der Earl of Totting war ein Mistkerl durch und durch. Mächtig, adlig und mit einem Vermögen, das groß genug war, um ihn gefährlich werden zu lassen, wenn er sich, wie so oft, in den Kopf setzte, jemanden zu terrorisieren. Er hatte praktisch von Anfang an Hausverbot in Calebs Wirtshaus. Der Earl gehörte zu den Männern, die eine Schenke niemals verließen, ohne einen Streit anzufangen, und das waren noch seine guten Abende. Seine schlechten Abende waren der Grund, warum die Hälfte der Bordelle in Covent Garden ihm den Zutritt verweigerten.

Und mit ihm war Sesily im Irrgarten gewesen.

Das gefiel Caleb gar nicht. Er war kurz davor, diesem reichen, adligen Arsch zu zeigen, wie wenig er von ihm hielt.

Sesilys Finger schlossen sich fester um seinen Unterarm, der für den Kampf stahlhart geworden war. „Caleb“, flüsterte sie seinen Namen, sanft wie Seide. „Bitte.“

Er hätte fast nicht auf sie gehört.

Beinahe hätte er ihre Bitte und die Warnung ignoriert und seinem fehlgeleiteten Ehrgefühl gestattet, diesen Mistkerl umzubringen. Doch genau in diesem Moment trat der Earl aus der Dunkelheit ins helle Licht, das aus den Fenstern des Ballsaals in den Garten fiel, und Caleb konnte sein Gesicht deutlich erkennen.

Er sah den Beweis vor sich, dass, was ...

Autor

Sarah MacLean
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