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Ausgerechnet ihre Jugendliebe! Als Meri in ihren Heimatort zurückkommt, um sich um ihren Grandpa zu kümmern, läuft sie prompt Jack Barlow in die Arme. Gegen ihren Willen fühlt sie sich gleich wieder von ihm angezogen. Doch sie darf sich kein zweites Mal das Herz brechen lassen!


  • Erscheinungstag 09.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746780
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Meri Prescott vor fünf Jahren Stone Gap, North Carolina, verlassen hatte, hatte sie sich vorgenommen, nur in ganz großem Stil zurückzukehren, falls überhaupt. Sie hatte sich ausgemalt, wie ihre Limousine an den staunenden blauhaarigen Damen vor Sadie’s Clip ’n’ Curl in der Main Street vorbeiglitt, während die Angler auf der Bank vor der Comeback Bar die Köpfe schüttelten und das Verschwinden der guten alten Zeiten beklagten, in denen es völlig ausgereicht hatte, in einem zweifarbigen Chevy durch die Stadt zu fahren.

In Meris Fantasie hatte sie mit ihrer Heimkehr sämtlichen Einwohnern dieser gottverlassenen Stadt bewiesen, dass sie es geschafft hatte, dass sie mehr aus sich gemacht hatte, als man ihr zugetraut hätte. Dass sie nicht nur ein hübsches Mädchen war, dem ihre Fingernägel wichtiger waren als ihr Notendurchschnitt. Dass sie in New York ihre wahre Bestimmung gefunden hatte, anstatt ihr Leben nach den Vorstellungen anderer Menschen auszurichten.

Okay, sie war ein bisschen verblendet gewesen. Die Meri Prescott, die Stone Gap mit einer Tiara und großen Zukunftsplänen im Gepäck verlassen hatte, war nicht die Meri Prescott, die jetzt zurückkehrte. Noch nicht mal annähernd. Und sie war sich wirklich nicht sicher, dass Stone Gap die Frau akzeptieren würde, die sie geworden war.

Im Grunde genommen war ihr das jedoch egal. Sie war wegen Grandpa Ray gekommen und würde so lange bleiben, wie er sie brauchte. Sie würde dafür sorgen, dass er wieder gesund wurde … und dabei vielleicht sich selbst heilen.

Unwillkürlich hob sie eine Hand zu ihrer linken Wange, zu der langen gebogenen Narbe, die noch nicht verblasst war. Manchmal wachte sie nachts schweißgebadet auf, weil sie im Traum wieder den Überfall in jenem schäbigen Vorort durchlebte. Sie hatte ihr Bestes versucht, in New York zu bleiben und weiter zu fotografieren, doch die Stadt war ihr fremd geworden, und die Häuser, die sie mal geliebt hatte, empfand sie als Gefängnismauern.

Sie sehnte sich nach Luft, Natur und warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. In Stone Gap würde es ihr vielleicht gelingen, die Dämonen zu besiegen, die sie im Schlaf verfolgten und ihre Tage überschatteten. Vielleicht würde sie sich hier dazu überwinden können, wieder zur Kamera zu greifen und etwas anderes durch die Linse zu sehen als den Straßenräuber.

Wer weiß?

Vor dem Stoppschild an der Honeysuckle Lane hustete der Motor ihres zehn Jahre alten Toyota protestierend auf. Die Klimaanlage hatte bereits irgendwo in Baltimore versagt, und Abgase drangen durch das offene Fenster – was Meri das Gefühl gab, Brooklyn noch immer nicht hinter sich gelassen zu haben.

Sie brauchte jedoch nur einen Blick aus dem Fenster auf die pastellfarbenen Häuser im Kolonialstil entlang der Main Street zu werfen, um zu wissen, dass sie im Süden war. Richtung Innenstadt wurden die Wohnhäuser von hübschen Läden mit breiten bunten Markisen und Namen wie Joe’s Barber Shop, Ernie’s Hardware & Sundries und Betty’s Bakery abgelöst. Als ihr Blick auf einen weiteren Namen fiel, trat sie unwillkürlich auf die Bremse.

Gator’s Garage.

Beim Anblick des blauen Gebäudes mit dem handgemalten Schild war Meri wieder fünfzehn und bekam ihren ersten unbeholfenen Kuss von Jack Barlow – der sich ein Jahr später ähnlich unbeholfen von ihr getrennt hatte. Sie hatte wieder den Geruch von Motoröl in der Nase, sah den dunklen Ölfleck auf dem Werkstattboden und Jacks traurige blaue Augen, als er ihr mitteilte, dass sie ihm nicht bodenständig genug war und er mehr wollte als eine Schönheitskönigin.

Seine Worte hatten sie tief verletzt und auch dann nicht losgelassen, als sie eine Woche später zum Miss-America-Schönheitswettbewerb aufgebrochen war und sich geschworen hatte, Jack Barlow ein für alle Mal zu vergessen.

Als jemand hinter ihr hupte, riss sie den Blick von Gator’s Garage los und trat aufs Gaspedal. Sie bog nach rechts in die Maple Street, dann links in die Elm Street und schließlich in die Cherrystone Street, wo sie vor jenem Haus bremste, das sie vor fünf Jahren im Rückspiegel zurückgelassen hatte.

Es thronte am Ende der Sackgasse wie eine Königin, zweistöckig, weiß, holzverschalt und mit zwei sich um das ganze Haus erstreckenden Veranden. Die gepflasterte Einfahrt stammte noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und wurde von zwei Weiden flankiert, in denen spanisches Moos hing. Man konnte fast den Eindruck bekommen, sich im Jahre 1840 zu befinden anstatt im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Der Motor des Toyota hustete ein letztes Mal asthmatisch und verstummte stotternd. Na toll.

Meri seufzte tief, was jedoch nichts gegen ihren verspannen Nacken ausrichtete.

Jetzt, wo der Motor aus war, empfand sie die Hitze North Carolinas als noch erdrückender. Sie unterdrückte einen fast übermächtigen Fluchtimpuls, zog den Zündschlüssel heraus und hielt ihn fest. Das sich in ihre Haut pressende harte Metall verankerte sie in der Realität. Sie würde jetzt nicht nach New York zurückfahren, nicht heute und vermutlich auch nicht nächste Woche. Es gab einen guten Grund hierzubleiben – einen zerbrechlichen vierundachtzigjährigen Grund. Grandpa Ray hatte jetzt Priorität. Er war wichtiger als alles andere.

Meris Mutter betrat die Veranda, lehnte sich gegen den Rahmen der Haustür und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr missbilligender und enttäuschter Gesichtsausdruck war unübersehbar. Er war Meri nur allzu vertraut.

Trotzdem flackerte für eine Sekunde wieder die trügerische Hoffnung in ihr auf, dass sich vielleicht etwas verändert hatte. Doch nein, so wie ihre Mutter sie ansah, bestand wenig Hoffnung, dass sie in den letzten fünf Jahren eine Hundertachtzig-Grad-Wendung gemacht hatte. Im günstigsten Fall eine Fünfundvierzig-Grad-Wendung Richtung gesunder Menschenverstand.

Rasch kämmte Meri sich das windzerzauste Haar, bevor sie die Einfahrt zur Veranda hochging. Der perfekt manikürte Rasen sah aus wie ein üppiger grüner Teppich, flankiert von makellos geschnittenen Rosenbüschen und in Reih und Glied gepflanzten Einjährigen. Eine Holzschaukel hing in einer großen Eiche und schwankte sanft in der Brise. Die idyllische Szenerie sah aus wie einem exklusiven Gartenmagazin entsprungen.

Als Meri mit ihrem rechten High Heel zwischen zwei Pflastersteinen hängen blieb, bereute sie ihre Entscheidung, ihre Flip Flops gegen Schuhe mit hohen Absätzen eingetauscht zu haben. Hunderte von Meilen hatte sie sich einzureden versucht, dass es ihr inzwischen egal war, was ihre Mutter dachte. Fragte sich nur, warum sie sich dann freiwillig eingequetschte Zehen antat. Und warum sie zwanzig Minuten damit verbracht hatte, auf der Toilette einer Tankstelle ihr Haar zu glätten.

Habe ich mir wirklich eingebildet, dass hohe Absätze und glattes Haar alles leichter machen?

Ja, hatte sie. Nur weiter so. Belüg dich ruhig selbst.

Als Meri vor den Verandastufen ankam, setzte sie instinktiv ein breites Lächeln auf. Anscheinend funktionierte ihre Konditionierung noch ausgezeichnet. Sie konnte noch immer in High Heels herumstolzieren und die Glückliche mimen. „Hi, Momma.“

„Sieh mal einer an.“ Anna Lee löste sich vom Türrahmen. „Meine verlorene Tochter ist wieder da.“

Meri beugte sich vor und gab ihrer Mutter einen Kuss auf eine Wange. Ein schwacher blumiger Parfumduft stieg ihr in die Nase, überdeckt vom betäubend süßen Duft von Haarspray und Puder auf makellosem Make-up. Alles an Anna Lee war so perfekt wie der Rasen.

Anna Lee umfasste Meris Gesicht. „Du siehst so erschöpft aus, Schatz. Schläfst du auch genug? Isst du vernünftig?“ Sie wich dem Anblick von Meris Narbe aus. „Komm rein, wasch dir das Gesicht mit etwas kaltem Wasser und trag etwas Make-up auf. Danach fühlst du dich bestimmt wie neugeboren.“

Meri verdrängte ihre Irritation und lächelte schmallippig, um nicht etwas zu sagen, das sie hinterher bereuen würde. „Ich habe eine lange Fahrt hinter mir, Momma, das ist alles.“

Anna Lee ließ einen Daumen über Meris Narbe gleiten. „Wirklich?“

Meri zog die Hand ihrer Mutter weg. „Es geht mir gut, Momma, glaub mir.“

Anna Lee wirkte nicht überzeugt, nickte jedoch und setzte ein ähnlich künstliches Lächeln auf wie Meri. „Lass uns ins Haus gehen. Die Hitze hier draußen ist unerträglich.“ Sie dehnte die Silben auf jene faszinierende melodiöse Südstaaten-Art, die Meri schon immer geliebt hatte. Ihre Mutter war zweifache Witwe, eine sehr wohlhabende Frau, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes den Namen ihres ersten Mannes wieder angenommen hatte.

Obwohl Jeremy Prescott aus dem weniger feinen Teil der Stadt gekommen war, hatte er Millionen als Investmentbanker gemacht, bevor ihn mit fünfzig ein Herzinfarkt niedergestreckt hatte. Meri hatte nie verstanden, warum er nicht so bodenständig wie seine Herkunftsfamilie geblieben war – die Menschen, die Meri am meisten bedeuteten. Grandpa Ray war einer der wundervollsten Männer, die sie kannte. Er wohnte in einer Hütte am See, ganze Lichtjahre von seiner Schwiegertochter in ihrem übergepflegten Herrenhaus entfernt.

Meri leistete keinen Widerstand, als ihre Mutter sie durch die Eingangshalle in den Salon führte. Gegen Anna Lee konnte man sowieso nichts ausrichten. Sie wusste genau, warum ihre Mutter sie hierhergebracht hatte, als sie die auf Glasregalen arrangierten strassbesetzten Kronen und Tiaras funkeln sah.

Sie nahm auf einem steifen weißen Sofa Platz, während ihre Mutter sich ihr gegenüber auf einen Sessel setzte, von ihrer Tochter nur durch einen ovalen Mahagoni-Sofatisch und einen Aubusson-Teppich getrennt, der mehr als ein Kleinwagen gekostet hatte. Die antike Standuhr in einer Ecke tickte schwer und bedeutungsschwanger.

Unbehaglich veränderte Meri ihre Sitzposition. Sie kam sich vor wie in einem Mausoleum. „Momma, wollen wir nicht nach draußen auf die hintere Veranda gehen?“

Ihre Mutter machte eine abfällige Geste. „Da draußen sind Handwerker.“

Sie sagte das, als handle es sich um einen Schwarm Heuschrecken. Anna Lee hatte sich in der Gegenwart einfacher Menschen noch nie wohlgefühlt. Vielleicht weil sie Angst hatte, dass man ihr einen Besen in die Hand drücken würde. „Sie bauen gerade eine Gartenlaube“, fügte Anna Lee hinzu. „Du kennst mich ja, irgendetwas muss ich immer verändern.“

„Damit alles perfekt aussieht, vor allem deine Tochter“, entschlüpfte es Meri. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben, höflich zu bleiben. Kaum fünf Sekunden hatte sie das durchgehalten.

Anna Lee runzelte missbilligend die Stirn. „Ich wollte immer nur, dass du das Beste aus dir machst, Meredith Lee. Du warst so ein schönes Mädchen, so …“

„Ich bin nicht hier, um über längst vergangene Dinge zu reden, Momma. Meine Zeit als Schönheitskönigin ist längst vorbei.“

„Du wirst immer eine Schönheitskönigin sein, das kann dir niemand nehmen. Sieh doch nur all diese Kronen an.“ Anna Lee zeigte auf die funkelnden Tiaras, die Schärpen und Trophäen, alles Erinnerungen an eine andere Zeit, eine andere Meri. „Sie sind der beste Beweis dafür, dass du das schönste Mädchen der Welt bist.“

Meri seufzte. „Ich habe mich verändert, Momma.“

Anna Lee fuhr fort, als habe Meri nichts gesagt: „Du hättest Miss America werden können, wenn du nicht …“ Sie schürzte die Lippen. „Aber na ja, das ist ja jetzt auch egal.“

Sie hatten diese Diskussion schon unzählige Male gehabt. Manchmal kam es Meri so vor, als rede sie gegen eine Wand, so wenig hörte Anna Lee ihr zu. „Momma, bitte! Lass uns nicht schon wieder davon anfangen.“

Anna Lee beugte sich vor und berührte das Gesicht ihrer Tochter, auf der die Narbe wie ein aggressiver roter Halbmond hervortrat. „Wenn du mich dich nur zu einem Gesichtschirurgen bringen lassen würdest. Er könnte dafür sorgen, dass du wieder perfekt aussiehst.“

„Fang nicht schon wieder damit an, Momma!“

Anna Lee seufzte tief. „Denk doch wenigstens darüber nach.“

Meri hatte in den letzten Monaten über fast nichts anderes nachgedacht – seit dem Überfall, nach dem nichts mehr so gewesen war wie vorher. Für ihre Mutter hatte sich jedoch nichts verändert. Sie sah in Meri immer noch das Mädchen, das zig Schönheitswettbewerbe gewonnen hatte und dem es bestimmt gewesen war, Miss America zu werden, bevor sie einfach so die Stadt verlassen hatte.

Warum war sie überhaupt hierhergekommen? Wann würde sie endlich akzeptieren, dass ihre Mutter sich nie ändern würde? Na ja, wenn sie den Zwischenstopp hier hätte vermeiden können, hätte sie es getan.

Meri stand auf. „Kann ich bitte den Schlüssel für das Gästehaus bekommen, damit ich mich dort einrichten kann?“

Ihre Mutter zeigte hinter sich. „Er ist da, wo er immer ist. Ich verstehe nicht, warum du unbedingt in der alten Bruchbude wohnen willst, wo Geraldine doch das Bett in deinem alten Zimmer frisch bezogen hat.“

Meri verzichtete auf eine Antwort. Sie ging zu dem antiken Rollsekretär, zog eine der kleinen Schubladen auf und nahm den alten Schlüssel heraus. Als sie klein gewesen war, hatte ihr Vater das Gästehaus an den Wochenenden zum Angeln benutzt – und, wie Meri vermutete –, um von Momma und ihren ständigen Ansprüchen wegzukommen. Ein paar Mal hatte er Meri mitgenommen. Sie hatte diese Tage genossen, an denen sie sich hatte schmutzig machen und essen dürfen, was sie wollte.

Als Meri den schweren Schlüssel in der Hand spürte, war sie plötzlich wieder sechzehn und schlich sich in einer sternklaren Nacht mit Jack in das Gästehaus, aufgeregt und total verliebt. Am Schluss hatte sie allein am Ufer des Sees gesessen, verwirrt und mit gebrochenem Herzen. Ihr Cousin Eli hatte sie abgeholt und nach Hause gefahren. Er hatte ihr auch geholfen, das Rosenspalier hochzuklettern, bevor Anna Lee herausfand, dass Meri weg war.

Eli …

Gott, war er wirklich nicht mehr da? Unvorstellbar, dass er nicht mehr am Leben war. Er war ihr bester Freund gewesen, eher wie ein Bruder als wie ein Cousin. Sie hörte wieder die Stimme ihrer Tante Betty am Telefon, wie sie Meri von seinem Tod erzählte. Meri vermisste ihn schrecklich. Und jetzt war auch noch Grandpa Ray krank …

Hoffentlich erholte er sich wieder. Noch einen Verlust würde sie nicht verkraften.

Tief Luft holend steckte sie den Schlüssel ein und drehte sich wieder zu ihrer Mutter um. „Ich fahre dann jetzt zu Grandpa Ray.“

Ihre Mutter schürzte die Lippen und nickte. „Geh nur, geh. Aber sei bitte rechtzeitig zum Abendessen wieder da. Geraldine macht Brathähnchen. Sie hat dir das Bett mit der Blumenbettwäsche bezogen, die du so magst, falls du deine Meinung noch änderst.“

Meri seufzte. „Du weißt doch, dass ich in Grandpa Rays Gästehaus wohnen will. Er braucht mich.“

„Da könntest du doch genauso gut im Wald schlafen, Meredith Lee. Dein Großvater haust in seiner Hütte wie ein Wilder, und das Gästehaus ist auch nicht besser.“

„Nur weil Grandpa Ray in einem bescheidenen Haus wohnt und sich einen feuchten Kehricht um das schert, was die Leute über ihn denken, ist er noch lange kein Wilder!“

„Geraldine wird schrecklich enttäuscht sein.“

Das Dienstmädchen war schon seit dreißig Jahren in der Familie, länger als Meri auf der Welt war. Meri fühlte sich für einen Moment schuldig – bis ihr bewusst wurde, dass ihre Mutter von Geraldine gesprochen hatte, nicht von sich selbst.

Nein, nichts hatte sich verändert. Gar nichts. „Ich muss gehen, Momma.“

Meri eilte aus der erstickenden Atmosphäre des Hauses zu ihrem Wagen. Ein Stoßgebet gen Himmel schickend, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss. Mit einem Ruck erwachte der Motor des Toyotas zu Leben. Na Gott sei Dank!

Kaum hatte sie die Einfahrt hinter sich gelassen, fühlte sie sich wieder freier. Sie durchquerte das Stadtzentrum und fuhr nach Südwesten in den weniger feinen Teil der Stadt. Hier passte sie hin, hier konnte sie durchatmen. Hier ließen die Menschen ihren Rasen wachsen und ihre Fahrräder im Vorgarten stehen und interessierten sich nicht dafür, ob auf dem Sofatisch ein Glas herumstand.

Sie parkte ihren Wagen in Grandpa Rays Einfahrt, streifte ihre High Heels ab und tauschte sie gegen die Flip Flops aus, die sie unter den Beifahrersitz geschoben hatte. Auf dem Weg zum Haus band sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz hoch. Endlich war sie wieder sie selbst.

Für den Bruchteil einer Sekunde rechnete sie damit, ihren Cousin Eli zu sehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass er tot war. Gefallen im Krieg, auf irgendeiner staubigen Straße in Afghanistan. Er würde nie wieder zurückkommen.

Doch sein Geist war noch lebendig, lebte in den holzverschalten Häusern, den Bäumen und den Vögeln, die in den Zweigen zwitscherten. Die Bäume hatte er vor Jahren gepflanzt, die Fenster eingebaut und die Gartenlaube errichtet. Meri beschloss trotzdem, ihr Bestes zu versuchen, den Tag zu genießen. Eli hätte sich das gewünscht, das wusste sie genau.

Sie lief die Eingangsstufen hoch und klopfte an die Tür. „Grandpa? Ich bin’s, Meri!“

Keine Antwort. Sie rief erneut, doch es herrsche Schweigen. Ihr Magen verkrampfte sich. War Grandpa womöglich auch …

Als sie ein Geräusch hinter dem Haus hörte, atmete sie erleichtert auf. Sie eilte die Stufen wieder hinunter, ging um das Haus herum und duckte sich unter dem spanischen Moos, das von einer Eiche hing, bevor sie lächelnd um die letzte Ecke bog.

„Also, Grandpa Ray“, sagte sie lachend, an ihren in einem Gartenstuhl schlafenden Großvater gewandt. „Ignorierst du die Anordnungen des Arztes etwa schon …“

Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als ihr Blick an dem Gartenstuhl vorbei auf den einzigen Mann in Stone Gap fiel, den sie nie hatte wiedersehen wollen: Jack Barlow.

Jack stand etwa dreißig Meter von ihrem Großvater entfernt, mit einer Axt in einer Hand und einem Haufen Kaminholz zu seinen Füßen. Er trug eine alte, tief in die Stirn gezogene Jagdmütze, eine Khakishorts, die aussah wie durch den Reißwolf gezogen und ein ausgeblichenes T-Shirt, und trotzdem …

Er sah gut aus. Und erschreckend erwachsen, selbstsicher und stark. Außerdem verdammt sexy. Der Jack aus ihrer Erinnerung war ein schlaksiger Teenager gewesen, bevor er zum Militär gegangen war, im Mittleren Osten gekämpft hatte und zurückgekehrt war …

… mit dem Körper eines griechischen Gottes.

Als er spöttisch eine Augenbraue hob, wandte sie verlegen den Blick ab. Verdammt! Er hatte sie dabei ertappt, ihn anzustarren.

Jack legte die Axt weg, wischte sich die Sägespäne von den Händen und kam auf sie zu, größer, schlanker und muskulöser als früher. Ihr verräterischer Magen flatterte, als er vor ihr stehen blieb. „War ja nur eine Frage der Zeit, bis du hier wieder Ärger machst“, sagte er.

„Ich find’s auch schön, dich wiederzusehen, Jack.“

Er grinste, jenes schiefe Grinsen, bei dem sie früher immer dahingeschmolzen war. Jetzt natürlich nicht. Sein Lächeln hatte keine Wirkung mehr auf sie. Absolut nicht. „Schön zu sehen, dass du dich nicht verändert hast.“

Trotzig hob sie das Kinn. „Ich habe mich verändert, Jack Barlow. Mehr als du ahnst.“

Als sein Blick an der Narbe auf ihrer linken Wange hängen blieb, machte ihr Herz einen Satz. Sie hielt die Luft an. Etwas flackerte in seinen Augen auf, etwas Schmerzliches. Für einen Moment hatte sie das Gefühl einer Verbindung zu ihm, doch dann wandte er den Blick ab, und das Gefühl war vorbei.

„Wir beide haben uns verändert, Meri“, sagte er leise.

„Manche Dinge werden nie wieder sein wie früher, oder?“ Sie dachte an ihren Cousin, der kurz nach Jack in den Krieg gezogen war.

Zwei waren fortgegangen. Nur einer war zurückgekehrt.

Brach Elis Tod Jack genauso das Herz wie ihr? Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. „Das teuflische Trio“ hatte ihre Großmutter sie immer lächelnd genannt. Elis Abwesenheit hinterließ eine große Lücke.

„Ich muss jetzt weiterarbeiten.“ Jack griff wieder nach der Axt. Er schlug so heftig auf die Scheite ein, dass die Botschaft eindeutig war: Das Gespräch war vorbei.

Eins stand fest – der charmante Jack Barlow von der Highschool war verschwunden. Dieser Jack hier hatte etwas an sich, etwas Hartes, das ihr fremd war. Lag es an seiner Zeit beim Militär? Oder am Verlust seines besten Freundes?

Ach, egal. Meri war wegen ihres Großvaters hier, nicht, um irgendwelche Geheimnisse zu lüften. Und ganz bestimmt nicht, um sich Gedanken über einen Typen zu machen, der in ihr nur ein oberflächliches hübsches Mädchen ohne jeden Tiefgang gesehen hatte.

Sie ging zu ihrem Großvater und beugte sich über ihn, um ihm einen sanften Kuss auf eine Wange zu geben. Er sah erschreckend blass und zerbrechlich aus. Dieser einst so robuste Mann, der sie auf den Schultern getragen hatte, schien geschrumpft zu sein.

Er schlug die Augen auf und nahm lächelnd ihre Linke. Seine hellgrünen Augen blitzten erfreut auf. Hinter ihm funkelte der Stone Gap Lake in der Sonne. „Meri-Mädchen“, sagte er und strich ihr liebevoll über die Narbe. „Da bist du ja. Wie geht es meiner Lieblingsenkelin?“

„Gut.“

Er zwinkerte ihr zu. „Ich habe eine Schüssel mit Schokoriegeln auf dem Esszimmertisch stehen. Die wartet nur auf dich.“ Er grinste. „Und auf Jack, falls du bereit bist zu teilen.“

Meri hatte nicht die Absicht, auch nur irgendetwas mit Jack Barlow zu teilen. Nicht jetzt und auch später nicht. Dass er hier war, brachte sie etwas aus dem Konzept, aber irgendwie würde sie es schon schaffen, ihm in Zukunft aus dem Weg zu gehen.

„Ich? Schokoriegel abgeben? Grandpa, du hast wohl vergessen, mit wem du sprichst.“ Hinter sich konnte sie das stetige Geräusch von Axtschlägen und von zersplitterndem Holz hören. Jack hatte ihrem Großvater schon früher oft geholfen, zusammen mit Eli. Es war nach der Trennung unheimlich schwer für sie gewesen. Aber sie war ihm dafür dankbar, dass er zu Ray immer gut gewesen war. Das kurze Magenflattern vorhin – das war nur Überraschung gewesen, weiter nichts. Sie hatte gedacht, er sei noch bei der Armee, aber er schien entlassen worden zu sein. Nicht dass es sie interessierte. Überhaupt nicht.

Fragte sich nur, warum sie dann immer wieder an jenen Moment in Gator’s Garage denken musste. An die schmerzhaften Monate nach ihrer Trennung, als sie versucht hatte, Jack Barlow und sein freches Grinsen zu vergessen.

Jack hackte unbeirrt weiter. Bei dem Tempo, das er an den Tag legte, war er vermutlich nicht der Einzige, den ihr Wiedersehen nicht kaltließ.

Meri verdrängte diesen Gedanken hastig. Jack Barlow gehörte zu ihrer Vergangenheit, und die hatte sie konsequent hinter sich gelassen. „Die Schokoriegel kann ich gut gebrauchen, Grandpa“, sagte sie seufzend.

Autor

Shirley Jump
Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
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