Gefangen in den Armen des Feindes

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Der Feind steht vor den Toren ihrer Burg! Mutig und entschlossen tritt Lady Juliana dem Anführer der Truppen entgegen, um zu verhandeln. Doch mit Schrecken muss sie feststellen, dass Lothar nicht nur ein starker Krieger ist, sondern auch ein sinnliches Begehren in ihr weckt! Als Verhandlungspartner ist er absolut unnachgiebig. Es gibt nur eine Lösung: Sie muss ihn verführen, um ihn auf ihre Seite zu ziehen! Schon beim ersten Kuss entbrennt heiße Leidenschaft. Kann Juliana nicht nur ihre Burg, sondern auch ihr Herz vor seinem Ansturm verteidigen? Denn niemals darf Lothar erfahren, welches Geheimnis sie vor ihm verbirgt …


  • Erscheinungstag 05.05.2020
  • Bandnummer 359
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748302
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Herefordshire, Oktober 1147

Nur ein Pfeil.

Lothar kniff die Augen ein wenig zusammen, um die Entfernung zu der Frau auf dem Wehrgang der Burg abzuschätzen. Der Wind stand günstig, und die Frau sah in die andere Richtung. Den Pfeil würde sie erst hören können, wenn es bereits zu spät war. Ein solches Ziel war gar nicht zu verfehlen. Nur ein Pfeil, und vier Monate Belagerung würden ein Ende nehmen.

Sofern er den Befehl erteilte.

„Das ist sie!“, ertönte neben ihm die hasserfüllte Stimme seines Begleiters. „Das ist Lady Juliana. Sie befehligt die Verteidiger der Burg. Macht schon, tötet sie!“

Betont langsam drehte er sich zu dem anderen Mann um und richtete seine grauen Augen auf ihn. Lothar war bekannt für seinen frostigen, alles durchdringenden Blick, der allzu gut zu seinem unergründlich harten Äußeren passte. Die ihm unterstellten Soldaten aus Angoulême nannten ihn deshalb auch den „eisernen Krieger“ und scherzten, seine Haut sei so dick, dass keine Waffe sie durchdringen und er auf jede Rüstung verzichten könne. Zudem sei sein Herz – sofern er denn eines besaß – so tief in seinem Körper vergraben, dass keine Klinge bis dorthin vordringen könne.

Dieser Ruf kam ihm gelegen, da er für seine Sicherheit sorgte, denn schließlich wollte es niemand so recht wagen, ihn zu einem Kampf herauszufordern. Und aus diesem Grund vertraute ihm auch Kaiserin Matilda, die ihn hergeschickt hatte, um das in Ordnung zu bringen, was durch die Unfähigkeit anderer aus dem Lot geraten war.

Doch heute …

Sein Blick kehrte zu der Frau auf dem Wehrgang zurück, deren langes, karmesinrotes Haar vom Wind erfasst wurde, dass es wie ein flatterndes Wappen wirkte.

Heute störte er sich an der Kaltherzigkeit seines Begleiters. Wäre Lothar nur halb so unerbittlich gewesen, wie es seine Feinde waren und wie es ihm die meisten seiner Freunde zuschrieben, hätte er längst den Befehl gegeben. Aber er würde einer unbewaffneten Frau nicht einen Pfeil in den Rücken jagen lassen.

Andererseits hatte er seit seiner Abreise aus dem Lager der Kaiserin bei Devizes vor zwei Tagen kaum geschlafen und die meiste Zeit über seinem Pferd Höchstleistungen abverlangt. Daher war er sehr dazu geneigt, selbst jemanden umzubringen. Jemanden wie Sir Guian de Ravenell, wenn der nicht bald seinen Mund hielt.

„Tötet sie doch!“ Vor Ungeduld überschlug sich die Stimme des Freiherrn. „Macht schon!“

Lothar zog nachdenklich eine Augenbraue hoch und wunderte sich, dass diese Frau dort oben so lange hatte überleben können, wenn doch ein solch ungestümer Wolf in der Gestalt von de Ravenell vor ihren Toren lauerte. Andererseits wusste selbst ein Feigling wie de Ravenell, dass die Kaiserin ein derart ehrloses Verhalten nicht gutheißen würde, was wiederum erklärte, warum der Mann so sehr darauf versessen war, dass ein solcher Befehl von Lothar kam.

Angewidert rieb er sich übers Gesicht und damit auch über die weißliche Narbe, die mitten auf der Stirn begann, wo ein schwarzer Haarschopf sie zum Teil verdeckte, durch die linke Braue verlief und an der äußersten Ecke des Kiefers endete. Wenn das Wetter feuchter wurde, begann sie stets zu pochen, und der herbstliche Nieselregen sorgte dafür, dass ihm die ganze Gesichtshälfte schmerzte.

„Ihr könntet die Belagerung beenden“, versuchte es de Ravenell mit einem scheinbaren Appell an Lothars Vernunft. „Die Garnison dort drinnen wird ohne ihre Führung sofort in die Knie gehen. Ihr Vater war der Kaiserin treu ergeben gewesen, doch nach dessen Tod hat sie sich auf die Seite des Thronräubers gestellt.“

Einen Moment lang verspürte er Unbehagen. Nach einer drei Monate währenden Belagerung hatte William Danville sich dazu entschlossen, sich dem Thronräuber König Stephen im Kampf zu stellen. Der mutige Plan hatte jedoch ein verheerendes Ende genommen, und die anschließende Kapitulation seiner Tochter war an sich nur zu verständlich gewesen, wenngleich es etwas überraschend gekommen war, dass sie ausgerechnet dem Mörder ihres Vaters Treue geschworen hatte. „Sie hat ihren Schwur gleich nach dem Kampf geleistet?“

„Noch bevor der Leichnam ihres Vaters erkaltet war. Das Mädchen ist eine Verräterin.“

„Das Mädchen?“ Lothar machte keinen Hehl aus seinen Zweifeln. „Wenn sie sich vier Monate lang erfolgreich gegen Euch zur Wehr gesetzt hat, ist sie wohl kaum ein Mädchen.“

Und was die Sache mit der Verräterin anging … Aber diesen Gedanken behielt er für sich. Da König Stephen und Kaiserin Matilda beide einen gleichermaßen berechtigt erscheinenden Anspruch auf den englischen Thron erhoben, wurde es zunehmend schwieriger zu bestimmen, wer ein Verräter war und wer nicht. Selbst die Freiherren schienen sich nicht festlegen zu können, da die Loyalität vieler von ihnen jeden Monat von der einen Seite zur anderen schwappte. Er selbst war kaum an Politik interessiert und hatte seine eigenen Gründe, wieso er ausgerechnet der Kaiserin diente. Keiner dieser Gründe hatte etwas mit ihrem Anrecht auf die Krone zu tun. Zumindest schien Lady Juliana ihren eigenen Kopf zu haben, denn so überraschend ihr Entschluss auch gewesen war, hatte sie sich für eine Seite entschieden und blieb der nun auch treu.

Zu dumm nur, dass sie sich für die falsche Seite entschieden hatte.

„Habt Ihr versucht, mit ihr zu handeln?“

„Natürlich haben wir das“, gab der Freiherr gereizt zurück. „Das habe ich gleich nach unserer Ankunft versucht, aber sie hat meine Bedingungen rundweg abgelehnt.“

„Dann seid Ihr also in der Burg gewesen? Wie ist es um ihre Verteidigung bestellt? Wie viele Männer hat sie?“

„Das weiß ich nicht genau. Eigentlich weiß ich es gar nicht. Sie kam zu mir in mein Zelt.“

„In Euer Zelt?“ Lothar kniff die Augen ein wenig zusammen und sah den anderen Mann forschend an. „Wer hatte denn diese Idee?“

„Die kam von mir. Ich bot ihr einen Waffenstillstand an, sie nahm das Angebot an.“

„Und?“

„Und gar nichts.“ Der Freiherr schaute zur Seite, um Lothars Blick auszuweichen. „Sie ist ein Drache. Kein Wunder, dass sie immer noch nicht verheiratet ist. Mit Vernunft ist ihr einfach nicht beizukommen.“

„Mit Vernunft“, wiederholte Lothar in einem Tonfall, der keinen Zweifel an dem Vorwurf ließ, den er damit an die Adresse des Freiherrn richtete, ohne es laut auszusprechen.

Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, sein jeweiliges Gegenüber danach zu beurteilen, wie es auf den Anblick der Narbe in seinem Gesicht reagierte. Sir Guian de Ravenell gehörte zu den Menschen, die ihm gar nicht erst ins Gesicht schauen konnten. Der Mann genoss als Befehlshaber einen schlechten Ruf, und mit Blick auf seinen Umgang mit Frauen sah es noch schlimmer aus. Sollte Lady Juliana ohne Begleitung sein Zelt in dem Glauben betreten haben, ernsthaft mit ihm verhandeln zu können, dann …

Er wollte das nicht zu Ende denken. Nach mehr als zehn Jahren unter Soldaten hatte er sich an vieles gewöhnt, doch Gewalt gegen Frauen ließ sein Blut noch immer vor unbändigem Zorn hochkochen. Erinnerungen wurden geweckt, die er ein Leben lang zu vergessen versucht hatte. Ob Lady Juliana nun eine Verräterin war oder nicht – sollte de Ravenell ihr nur ein Haar gekrümmt haben, dann würde sich der Mann schon hinter den Mauern seiner eigenen Burg verschanzen müssen, um Lothars Rache zu entgehen.

„Sie hat mich beleidigt.“

„Tatsächlich?“ Lothar hielt sein Temperament mit Mühe im Zaum. „Habt Ihr es seitdem nochmals mit Verhandlungen versucht?“

„Nein, ich habe ihr einmal die Gelegenheit angeboten, sich zu ergeben. Warum sollte ich das noch einmal machen?“

„Beispielsweise, um der Belagerung ein Ende zu setzen.“

„Die Regeln der Kriegführung verlangen von mir nur ein einziges Angebot. Sie hat sich dagegen entschieden, nun muss sie mit den Folgen dieser Entscheidung leben.“

Nur mit viel Mühe konnte sich Lothar davon abhalten, seine Faust gegen diesen Mann zu erheben. Doch die Kaiserin konnte es sich nicht erlauben, einen Verbündeten zu verlieren, selbst wenn der so nutzlos war wie de Ravenell. So, wie es um ihren Feldzug gegen Stephen bestellt war, brauchte sie jeden Mann, den sie kriegen konnte – und sie brauchte Burg Haword.

So bescheiden die Feste auch daherkam, war sie durch ihre Lage an einer Brücke über den Fluss Wye strategisch von großer Bedeutung, war doch die nächste Brücke dreißig Meilen entfernt. Ohne eine sichere Route waren die Verbündeten der Kaiserin dem Risiko ausgeliefert, vom Feind umzingelt zu werden und zwischen Stephens Streitkräften und dem Fluss eingekeilt zu sein. Sie brauchte diese Brücke, und sie brauchte sie bald. Genau deswegen war er hergekommen, damit einer Belagerung ein Ende gesetzt wurde, die bereits viel zu lange dauerte. Unstimmigkeiten zwischen ihm und Sir Guian mussten warten, bis der Auftrag abgeschlossen war.

Er wandte sich wieder der Burg zu. Belagerungen waren ihm zuwider, er zog den offenen Kampf vor. Es war nichts Ehrenhaftes daran, einfach abzuwarten, bis der Hunger den Feind so sehr geschwächt hatte, dass der gar keine Gegenwehr mehr leisten konnte. Aber Lothar hatte seine Befehle zu befolgen, und die bedeuteten, dass er Haword am Abend des nächsten Tages einnehmen würde. Seine Loyalität galt der der Kaiserin. Was er von ihren Befehlen hielt, war ein ganz anderes Thema.

Stück für Stück sah er sich die Feste an, um nach Schwachstellen zu suchen. Nach dem Äußeren zu urteilen, war die ursprüngliche Anlage so alt, dass sie noch in die Zeit vor der Eroberung fiel, auch wenn das von den Angelsachsen verwendete Holz nach und nach durch Stein ersetzt worden war. Es sah so aus, als hätte man diese Arbeit auf mehrere Abschnitte verteilt, die jeweils im Abstand von mehreren Jahren erledigt worden war, da jede Mauer den Baustil einer anderen Ära aufwies. Insgesamt wirkte die Burgmauer zwar wie ein großer Flickenteppich, machte aber einen durchweg stabilen Eindruck. Das hieß, dass ein Angriff zwar nicht unmöglich, aber doch schwierig auszuführen wäre.

Sein anerkennender Blick wanderte zurück zum Torhaus, doch dann hielt er abrupt inne, als ihm bewusst wurde, dass ihn jemand beobachtete. Er war so sehr damit befasst gewesen, das Bauwerk zu begutachten, dass ihm nicht aufgefallen war, wie Lady Juliana sich umgedreht hatte, um ihn anzustarren. In ihren Augen brannte ein so hitziger, hasserfüllter Trotz ihm gegenüber, dass Lothar fast einen Schritt nach hinten gemacht hätte.

Stattdessen jedoch trat er einen Schritt vor, um seinen Anspruch zu unterstreichen, und wartete darauf, dass sie den Blick senkte oder sich wieder abwandte. Doch sie rührte sich nicht. Sie zuckte angesichts seiner Herausforderung nicht einmal mit der Wimper. Wie hatte de Ravenell sie bezeichnet? Als Mädchen? Nein, sie war kein Mädchen, sondern vermutlich bereits Anfang zwanzig. Allerdings würde von ihr nicht mehr als ein Geist übrig sein, wenn sie nicht bald kapitulierte. Es regnete jetzt noch stärker, wodurch sich ein trüber Schleier um die Burg legte. Doch der konnte nicht über die Auswirkungen der Belagerung hinwegtäuschen, die sich im ausgemergelten Gesicht von Lady Juliana zeigten. Ihre Augen wirkten zu groß für ein so zierliches Geschöpf, die Schatten unter ihren Augen waren umso intensiver, da ihre Haut fast kreidebleich war. Auch stachen die Wangenknochen deutlich hervor, und dennoch konnte Lothar ihren sengenden Blick deutlich spüren, so als würde sie all ihre noch verbliebene Kraft in diesen einen stolzen Blick legen, der mehr sagte, als jedes Wort es vermochte.

Etwas an der Entschlossenheit, die ihre Miene und ihre ganz Statur ausstrahlte, erinnerte ihn an eine rebellische keltische Königin, die sich von nichts und niemandem beeindrucken ließ. Ihre langen, lockigen Haare hingen lose über die Brustwehr, über die sie gebeugt stand. Das Rot dieser Locken war der einzige Farbtupfer inmitten von trostlosem Grau. Einen flüchtigen Moment lang wünschte Lothar, er könnte sich mit ihr auf derselben Seite der Burgmauer aufhalten und …

Seine Reaktion machte ihn stutzig. Er hatte genügend Belagerungen miterlebt, um mit den Auswirkungen auf die Betroffenen vertraut zu sein, doch das einem Geist gleiche Erscheinungsbild dieser Frau ging ihm näher, als er es für möglich gehalten hätte. Er war es gewohnt, der Beobachter zu sein, aber nicht beobachtet zu werden. Für gewöhnlich wichen die Angehörigen der Gegenseite seinem Blick aus, doch diese Frau da oben, die auf dem Wehrgang Wind und Wetter ausgesetzt war, machte auf ihn den Eindruck, dass sie sich lieber in die Tiefe stürzen würde, anstatt ihre Niederlage einzuräumen. Lothar hatte das Gefühl, dass diese Frau dort oben so lange verharren wollte, bis er endlich als Erster den Blick abwandte.

Na ja, diesen Triumph konnte er ihr zumindest gönnen.

„Dann hat also ein Mädchen den Befehl über diese Burg“, sagte er an de Ravenell gerichtet. „Und trotzdem habt Ihr an einen Angriff gedacht? Ihr habt zwei Belagerungsgeräte. Warum habt Ihr die nicht benutzt?“

„Ich sah keine Veranlassung dazu, meine Männer bei einem Angriff in Gefahr zu bringen.“ Der Freiherr wirkte verblüfft. „Eine Belagerung war die ungefährlichste Vorgehensweise.“

„Unter normalen Umständen würde ich Euch zustimmen, jedoch lautete Euer Befehl, die Burg schnellstmöglich zu erobern.“

„Sehr lange kann sie nicht mehr durchhalten.“

„Das dauert der Kaiserin aber zu lange. Wo sind die Gänge?“

„Welche Gänge?“

„Die unterirdischen Gänge, um unter der Mauer hindurch ins Innere zu gelangen!“, entgegnete Lothar gereizt. „Habt Ihr das zumindest versucht?“

„Der Burggraben ist dafür zu breit.“

„Ihr hattet vier Monate Zeit. Genug Zeit, um einen Tunnel unter dem Fluss hindurchzugraben!“

„Wie könnt Ihr es wagen?“, entrüstete sich der Freiherr. „Ich habe alles getan, was man von mir erwarten kann. Die Kaiserin kennt mich und weiß um meine Fähigkeiten. Wer seid Ihr? Nichts weiter als ein rüpeliger Emporkömmling aus dem Bauernstand!“

Lothar verzog keine Miene. Er wusste, wie die besseren Herrschaften hinter seinem Rücken über ihn redeten, die alle zu Matildas Unterstützern zählten. Allerdings lief ihm kaum einmal einer von ihnen über den Weg, die dumm genug gewesen wären, ihm ihre Meinung ins Gesicht zu sagen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er mit Sir Guian de Ravenell mehr als nur eine offene Rechnung zu begleichen haben. Auf diesen Moment freute er sich schon jetzt.

„Nur dass ich der Emporkömmling aus dem Bauernstand bin, der entsandt wurde, um Euren Auftrag zu erledigen“, erwiderte er mit sanfter Stimme. „Allerdings gebe ich Euch in einem Punkt recht: Die Kaiserin weiß um Eure Fähigkeiten. Deshalb bin ich jetzt hier.“

Der Freiherr wollte sich über diese Worte ereifern, sank aber dann in sich zusammen. „Tja, ich wüsste nicht, was wir jetzt noch anders machen könnten.“

„Dann werde ich es Euch sagen“, entgegnete Lothar und zeigte auf eine Gruppe Eichen, die auf einem Hügel beisammenstanden. „Zunächst einmal werdet Ihr Euren Männern befehlen, diese Bäume dort zu fällen. Dann lasst sie daraus eine Brücke und einen Rammbock bauen. Anschließend werdet Ihr angreifen.“

Was? Wann?“

„Morgen bei Tagesanbruch.“

„Aber das geht nicht! Selbst wenn wir es über den Graben schaffen, sind die Mauern viel zu steil, als dass wir daran hochklettern könnten.“

„Dann werdet Ihr eben auch Leitern bauen müssen.“ Lothar grinste ihn spöttisch an. „Aber keine Sorge, Sir Guian. Ihr werdet schon noch Gelegenheit bekommen, um die Kaiserin zu beeindrucken. Immerhin werdet Ihr den Angriff anführen.“

Dann machte er abrupt kehrt und rief seinen Soldaten Befehle zu, während de Ravenell mit offenem Mund dastand. In Wahrheit hatte Lothar nicht vor, dem Mann die Führung des Angriffs zu überlassen, doch der entsetzte Gesichtsausdruck machte ein wenig das wett, was er Lady Juliana angetan hatte.

Ob sie das mitbekommen hatte? Verstohlen warf er einen Blick nach oben, doch sie schaute angestrengt in die Ferne, als würde sie dort irgendetwas suchen. Als würde sie auf Hilfe warten. Doch wenn sie darauf hoffte, dass Stephen herkam und ihr beistand, dann wartete sie völlig vergebens. Er kniff die Augen zusammen, als er im Schatten gleich hinter Lady Juliana eine flüchtige Bewegung bemerkte. Es war das Funkeln einer Pfeilspitze und die vertraut markante Form eines Bogens … Anerkennend musste er lächeln. Anscheinend war Lady Juliana keineswegs das leichte Ziel, für das er sie zunächst gehalten hatte. Der Bogenschütze musste sich die ganz Zeit über in ihrem Schatten aufgehalten haben, um für ihren Schutz zu sorgen, während de Ravenell darauf gedrängt hatte, sie zu töten. Nicht schlecht für ein Mädchen. Diese Frau könnte durchaus ein würdiger Gegner sein.

Nachdem er ein Stück weit gegangen war, blieb er gegenüber vom Torhaus stehen, das zum jüngsten Teil der Burg gehörte. Die Mauer war hier zwanzig Fuß hoch und im unteren Teil abgeschrägt, um jeden Angreifer abzuschrecken. Es wäre Irrsinn, an dieser Stelle angreifen zu wollen. Aber wenn die Männer mit dem Rammbock zum Schein die Zugbrücke aus massiver Eiche attackierten, würde das die Garnison in der Burg ablenken. Damit würde es ihm möglich werden, vom Fluss kommend die Feste zu stürmen, da niemand mit einem Angriff von jener Seite rechnete.

Vorausgesetzt, es kam überhaupt dazu. Zunächst wollte er es aber auf eine andere Weise versuchen, die sein Ehrgefühl ihm abverlangte. Aber würde sie ihm zuhören wollen? Das hoffte er für sie, doch es gab noch einen anderen Grund für diese Hoffnung, den er selbst nicht verstand.

„Lady Juliana?“, rief er ihr zu. Seine tiefe Stimme wurde von der massiven Burgmauer zurückgeworfen. „Kaiserin Matilda lässt Euch grüßen.“

2. KAPITEL

Lady Juliana Danville beugte sich über die Brustwehr und schleuderte dem Mann dort unten eine lange Reihe an gar nicht damenhaften Schimpfwörtern an den Kopf. Wenn sie während ihrer kurzen Zeit als Kastellanin eines gelernt hatte, dann war es dieses Arsenal an unflätigen Begriffen, das weit über den Sprachgebrauch der typischen Tochter eines typischen Earls hinausging. Sie nahm diese Worte nicht oft in den Mund, aber beim Anblick dieses schwarzhaarigen Fremden dort unten war ihr nichts Besseres in den Sinn gekommen.

„Mylady?“ Der Bogenschütze hinter ihr klang entsetzt.

„Oh … verzeih, Edgar. Es war nichts.“

Sie presste die Lippen zusammen und verfolgte gebannt das Geschehen dort unten vor ihrer Burg. Seit dieser Fremde vor einer Stunde eingetroffen war, schien die Stimmung eine ganz andere geworden zu sein. Die Männer wirkten mit einem Mal wieder kraftvoll und zielstrebig, was die Situation für Juliana nur umso angespannter machte.

Aber was war dort unten los? Sie musterte den Fremden, als ob dessen Erscheinungsbild eine Antwort auf ihre Frage liefern könnte. Wer war er? Er sprach mit de Ravenell, was für sie so aussah, als würden sie sich über ihre Burg unterhalten. Allerdings war das nicht mehr als eine Vermutung, da sein Mienenspiel nichts verriet. Der Mann hatte etwas Angsteinflößendes an sich, zugleich musste sie jedoch zugeben, dass er auf eine raue Art auch gut aussah. Seine markante Miene wies nur den einen Makel einer blassen Narbe auf, die sich einem Blitz gleich über eine Gesichtshälfte zog. Er war komplett in Schwarz gekleidet, die Haare trug er deutlich kürzer als die meisten Edelleute. Wie selbstverständlich ließ er den älteren Mann an seiner Seite wie einen Untertanen wirken, denn ganz gleich, worüber sie redeten, war es mehr als deutlich, dass der Freiherr nicht länger das Sagen hatte.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ein leichter Morgennebel hing noch über der Landschaft, doch nun setzte Regen ein. Sie wünschte, sie hätte trotz der Eile noch ihren Mantel mitgenommen, als sie sich auf den Weg zum Wehrgang gemacht hatte. Jedoch hatte sie nach einer weiteren ratlosen Nacht auf einem Stuhl sitzend gedöst und war aus dem Schlaf gerissen worden, als einer ihrer Wachleute ihr von der Ankunft des Fremden berichtet hatte. Sie war sofort losgeeilt und hatte dabei sogar vergessen, ihre Haare hochzustecken oder wenigstens eine Kopfbedeckung aufzusetzen. Daher war jetzt ihr Waffenrock aus Leinen das Einzige, was sie mehr schlecht als recht vor den Elementen schützte. Sie war, ohne nachzudenken, auf den Wehrgang geeilt, und jetzt blieb ihr nur zu hoffen, dass sie sich nicht erkältete. Wenn ihr etwas zustieß, was sollte dann aus Burg Haword und all den Menschen werden, die hier lebten?

Aber womöglich blieb ihr gar nicht genug Zeit, um sich zu erkälten, denn der Fremde da unten schien niemand zu sein, der in Ruhe darauf wartete, dass etwas geschah. Er machte eher den Eindruck eines Mannes, der Ereignisse in Gang setzte und vorantrieb. Bei einem Feigling wie de Ravenell war es ein Leichtes, die Burg zu verteidigen, doch der Fremde verhieß nichts Gutes. Vielmehr wirkte er wie ein Mann, der seine düstere, gefährliche Seite für den Augenblick in Schach hielt.

Sie hielt die Kante der Brustwehr so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und ließ ihre Ablehnung und die geballte Kraft ihrer Angst in einen vernichtenden Blick fließen, den sie ihren Belagerern zuwarf. Was wollt ihr diesmal hier?, hätte sie den versammelten Streitkräften am liebsten zugerufen. Hatte Haword nicht genug gelitten? Es fiel ihr schwer, sich an Zeiten zu erinnern, in denen sie nicht von dem einen oder dem anderen Feind belagert worden waren. Zwei Belagerungen in einem Jahr waren für jede Burg mehr als genug, von all den anderen Ereignissen ganz zu schweigen! Sie – und jeder, der bei klarem Verstand war – wollte nichts anderes, als dass der Krieg endlich aufhörte und Frieden Einzug hielt. Doch der Machtkampf zwischen Stephen und Matilda schien von einer Lösung noch immer weit entfernt zu sein. Nach zwölf endlosen Jahren, die mehr als die Hälfte ihres eigenen Lebens darstellten, war es Juliana längst egal, wer gerade die Krone trug. Es war schlimm genug, dass ihr Zuhause sich genau zwischen den Fronten befand, und nun musste die Kaiserin auch noch einen ganz neuen Mann ins Spiel bringen.

Der Fremde sah unvermittelt zu ihr, und sie konnte für einen winzigen Moment beobachten, wie ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht huschte und so schnell wieder verschwand, dass sie fast hätte glauben können, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. Dann war seine Miene abermals so ausdruckslos wie die einer Statue aus Stein. Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, dass die Belagerung vorüber war, wenn es ihr nicht gelang, diesen Mann aufzuhalten, der sich anders als de Ravenell nicht länger gedulden würde.

Als er zur Seite blickte, verspürte sie ein Triumphgefühl, das gleich wieder erlosch, als sie mit ansah, wie er mit energischen, ausholenden Schritten in Richtung Torhaus ging. Was hatte er vor? Wollte er mit ihr reden oder wollte er ihr drohen? Sie hatte sich nur auf den Wehrgang begeben, um sich ein Bild von der Situation vor der Burg zu verschaffen. Sie war jetzt nicht bereit, sich mit ihm auf eine Unterhaltung einzulassen, gleich welcher Art! Sie war nicht angemessen gekleidet, sie trug nicht einmal ihre Kopfbedeckung – und sie hatte das Gefühl, dass er weder den einen noch den anderen Vorwand gelten lassen würde.

Verzweifelt suchte sie den Horizont nach herannahender Verstärkung ab, obwohl sie wusste, dass niemand kommen würde. Und wenn doch, würde es dann längst zu spät sein. Gleich zu Beginn der Belagerung vor vielen Monaten hatte sie einen Hilferuf an Stephen gesandt, doch erst vor einer Woche war eine Antwort eingetroffen, die nachts vom Fluss aus in die Burg geschmuggelt worden war. Laut dieser Antwort war er auf dem Weg nach Westen und wollte Haword innerhalb der nächsten zwei Wochen erreichen. In seiner Nachricht erinnerte er sie auch daran, was sie ihm schuldete, und er ermahnte sie, die Brücke zu verteidigen.

Wenn das so einfach wäre! Sie kämpfte gegen eine aufkommende Angst an, die sie zu überspülen drohte. So lange hatten sie durchgehalten und schon zeitig so viele Vorräte und so viel Wasser in der Burg gehortet, dass sie auch jetzt noch einen Monat lang ihren Belagerern trotzen konnten. Doch wenn es zu einem Kampf kommen sollte …

Über die Schulter sah sie auf den Burghof, wo sich die gut fünfzig Männer aufhielten, die sich darauf verließen, von ihr geführt zu werden. Sie zweifelte nicht an deren Treue, ganz gleich, was jeder Einzelne von ihnen davon halten mochte, dass ihre Loyalität nun Stephen und nicht mehr Matilda galt. Doch diese Männer waren hungrig und erschöpft, und sie waren dem Feind zahlenmäßig unterlegen und kaum in der Verfassung, in eine Schlacht zu ziehen. Wie sollte sie von diesen Männern einen Sieg erwarten? Wenn es dem Feind irgendwie gelang, die Mauern dieser Burg zu überwinden, dann waren sie alle verloren. Und wenn sie den Fremden richtig einschätzte, hatte der bereits einen Plan, wie er genau das bewerkstelligen konnte.

Verdammt! Sie fluchte leise vor sich hin, während er unterhalb ihrer Position am Burggraben stehen blieb. Warum musste dieser Mann jetzt hier auftauchen? Nachdem sie vier endlose Monate lang auf Stephen gewartet hatten, brauchten sie nun bloß noch eine Woche, dann würde er hier eintreffen!

„Lady Juliana?“, rief der Fremde ihr zu. Seinen Akzent konnte sie keiner Region zuordnen. „Kaiserin Matilda lässt Euch grüßen. Werdet Ihr mit mir die Bedingungen besprechen?“

Im ersten Moment glaubte sie, sich verhört zu haben. Eine belagernde Armee machte ein solches Angebot eigentlich nur einmal, weil sie zu mehr nicht verpflichtet war. Danach galt jeder in der Burg als Freiwild, sobald den Belagerern die Einnahme gelang. Gleich zu Beginn der Belagerung hätte sie die Bedingungen mit de Ravenell aushandeln sollen, doch dessen erklärter Waffenstillstand hatte für sie keinerlei Schutz bedeutet. Nach dieser Begegnung würde sie so bald keinem Mann mehr vertrauen, den die Kaiserin zu ihr schickte.

Doch so unglaublich das auch war, bot dieser Fremde ihr tatsächlich eine zweite und wahrscheinlich auch letzte Chance, ihre Männer zu retten, sollte die Burg gestürmt werden. Ganz gleich, wie viel sie Stephen auch schuldete, konnte sie ein solches Angebot doch nicht ernsthaft ablehnen, oder? Außerdem hatte der Mann von Bedingungen gesprochen, nicht aber von Kapitulation. Das Wort ließ sie Hoffnung schöpfen.

Wenn die Kaiserin bereit war, wieder mit ihr zu verhandeln, dann musste es doch wohl auch ein neues Angebot geben. Ein Angebot, das mehr als nur die Kapitulation beinhaltete und das ihnen Zeit verschaffen würde.

„Lady Juliana?“

Sie zuckte leicht zusammen, als ihr auffiel, dass sie ihm noch gar nicht geantwortet hatte. „Ich bin Lady Juliana.“

„Seid Ihr bereit, mit mir die Bedingungen zu besprechen? Ja oder nein?“

Seine Stimme ließ keine Gefühlsregung erkennen, ganz so wie seine Miene. Man konnte meinen, dass es ihm egal war, wie sie antwortete, und möglicherweise stimmte das ja auch. Aber wenn sie ihn zum Teufel schickte, würde sie weitaus mehr aufs Spiel setzen als nur die Kontrolle über die Brücke. Sie hatte ihre Leute in diese Lage gebracht, und sie musste nun dafür sorgen, dass keiner von ihnen sein Leben verlor. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, sich anzuhören, was dieser Mann ihr im Auftrag der Kaiserin anbot.

„Geht nicht weg!“

Dann raffte sie den Waffenrock und lief die Treppe im Turm nach unten, so schnell sie konnte. Wenn sie mit ihm über Bedingungen reden wollte, musste das von Angesicht zu Angesicht geschehen. Sie musste ihm in die Augen sehen können, damit sie beurteilen konnte, ob er vertrauenswürdig war.

„Bereitet alles vor, um die Zugbrücke runterzulassen!“, rief sie den Wachen zu und lief weiter.

„Lady Juliana!“ Aus dem Nichts kommend, stand auf einmal Ulf vor ihr. Der Constable mit dem wirren weißen Haarschopf sah sie finster an. „Ihr könnt nicht nach draußen gehen.“

„Nur bis auf die Zugbrücke!“

„Ich muss protestieren“, wandte er ein und folgte ihr, da sie einfach um ihn herumgelaufen war. „Das ist zu riskant.“

„Ich gehe ja nicht weit.“

„Er sieht gefährlich aus.“

Sie gab einen Laut von sich, der alles und nichts bedeuten mochte. Widersprechen konnte sie Ulf nicht, aber ihm zustimmen wollte sie auch nicht. Sie wollte sich weder von diesem Fremden noch von ihrem Constable einschüchtern lassen. „Er wird mir nichts tun, solange er das Wappen der Kaiserin trägt.“ Sie hoffte, von ihren Worten überzeugter zu klingen, als sie es tatsächlich war. „Ihr könnt mit so vielen Waffen auf ihn zielen, wie Ihr wollt, aber Ihr werdet erst angreifen, wenn es nicht mehr anders geht.“

„Trotzdem muss ich protestie…“

„Diese Entscheidung treffe ich, nicht Ihr. Schließlich bin ich noch immer die Kastellanin, oder nicht?“

„Ja, Mylady …“

„Dann treffe ich die Entscheidung, richtig?“

Der Constable seufzte. „Wie Ihr wünscht, Mylady, wenn Ihr Euch wirklich sicher seid.“

„Das bin ich.“ Sie machte eine ausholende Geste hin zu den Wachleuten und zwang sich zur Ruhe, während die schwere Zugbrücke langsam runtergelassen wurde.

„Ich werde alles im Auge behalten, Mylady.“

„Das weiß ich doch, Ulf.“ Sie ging unter dem Torbogen in Position und warf dem Constable einen versöhnlichen Blick zu. „Ich weiß Eure Sorge zu schätzen, aber das hier wird nicht lange dauern. Ich möchte nur erfahren, was er will. Mehr nicht.“

Dann drehte sie sich um und hoffte inständig, dass sich ihre Worte bewahrheiten würden.

3. KAPITEL

Als die Zugbrücke weit genug heruntergelassen war und Juliana den Fremden sah, überlegte sie es sich doch noch einmal anders. Er hatte sich tatsächlich nicht von der Stelle gerührt, doch auf diese Entfernung wirkte er nur noch bedrohlicher, und sein Blick war so eindringlich, dass es ihr so erschien, als würde er ein Loch in den Dunst bohren, der noch über der Landschaft hing.

Sie hatte einen Fehler gemacht, stellte sie fest, während ihr der Atem stockte. Anders als auf dem Wehrgang fühlte sie sich plötzlich schutzlos und verwundbar, so wie ein Reh, das einem Wolf gegenüberstand.

Wenn dieser Mann so gefährlich war, wie er aussah, hatte sie gegen ihn keine Chance. Ulf hatte recht gehabt. Das hier war zu riskant … doch dieser Gedanke genügte erstaunlicherweise, um ihr Mut zu machen. Wenn sie jetzt den Rückzug antrat, konnte sie ebenso gut verkünden, dass sie ohne Vater und ohne Ehemann nicht stark genug war, Kastellanin zu sein. Aber das würde sie um keinen Preis tun.

Sie machte einen zögerlichen Schritt nach vorn, das Gleiche machte der Fremde. Schritt um Schritt gingen sie aufeinander zu, bis sie sich gegenüberstanden.

„Lady Juliana.“

Als er sich verbeugte, musste sie sich zwingen, ja nicht vor ihm zurückzuweichen. Das Herz pochte ihr so laut in der Brust, dass seine ganze Armee diesen ungeheuren Lärm hören musste.

Für eine Frau war sie eigentlich recht groß, doch der Fremde überragte sie um einen Kopf. Seine ganze Statur war noch gewaltiger, die Schultern noch breiter, als es von oben betrachtet den Anschein gehabt hatte. Seine ernste Miene verhieß nichts Gutes, doch erst jetzt sah sie, dass er jünger war als angenommen. Vermutlich war er nicht älter als Anfang dreißig und damit ihrem eigenen Alter deutlich näher, als es bei de Ravenell der Fall war. Diese Tatsache beunruhigte sie sogar noch mehr. Sie befanden sich außer Hörweite für alle anderen, wodurch sie praktisch so gut wie allein waren. Er stand so dicht vor ihr, dass sie den Geruch von Leder und Schweiß auf seiner Haut wahrnahm. Ebenso spürte sie die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, und sie sah, wie sich seine breite Brust bei jedem Atemzug hob und senkte.

Mit einem Mal bekam sie weiche Knie, was sie nutzte, um einen formalen Knicks zu machen. Damit war es ihr auch für einen Moment möglich, den Blick von seinen Augen abzuwenden. Alles an ihm hatte etwas Überwältigendes an sich, aber sie wollte ihn auf keinen Fall spüren lassen, welche Wirkung er auf sie hatte.

„Ihr seid mir gegenüber im Vorteil, Sir“, sagte sie, als sie sich wieder aufrichtete und stolz das Kinn reckte. „Ihr wisst, wer ich bin. Doch wer seid Ihr?“

„Mein Name ist Lothar, Mylady.“

„Einfach nur Lothar?“

„Manche nennen mich auch den Franken.“

„Dann seid Ihr aus Francia?“

Sie legte den Kopf schräg, doch seine finstere Miene lud nicht zu weiteren Fragen ein. Zumindest erklärte das seinen Akzent. Hastig räusperte sie sich. „Ihr habt davon gesprochen, dass Ihr Bedingungen zu nennen habt, Sir Lothar?“

„Nur Lothar. Ich bin kein Ritter.“

„Nicht?“ Überrascht stutzte sie. Sein gesamtes Auftreten hatte sie glauben lassen, dass er mindestens ein Freiherr war, doch nach seinen Erklärungen fiel ihr auf, dass er genauso wie alle anderen Soldaten einen dunklen Surkot aus Leder, einen schwarzen Waffenrock, schwarze Hose und kniehohe Reitstiefel trug. Aber wenn er gar kein Ritter war, dann … pikiert straffte sie die Schultern.

„Soll das ein Scherz sein?“

„In welcher Hinsicht?“

„Will die Kaiserin mich beleidigen, indem sie mir einen Mann schickt, der mit mir verhandeln soll und der nicht mal ein richtiger Ritter ist?“

„Ein Sergeant“, korrigierte er sie. „Und es ist nicht als Beleidigung gemeint. Jedenfalls ist mir davon nichts bekannt. Die Kaiserin ist lediglich der Meinung, dass Sir Guian sich etwas Ruhe gönnen sollte. Es sei denn, Ihr verhandelt lieber mit ihm.“

„Nein!“

Sofort wünschte sich Juliana, sie hätte nicht so schnell und so nachdrücklich reagiert. De Ravenell war der letzte Mensch auf dieser Welt, mit dem sie verhandeln wollte, doch sie hatte nicht die Absicht, ihrem Gegenüber den Grund dafür zu nennen.

„Mylady?“ Etwas flackerte ganz kurz in seinen grauen Augen auf.

„Ich wollte sagen, wenn Ihr schon hier seid, dann können wir auch weitermachen.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und musterte ihn kühl. „Habt Ihr überhaupt die Befugnis, mit mir Bedingungen zu besprechen?“

„Die habe ich.“

„Dann sagt mir, Sergeant, was genau die Kaiserin mir anzubieten hat.“

„Eine letzte Chance. Wenn Ihr Euch noch ergebt, werdet Ihr und Eure Männer verschont bleiben.“

„Ich soll mich ergeben?“ Ihre Absicht, Fassung zu bewahren, war damit schon gescheitert. „Ihr habt gesagt, Ihr seid hier, um die Bedingungen zu besprechen.“

„Das ist richtig. Diese Bedingungen sind besser als das, was Ihr hättet erwarten können.“

„Das sind die gleichen Bedingungen wie vor vier Monaten!“

„Wie ich schon sagte: Sie sind besser als das, was Ihr hättet erwarten können.“

„Aber …“

Ihr versagte die Stimme. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte er recht. Unter diesen Umständen waren die Bedingungen besser als alles, was sie hätte erhoffen können. Die Kaiserin war zu keinerlei Zugeständnissen verpflichtet gewesen. Wenn dieser Mann es ernsthaft wollte, konnte er die Mauern überwinden, die Brücke unter seine Kontrolle bringen und die Burg in Schutt und Asche legen – und daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Aber eine Kapitulation? Bis zu diesem Augenblick hatte sie diese Möglichkeit einfach nicht in Erwägung gezogen. Wenn sie sich jetzt ergab, dann würde sie Stephen genau in dem Moment im Stich lassen, wenn er sie brauchte. Schließlich hatte sie ihm versprochen, um jeden Preis die Stellung zu halten und die Brücke zu beschützen. Was würde er von ihr denken, wenn sie jetzt einfach aufgab? Wie sollte sie dann noch jemals ihre Schuld bei ihm begleichen?

„Und wenn ich mich weigere?“ Sie versuchte, gelassen zu klingen. „Was geschieht dann?“

„Dann wird es auf das Gleiche hinauslaufen. Die Burg wird morgen eingenommen werden, und die üblichen Gesetze der Kriegführung finden Anwendung.“ Er ließ eine Pause folgen, damit seine Worte Wirkung zeigten. „Euch ist klar, was das bedeutet?“

„Wir können uns verteidigen.“

„Nein, das könnt Ihr nicht.“

Wieder stockte ihr der Atem. Sie musste sich zwingen, nicht auf der Stelle kehrtzumachen, in ihre Burg zu rennen und sich zu verstecken. Sie wollte diesem Mann kein Wort glauben, doch aus einem unerfindlichen Grund wusste sie, dass sie sich vor diesem Mann nicht verstecken konnte. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, hinter kalten Steinmauern vor ihm sicher zu sein, weil sie das Gefühl hatte, dass er einfach hindurchmarschieren würde.

„Dann werde ich die Brücke zerstören“, erklärte sie und presste die Hände zusammen, damit er nicht sehen konnte, wie sie zitterten. „Wenn Ihr versucht, die Burg mit Gewalt einzunehmen, werde ich meinen Männern befehlen, Geschosse über die Mauern zu werfen. Wir haben da drinnen Findlinge bereitliegen. Damit wird Haword für Euch wertlos werden.“

„Das ist richtig.“

„Es ist mein Ernst. Wenn Ihr angreift, gebe ich den Befehl.“

„Das glaube ich Euch, jedoch würde ich es Euch nicht empfehlen.“ Seine Stimme war genauso ausdruckslos wie seine Miene. „Für Stephen ist die Brücke genauso wichtig wie für die Kaiserin. Wenn Ihr sie zerstört, wird das keinem von beiden gefallen.“

„Stephen wird das schon verstehen.“

„Mag sein. Aber was ist mit de Ravenells Soldaten? Die haben hier seit Monaten ihr Lager. Glaubt Ihr, dass sie vom Plündern absehen werden, wenn der Grund nicht mehr vorhanden ist, der bislang dafür gesorgt hat, dass sie sich zurückhalten?“

Sie sah ihn erstaunt an. „Aber warum sollten sie dann immer noch das Risiko eingehen, uns anzugreifen? Wir haben nichts von Wert, und was wir haben, werde ich ihnen gern geben, damit sie verschwinden.“

„Das heißt, Ihr würdet auch Euch selbst diesen Soldaten überlassen?“ Er beugte sich vor, als wollte er ihr ein bedeutsames Geheimnis zuflüstern, das niemanden sonst etwas anging. „Männer werden nicht nur von Habgier und Rachegelüsten getrieben, Mylady.“

Ehe sie es verhindern konnte, schnappte sie erschrocken nach Luft. Sein Atem strich ihr warm über die Wange, doch bei seinen Worten schauderte sie. Sie konnte ihm nicht ernsthaft widersprechen, weil sie wusste, dass er recht hatte. Dennoch war sie auch davon überzeugt, dass er versuchte, sie einzuschüchtern, damit sie tat, was er wollte.

„Wie viel Zeit habe ich?“, fragte sie.

„Ich gebe Euch eine Stunde.“

„Eine Stunde?“

„Ihr hattet genug Zeit, um über alles nachzudenken, Mylady.“

„Aber nicht darüber!“, hielt sie dagegen.

Benommen machte sie einige Schritte nach hinten. Sie benötigte mehr als nur eine Stunde! Wie konnte er von ihr erwarten, eine solch folgenschwere Entscheidung innerhalb so kurzer Zeit zu treffen? Eine Stunde war doch so gut wie nichts! Andererseits … welche andere Wahl hatte sie denn schon? Wenn sie ihre Leute retten wollte, konnte sie gar nicht anders entscheiden.

Er nickte knapp, als würde er bestätigen, was ihr durch den Kopf ging. „In einer Stunde werde ich wieder herkommen. Keinen Moment später.“

Entsetzt sah sie den Mann an. Ihr blieb eine Stunde, um mit ihren Leuten zu reden und sie anzuweisen, ihre kostbarsten Habseligkeiten so sicher wie möglich zu verstecken. Wenn es ihr selbst doch nur möglich gewesen wäre, die Wahrheit über ihren Handel mit Stephen auch irgendwo zu verstecken. Das war jedoch unmöglich. Sobald Lothar Burg Haword an sich genommen hatte, würde er sehr bald herausfinden, was sie zuvor getan hatte, um die Burg nicht zu verlieren. Wenn er von diesen Umständen erfuhr, würde er sie sehr wahrscheinlich in Ketten gelegt der Kaiserin präsentieren.

Es sei denn … ihr kam ein erschreckender und zugleich mitreißender Gedanke, der sie unwillkürlich nach Luft schnappen ließ. Es sei denn, sie setzte seinem Treiben jetzt sofort ein Ende, damit er gar keine Gelegenheit bekam, den Angriff auf die Burg zu befehlen. Sie musste ihn nur … gefangen nehmen.

Sie biss sich auf die Unterlippe und bemühte sich, eine nichtssagende Miene zu wahren. Wenn sie ihn gefangen nahm, würde wahrscheinlich de Ravenell weiterhin den Befehl über die Soldaten haben, und damit würde die Belagerung erst einmal weitergehen. Der Angriff würden zwar letztlich nicht zu verhindern sein, aber er würde vielleicht lange genug hinausgezögert werden können, sodass Stephen und die Verstärkung mit etwas Glück zeitig genug eintreffen würden, um die Belagerer zu attackieren.

Aber wie konnte sie das anstellen? Sie wusste, sie war nicht in der Lage, den Mann allein zu überwältigen. Da sie von keinem ihrer Männer verlangen konnte, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, musste sie eine andere, listigere Methode anwenden.

Voraussetzung war natürlich, dass sie es schaffte, ihn überhaupt erst in die Burg zu locken. Aber wie? Da sah sie nur einen Weg, den sie wählen konnte, auch wenn der sie in Angst und Schrecken versetzte: Sie musste mit ihm schäkern und ihn glauben machen, dass sie nicht bloß mit ihm verhandeln wollte, sondern dass sie auch ein ganz persönliches Interesse an ihm hatte. Wenn sie ihn damit köderte, würde er ihr dann folgen?

Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und tadelte sich insgeheim. Wie sollte sie vortäuschen, ihn verführen zu wollen, wenn der bloße Gedanke an so etwas sie bereits erröten ließ? Abgesehen davon, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nicht mit einem Mann geschäkert hatte, wusste sie kaum, wo und wie sie überhaupt damit anfangen sollte. Ihr Wissen zu diesem Thema beschränkte sich auf Bemerkungen anderer Leute, die sie zufällig aufgeschnappt hatte, und auf die Beobachtung anderer Menschen um sie herum, die in ihrem Beisein mit jemandem geschäkert hatten.

Ihr Vater hatte seinen Männern gegenüber keinen Zweifel daran gelassen, was geschehen würde, wenn einer von ihnen es wagen sollte, seine Tochter auf diese Art und Weise zu behandeln. Aber das hatte auch kein anderer Mann je getan, denn jeder hatte sie stets als Tochter ihres Vaters gesehen, aber nie als Frau.

Ihr Mut verließ sie urplötzlich. Wie konnte sie überhaupt nur hoffen, einen Krieger wie ihn in Versuchung zu führen? Sie wusste ja gar nicht, was sie sagen sollte, vom entsprechenden Verhalten ganz zu schweigen! Was machte sie nur falsch? Es war schlimm genug, dass sie bereits durchnässt und schmuddelig war, während er ein Mann von dem Schlag zu sein schien, der es gewohnt war, die Aufmerksamkeit aller Frauen um ihn herum auf sich zu lenken. Sollte er sie zurückweisen oder sogar auslachen, wäre das eine entsetzliche Schmach. Ihre Idee war einfach nur lächerlich, und dennoch musste sie irgendetwas unternehmen, auch wenn sie sich selbst damit vor aller Welt demütigen sollte. Jetzt war er bereits im Begriff zu gehen. Wenn sie noch irgendetwas abwenden wollte, musste sie jetzt handeln.

„Lothar!“, rief sie ihm hinterher, da ihr nichts Besseres einfiel.

„Lady Juliana?“, gab er zurück und sah sie über die Schulter an.

„Ich brauche keine Stunde, um nachzudenken. Ich kapituliere jetzt.“

„Jetzt?“

Sie nickte und versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, als er sich wieder zu ihr umdrehte und sie genauso unergründlich wie zuvor anschaute. Was mochte er jetzt wohl denken? Sie ließ die Zungenspitze über ihre Lippen gleiten, doch gleichzeitig regte sich wieder Entsetzen in ihr. Wie konnte sie nur hoffen, ausgerechnet einen Mann wie ihn verführen zu können? Er schien doch keinerlei Gefühle zu haben. Bestimmt würde sie bei einer Statue erfolgreicher sein als bei ihm.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie ihre Leute beschützen und ihr Versprechen Stephen gegenüber halten wollte, dann war dies hier der einzige gangbare Weg. Zumindest musste sie es versuchen. Außerdem war sie eine Frau, auch wenn das keiner um sie herum wahrzunehmen schien. Irgendetwas Weibliches musste sie an sich haben, etwas, was ihn in Versuchung führen würde. Sir Guian war jedenfalls dieser Ansicht gewesen.

Wieder benetzte sie ihre Lippen und senkte die Lider, so wie sie es bei den jungen Frauen aus der Burg hatte beobachten können, wenn die ihren Soldaten schöne Augen machten.

„Warum kommt Ihr nicht herein, damit wir in Ruhe reden können?“

„Ihr wollt, dass ich Eure Burg betrete?“, fragte Lothar, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.

Autor

Jenni Fletcher
<p>Jenni Fletcher wurde im Norden Schottlands geboren und lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Yorkshire. Schon als Kind wollte sie Autorin sein, doch ihr Lesehunger lenkte sie davon ab, und erst dreißig Jahre später kam sie endlich über ihren ersten Absatz hinaus. Sie hat Englisch in...
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