Geheime Liebe auf Stonecliffe

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Nachdem seine Verlobung geplatzt ist, will Nathan Dunbridge nichts mehr mit Frauen zu tun haben. Doch dann kreuzt Verity Cole seinen Weg, ihres Zeichens ehemalige Spionin und nun Privatdetektivin. Nathan findet sie faszinierend – und gleichzeitig unmöglich. Als ein Fremder auftaucht, der ihm sein Erbe streitig machen will, ist die verwirrende Schöne die Einzige, die ihm helfen kann. Aber ein gelöstes Geheimnis fördert ein neues zutage. Nicht nur die Zukunft von Nathan scheint plötzlich bedroht, sondern auch die von Verity, obwohl beide sich immer stärker zueinander hingezogen fühlen …


  • Erscheinungstag 29.11.2025
  • Bandnummer 180
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532310
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Candace Camp

Geheime Liebe auf Stonecliffe

Candace Camp

Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane verfasst. Candace lebt mit ihrem Mann in Austin, Texas.

1. KAPITEL

Nathan ließ seinen Blick durch den überfüllten Saal schweifen. Lady Ardens jährlicher Ball war ein Muss für jeden, der etwas auf sich hielt. Offen gestanden konnte er nicht verstehen, warum dem so war; er selbst hatte diese Veranstaltung immer todlangweilig gefunden. Aber gerade wegen ihrer Größe hatte er sie für seinen ersten Ausflug zurück in die Londoner Gesellschaft ausgewählt, in der Hoffnung, dass seine Anwesenheit in einer so großen Menschenmenge kaum auffallen würde.

Er wusste, dass es Gerüchte über ihn und Annabeth geben würde. Auch wenn ihre Verlobung nur den Familien bekannt gewesen war, wusste jeder, dass Nathan seit Jahren bis über beide Ohren in Annabeth verliebt war. Ihre Hochzeit mit Sloane Rutherford und Nathans anschließende Abreise hatten zweifellos für Gesprächsstoff gesorgt.

Nathan hatte sechs Monate auf dem Kontinent verbracht, die meisten davon bei einem Freund, der nach Italien gezogen war. Den Rest der Zeit reiste er durch Europa. Vor drei Monaten war er nach England zurückgekehrt, hatte aber London gemieden, um sich direkt nach Dunbridge Manor zu begeben, seinem Landsitz. Dort musste er feststellen, dass seine Mutter und seine Tante seine Abwesenheit genutzt hatten, um Bath den Rücken zu kehren und ins Herrenhaus zu ziehen. Sosehr Nathan die beiden Damen auch mochte – sogar Tante Jocelyn –, gab es doch Grenzen, wie viel Gehätschel, Gesäusel und Fürsorge ein Mann ertragen konnte. Er liebte seine Mutter von ganzem Herzen, aber es war für alle Beteiligten besser, wenn er nicht direkt mit ihr zusammenlebte.

Daher war er bereits vor ein paar Wochen in die gesegnete Ruhe seine Londoner Wohnung zurückgekehrt, deren Atmosphäre vollkommen frei von mütterlicher Besorgnis war, hielt sich jedoch von Partys und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen fern und besuchte nur seinen Club oder traf sich mit Freunden bei Pferderennen, Boxkämpfen oder Trinkgelagen.

Doch auch diese Aktivitäten langweilten ihn mittlerweile. Seit Monaten hatte Nathan kein Bedürfnis mehr verspürt, seine Sorgen zu ertränken, sondern vielmehr erkannt, dass räumliche Trennung die Sehnsucht nicht etwa verstärkte, sondern im Gegenteil den Schmerz linderte. Ohnehin war es ihm lieber, am nächsten Morgen nicht mit pochendem Kopf aufzuwachen. Außerdem schien es, als seien fast alle seine engsten Freunde – wie Carlisle – inzwischen entweder verheiratet oder verlobt oder auf der Suche nach einer Frau. Insgesamt war das Leben irgendwie ziemlich leblos geworden, also hatte er beschlossen, in die Gesellschaft zurückzukehren.

Doch seine Hoffnung, auf einem großen Ball dem Klatsch entkommen zu können, war offensichtlich unbegründet. Sobald er den Saal betrat, kam es ihm vor, als richteten sich aller Augen auf ihn. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Flüstern und den verstohlenen Blicken zu stellen.

Lady Arden kam lächelnd auf ihn zu. „Mr. Dunbridge! Ich hatte gehofft, Sie würden meiner kleinen Party beiwohnen. Ich habe Sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“ Im letzten Satz schwang eine Frage mit.

Nathan verbeugte sich höflich. „Ja, ich war einige Monate im Ausland.“

Die kleine Frau sah ihn mitfühlend an. „Das tut mir leid. Ich fürchte, Miss Winfield wird ihre Entscheidung bereuen.“

„Mrs. Rutherford ist sehr glücklich“, antwortete er, mit besonderer Betonung auf Annabeths neuen Namen. „Und ich freue mich sehr für die beiden. Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind wir alle zusammen aufgewachsen.“ Nathan verkniff sich die Bemerkung, dass er, während er selbst noch mit Annabeth verlobt gewesen war, Sloane keine sehr warmen Gefühle entgegengebracht hatte.

Lady Arden ignorierte Nathans Erwiderung. „Nun, ich habe genau das Richtige, um Sie aufzuheitern.“ Sie lächelte. „Erlauben Sie mir, Ihnen Mrs. Billingham vorzustellen. Eine so charmante Frau.“ Ihre Augen leuchteten vor einem nahezu missionarischen Eifer, der Nathan nur allzu vertraut war. Seit er die Universität verlassen hatte, versuchte die Hälfte aller verheirateten Damen des Ton, ihn zu verkuppeln.

Da er wusste, dass es sinnlos war, sich einem solchen Versuch zu entziehen, ließ er sich widerstandslos zu einer Gruppe von Gästen führen, die überwiegend aus Männern bestand, die sich um eine Frau mit dunkelrotem Haar geschart hatten. Sie trug ein schwarzes Ballkleid mit einem weiten Ausschnitt, der ihre schönen weißen Schultern zur Geltung brachte, und obwohl sie ihm den Rücken zukehrte, schloss Nathan aus den Blicken ihrer Bewunderer, dass sie von vorne genauso attraktiv war.

„Mrs. Billingham.“ Lady Arden trat so entschlossen auf die Gruppe zu, dass einige der Männer sich gezwungen sahen, zur Seite zu treten. „Gestatten Sie mir, sie vorzustellen …“

Die Frau drehte sich um, und Nathan sah, dass sie ein herzförmiges Gesicht hatte, das von ausdrucksvollen goldbraunen Augen beherrscht wurde. Es war ein vertrautes Gesicht, mehr faszinierend als schön, von dem er nicht vermutet hätte, es jemals wiederzusehen. Was zum Teufel hatte Verity Cole hier zu suchen?

Abrupt blieb er stehen. „Grundgütiger, Ver…“ Nathan brach ab und räusperte sich. „Das ist, äh …“, brachte er mühsam heraus. „Sehr erfreut, äh …“

„Oh“, sagte Lady Arden enttäuscht. „Sie kennen sich bereits.“

„Ja. Ich, nun ja“, stammelte Nathan. Angesichts seiner Reaktion konnte er kaum leugnen, Verity zu erkennen, aber was sollte er sagen? Weiß der Himmel, was für eine Maskerade sie gerade aufführte. „Mrs. … äh …“ Wie hatte Lady Arden sie genannt? Glücklicherweise kam Verity ihm zu Hilfe. „Mr. Dunbridge und ich sind miteinander bekannt. Nicht sehr gut, natürlich – es war mein lieber Hubert, der mit ihm befreundet war. Die beiden sind zusammen zur Schule gegangen.“ Ihre Augen funkelten.

Natürlich fand Verity es amüsant, ihn unvermutet in ihr Lügengespinst hineinzuziehen.

Nun, dieses Spiel konnten zwei spielen. „Ja, in der Tat. Ein großartiger Kerl, Hubert. Wo ist er denn? Ich muss mich dringend mal wieder mit ihm unterhalten.“ Nathan tat so, als würde er den Raum absuchen.

Verity stieß einen erstickten Laut aus, zog ein Taschentuch hervor und hielt es sich vor den Mund. Zu Nathans Erstaunen traten ihr Tränen in die Augen. „Oh, mein armer Hubert.“

Die anderen Männer funkelten ihn finster an. „Mr. Billingham ist vor einem Jahr verstorben“, raunte Lady Arden ihm zu.

„Oh. Verzeihen Sie, Ma’am.“ Nathan hatte Mühe, eine ernste Miene zu wahren, als er Veritys Blick über dem Rand ihres Taschentuchs hinweg begegnete. Er fragte sich, ob noch jemand außer ihm den schalkhaften Ausdruck in ihrer Miene bemerkte.

Sie betupfte gekonnt ihre Augenwinkel. „Aber ja. Wie hätten Sie das auch wissen sollen? Der liebe Hubert und ich leben schon seit einigen Jahren in Russland.“

„In Russland?“ Wie kam sie bloß immer auf diese Dinge?

„Ja. Sie wissen ja, was es dem armen Hubert bedeutet hat.“

„Mmm, in der Tat“, bestätigte Nathan in getragenem Ton. Mein alter Schulkamerad war offenbar ein enthusiastischer Anhänger des Balletts, oder vielleicht mochte er auch einfach nur viel Schnee. Zumindest war die Veranstaltung heute nicht so langweilig wie sonst.

„Ich wusste, dass Sie das verstehen würden.“

Nathan war sich immer noch nicht sicher, in welcher Beziehung dieser angebliche Hubert zu ihr gestanden haben sollte. Das Tränentheater ließ wohl am ehesten auf einen Ehemann schließen, aber man würde wohl auch einen Bruder beweinen, oder? Wobei Verity augenscheinlich über alles … oder nichts weinen konnte.

Er verbeugte sich leicht vor ihr. „Würden Sie mich vielleicht auf einen Rundgang durch den Saal begleiten, Mrs. Billingham, und mir erzählen, welches Unglück den armen Hubert ereilt hat?“

„Ja, das würde mir sehr guttun“, antwortete Verity und legte eine Hand an den Arm, den er ihr bot. „Meine Herren. Entschuldigen Sie uns bitte.“

Nathan nickte den anderen zu und ging dann mit Verity davon, den Kopf leicht in ihre Richtung geneigt, um – wie er hoffte – Mitgefühl zu signalisieren. „Was zum Teufel machen Sie hier? Und geben vor … was auch immer Sie zu sein vorgeben.“

„Eine Witwe“, erklärte Verity. „Eine wohlhabende Witwe, weshalb all diese Männer wie Bienen um mich herumschwirren.“

„Ich wage zu behaupten, dass das nicht der einzige Grund ist.“ Er senkte den Blick auf das Dekolletee, das ihre vollen Brüste recht großzügig darbot. „Diese Aufmachung würde ich kaum als Trauerkleidung bezeichnen.“

Sie verbarg ihr Lachen hinter ihrem weit geöffneten Fächer. „Das liegt daran, dass der arme Hubert schon mehr als ein Jahr tot ist.“

„Und Ihr Haar ist rot.“ Was für ein vollkommen idiotische Bemerkung, dachte Nathan selbstkritisch. Als ob das irgendetwas zur Sache tut. Sie sah mit diesen kastanienfarbenen Locken nur so vollkommen anders aus als mit dem stumpfbraunen Haar, an das er sich erinnerte.

„Das stimmt“, erwiderte sie belustigt.

„Ist das Ihre natürliche Haarfarbe? Kennen Sie überhaupt Ihre natürliche Haarfarbe?“

„Ehrlich, Nathan, Sie klingen, als fänden Sie meine Haarfarbe beleidigend.“

„Nein. Natürlich nicht.“ Er wollte sie lieber nicht wissen lassen, wie wenig ihn der Anblick ihrer Haare störte. „Es ist nur … man weiß nie, was bei Ihnen echt ist und was nicht.“

„Nun, meine Haare sind rot, und ich kann die Farbe meiner Augen nicht verbergen, also sehen Sie mich momentan ganz so, wie ich bin. Abgesehen von den Juwelen natürlich.“ Sie berührte ihre Diamantohrstecker. „Die sind genauso falsch wie mein Name.“

„Verity.“ Nathan seufzte. „Sie werden sich noch in Schwierigkeiten bringen. Was machen Sie hier?“

„Meinen Job.“

„Sagen Sie nicht, dass Sie wieder spionieren.“

„Seien nicht albern. Ich wurde angeheuert, um einige Juwelen zu finden.“

„Sie wollen Sie stehlen?“

„Das war das Erste, was Ihnen in den Sinn gekommen ist, oder? Ich weiß nicht, warum Sie so ein schreckliches Bild von mir haben.“

„Ach, Sie wissen also nicht warum!“ Er sprach jetzt lauter, und zwei der Gäste drehten sich zu ihnen um. Nathan senkte die Stimme, klang aber nicht minder empört. „Sie haben sich in Lady Lockwoods Haus eingeschlichen, indem Sie sich als Dienstmädchen ausgegeben haben. Noch dazu als eines aus Yorkshire.“

„Ich weiß nicht, was an Yorkshire so schlimm sein soll.“

„Es geht nicht um Yorkshire, sondern um Sie. Mit Ihren Verkleidungen und Ihrem Dialekt und Ihren Täuschungsmanövern. Sie haben uns alle in einen bizarren Plan verwickelt, um irgendein Dokument wiederzubeschaffen, weil Sie, wie sich herausstellte, tatsächlich eine Spionin sind.“

„Ich war eine Spionin“, korrigierte sie ihn. „Aber das ist lange vorbei.“

„Ach ja?“ Nathan erinnerte sich nur zu gut daran, wie er zusammen mit Verity nach Stonecliffe geschickt worden war, um Annabeth zu beschützen und ihre Verfolger abzulenken. „Warum war ich dann genötigt, eine Woche lang an Ihrer Seite durch den Garten zu spazieren, während Sie sich als Annabeth ausgaben und meine Schauspielkunst kritisierten?“

„Nun, Sie müssen zugeben, dass Sie sich nicht gerade wie ein Verliebter angehört haben.“

„Als ob irgendein Kerl in einem Baum, der uns mit einem Opernglas ausspähte, hätte hören können, was ich zu Ihnen sagte!“

„Fairerweise möchte ich anmerken, dass ich nie behauptet habe, dass Männer mit Operngläsern auf Bäumen saßen. Das wäre auch eine ziemlich alberne Vorstellung. Ein richtiges Fernglas wäre für diesen Zweck viel praktischer.“

„Was diese ganze Scharade mit Annabeths Identität umso nutzloser machte. Und jetzt tauchen Sie hier inmitten der vornehmen Gesellschaft als ‚russische Witwe‘ auf. Und da überrascht Sie meine Vermutung, Sie könnten etwas Illegales vorhaben?“

„Ich bin keine russische Witwe. Ich habe diesen Akzent nie gelernt und kann kein Wort Russisch. Vielmehr habe ich die letzten Jahre mit Hubert in Russland gelebt, was ziemlich unklug von ihm war in seinen Zustand, Sie wissen schon.“

„Nein, das weiß ich nicht“, erwiderte Nathan hitzig. „Wer um alles in der Welt ist Hubert? Und was war sein ‚Zustand‘? Den sollte ich wohl kennen, da ich doch so gut mit ihm befreundet war.“

„Hubert war mein Ehemann, der an Schwindsucht gestorben ist.“

„Schwindsucht? Er hatte Schwindsucht und ist nach Russland gezogen, um dort in Eis und Schnee zu leben?“

„Ich habe nie behauptet, dass Hubert ein intelligenter Mann war“, flüsterte Verity vertraulich. „Ich habe ihn wegen seines Aussehens geheiratet. Ich habe leider eine Schwäche für gutaussehende Männer.“

„Sie oder Mrs. Billingham? Sie reden, als wären Sie tatsächlich diese Person.“

„Ich muss meine Rolle aufrechterhalten, das hilft mir, keine Fehler zu machen. Wenn wir also mit Ihrem Verhör durch sind …“ Verity hob ihren Fächer und warf ihm über den Rand hinweg einen amüsierten Blick zu.

Diese Augen …

„Hören Sie auf, so zu tun, als würden Sie mit mir flirten“, erwiderte er schroff.

„Wer sagt, dass ich so tue? Wie Mrs. Billingham weiß auch ich einen gutaussehenden Mann zu schätzen.“

„Verity …“

„Sie sind überhaupt nicht amüsant.“ Sie seufzte. „Na gut. Ich habe Russland gewählt, weil es so weit weg ist, dass ich wahrscheinlich niemandem über den Weg laufe, der schon mal dort war.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Ich glaube, Sie haben das alles gerade eben erfunden, um mich zu ärgern.“

„Sie zu ärgern, verschafft mir zwar eine gewisse Genugtuung, aber ich habe mir die Geschichte nicht spontan ausgedacht. Ich bin seit zwei Wochen Mrs. Billingham.“

„Zwei Wochen?“ Nathan stöhnte. „Das wird ja immer schlimmer.“

„Ich weiß nicht, warum Sie das sagen.“ Verity blieb an einer offenen Tür stehen, um ein Dienstmädchen vorbeizulassen, das ein Tablett mit Gläsern trug.

„Champagner, Ma’am? Sir?“, fragte das Mädchen.

„Ja, gern.“ Verity, nahm zwei Gläser und reichte eines davon Nathan. Sie trank einen Schluck und schaute sich scheinbar beiläufig um.

Doch davon ließ Nathan sich nicht täuschen. Er hatte diesen wachsamen Ausdruck in ihren Augen schon einmal gesehen. „Verity, was machen Sie da?“

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und schlüpfte durch die Tür.

„Verity!“, zischte er. „Warten Sie. Kommen Sie – oh, zum Teufel.“

Nathan folgte ihr aus dem Saal.

Sie befanden sich in einem hinteren Flur, dessen Enge und schlichte Einrichtung darauf hindeuteten, dass er nur für das Personal bestimmt war. Veritys Champagnerglas stand auf einem Tisch, sie selbst war bereits auf halbem Weg den Flur hinuntergeeilt.

„Verity!“ Nathan erhob die Stimme ein wenig.

Sie drehte sich zu ihm um, die Brauen überrascht in die Höhe gezogen, und legte warnend einen Zeigefinger an ihre Lippen. „Pssst.“

„Wir sind außer Hörweite.“

„Diese Wände haben Ohren“, erwiderte sie leichthin. „Damit meine ich die Bediensteten. Ihr feinen Leute zieht das nie in Betracht – und dann wundert ihr euch, warum das Personal immer sofort alle Gerüchte kennt.“ Sie ging weiter.

Ihr feinen Leute“, murmelte Nathan pikiert. Verity hegte eine unerschütterliche Abneigung gegen den Ton. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt weiter darauf einzugehen. Stattdessen stellte er ebenfalls sein Glas ab und schloss zu ihr auf. „Was haben Sie vor? Irgendwer wird Sie garantiert entdecken.“

„Nun ja, wenn Sie so weiterplappern, wird sich das wohl nicht verhindern lassen.“ Sie bog rechts in einen Querflur ein, und plötzlich befanden sie sich wieder im öffentlichen Bereich des Hauses, einem mit Teppich ausgelegten Korridor, an dessen Wänden Porträts verschiedener grimmig dreinblickender Menschen aus früheren Epochen hingen. Mit ein paar weiteren Schritten erreichten sie die Eingangshalle.

Auf der einen Seite lag der Ballsaal, den sie gerade verlassen hatten, direkt gegenüber ein weiterer Korridor. Im Eingangsbereich des Saals hielten sich einige Personen auf. Plötzlich rückte Verity näher an Nathan heran, schob ihre Hand in seine Ellbeuge und blickte lächelnd zu ihm auf, wobei sie kokett mit ihrem Fächer spielte. Zweifellos war sie eine Meisterin im Flirten, fand er. Das lag zweifellos an den vielen Jahren, die sie in Frankreich gelebt hatte.

Nathan spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Es war wirklich verdammt schwierig, nicht so zu reagieren, als wäre diese subtile, verführerische Bewegung ihrer Lippen echt. Sie hatte natürlich keinerlei Probleme mit derlei Ablenkung, schien vollkommen auf ihre Aufgabe konzentriert. Entschlossen führte sie ihn den Flur hinunter. Sie drehte leicht den Kopf, um einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter zu werfen. Ihre Finger gruben sich in Nathans Arm. Dann schlüpfte sie unvermittelt in den nächstliegenden Raum und zog Nathan mit sich.

„Verity …“, begann er ungehalten – mehr über sich selbst, weil er so leicht auf ihr Manöver hereingefallen war.

Um ihn zum Schweigen zu bringen, legte sie ihm eine Hand auf den Mund. Sie trug Spitzenhandschuhe, und die Textur der Spitze fühlte sich seltsam an seinen Lippen an … und irgendwie verlockend. Durch den zarten Stoff hindurch spürte er die Wärme ihrer Haut. Die Berührung währte nur kurz. Verity schloss leise die Tür hinter ihnen, ging im Zimmer umher und hob die Ecken der Wandgemälde an, um dahinterzuschauen.

„Warum sind wir in Lord Ardens Arbeitszimmer?“, wollte Nathan wissen.

„Wir suchen einen Safe.“ Ihr Ton war so lässig, als hätte sie gesagt, sie suche einen heruntergefallenen Fächer. „Das Arbeitszimmer scheint der wahrscheinlichste Ort zu sein.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Wenn Sie mir helfen würden, wären wir viel schneller fertig.“

„Verdammt, Verity.“ Widerwillig beteiligte Nathan sich an der Suche. So ärgerlich es auch war, ihr zu gehorchen, Verity hatte Recht. Das Wichtigste war, sie so schnell wie möglich aus diesem Raum herauszubekommen. Sollten sie erwischt werden, könnte er sich vielleicht herausreden, immerhin war er tatsächlich derjenige, der zu sein er behauptete, und zudem ein bekanntes Mitglied der Londoner Gesellschaft. Auf Verity hingegen traf beides nicht zu. „Dann erklären Sie mir wenigstens, wofür ich gerade eine Gefängnisstrafe oder zumindest meinen Ruf riskiere.“

„Lord Arden besitzt eine wertvolle Brosche, die meiner Klientin gehört.“

Verity beendete ihre erfolglosen Suche an den Wänden und bückte sich, um eine Ecke des Teppichs hochzuziehen und darunterzuspähen.

„Arden hat ein Schmuckstück gestohlen?“, fragte Nathan skeptisch.

„Nein. Nun, nicht direkt. Meine Klientin hat es ihm gegeben. Die Brosche war oben an ihrem Kleid befestigt, und er hat es offenbar im Laufe der, ähm …“

„Verstehe“, fiel Nathan ihr hastig ins Wort. Er spürte, wie seine Wangen sich röteten. Wieso schaffte Verity es bloß immer, ihm das Gefühl zu vermitteln, ein unbedarfter Schuljunge zu sein? „Also hat Arden die Brosche eingesteckt?“

„Ja, eine eher spielerische Aktion, Sie wissen schon. Sie war gerührt, dass er ein Zeichen ihrer Zuneigung wollte, also hat sie sie ihm überlassen.“

„Und jetzt ist die Affäre vorbei, und sie möchte es zurückhaben.“ Nathan hob das Ende des Teppichs an, das ihm am nächsten war, um darunterzuschauen.

„Sie muss es zurückhaben“, betonte Verity. Sie ging zum Schreibtisch, öffnete und schloss Schubladen, und als sich eine nicht öffnen ließ, zog sie etwas aus ihrem Haar, steckte es in das Schloss und drückte und drehte so lange damit, bis sich die Schublade öffnete.

Ihre Geschicklichkeit beeindruckte Nathan. Natürlich war es absolut illegal, dennoch fragte er sich unwillkürlich, ob sie ihm wohl beibringen würde, wie man Schlösser knackte.

„Die Brosche ist offenbar Teil eines Schmucksets, das der Familie ihres Mannes gehört“, fuhr Verity fort, während sie die Schublade schnell, aber sorgfältig durchsuchte, „und sie soll das gesamte Set nächste Woche tragen, wenn sie für ein Porträt posiert.“

„Dann war es ziemlich dumm von ihr, das Teil wegzugeben“, bemerkte Nathan.

Verity schaute kurz zu ihm hin und grinste. „Ja, nicht wahr?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber man sagt ja, Liebe macht dumm.“

Nathan erwiderte irgendwas Unverbindliches. Er vermutete, dass Verity ihn aufziehen wollte, weil er Annabeth so lange und erfolglos umworben hatte. Dazu konnte er nicht viel sagen. Es war ein Fehler gewesen. Aber zumindest hatte er das endlich erkannt.

„Selbstverständlich spreche ich nicht aus eigener Erfahrung“, fügte Verity hinzu. Sie schloss die Schublade, stemmte die Hände in die Hüften und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Nun, falls es hier einen Safe geben sollte, hat er ihn zu gut versteckt, als dass ich ihn finden könnte.“ Ihre Augen funkelten schelmisch. „Aber diese Möglichkeit halte ich für eher unwahrscheinlich.“

„Dann sind wir fertig. Gut.“ Nathan strich mit dem Fuß eine Falten werfende Ecke des Teppichs glatt und wandte sich zum Gehen.

„Ja.“ Verity schloss sich ihm an.

Nathan öffnete vorsichtig die Tür einen Spalt weit und spitzte die Ohren. Als keine Geräusche zu hören waren, die darauf hindeuten könnten, dass sich Personen im Flur aufhielten, drückte er die Tür noch etwas weiter auf und steckte den Kopf hindurch. Tatsächlich schien der Flur im Moment leer zu sein. Er atmete erleichtert auf und trat hinaus, dicht gefolgt von Verity.

Nathan wollte auf direktem Weg zurück in den Ballsaal gehen, doch Verity packte seine Hand, zog ihn zu sich und deutete mit dem Kopf in die andere Richtung. „Nehmen Sie die Hintertreppe. Die fällt weniger auf.“

„Sie wollen in die Privatzimmer der Familie?“

„Natürlich. Wenn der Safe nicht in seinem Arbeitszimmer ist, dann muss er in seinem Schlafzimmer sein.“

„Verity, wirklich …“ Doch er folgte ihr. Nathan redete sich ein, dass er das nur tat, um sie aus Schwierigkeiten herauszuhalten, aber in Wahrheit konnte er nicht leugnen, dass er eine leichte Erregung verspürte, als sie zusammen die Dienstbotentreppe hinaufschlichen.

Das Obergeschoss lag verlassen da. Verity eilte den Flur entlang und spähte dabei in die dunklen Zimmer. Plötzlich waren Stimmen auf der Haupttreppe zu hören.

Verity packte Nathan am Revers und zog ihn so heftig an sich, dass sie beide gegen die Wand stolperten. „Verführen Sie mich.“

2. KAPITEL

„Was?“ Nathan zog verdutzt die Brauen hoch.

„Psst!“, zischte Verity. „Tun Sie so als ob, Nathan. Tun Sie so, als wollten Sie mit mir ins Bett gehen.“

Nun, das würde ihm nicht schwerfallen, wenn sie sich weiter so an ihn presste. Nathan stützte einen Unterarm gegen die Wand und drehte sich halb, um Verity vor den Blicken der Person zu schützen, gerade die Treppe hinaufstieg. Er senkte den Kopf, beugte sich zu Verity hinunter und legte seine freie Hand auf ihre Taille. „Na, großartig“, murmelte er. „Jetzt wird jeder denken, ich sei ein Wüstling.“

„Immer noch besser, als wenn alle Sie für einen Dieb halten.“ Verity legte eine Hand um seinen Nacken, und die Berührung traf ihn wie ein Blitzschlag. Himmel hilf, sie riecht so gut. Es war nicht der kühne, provokante Duft, den er bei ihr erwartet hätte, sondern ein leichtes, schwer fassbares Blumenaroma, das seine Sinne noch mehr anregte.

Sie waren einander so nah, dass er jede einzelne Wimper, die glatte Oberfläche ihrer Haut und die aufreizende Kurve ihrer Lippen sehen konnte. Er verspürte den dringenden Wunsch, diese Kurve mit dem Finger nachzuzeichnen. Ihre geschmeidige Gestalt schmiegte sich noch enger an ihn, und Nathan hatte das beschämende Gefühl, dass Verity spüren konnte, wie sein Körper auf sie reagierte. In ihren Augen blitzte unverkennbare Belustigung auf.

Um ihrem Blick auszuweichen, drückte er seine Wange seitlich an ihr Haar. Es war weich, ein paar feine Strähnchen kitzelten seine Nase.

Als er das Gesicht weiter nach unten gleiten ließ, stellte er fest, dass ihre Wange sich so zart anfühlte, wie sie aussah. Kurz, bevor er ihre Schulter erreichte, hielt er inne, sodass es aussah, als würde er ihren Hals liebkosen. Er widerstand der Versuchung, tatsächlich mit dem Mund über ihre Haut zu streichen.

Währenddessen waren die sich nähernden Stimmen lauter geworden, doch jetzt verstummten sie plötzlich. Ein deutliches Kichern war zu hören, dann räusperte sich jemand, gefolgt von einem leisen Gemurmel.

„Kommen sie hierher?“, flüsterte Nathan.

„Hmm? Oh.“ Verity bewegte sich etwas, um an seinem Arm herumspähen zu können. „Nein, sie stehen nur da und grinsen.“

Er stieß einen kleinen Seufzer der Verzweiflung aus. „Wie lange müssen wir das hier denn noch machen?“

„Ich weiß, dass es eine Qual sein muss, mir so nahe zu sein“, erwidert sie scharf. „Vielleicht sollte ich diese für Sie so unangenehme Szene beenden, indem ich Ihnen eine schallende Ohrfeige gebe, weil Sie sich Freiheiten herausnehmen.“

„Ich würde es vorziehen, wenn Sie das nicht tun.“ Nathan unterließ es, hinzuzufügen, dass die einzige Qual für ihn darin bestand, sich davon abzuhalten, seinen Impulsen nachzugeben. Er spielte weiter mit, richtete sich jedoch auf, um die Gefahrenzone ein wenig zu entschärfen, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und schaute auf sie herab. Ihre Augen waren wirklich faszinierend, irgendwo zwischen Bernstein und Whisky, und immer leuchtend, egal ob vor Belustigung, Wut oder Neugier.

„Oder vielleicht sollten wir uns in die andere Richtung davonschleichen und in ein Schlafzimmer zurückziehen“, schlug Verity vor.

„Verity …“ Nathan seufzte. „Man könnte Sie erkannt haben. Ihr Ruf wäre ruiniert.“

„Nein. Mrs. Billinghams Ruf wäre ruiniert“, korrigierte sie ihn. Ihre Lippen zuckten. „Ah. Jetzt gehen sie weiter. Die Luft ist rein“, fügte sie kurz darauf hinzu.

Nathan entspannte sich und bemerkte erst jetzt, wie verkrampft sein ganzer Körper gewesen war. Hastig trat er einen Schritt zurück und zupfte an seinem Revers, als könnte er sich wieder innerlich ins Lot bringen, solange seine Kleidung ordentlich saß. „Ich würde nicht sagen, dass wir in Sicherheit sind.“

„Natürlich würden Sie das nicht.“ Verity schien sich – wie üblich – über ihn zu ärgern. Abrupt wandte sie sich ab. „Sie müssen nicht bleiben, wissen Sie.“

„Ah, aber wer würde dann Ihren verruchten Verführer spielen?“

Verity rollte theatralisch mit den Augen, aber in ihren Mundwinkeln bildete sich jeweils ein Grübchen. Und diese Grübchen waren tödlich. Sie setzte ihren Weg den Flur entlang fort. „Dann muss ich Sie wohl behalten“, sagte sie.

Nathan schloss zu ihr auf. Verity schaute weiter in jedes Zimmer, an dem sie vorbeikam, blieb dann an einer Tür stehen und spähte genauer hinein. „Ich glaube, das ist es.“

„Sie müssen Augen wie eine Katze haben, wenn Sie in dieser Dunkelheit etwas erkennen können.“

„Wussten Sie das nicht? Ich bin eine.“ Verity warf ihm einen ihrer verschmitzten Seitenblicke zu, und Nathan musste zugeben, dass sie tatsächlich ein wenig wie eine Katze aussah, mit ihren goldenen Augen und ihrer selbstgefälligen Geheimniskrämerei, als wüsste sie Dinge, die man selbst niemals auch erahnen könnte, sich aber dennoch dazu herabließ, einen zu tolerieren. Auf jeden Fall bewegte sie sich so leise wie eine Katze. Er vermutete, dass ihre Krallen ebenso scharf waren.

Sie griff sich einen Kerzenleuchter vom nächststehenden Tisch und führte Nathan in das von ihr auserkorene Zimmer. Es war ein weitläufiger Raum mit einem massiven Bett aus schwarzem Walnussholz. Offensichtlich wurde er von einem Mann genutzt. Verity begann nach demselben Schema zu suchen wie zuvor unten im Arbeitszimmer, öffnete jedoch zusätzlich sämtliche Schubladen und durchsuchte deren Inhalt, wobei sie darauf achtete, nichts zu verschieben.

Diesmal schloss sich Nathan ihr unaufgefordert an und schaute hinter Bilder und unter den dicken Teppich.

Er hatte nicht genug Erfahrung in solchen Dingen, um Schubladen zu durchsuchen, ohne Spuren zu hinterlassen, öffnete aber die Türen des großen Schranks, um hineinzuschauen. Eine Seite des Innenlebens bestand aus Regalen voller Hutschachteln. In der anderen Hälfte hingen Hemden auf Bügeln.

Irgendwas an diesem Schrank kam ihm seltsam vor. Stirnrunzelnd starrte Nathan das Möbelstück an, und nach einem Moment fiel ihm auf, dass der Boden auf der Seite mit den Hemden mehrere Zentimeter höher war als der Boden auf der Regalseite. Unwillkürlich musste er an die Geheimfächer und Rätselkästen denken, in denen Annabeths Vater alle möglichen Dinge versteckt hatte.

Rasch kniete er sich hin und fuhr mit einer Hand über den Boden des Schranks. In der Nähe der Rückwand ertastete er eine Fugenlinie. Weiter hinten, in der Ecke, entdeckte er eine leichte Vertiefung, auf die er drückte. Nichts passierte. Er versuchte, sie zur Seite zu schieben, und mit einem leisen Klicken sprang der vordere Teil des erhöhten Bodens ein Stück auf.

Er zog daran. Der Spalt wurde größer und gab eine Metallbox frei. „Verity.“

„Was?“ Sie musste die mühsam unterdrückte Aufregung in seinem Ton gehört haben, denn sie war sofort an seiner Seite. „Oooh. Kluger Junge.“

Nathan ärgerte sich über die Befriedigung, die ihre anerkennenden Worte in ihm auslösten. Er hob die Schachtel aus ihrem Versteck. Sie war verschlossen, aber Verity machte kurzen Prozess mit dem Schloss und öffnete den Deckel. Die Kiste enthielt ein Durcheinander von Gegenständen – gefaltete Zettel, ein Taschentuch mit Monogramm, eine Brille und mehrere Schmuckstücke. Sofort stürzte Verity sich auf eine smaragdgrüne Brosche, aber Nathan war mehr von einer silbernen Scheibe fasziniert, in die etwas eingraviert war, das einem Familienwappen ähnelte, sich aber bei näherer Betrachtung als ziemlich lebensechtes Phallussymbol herausstellte, das aus Flammen aufragte.

Hastig schloss er seine Faust um das frivole Objekt. Er spürte, wie seine Wangen sich röteten, und warf Verity einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie beobachtete ihn, und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Was ist das? Was verstecken Sie?“

Nathan seufzte. Natürlich hatte sie ihn ertappt. Wahrscheinlich war es gerade sein offensichtlicher Versuch gewesen, den Fund zu verbergen, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. „Es ist, ähm, eine Art Münze. Eine Art Abzeichen. Eine Plakette … obwohl man sie üblicherweise als Schlüssel bezeichnet, weil man damit Zugang erhält.“

„Zugang zu was? Nathan, Sie reden wirres Zeug“, erwiderte Verity scharf. „Und Sie werden rot. Was ist das für ein Teil?“ Sie griff nach seinen um die Scheibe verkrampften Fingern. Nathan seufzte erneut und öffnete seine Faust. Verity nahm die Plakette aus seiner Hand und musterte sie aufmerksam, sah aber nur die zweite, harmlose Seite der Scheibe. „Die Initialen von Lord Arden“, sagte sie. „Ist Ihnen aufgefallen, dass das Monogramm auf dem Taschentuch nicht seins ist? Aber was hat es mit dieser …“ Sie drehte die Scheibe um und schnappte leise nach Luft. Ihre Augenbrauen schossen regelrecht nach oben. Ihre Reaktion erfüllte Nathan mit einer gewissen Genugtuung. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie beiläufig „Ach, das“ gemurmelt und die Plakette zurück in die Kiste geworfen hätte. Doch trotz der schwachen Beleuchtung war er sich fast sicher, dass ihre Wangen sich leicht gerötet hatten.

„The Devil’s Den“, begann er verlegen. „Das ist, ähm, eine bestimmte Art von Club, in dem Männer und Frauen sich mit gewissen Absichten …“ Er zögerte. Meine Güte, wie sollte er das einer Dame erklären – selbst einer so taktlosen wie Verity?

„Sie meinen, es ist wie der alte Hellfire Club? Oder Marquis de Sade? So etwas in der Art?“

Nun, anscheinend war es doch nicht so schwer zu erklären.

„Und Sie kennen dieses Etablissement?“ Verity starrte ihn fassungslos an. Es war das erste Mal, dass er sie schockiert erlebte.

„Nein!“, entgegnete er schnell. „Ich meine, nicht persönlich. Ich war noch nie dort. Ich würde nicht … das ist nicht meine Art … ich habe lediglich davon gehört. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es den Ort wirklich gibt.“

„Gerüchte in Ihrem Gentlemen’s Club also.“ Niemand sonst hätte das Wort „Gentlemen“ so verächtlich aussprechen können wie Verity.

„Nun ja … ja.“

Verity runzelte die Stirn und rollte die Münze zwischen ihren Fingern hin und her, wie er es von Straßenkünstlern kannte. „Und sie lassen sich wirklich darauf ein? Die Frauen, meine ich.“

„Ja, natürlich. Zumindest habe ich noch nie etwas Gegenteiliges gehört. Dorthin gehen gleichgesinnte Frauen. Oder, ähm, Frauen, die, äh …“

„Prostituierte?“

Nathan nickte nur.

„Nur weil eine Frau für ihre Dienste bezahlt wird, heißt das nicht, dass sie geschlagen werden will, um einem Mann Vergnügen zu bereiten“, bemerkte Verity bitter. Noch immer hielt sie die Plakette in der Hand und starrte darauf, offensichtlich ohne sie wirklich zu sehen.

Auch diesen Ausdruck hatte Nathan noch nie zuvor auf Veritys Gesicht gesehen. Er war sich nicht sicher, wie er ihn deuten sollte. Wut? Trauer? Reue? Was auch immer es war, es offenbarte eine tiefere Emotion, als sie normalerweise preisgab. Offensichtlich hatte das Gespräch einen Nerv getroffen, und ihm wurde plötzlich klar, wie wenig er über diese Frau wusste, obwohl sie vor einiger Zeit gezwungen gewesen waren, gut zwei Wochen miteinander zu verbringen.

„Verity“, sagte er leise und streckte eine Hand nach ihr aus.

Hastig wischte sie sich mit der Hand über die Augen, stand auf und warf die Plakette zurück in die Schachtel. „Wir haben die Brosche. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden.“

Offensichtlich wollte Verity trotz ihrer sichtlichen Aufgewühltheit kein Mitgefühl. Oder zumindest nicht von ihm.

Nathan schloss den Deckel der Box, verriegelte sie und stellte sie an ihren Platz zurück. Dann schob er die Holzabdeckung wieder an ihren ursprünglichen Platz. Gerade, als er aufstand, hallten Schritte im Flur wider. Meine Güte, ist denn niemand auf dieser Party im Ballsaal geblieben? Obwohl er den Leuten ihre Sprunghaftigkeit nicht wirklich verübeln konnte – er selbst hatte sich auch ziemlich gelangweilt, bis Verity aufgetaucht war und ihn in einen Strudel aus Intrigen hineinzog.

Jetzt winkte sie ihm auffordernd zu und sprang in den Wandschrank. Nathan folgte ihr und schloss die Tür hinter ihnen.

Jemand betrat den Raum. „Irgendwo hier muss es sein“, sagte ein Mann. Ein undeutliches Murmeln folgte als Antwort. Man hörte, wie der Mann – vermutlich Lord Arden – herumkramte und Schubladen öffnete und schloss.

Es war eng, heiß und dunkel im Wandschrank. Nathan stellte sich vor, wie Lord Arden die Tür aufriss und sie entdeckte. Was könnte er sagen, um diese Situation zu erklären?

Nathan drehte den Kopf zu Verity. Der schmale Lichtstreifen zwischen den Türen fiel auf ihr Gesicht und beleuchtete die getrocknete Tränenspur auf ihrer Wange. Wieder erwachte Mitgefühl in ihm, und er ergriff ihre Hand. Diesmal zog entzog sie sich ihm nicht, sondern schloss ihre Finger um seine.

Arden hatte offenbar gefunden, wonach er suchte, denn sein Begleiter lachte und bedankte sich bei ihm. Doch die beiden Männer blieben noch eine Weile stehen und unterhielten sich über eine Wette. Endlich verließen sie das Schlafzimmer, aber Verity und Nathan blieben, wo sie waren, bis das Geräusch der Schritte ganz verklungen war.

Vorsichtig öffnete Verity die Tür, und sie spähten aufmerksam in den Raum, bevor sie sich aus dem Schrank wagten. An der Zimmertür hielten sie erneut inne und lauschten einen langen Moment. Dann schlichen sie sich auf den glücklicherweise leeren Flur und hasteten zur Dienstbotentreppe. Erst als sie die schmalen Stufen hinuntergingen und Verity ihn losließ, fiel Nathan auf, dass sie sich seit Verlassen des Wandschranks die ganze Zeit über an den Händen gehalten hatten.

Die Treppe mündete schließlich in einen Flur, und Verity blieb so abrupt stehen, dass Nathan, der in Gedanken darüber versunken war, was dieses Händchenhalten zu bedeuten hatte, fast in sie hineingelaufen wäre. Ein kräftig gebauter Mann, bei dem es sich vermutlich um einen speziell für den Ball angeheuerten Wächter handelte, hatte sie entdeckt. Für eine spontan erdachte Ausrede blieb keine Zeit, denn der Mann drehte bereits den Kopf, als wolle er jemanden rufen. Blitzschnell stürzte Verity sich auf ihn. Ihr angehobenes Knie traf ihn direkt in den Solarplexus.

Die Luft entwich aus den Lungen des Wachmanns. Er fiel auf die Knie und schlug nach Veritys Bein, aber sie wich seinen Griffen leichtfüßig aus, glitt mit einer fließenden Bewegung hinter ihn, legte einen gebeugten Arm um seinen Hals und zog mit der anderen Hand die improvisierte Schlinge zu, bis die Augen des Mannes glasig wurden. „Was machen Sie da?“, zischte Nathan.

„Ich setze ihn nur außer Gefecht.“ Sie löste den Druck auf seine Kehle, als die Augenlider des Wachmanns zufielen, und ließ seinen schlaffen Körper zu Boden sinken. Leise ging sie zu einer nahe gelegenen Tür und lauschte. Offenbar zufrieden mit dem, was sie hörte – oder nicht hörte –, öffnete sie die Tür.

„Hier. Ziehen Sie ihn in diese Kammer.“ Sie winkte Nathan herbei. „Das gibt uns genug Zeit zu fliehen, bevor jemand merkt, dass etwas nicht stimmt.“

Nathan blickte auf den bewusstlosen Mann und dann wieder zu Verity. War sie wirklich erst vor einer Stunde wieder in sein Leben getreten? Er hatte bereits mehr Sünden begangen, als er zählen konnte. Da spielte eine mehr wohl keine Rolle.

„Na schön.“ Er hakte seine Ellbogen unter die Arme des Wächters und begann, ihn zur Tür zu ziehen. „Wie genau stellen Sie sich vor, dass wir ihn hier festhalten sollen?“, fragte er, nachdem sie den massigen Mann in die ziemlich kleine Kammer gezwängt hatten. „Wir haben doch keine Möglichkeit, diese Tür abzuschließen.“

„Wir brauchen nur irgendwas, um sie zu verkeilen.“ Verity tippte nachdenklich mit dem Finger auf ihre Unterlippe. Plötzlich leuchteten ihre goldenen Augen auf, und sie zog ihren Fächer hervor, den sie so unter die Tür klemmte, bis sie blockierte.

„Das wird ihn nicht lange aufhalten“, bemerkte Nathan skeptisch.

„Wir versuchen ja nicht, ihn für immer einzusperren“, entgegnete sie. „Außerdem wird er wahrscheinlich einen Moment brauchen, bis er wieder klar genug im Kopf ist, um zu begreifen, dass er nur den Fächer herausziehen muss, um die Tür zu öffnen.“

Kritisch musterte sie Nathan. „Richten Sie Ihre Krawatte, bevor wir zu der Party zurückkehren. Sie sehen aus, als hätten Sie gerade entweder jemanden verführt oder ein Verbrechen begangen.“

Nathan öffnete den Mund, um zu betonen, dass er dank Verity heute Abend beides getan hatte. Doch bevor er die Worte über die Lippen bringen konnte, regte sich etwas in der Kammer. Verity warf ihm einen vielsagenden Blick zu und machte sich auf den Weg zum Ballsaal.

Die höfliche Konversation und gepflegte Langeweile der Veranstaltung gingen Nathan nach allem, was sie in der letzten Stunde erlebt hatten, noch mehr auf die Nerven. Es wirkte fast lächerlich, wie Verity sich bei ihm unterhakte, ihn zwischen den Tanzenden hindurchführte, dabei über Belanglosigkeiten plauderte und hier und da jemandem zunickte. Sie kann doch unmöglich all diese Leute kennen.

Schließlich wandte sich Verity ihm zu und lächelte auf diese spezielle Art, sodass Nathan sich nicht sicher war, ob sie es freundlich meinte oder sich lediglich über ihn lustig machte. „Ich gehe jetzt.“

Er fühlte sich seltsam enttäuscht. Aber das waren vermutlich nur die Nachwirkungen der zurückliegenden Anspannung. „Ich begleite Sie.“

Sie nickte zufrieden. „Das bekräftigt noch einmal, dass wir die ganze Zeit zusammen hier im Saal waren.“

„Ich freue mich, Ihnen von Nutzen sein zu können“, erwiderte er trocken.

Jeder Mann, dem Verity im Vorbeigehen ihr strahlendes Lächeln schenkte, strahlte zurück, mit einem Anflug von Neid in den Augen, wenn sein Blick auf Nathan fiel. Der konnte sich einer gewissen Genugtuung darüber nicht erwehren – und irgendwie freute es ihn sogar zu wissen, dass Verity in Wahrheit nichts von diesen Männern hielt, abgesehen davon, dass deren bewundernde und neidvolle Blicke ihr ein Alibi verschafften. Als sie den Ballsaal hinter sich gelassen hatten, löste sie sich von seinem Arm und beschleunigte ihre Schritte. Sie ging zur Garderobe, um einen hauchdünnen Abendumhang zu holen, der zwar völlig unbrauchbar als Schutz gegen die Abendkühle war, aber die Aufmerksamkeit noch mehr auf das Dekolleté ihres Kleides lenkte.

Als Nathan sie an den Dienern vorbei zur Eingangstür begleitete, schaute sie ihn überrascht an. „Gehen Sie nicht zurück zu Ihren Freunden?“

Keiner der Gäste hier war wirklich ein Freund, es waren einfach Bekannte, die man auf Partys traf. Aber das erwähnte er nicht. „Ich bringe Sie nach Hause“, sagte er nur.

Diesmal wirkte ihr Lächeln sanfter, echter – aber vielleicht entstand dieser Eindruck auch nur, weil es zu dunkel war, um Genaueres zu erkennen. „Das ist sehr nett von Ihnen“, erwiderte sie. Im selben Moment hielt eine kleine Stadtkutsche vor dem Haus. „Aber ich habe meine Kutsche hier.“

Bevor er etwas entgegnen konnte, war sie bereits die Stufen hinuntergelaufen und stieg in das Gefährt. Als es anfuhr, schaute sie durchs Fenster zu ihm zurück und winkte kurz.

Nathan blieb noch einen Moment stehen und blickte der Kutsche nach, bis sie verschwunden war.

Plötzlich kam ihm alles wieder sterbenslangweilig vor. Es gab hier eindeutig nichts, was an die Aufregungen eines Abends mit Verity herankam. Nathan hatte kein Interesse daran, sich wieder in den Ballsaal zu begeben. Er konnte genauso gut nach Hause gehen. Er fragte sich, ob Verity beabsichtigte, ihre Rolle als Mrs. Billingham weiterzuspielen. Würde sie noch andere Veranstaltungen besuchen? Kurz erwog er, noch eine Weile in London zu bleiben, anstatt sofort zum Anwesen zurückzukehren.

Aber nein, Lady Drewsbury und Noelle gaben in zwei Tagen eine Party auf Stonecliffe, um Lady Lockwoods Geburtstag zu feiern. Das durfte er nicht verpassen. Und es gab auch keinen wirklichen Grund, hier zu bleiben.

Nathan drehte sich um und marschierte davon.

3. KAPITEL

Verity lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Ihre Kutsche war klein, verfügte nur über zwei Plätze und wirkte von außen ziemlich gewöhnlich. Aber innen war sie luxuriös ausgestattet, mit dicken Polstern, die mit dunkelrotem marokkanischem Leder bezogen waren. Verity hatte in ihrem Beruf gelernt, dass es nicht ratsam war, aufzufallen. Aber sie konnte sich an Komfort und Schönheit erfreuen, wenn es nicht offensichtlich war – und hatte, offen gestanden, ihre Tarnung als Mrs. Billingham sehr genossen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie endlich die prachtvollen Kleider tragen durfte, auf die sie normalerweise verzichten musste. Unwillkürlich lächelte sie in sich hinein. Die Rolle der Mrs. Billingham war stets unterhaltsam, aber noch nie so sehr wie heute Abend. Sie hatte Nathan Dunbridge seit mindestens sieben oder acht Monaten nicht gesehen. Laut Annabeth war er nach Italien gereist, um einen Freund zu besuchen, doch Verity vermutete eher, dass er England verlassen hatte, um sein durch Annabeths gebrochenes Herz zu heilen. Sie hoffte, dass er seinen Schmerz mittlerweile überwunden hatte; Nathan verdiente etwas Besseres als unerwiderte Liebe. Verity hatte ganz vergessen, wie gut er aussah – schlank und groß, das wellige braune Haar immer etwas zerzaust wirkend und dazu diese haselnussbraunen Augen. Oder waren sie grün? Verity hatte immer Schwierigkeiten gehabt, das zu unterscheiden. Die Farbe schien sich je nach seiner Stimmung zu verändern. Es machte erstaunlich viel Spaß, Nathan zu necken, und jetzt, da er aufgehört hatte, Annabeth nachzutrauern, ging er einem weit weniger auf die Nerven. Natürlich war er ein Aristokrat und daher niemand, dem Verity voll und ganz vertrauen konnte, aber dennoch … es war unglaublich leicht, ihn zu mögen.

Er hatte sich sogar als nützlicher Vorwand dafür erwiesen, dass sie sich im Obergeschoss herumtrieb. Vorzutäuschen, dass er sie verführte, war unerwartet aufregend gewesen. Sein Betragen war warmherzig und fürsorglich, sein Duft verlockend, und er hatte wirklich einen sehr küssbaren Mund. Als er ihr etwas zuflüsterte, seine Lippen nur wenige Zentimeter von ihrem Hals entfernt, war ein Schauder durch ihren Körper gefahren.

Sie konnte nur hoffen, dass er das nicht bemerkt hatte.

Kurz dachte sie, er würde sie vielleicht tatsächlich küssen, aber Nathan war zu sehr Gentleman, um die Situation auszunutzen. Sie wusste nicht genau, ob sie darüber erfreut oder enttäuscht war, was sie ein wenig beunruhigte. Aus diesem Grund hatte Verity ihm auch nicht angeboten, ihn nach Hause zu fahren – sie wollte nicht den Fehler begehen, sich in ihren eigenen Verführungsspielchen zu verstricken.

Der Abend war zu schön gewesen, um das zu riskieren. Nathan hatte die Langeweile des Balls durchbrochen, und dann war da noch die Aufregung der Jagd gewesen und die Befriedigung, die Brosche zu entdecken. Es hatte diesen einen Moment gegeben, in dem ihre Maske gefallen war, als sie die Münze mit dem Clubabzeichen betrachtet hatte, aber das war nur ein kurzer Augenblick gewesen, nicht genug, um alles zu ruinieren. Und überraschenderweise hatte Nathans Hand auf ihrer beruhigend gewirkt.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihr Zuhause erreichten, ein schmales Gebäude, attraktiv, aber nicht von den anderen Häusern in der Reihe zu unterscheiden. Es war ein Glücksfall, dass es zufällig in einer Gegend lag, die für Mrs. Billingham schick genug war, aber Verity hatte es ausschließlich für sich selbst gekauft. Wie bei ihrer Kutsche war die Inneneinrichtung besser, als die Fassade vermuten ließ, geschmackvoll, wenn auch etwas spärlich. Wenn zu viele Dinge herumstanden, war das in einem Notfall hinderlich. Und Verity rechnete immer mit Notfällen.

Das Haus war still und leer. Ständig anwesendes Dienstpersonal gab es nicht. Selbst ihre Haushälterin Mrs. Masters kam morgens und ging abends wieder. Das einzige Dienstmädchen war Mrs. Masters’ Tochter. Verity benötigte keine persönliche Zofe – sie kaufte selten etwas, das nicht vorne zu knöpfen war, und je weniger Augen vor Ort waren, desto besser. Außerdem musste sie dadurch eine Person weniger beschützen.

Verity rechnete nicht wirklich mit Gefahr; es war nun schon mehrere Monate her, seit zuletzt jemand versucht hatte, sie zu töten. Aber alte Gewohnheiten hielten sich hartnäckig. Sie hatte den Krieg überlebt, indem sie Vorsicht walten ließ, und sie sah wenig Grund, jetzt damit aufzuhören. Aus demselben Grund folgte sie ihrer üblichen abendlichen Routine, nahm die kleine Lampe, die auf niedriger Flamme hatte brennen lassen, und ging damit durchs Haus, um alle Türen und Fenster zu überprüfen und alle Stellen, an denen sich jemand verstecken könnte.

Oben in ihrem Zimmer löste sie ihre Haare, zog sich aus und schlüpfte in ein seidig weiches Nachthemd. Veritys Oberbekleidung war normalerweise schlicht und praktisch, aber wie ihre Unterwäsche war auch ihre Nachtwäsche ausnehmend schön und von bester Qualität – ein weiterer ihrer geheimen Schätze.

Sie legte die Brosche, die sie aus Ardens Haus mitgenommen hatte, in eine flache Kommodenschublade, die sie anschließend abschloss.

Sie musste lächeln, als sie an den Abend zurückdachte. Und an Nathan. Wenn sie ihre Scharade noch ein wenig länger fortsetzte, würde sie ihm vielleicht auf einer anderen Party begegnen. Mrs. Billingham war eine praktische Verkleidung für ihre Kunden. Natürlich konnte sie diese Rolle nicht allzu lange aufrechterhalten. Mrs. Billingham musste verschwinden – nach Bath oder Brighton oder, noch besser, auf den Kontinent. Aber ein paar Tage mehr würden nicht schaden.

Selbstverständlich machte sie das nicht, um Nathan wiederzusehen. Sie war immer noch auf der Suche nach dem gestohlenen Silberbesteck einer anderen Klientin. Zwar war Verity nahezu überzeugt davon, dass die Enkelin der Frau die Diebin war, aber in einer solchen Situation musste man sich absolut sicher sein.

Aber die Aussicht, Nathan erneut zu necken und vielleicht einen Tanz mit ihm zu ergattern, machte die Angelegenheit natürlich noch reizvoller. Heute Abend war ihr klar geworden, wie nett es war, jemanden zu haben, vor dem sie sich nicht verstellen musste.

Veritys gute Laune hielt auch an, als sie am nächsten Morgen zur Arbeit ging. Der vergangene Abend war ein Erfolg gewesen, der durch die Gelegenheit, sich mit Nathan zu kabbeln, weiter versüßt worden war. Wenn sie einem Klienten ein positives Ergebnis melden konnte, war sie immer in Hochstimmung, und sie freute sich ganz besonders darauf, Lady Bankwater die Brosche zurückzugeben. Verity mochte Lady Bankwater, und die Dame war über den Verlust ihres Schmuckstücks sehr verzweifelt gewesen. Außerdem hatte Verity eine starke Abneigung gegen Lord Arden entwickelt, daher war es ihr ein besonderes Vergnügen, ihm etwas direkt unter der Nase weggeschnappt zu haben.

Wie üblich stieg Verity ein oder zwei Straßen vor ihrem Ziel aus der Kutsche und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Auch das war vermutlich eine alte Gewohnheit – wenn sie zu Fuß unterwegs war, konnte sie leichter jemanden entdecken, der ihr folgte oder sie von einem Gebäude aus beobachtete.

Eine dezente Messingplakette neben der Eingangstür der Detektei trug die Aufschrift „Cole & Son“. Natürlich gab es weder einen Vater noch einen Sohn, aber die Kunden fanden die Vorstellung beruhigend, dass ein Mann – vor allem ein älterer Mann – das Sagen hatte.

Die Tür öffnete sich nur zu einer geraden Treppe, die in einen kleinen Wartebereich mit einem Sofa und Stühlen führte. Ein hoher Tresen versperrte den Zugang zur eigentlichen Eingangshalle. Dahinter saß eine Frau und strickte. Mrs. Malloy strickte in jeder Minute, die sich nicht den Firmenunterlagen und der Buchhaltung widmete. Verity war sich nicht sicher, wer von den Strickwaren profitierte, die ihre Buchhalterin so unermüdlich produzierte.

„Guten Tag, meine Liebe.“ Mrs. Malloy strahlte sie an. Sie war eine stets fröhliche Person, die immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, und ihre Augen funkelten hinter ihrer Brille. Die Fältchen um ihren Mund und ihre Augenwinkel ließen darauf schließen, dass sie schon immer oft und gern gelächelt hatte. Die weiße Spitzenhaube auf ihrem graumelierten Haar vervollständigte das Bild einer rundlichen und sympathischen Großmutter.

Niemand hätte vermutet, dass sich unter diesem ergrauenden Schopf einer der scharfsinnigsten Finanzköpfe des Landes verbarg. Vor drei Jahren hatte sie sich aus Langeweile in Veritys Geschäft beworben, das damals gerade zu florieren begann, und dank Mrs. Malloys Fachwissen bezüglich lohnender Investitionen befand sich Veritys Vermögen mittlerweile in einem sehr gesunden Zustand.

„Sie sehen heute Morgen sehr elegant aus“, fuhr Mrs. Malloy fort.

Normalerweise trug Verity zur Arbeit ein schlichtes braunes Kleid mit einem dekorativen Spitzenfichu am Ausschnitt, und ihr Haar war entweder von einer stumpfbraunen Perücke oder einer weißen Haube bedeckt, wie Mrs. Malloy sie trug. Sie legte Wert darauf, in ihrem Büro so seriös und professionell wie möglich auszusehen.

Heute jedoch hatte Verity vor, Lady Bankwater in ihrer Rolle als Mrs. Billingham zu besuchen, und dafür benötigte sie ein modisches Nachmittagskleid samt Hut, dazu grüne Halbstiefel, passende Handschuhe und eine Pelisse – Mrs. Billingham bevorzugte einen eher auffälligen Stil.

„Mir ist danach zumute“, erwiderte Verity und berichtete von dem erfolgreichen Einsatz des vergangenen Abends. Sie plauderten noch einen Moment über dies und das, bevor Verity sich in ihr Büro zurückzog. Als Erstes musste sie Lady Bankwater eine Nachricht senden, in der sie darum ersuchte, noch an diesem Vormittag bei ihr vorsprechen zu dürfen. Es war unangemessen früh für einen Höflichkeitsbesuch, daher sollte sie die Dame zu Hause und allein antreffen.

Verity hatte gerade noch Zeit, den Bericht eines Mitarbeiters zu lesen, der einen ihrer Kunden bewachte, bevor der Bote zurückkehrte – mit Lady Bankwaters Zusage und ihrer Kutsche. Das war eine freundliche Geste, aber auch ein Zeichen dafür, wie dringend Lady Bankwater die Brosche zurückhaben wollte.

Verity wurde nicht in den großen, formellen Salon geführt, sondern in ein gemütliches Wohnzimmer, wo Lady Bankwater sie mit angespannter Miene erwartete. Sofort sprang sie auf, eilte auf Verity zu und ergriff ihre Hände.

„Meine Liebe, kommen Sie doch, setzen Sie sich.“ Sie starrte verstohlen auf Veritys Retikül, war aber zu sehr auf Höflichkeit geeicht, um direkt nach dem Schmuck zu fragen.

Zuerst mussten den gesellschaftlichen Umgangsformen genüge getan werden. „Ich lasse Tee bringen.“

Sie machten unverbindlichen Small Talk, bis der Teewagen hereingerollt wurde. Sobald Lady Bankwater die Tür hinter dem Butler geschlossen hatte, griff Verity in den Ausschnitt ihres Kleides und zog ein zusammengerolltes Taschentuch hervor. Sie faltete es auseinander und enthüllte die Smaragdbrosche.

Lady Bankwater holte scharf Luft. „Sie haben sie tatsächlich!“ Sie musste sich sichtlich beherrschen, um Verity den Schmuck nicht aus der Hand zu reißen. „Es tut mir leid, ich weiß, Sie sagten, Sie hätten sie, aber ich wagte es nicht zu glauben. Ich hatte Angst, Sie hätten eine andere Brosche gefunden.“

„Nein. Ich habe sie sofort erkannt. Sie haben das Schmuckstück perfekt beschrieben.“

Behutsam nahm Lady Bankwater die Brosche in die Hand. Tränen traten ihr in die Augen. „Sie wissen nicht, wie viel mir das bedeutet. Wie sehr ich befürchtete, sie nie wiederzubekommen.“

„Ich weiß, dass sie Ihnen sehr wichtig ist.“ Allerdings konnte Verity nicht ganz nachvollziehen, warum. Ja, es war ein teures Teil, und zweifellos würde Lord Bankwater sich über das Verschwinden eines Familienerbstücks ärgern, aber seine Frau hätte doch einfach sagen können, dass sie die Brosche verloren hatte. Besorgt fragte sie sich, wie weit Lord Bankwater in seinem Zorn wohl gegangen wäre. „Zweifellos hätte der Verlust Ihren Gatten sehr erzürnt“, begann sie vorsichtig. „Manche Männer können in solchen Dingen ziemlich gewalttätig sein.“

Lady Bankwater sah sie verständnislos an. „Was? Sie glauben, Bankwater würde mich schlagen? Nein, nein, das dürfen Sie nicht denken. Mein Mann ist vielleicht nicht besonders aufregend oder sentimental und ist mehr daran interessiert, seltsame Tiere zu erforschen – Kängurus und so –, als Zeit mit mir zu verbringen, aber er ist der gütigste Mann, den es gibt. Er hätte den Verlust des Schmuckstücks bedauert, aber mich nicht einmal dafür getadelt.“

„Ich verstehe.“ Doch tatsächlich verstand sie es überhaupt nicht. Warum war Lady Bankwater so nervös, fast ängstlich gewesen? Aber sie konnte ihre Klientin wohl kaum...

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