Geheimnisvolle Lords und heiße Küsse

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KÜSSE IM GOLDENEN SALON

"Mein ganzer Gewinn für eine Nacht mit Ihnen …"Sally Bowes, schöne Betreiberin eines eleganten Spielsalons in London, glaubt, sich verhört zu haben! Aber das Glitzern in Jack Kestrels Augen verrät: Der vermögende Geschäftsmann und zukünftige Duke of Geenwood meint jedes Wort! Seit sie sich das erste Mal gesehen haben, prickelt es heiß zwischen ihnen. Soll Sally jetzt in ihrem Goldenen Salon alles auf die verführerische Karte der Leidenschaft setzen? Nur auf das Verlangen hören, das Jack in ihr wach geküsst hat? Sie wagt den Einsatz - und ein dramatisches Abenteuer um Liebe, Begehren, Erpressung und Betrug beginnt …

FASZINIEREND WIE DER KUSS DES HERZOGS

Was geschieht in der antiken Villa, wenn bei Sizilien die Sonne im Meer versinkt? Clios Neugierde ist größer, als es sich für eine junge englische Lady in der Sommerfrische geziemt! Abenteuerlustig beschließt sie, den Gerüchten auf die Spur zu kommen, nach denen Räuber einen Schatz in dem alten Gemäuer suchen - und läuft dabei Edward Radcliffe, Herzog von Averton, in die Arme: dem Mann, der sie schon so lange fasziniert - und dem sie nie zu vertrauen wagte. Und selbst als er sie heiß küsst, fragt sie sich, ob sie ihr Herz einem Helden oder einem Schurken schenkt …

SÜSSE KÜSSE UND UNSCHICKLICHE GEHEIMNISSE

Eigentlich war David Lansdale, Earl of Treybourne, in ganz anderer Mission nach Edinburgh gekommen: Einen Widersacher wollte er in die Schranken weisen! Aber dann begegnet ihm Miss Anna Fairchild, und plötzlich ist alles andere Nebensache. Wortgewandt, bildhübsch und temperamentvoll schlägt sie David in ihren Bann. Wie süß schmecken die Küsse, die er ihr raubt! Doch leider ist sie als Gattin für einen Earl kaum denkbar. Anna ist nicht standesgemäß, beschäftigt sich mit Dingen, die einer Dame nicht anstehen - und verbirgt zudem in ihrem Herzen ein unschickliches Geheimnis …


  • Erscheinungstag 13.05.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787875
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Nicola Cornick, Amanda Mccabe, Terri Brisbin

Geheimnisvolle Lords und heiße Küsse

Nicola Cornick

Küsse im Goldenen Salon

IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

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Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2008 by Nicola Cornick
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Andrea Schwinn

© by Susan McGovern Yansick und Christine Healy
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Deutsche Erstausgabe 1992 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Riette Wiesner

Fotos: Harlequin Books S.A.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 264 (11) - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format im 02/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-490-2

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Nicola Cornick

Küsse im Goldenen Salon

PROLOG

Juni 1908

Jack Kestrel suchte eine Frau.

Nicht irgendeine Frau, sondern eine, die so skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren war, dass sie einen sterbenden Mann erpresste.

Man hatte ihm versichert, dass sie an diesem Abend in der Kunstausstellung der Wallace Collection sein würde, aber er hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Während er Ausschau nach dem Kurator der Sammlung hielt, der ihn mit ihr bekannt machen sollte, stand Jack ganz oben auf der Treppe und ließ den Blick über die Menge schweifen, die in Scharen in die Gemälde- und Miniaturenausstellung geströmt war. Die meisten Leute standen in kleinen Gruppen im Wintergarten und im Saal; sie plauderten, tranken Champagner und waren weniger darauf erpicht, die Gemälde zu betrachten, als vielmehr zu sehen und gesehen zu werden. Die Herren trugen Abendanzüge, die Damen in allen Farben des Regenbogens schimmernde Abendkleider und Florentinerhüte. Ihre Diamanten glitzerten im Wettstreit mit den funkelnden Kronleuchtern.

Jack drehte sich um und schlenderte langsam den Flur hinunter, der zur Grand Gallery führte. Sein Cousin, der Duke of Greenwood, hatte der Ausstellung für diesen Abend eine Reihe von Gemälden zur Verfügung gestellt, darunter zwei sehr schöne, von George Romney gemalte Porträts von Jacks Urgroßeltern, Justin Kestrel, Duke of Greenwood, und seiner Gemahlin. Jack war neugierig auf die Bilder, denn als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie in einer dunklen Ecke des Familiensitzes, Kestrel Court in Suffolk, verstaut gewesen und hatten dringend einer Säuberung bedurft. Buffy, der gegenwärtige Duke, war ein schamloser Kunstbanause. Für ihn war seine Sammlung nichts weiter als etwas, das man zu Geld machen konnte, besonders jetzt, wo seine Einkünfte aus seinen Ländereien beträchtlich schrumpften. Erst in der vergangenen Woche hatte Jack seinem Cousin tausend Pfund geliehen, um ihn davon abzuhalten, seine komplette Sammlung wertvoller Pferdegemälde von George Stubbs bei Sotheby’s versteigern zu lassen.

Nur eine Person betrachtete die in einem kleinen Salon ausgestellten Porträts der Kestrels. Sie waren äußerst wirkungsvoll aufgehängt worden und wurden raffiniert von unten mit Öllampen ausgeleuchtet. Dasselbe weiche Licht, das die Gemälde von Jacks Vorfahren beschien, fiel auch auf die davor stehende Frau; es ließ ihr Gesicht unter der breiten Hutkrempe leuchten und verlieh ihrem Teint einen rosig zarten Schimmer, während die Augen geheimnisvoll im Schatten blieben. Sie trug ein wunderschönes Abendkleid aus pfirsichfarbener Seide, das sich geschmeidig an ihren Körper schmiegte, und dazu einen großen schwarzen Florentiner, dessen Krempe mit pfirsichfarbenen Bändern und Rosen besetzt war.

Jack blieb in der Tür stehen und ließ den Blick auf ihrem Gesicht ruhen. Einen Moment lang verspürte er ein seltsames Gefühl in der Brust, fast als hätte die Unbekannte die Hand ausgestreckt und ihn körperlich berührt. So etwas hatte er noch nie erlebt. Abgesehen von einer verhängnisvollen Verstrickung in seiner Jugend hatte er seine Beziehungen zu Frauen stets unkompliziert gehalten, wie geschäftliche Übereinkünfte, die beiden Seiten körperliche Annehmlichkeiten versprachen. Bei keiner dieser Frauen war ihm der Atem gestockt oder das Herz stehen geblieben. Er beschloss, diesen plötzlichen und beunruhigenden Aufruhr seiner Gefühle zu ignorieren und ging auf die Unbekannte zu.

Sie drehte sich nicht um. Wie gebannt betrachtete sie das Porträt von Justin Kestrel; seine für das Regency typische dunkle Schönheit, das verwegene Lächeln auf seinen Lippen und den Anflug von Humor in seinen gefährlichen Augen.

„Gefällt Ihnen das Porträt?“

Auf Jacks leise Frage hin drehte sie sich endlich um, und ihre schönen haselnussbraunen Augen weiteten sich, als ihr Blick zwischen ihm und dem Bild hin und her wanderte. Er sah, wie sie den Mund widerstrebend zu einem Lächeln verzog.

„Er sah sehr gut aus“, sagte sie trocken. „Die Ähnlichkeit ist verblüffend, wie Ihnen wohl zweifelsohne bewusst ist.“ Jack verneigte sich. „Er war mein Urgroßvater. Jack Kestrel, ganz zu Ihren Diensten, Madam.“

Sie zogen leicht die dunklen Brauen hoch, verriet ihm jedoch ihren Namen nicht. Jack ahnte, dass sie das ganz bewusst nicht tat. Wie ungewöhnlich! Nur sehr wenige Frauen weigerten sich, Jack Kestrels Bekanntschaft zu machen. Im Allgemeinen weckte sein Aussehen ihr Interesse, noch ehe sie überhaupt erfuhren, wie reich er war.

„Und das hier …“ Sie wandte sich dem Porträt der Duchess zu, einer lebhaft wirkenden, mit Juwelen behängten Frau in einem smaragdgrünen Satinkleid, die herrliches rotbraunes Haar hatte. „Das muss dann Ihre Urgroßmutter sein.“

„In der Tat“, bestätigte Jack. „Vormalige Lady Sally Saltire. Es heißt, sie sei ebenso klug wie schön gewesen. Die Hälfte der Londoner Gesellschaft lag ihr zu Füßen. In der Zeit des Regency nannte man sie die Unvergleichliche.“

„Wie wunderbar.“ Die Unbekannte wirkte amüsiert. „Man hört so selten von einer klugen Frau, die sich nicht bemüht, ihre Intelligenz zu verbergen. Ich bewundere sie deswegen.“

„Ich glaube nicht, dass sie sich viel daraus machte, was andere von ihr hielten“, meinte Jack. „Und mein Urgroßvater betete sie an. Er sagte, dass sie in jeder Hinsicht die perfekte Frau für ihn wäre.“ Er lachte. „Sie konnte auf jeden Fall besser schießen als er.“

„Eine äußerst nützliche Fähigkeit“, stimmte sie zu. Jetzt trat sie näher an ein kleines rechteckiges Gemälde heran, das ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid zeigte. Das Licht der Öllampen fiel auf das lohfarbene Haar und verlieh ihm goldene Reflexe. „Ist das die Tochter der beiden?“, fragte sie.

Jack nickte. „Meine Großtante Ottoline.“

„Lebt sie noch?“

„O ja, sehr sogar“, erwiderte er gefühlvoll.

Ihre Augen funkelten spitzbübisch. „Sie ist eine ziemliche Persönlichkeit, könnte ich mir vorstellen.“ Sie drehte sich zu ihm um, und wieder spürte er die Schockwirkung, die diese klaren haselnussbraunen Augen auf ihn hatten. Irgendetwas regte sich in ihm, etwas Ergreifendes, Unerwartetes, so als legte sich eine Hand um sein Herz.

„Nun“, sagte sie, „es war mir ein Vergnügen, die Bekanntschaft Ihrer aufregenden Vorfahren gemacht zu haben, Mr. Kestrel.“

Sie wollte gehen, und Jack war fest entschlossen, das zu verhindern. Er wollte noch viel, viel mehr über sie wissen. Noch war er nicht gewillt, sie gehen zu lassen.

„Ist die Kunst eine Leidenschaft von Ihnen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich interessiere mich nur ein wenig dafür, wie für die Musik. Meine Leidenschaft gilt meiner Arbeit.“

Jack sah sie überrascht an. Sie wirkte nicht wie eine dieser „neuen“ Frauen, die unabhängig waren und ihren Lebensunterhalt als Verkäuferinnen oder Fabrikarbeiterinnen selbst verdienten. Dazu sah sie zu schillernd aus, zu verwöhnt, zu reich. Er wollte sie gerade fragen, womit sie ihr Geld verdiente, als sie ihn anlächelte, strahlend, aber ohne irgendwelche Versprechungen.

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Mr. Kestrel, ich möchte mir gern noch die Cosway-Miniaturen ansehen. Sie sollen außergewöhnlich hübsch sein.“

„Dann darf ich Sie vielleicht in die Grand Gallery begleiten?“, bot er ihr an.

Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich bin mit einem Freund hier. Ich sollte mich jetzt auf die Suche nach ihm machen.“

„Was fällt ihm ein, Sie allein zu lassen?“

Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln. „Ich komme sehr gut allein zurecht. Und er ist wirklich nur ein Freund, nichts weiter.“

„Ich bin erfreut, das zu hören.“

Sie seufzte. „Das sollten Sie nicht sein. Ich möchte unsere Bekanntschaft nicht weiter vertiefen, Mr. Kestrel. Ich bin zu alt dafür, mir wegen eines hübschen Gesichts den Kopf verdrehen zu lassen.“

Sie sah nicht einen Tag älter aus als fünfundzwanzig, aber Jack fand, sie hörte sich des Lebens überdrüssig an. Abgesehen davon war er zu erfahren, um sie noch weiter zu drängen. Auf die Art würde er nur das Wenige wieder verlieren, was er bereits erreicht hatte. „Dann verraten Sie mir wenigstens Ihren Namen“, bat er und nahm ihre Hand. Die Unbekannte trug lange schwarze Abendhandschuhe, die bis zu ihren Ellenbogen reichten. Die Seide fühlte sich verführerisch zart unter seinen Fingern an, und einen Moment lang glaubte er, die Hand der Frau zitterte ein wenig. Sie senkte die Lider mit den langen schwarzen Wimpern und verbarg den Ausdruck ihrer Augen.

„Ich bin Sally Bowes“, sagte sie. „Guten Abend, Mr. Kestrel.“ Lächelnd entzog sie ihm die Hand und eilte davon, den Flur hinunter zur Grand Gallery. Das Licht fing sich schimmernd auf dem pfirsichfarbenen Kleid, das die ansprechenden Rundungen darunter ahnen ließ.

Sally Bowes. Ihm war, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt, so groß war der Schock für ihn. Skrupellos, habgierig und leicht zu manipulieren … eine Frau, die einen sterbenden Mann erpresste … Jetzt wusste er, womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Sie war die Besitzerin eines Spielclubs, der die Schwäche der Männer ausnutzte, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Dennoch passte diese Neuigkeit so ganz und gar nicht zu dem spontanen Bild, das er sich von ihr während ihrer kurzen Unterhaltung gemacht hatte. Sie hatten zwar nicht lange miteinander gesprochen, trotzdem hatte sie ihn verzaubert. Normalerweise neigte er nicht zu so groben Fehleinschätzungen. Neben dem Schock empfand er plötzlich noch ein anderes, tiefer gehendes Gefühl, beinahe so etwas wie Enttäuschung.

Aus einem Impuls heraus wollte er ihr nacheilen, doch dann bemerkte er, wie sich ein Herr zu ihr gesellte und ihr seinen Arm bot, während sie ihn lächelnd ansah. Jähe Eifersucht durchzuckte Jack, schmerzhaft und völlig unerwartet. Er erkannte den Mann; Gregory, Lord Holt, war ein guter alter Freund von ihm. Er fragte sich, ob Holt wohl Miss Bowes’ nächstes Opfer sein würde.

Jack straffte die Schultern. Schon am nächsten Tag würde er Miss Bowes aufsuchen und ihr unmissverständlich klarmachen, dass sie ihre Versuche, Geld von seinem Onkel zu erpressen, unverzüglich zu unterlassen hatte. Er würde sie warnen, dass es sehr gefährlich war, wenn sie sich ihn zum Feind machte.

1. KAPITEL

„Miss Bowes?“

Die Stimme klang leise, sanft und vertraut. Sie ertönte ganz dicht neben Sallys Ohr, sodass sie schlagartig erwachte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Ihr Nacken war ein wenig steif, und etwas Kühles drückte gegen ihre Wange.

Papier.

Sie war schon wieder in ihrem Büro eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte auf dem Stapel von Rechnungen und Aufträgen auf ihrem Schreibtisch. Sally öffnete die Augen, aber nur halb. Es war fast dunkel. Die Lampe verbreitete ein warmes Licht, und hinter der Tür waren leise Musik und Stimmengewirr zu hören. Der Geruch nach Zigarrenrauch und Wein lag schwach in der Luft. Das bedeutete, dass es schon spät sein musste; das abendliche Amüsement im „Blue Parrot Club“ hatte bereits begonnen.

„Miss Bowes?“

Dieses Mal klang die Stimme deutlich weniger freundlich und zudem mehr als nur ungeduldig. Sally richtete sich auf und verzog das Gesicht, als ihre schmerzenden Muskeln gegen diese Bewegung protestierten. Sie rieb sich die Augen und schlug sie dann ganz auf. Sie erstarrte und rieb sich die Augen erneut, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

Nein, sie träumte nicht. Er war immer noch da.

Jack Kestrel stand vor ihr, die Hände auf die Schreibtischplatte gestützt und den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass sich seine und ihre Augen auf ungefähr der gleichen Höhe befanden. Aus dieser geringen Entfernung konnte Sally sich nicht gleichzeitig auf alle seine Gesichtszüge konzentrieren, aber sie hatte sie von der vergangenen Nacht her noch allzu gut in Erinnerung. Er war kein Mann, den man schnell wieder vergaß, sah er doch auffallend gut aus. Er hatte dunkelbraunes Haar, das sehr weich und vom Sommerwind ein wenig zerzaust aussah, eine gerade Nase und einen sündhaft sinnlichen Mund. Im Allgemeinen ließ Sally sich nicht von gutem Aussehen allein beeindrucken. Sie war keine naive Debütantin mehr, die sich von einem attraktiven Mann den Kopf verdrehen ließ. Jack Kestrel jedoch hatte einen atemberaubenden Charme, und sie hatte es in der vergangenen Nacht sehr genossen, sich mit ihm zu unterhalten. Sie hatte es sogar fast zu sehr genossen. Seine Gesellschaft war gefährlich verführerisch gewesen. Wie leicht es ihr gefallen wäre, seine Begleitung zu akzeptieren und dann vielleicht auch noch eine Einladung zum Essen …

Schon lange hatte sie sich nicht mehr so versucht gefühlt und dabei gewusst, dass sie es sich nicht erlauben konnte, Jack Kestrel besser kennenzulernen. Sobald er ihr seinen Namen genannt hatte, war ihr Misstrauen erwacht, denn jedes Mitglied der vornehmen Gesellschaft kannte ihn. Aus der Ahnenreihe der Dukes of Greenwood waren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert viele, viele Lebemänner und Filous hervorgegangen, und manche sagten, dass dieser Mann der Letzte seiner Art war, aus demselben Holz geschnitzt wie seine Vorfahren. Er war ein Cousin des derzeitigen Dukes und der mögliche Erbe des Herzogtums. Als junger Mann war er nach einem unerhörten Skandal, in den eine verheiratete Frau verwickelt gewesen war, ins Ausland verbannt worden. Zehn Jahre später war er zurückgekehrt und hatte es zwischenzeitlich zu einem eigenen Vermögen gebracht.

Sally verstand, wie er zu seinem Ruf gekommen war. Er hatte in der Tat eine unglaublich maskuline Ausstrahlung. Die Frauen lagen ihm scharenweise zu Füßen, aber Sally hatte nicht vor, sich ihren Reihen anzuschließen.

Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch anstarrte. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie wandte den Blick von seinem Mund, um ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war ausgesprochen unfreundlich. Ohne nachzudenken, wich sie zurück und merkte, dass ihm ihre Reaktion nicht entging. Er richtete sich auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Schreibtisch.

Dieses Mal trug er keine Abendkleidung, und Sally fand, dass man ihn in seiner jetzigen Aufmachung kaum für einen der üblichen Kunden des Blue Parrot Club halten konnte. Der Club sprach eigentlich die unverschämt reichen Mitglieder der Gesellschaft um König Edward an, die vom müßigen Leben gezeichnet waren, oder mondäne amerikanische Besucher, deren Geld und Einfluss in London mehr und mehr eine Rolle spielten. Gelegentlich wurde der Club auch von den Soldatensöhnen des alten Adels besucht, die lautstark ihren Fronturlaub feierten. Von seinem Aussehen her hätte Jack Kestrel früher auch beim Militär gewesen sein können – er hatte eine lange Narbe auf einer Wange – und machte durchaus den Eindruck, dass er sich an irgendeiner Front oder in Südafrika wohler gefühlt hatte als in einem Club in der Nähe des Strands. Er war sehr groß, breitschultrig und braungebrannt, und Sally schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Statt Abendgarderobe trug er einen langen dunkelbraunen Ledermantel über einem Anzug, der so lässig elegant wirkte, dass er nur aus der Savile Row stammen konnte. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit einer geschmeidigen Anmut, die alle Blicke auf sich zog. Als er sich jetzt zu Sally umdrehte, fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. Von Jack Kestrel ging unbestritten eine gefährlich männliche Ausstrahlung aus, seine Züge waren hart und kompromisslos.

„Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie geweckt habe“,sagte er gedehnt. „Ich vermute, in Ihrem Beruf müssen Sie zusehen, dass Sie Ihren Schlaf bekommen, wann immer Sie eine Gelegenheit dazu finden.“

Darauf konnte Sally sich keinen rechten Reim machen. Die Buchhaltung machte ihr zwar Spaß, aber sie fand sie nicht so fesselnd, dass sie sich davon vom Schlafen abhalten ließ. Sie war nur deswegen so müde, weil sie in der vergangenen Nacht noch spät in der Wallace Collection gewesen war und früh wieder hatte aufstehen müssen, um die letzten Renovierungsarbeiten am Purpursalon zu überwachen. Die Arbeiten hatten sechs Monate gedauert und sollten – wenn alles gut ging – in einer Woche abgeschlossen sein. Die Veränderungen würden sicher das Stadtgespräch in London werden, und selbst der König hatte versprochen, an der Feier zur Wiedereröffnung teilzunehmen.

„Sie sind doch Miss Bowes?“, fragte Jack Kestrel nach, als Sally immer noch nichts sagte. Jetzt hörte er sich an, als wäre er allmählich mit seiner Geduld am Ende.

„Ich … Ja, natürlich. Das sagte ich Ihnen bereits gestern Abend.“ Sally räusperte sich. Sie merkte selbst, dass sie ein wenig unsicher klang. Ganz gewiss nicht wie die energische Eigentümerin des erfolgreichsten und modernsten Clubs in ganz London. Einst, vor langer Zeit, in den eleganten Salons von Oxford war sie tatsächlich Miss Bowes gewesen, die älteste Tochter der Familie und Schwester von Miss Petronella und Miss Constance. Doch seitdem war viel geschehen.

Unter Jack Kestrels unbeirrbarem Blick fühlte sie sich jünger als ihre siebenundzwanzig Jahre, viel jünger und seltsam verwundbar. Sie setzte sich gerade hin, strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und hoffte inständig, dass die Tintenflecken, die sie an ihren Fingern entdeckte, nicht auf ihre Stirn abgefärbt hatten. Es machte sie wütend, derart überrumpelt worden zu sein. Normalerweise zog sie ein Abendkleid an, ehe der Club öffnete, aber dazu war sie nicht gekommen, weil sie eingeschlafen war und niemand sie geweckt hatte.

„Was kann ich für Sie tun, Mr. Kestrel?“ Sie schlug einen betont geschäftsmäßigen Ton an. Ihr war längst klar geworden, dass dies kein gesellschaftlicher Besuch war, gedacht als Fortsetzung ihrer Begegnung in der letzten Nacht. Wie kurz und reizvoll ihr diese Begegnung auch erschienen war – inzwischen hatte sich etwas Grundlegendes geändert. Jetzt war er zornig.

„Ich denke, Sie wissen ganz genau, weshalb ich hier bin, Miss Bowes“, erwiderte Jack knapp. „Wäre mir gestern Nacht schon bewusst gewesen, wer Sie sind, hätte ich die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle zur Sprache gebracht. Nun, ich habe zu spät reagiert. Aber Sie müssen doch bestimmt gewusst haben, dass ich Sie aufsuchen würde.“

Sally stand auf, dadurch fühlte sie sich größer und mutiger. „Ich bedauere“, erwiderte sie höflich, „aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Mr. Kestrel, oder warum Sie hier sind. Es sei denn, Sie möchten die berühmte Gastfreundschaft des Blue Parrot genießen.“

Sie hatte gehört, dass Jack Kestrel einmal tausend Pfund für Champagner ausgegeben hatte – bei einem einzigen Besuch des Casinos von Monte Carlo. Sally wünschte, er würde dasselbe im Blue Parrot tun, aber seinem feindseligen Gesichtsausdruck nach war das eher unwahrscheinlich.

Bei ihren Worten verzog Jack spöttisch den Mund. „So legendär die Gastfreundschaft des Blue Parrot auch sein mag, Miss Bowes, das ist nicht der Grund für mein Kommen“, antwortete er gedehnt.

Sally zuckte die Achseln. „Wenn Sie mich dann vielleicht aufklären könnten?“ Sie zeigte auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „So anregend Ihre Gesellschaft auch ist, Mr. Kestrel, aber ich habe keine Zeit für Ratespielchen. Wie ich gestern Nacht bereits erwähnte, ist meine Arbeit meine große Leidenschaft, und ich möchte mich ihr gern wieder zuwenden.“

Irgendein unbestimmtes Gefühl flackerte in seinen Augen auf, und Sally konnte seinen Zorn und seine Feindseligkeit jetzt deutlicher spüren, zwar eisern beherrscht, aber doch fast greifbar. Sie wünschte, die Lampen würden brennen, denn im Halbdunkel fühlte sie sich entschieden im Nachteil.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie Ihrer Tätigkeit mit großer Leidenschaft nachgehen“, gab Jack gepresst zurück. „Sie müssen darüber hinaus auch äußerst nervenstark sein, so zu tun, als hätten Sie keine Ahnung, weswegen ich hier bin.“

Sally antwortete nicht gleich. Sie wagte sich hinter dem schützenden Schreibtisch hervor, zündete ein Streichholz an und entflammte erst eine Gaslampe, dann noch eine zweite und dritte. Erfreut stellte sie fest, dass ihre Hände dabei nicht zitterten und nichts von ihrer Nervosität verrieten. Sie fühlte deutlich, wie Jack Kestrel sie beobachtete und den Blick seiner dunklen Augen nicht von ihrem Gesicht wendete. Wenn der Raum doch nur ein wenig größer wäre! Jack Kestrels körperliche Präsenz wirkte beinahe erdrückend.

Sie drehte sich um und merkte, dass er plötzlich genau hinter ihr stand. So etwas wie ein Lächeln blitzte in seinen Augen auf, aber es war kein sonderlich beruhigendes Lächeln. Im Stehen fiel ihr auf, dass sie ihm mit dem Kopf nur bis zur Schulter reichte, obwohl sie eine recht große Frau war. Sie war es nicht gewohnt, nach oben blicken zu müssen, um einem Mann in die Augen sehen zu können.

„Nun?“, fragte er sanft. „Haben Sie Ihre Meinung geändert in Bezug auf dieses wenig überzeugende Spielchen der Verstellung?“ Er betrachtete sie prüfend. „Ich muss gestehen, dass ich Sie mir etwas anders vorgestellt hatte“, fügte er langsam hinzu. Er hob die Hand und drehte ihr Gesicht dem Licht zu. „Als wir uns letzte Nacht kennengelernt haben, fand ich Ihr Aussehen ungewöhnlich, doch als ich herausfand, wer Sie sind, war ich überrascht. Ich hatte mit jemandem gerechnet, der eher im herkömmlichen Sinn hübsch ist. Immerhin werden Sie doch die ‚schöne Miss Bowes‘ genannt, nicht wahr …“

Sally schlug seine Hand fort. Trotz ihres Zorns hatte sie von seiner Berührung eine Gänsehaut bekommen. Bei seinem Blick wurde sie sich plötzlich überdeutlich ihres Körpers unter der schlichten braunen Bluse und dem Rock bewusst. Es war ein sehr seltsames Gefühl, und sie versuchte es sich zu erklären. Es war wie ein Brennen, ein Dahinschmelzen, so als würde ihr plötzlich ihre Kleidung zu eng. Kein einziger der Herren, die den Blue Parrot Club besuchten, hatte je so eine Empfindung in ihr ausgelöst, obwohl viele es durchaus versucht hatten.

„Mr. Kestrel“, sagte sie so gelassen wie möglich, „Sie sprechen in Rätseln. Schlimmer noch, Sie langweilen mich. Mein Aussehen, ob schön oder nicht, geht nur mich ganz allein etwas an. Wenn Sie mich also nicht weiter aufklären wollen, werde ich mein Personal herbeirufen müssen, damit man Sie hinausbegleitet.“

Er ließ lachend die Hand sinken. „Das würde ich gern mit ansehen! Aber ich komme mit dem größten Vergnügen zur Sache, Miss Bowes.“ Er sprach mit trügerischer Freundlichkeit. „Ich bin gekommen, um die Briefe abzuholen, die Ihnen mein törichter Cousin Bertie Basset geschrieben hat. Die Briefe, die Sie zu veröffentlichen drohen, sollte sein sterbender Vater Sie nicht ausbezahlen.“

Seine Worte ergaben für Sally keinerlei Sinn. Natürlich kannte sie Bertie Basset. Er war ein junger Adelsspross, charmant, aber nicht sonderlich mit Verstand gesegnet, der oft in den Club kam, um mit den Mädchen zu trinken und um hohe Einsätze zu spielen. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihre Schwester Connie auf seinem Schoß gesessen, während er im Grünen Zimmer Poker spielte.

Connie … natürlich …

Sally überlegte. Jack hatte die „schöne Miss Bowes“ erwähnt, aber es war ihre jüngste Schwester Connie, die man so nannte. Wenn Jack Kestrels Berührung sie nicht so verwirrt hätte, wäre ihr schon früher klar geworden, dass er sie mit Connie verwechselt haben musste. Miss Constance Bowes war in der Tat so schön, dass die Herren Sonette über ihre Augenbrauen schrieben und sich zu extravaganten Versprechungen hinreißen ließen, aus denen Connie geschickt Kapital schlug. Sally hatte ihre Schwester jedoch nie um ihr Aussehen beneidet, dazu war sie schlichtweg zu intelligent.

Jack Kestrel beobachtete die vielen Emotionen, die über ihr Gesicht huschten. „Nun“, begann er nachdenklich, „als ich die Angelegenheit das erste Mal erwähnte, hatten Sie nicht die geringste Ahnung, wovon ich redete, oder, Miss Bowes? Und dann haben Sie ganz plötzlich verstanden.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, brauste Sally auf. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so viel von sich preisgegeben hatte.

„Sie haben ein sehr ausdrucksstarkes Gesicht.“ Jack ließ sich auf der Kante ihres Schreibtischs nieder. „Sie sind also nicht Berties Geliebte. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Er wäre ein viel zu junger und unbeholfener Partner für Sie, Miss Bowes.“

„Während Sie, Mr. Kestrel“, gab Sally kühl zurück, „ohne Zweifel und wahrscheinlich zu Recht von sich behaupten, weitaus erfahrener zu sein.“

Jack bedachte sie mit einem sündhaft durchtriebenen Grinsen. Für eine Sekunde fühlte Sally sich an die vergangene Nacht erinnert, und ihre Knie drohten nachzugeben. „Selbstverständlich“, stimmte er zu. „Und bitte, nennen Sie mich Jack. Ich denke, Formalitäten sind in diesem Hause fehl am Platz.“

Das stimmte sogar, aber Sally hatte nicht vor, sich von Jack Kestrel sagen zu lassen, wie sie sich in ihrem eigenen Club verhalten sollte. „Mr. Kestrel, wir schweifen vom Thema ab. Wie Sie so scharfsinnig bemerkt haben, bin ich nicht die Geliebte Ihres Cousins. Diese Angelegenheit ist vollkommen neu für mich. Ich denke, hier liegt ein Missverständnis vor.“

Jack seufzte, und seine Gesichtszüge verhärteten sich wieder. „In Fällen wie diesen ist das meistens so, Miss Bowes. Das Missverständnis in diesem Fall besteht darin, dass mein Onkel eine große Summe Geld zahlen soll.“

Zornesröte schoss Sally in die Wangen. „Ich versuche nicht, jemanden zu erpressen!“

„Vielleicht nicht.“ Mit einer fließenden Bewegung stellte Jack sich wieder hin. „Ich glaube aber, dass Sie wissen, wer das tut.“

Sally starrte ihn an und dachte fieberhaft nach. Wenn sie richtig vermutete, hatte ihre Schwester Connie, der Liebling der Londoner, eine monumentale Torheit begangen und versucht, ein Mitglied des Hochadels zu erpressen. Leider war das gar nicht so unwahrscheinlich, denn Connie mochte zwar unglaublich hübsch sein, aber übermäßig intelligent war sie nicht. Und sie war verwöhnt. Wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, stampfte sie mit dem Fuß auf. Und wenn sie es auf Bertie abgesehen hatte und die Affäre unglücklich verlaufen war, dann war es sehr gut möglich, dass sie versuchte, sich dafür zu entschädigen. Die Folge dieses ganzen Irrsinns war, dass Jack Kestrel jetzt wütend und unnachgiebig in Sally Büro stand.

„Vielleicht ist Ihre Schwester ja die Schuldige“, meinte Jack sanft, und Sally zuckte zusammen. Konnte er so leicht ihre Gedanken lesen? „Ich bin ihr noch nie begegnet, aber ich habe von ihr gehört. Sie arbeitet auch hier, nicht wahr?“

Sally presste die Finger an die Schläfen, um die sich anbahnenden Kopfschmerzen in Schach zu halten. Sie konnte Connie nicht verraten, das wäre Treuebruch gewesen. Sie musste zuerst mit ihrer Schwester sprechen. Nur leider vertraute Connie sich ihr in letzter Zeit nie an. Sie standen sich nicht nahe – nicht mehr – seit Connies letzter, grausam gescheiterter Liebesbeziehung. Danach hatte ihre Schwester sich in sich selbst zurückgezogen und kaum noch mit Sally gesprochen. Doch nun würde Sally sie zum Reden bringen müssen.

„Bitte, überlassen Sie die Angelegenheit mir, Mr. Kestrel“, sagte sie. „Ich werde mich darum kümmern.“ Sie sah ihn an. „Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihr Onkel nicht länger belästigt werden wird.“

Jack seufzte erneut. „Ich würde Ihnen ja gern vertrauen, Miss Bowes, aber das tue ich nicht. Ich bin ja schließlich nicht von gestern.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Sie könnten ohne Weiteres an dieser Sache beteiligt sein, und es wäre sehr leichtsinnig von mir, mich einfach auf Ihr Wort zu verlassen.“ Er ließ den Blick verächtlich über sie schweifen, und Sally glühte vor Zorn und vor Gekränktheit. „Sie sollten wissen, dass mein Onkel alt und seit Jahren zunehmend gebrechlicher wird“, fügte Jack hinzu. „Erst kürzlich wurde uns mitgeteilt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Eine solche Angelegenheit wird sein Ende beschleunigt herbeiführen. Aber vielleicht ist Ihnen das gleichgültig.“

„Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihrem Cousin reden“, fuhr Sally ihn an, „und ihn davon abbringen, unüberlegte Liebesbriefe zu schreiben. Jede Affäre hat nun mal zwei Seiten!“

Jack lächelte. „Das ist allerdings richtig, Miss Bowes, und ich werde mit Bertie sprechen und ihm raten, sich künftig nicht mehr mit leichten Mädchen einzulassen, die nur auf sein Geld aus sind.“

„Sie werden beleidigend, Mr. Kestrel“, sagte Sally. Ihre Stimme bebte vor Zorn und vor Anstrengung, beherrscht zu bleiben.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Er klang nicht im Entferntesten reumütig. „Ich hasse nun mal Erpressung und Nötigung, Miss Bowes. So etwas bringt meine dunkelsten Seiten zum Vorschein.“

Sally schüttelte gereizt den Kopf. „Ich glaube nicht, dass uns das jetzt weiterbringt, Mr. Kestrel.“

„Nein, da haben Sie recht“, stimmte Jack zu. „Und ich werde nicht ruhen, bis ich meinem Onkel sagen kann, dass ich diese Briefe eigenhändig vernichtet habe. Etwas anderes würden Sie von mir doch auch nicht erwarten, oder, Miss Bowes?“

Sally hätte nichts anderes von ihm erwartet. Ein so konsequenter, energischer Mann wie Jack Kestrel gab in einer solchen Angelegenheit nicht nach. Und das wiederum stellte sie vor ein großes Problem. Wie konnte sie Connie schützen und gleichzeitig zuverlässig dafür sorgen, dass die Briefe entweder zurückgegeben oder zerstört wurden? Sie hatte Connie immer verteidigt, das war ihr zur festen Gewohnheit geworden, obwohl sie in letzter Zeit geglaubt hatte, ihre Schwester wäre inzwischen hart wie Stahl und brauchte ihren Schutz nicht mehr.

„Miss Bowes?“ Jacks Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Sie scheinen einige Schwierigkeiten zu haben, einen Entschluss zu fassen. Vielleicht hilft es Ihrer Konzentration, wenn ich Ihnen sage, dass ich die Polizei rufen lasse, sollten Sie mir die Briefe nicht aushändigen.“

Sie fuhr herum, und ihre Augen funkelten. „Das würden Sie nicht wagen!“

„O doch.“ Sein Blick wirkte zwar leicht belustigt, aber seine Stimme klang kalt. „Wie ich bereits sagte, ich mag keine Erpresser, Miss Bowes. Nur aus Rücksicht auf meinen Onkel habe ich mich nicht direkt an die Behörden gewandt.“ Seine Miene wurde noch eisiger. „Außerdem werde ich alles tun, um den Ruf des Blue Parrot zu ruinieren und Ihnen das Geschäft zu verderben. Seien Sie versichert, mein Einfluss ist weitreichend.“

Sally starrte ihn an, und auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecken des Zorns ab. Sie bezweifelte nicht, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen konnte. Er war reich und verfügte über gute Beziehungen; ein Mitglied des exklusiven, ausschweifenden Freundeskreises von König Edward und jederzeit in der Lage, die Aufmerksamkeit des wankelmütigen Monarchen in eine andere Richtung zu lenken. Momentan war der Blue Parrot Club in Mode, aber wie lange mochte es noch dauern, bis die erlauchten Gäste, die durch seine Pforten strömten, beschlossen, sich anderweitig zu vergnügen? Und sie hatte gerade einen großen Kredit bei der Bank aufgenommen, um ihr Geschäft weiter anzukurbeln. Sie war von ihren Investoren abhängig. Wie leicht konnte man sie finanziell ruinieren …

Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und schlug die Augen wieder auf. Jack Kestrel betrachtete sie mit dem gleichen rätselhaften Gesichtsausdruck, den sie schon einmal an ihm wahrgenommen hatte. Ihr Herzschlag stockte kurz und normalisierte sich dann wieder.

„Ihre Drohungen sind sehr heftig, Mr. Kestrel“, sagte sie so ruhig wie möglich. „Das alles hat nichts mit mir zu tun, und doch wollen Sie, dass ich dafür büße. Das ist nicht das Verhalten eines Gentlemans.“

Jack zuckte die Achseln. „Ich spiele das Spiel nach den Regeln, die man mir gesetzt hat, Miss Bowes. Es war Ihre Schwester, die den Einsatz erhöht hat.“

Sally presste die Hände zusammen. Sie sah keinen Sinn darin, weiter zu streiten; er würde keine Zugeständnisse machen. „Nun gut“, antwortete sie. „Wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit geben, mich um die Angelegenheit zu kümmern …“

„Eine Stunde. Ich gebe Ihnen genau eine Stunde.“

„Aber ich brauche mehr Zeit! Ich weiß nicht, wo Connie …“, entfuhr es ihr unbedacht.

„Also ist Connie die ‚schöne Miss Bowes‘?“ Jack zog die Brauen hoch. „Aber natürlich.“ Er zog einen Brief aus seiner Manteltasche und faltete ihn auseinander. „Die Unterschrift beginnt mit einem C. Das hätte mir früher auffallen müssen.“

„Wirklich, Sie hätten sich besser vorbereiten sollen, ehe Sie mit wilden Anschuldigungen um sich werfen!“, beschwerte Sally sich. „Sie sind äußerst unhöflich, Mr. Kestrel.“

Jack lachte, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder ein. „Ich bin eben direkt, Sally. Das ist einer meiner Vorzüge.“

Sein warmer Tonfall und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließen ihr Herz schneller schlagen, trotzdem konnte sie sich diese Vertraulichkeit nicht gefallen lassen. „Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich mit dem Vornamen anzusprechen, Mr. Kestrel!“, fuhr sie ihn an.

„Nein?“ Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ich räume ein, Sie scheinen doch Wert auf Formalitäten zu legen. Müssen Ihre Gäste Sie auch mit Miss Bowes anreden?“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich vermute, ein Hauch Strenge ist für einige von ihnen sogar ganz reizvoll, wenn damit noch ein Rohrstock und leichte Züchtigungen einhergehen.“

Wieder spürte Sally, wie ihr die flammende Röte in die Wangen schoss. Jack Kestrel war nicht allein mit seiner Annahme, der Blue Parrot Club wäre ein Freudenhaus der gehobenen Kategorie. Selbst Sally hatte öfter den Verdacht, dass ein paar der Mädchen eigene Wege mit ihren Gästen beschritten. In der Anfangszeit hatte sie aus Sorge um ihre Sicherheit versucht, die Mädchen davon abzuhalten, nicht nur ihre Gesellschaft, sondern auch ihre Körper zu verkaufen, aber schließlich hatte sie begriffen, dass sie nur wenig dagegen tun konnte. Daraufhin hatte sie es zur Bedingung gemacht, dass so etwas wenigstens nicht in ihrem Haus geschah. Trotzdem machte sie sich Sorgen um die Mädchen und wusste, dass diese zwar gerührt waren von ihrer Anteilnahme, sie aber doch für naiv hielten. Sally glaubte das manchmal selbst von sich. Sie lebte in einer glitzernden, aufregenden Welt, aber ihre Schwester behauptete, sie hätte die Moralvorstellungen einer viktorianischen Jungfer.

„Sie ziehen da einige falsche Schlüsse, Mr. Kestrel“, erwiderte sie kalt. „Die einzige teure Ware, die unsere Gäste hier im Haus kaufen können, ist Champagner. Ich muss schließlich an meine Lizenz denken. Ich bin die Eigentümerin des Blue Parrot, Mr. Kestrel, und das bedeutet, dass ich nicht mehr bin als eine bessere Buchhalterin.“ Wieder zeigte sie auf den Stapel Rechnungen und Aufträge auf ihrem Schreibtisch. „Wie Sie sehen können.“

Jack lachte leicht verbittert. „Ich nehme die Beteuerung Ihrer Tugendhaftigkeit zur Kenntnis, Miss Bowes.“

„Sie verstehen nicht ganz“, fauchte Sally. „Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, Mr. Kestrel, ich wollte nur etwas klarstellen.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Und Ihre Schwester? Sie arbeitet doch gewiss nicht ebenfalls hier im Büro?“

„Sie ist eine unserer Animierdamen“, erklärte Sally. „Deren Aufgabe ist es, mit den Gästen zu plaudern und sie zu ermuntern, Geld auszugeben.“

„Eine Aufgabe, auf die Ihre Schwester sich meisterhaft zu verstehen scheint, dem Brief an meinen Onkel nach zu urteilen.“

Sally knirschte insgeheim mit den Zähnen, dem hatte sie nicht viel entgegenzusetzen.

„Arbeitet Ihre Schwester heute Abend?“, wollte Jack wissen. „Ich will augenblicklich mit ihr sprechen.“ Er bewegte sich auf die Tür zu.

Sally geriet in Panik. Sie wusste, er würde von Connie vor aller Augen Antworten verlangen, und er war so selbstherrlich, dass es ihm gleichgültig war, ob er dadurch den gesamten Betrieb ihres Clubs durcheinanderbrachte. Ein öffentlicher Tumult war genau das, was sie sich nicht leisten konnte. „Warten Sie!“, rief sie und eilte ihm nach. Zu ihrer Erleichterung blieb er stehen. „Ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, ob Conie heute Abend arbeitet oder nicht. Ich sehe selbst nach.“

Sie war sich Jacks Nähe sehr bewusst, als er hinter ihr die Treppe vom Untergeschoss hinaufstieg. Einer der Kellner kam an ihnen vorbei; er balancierte ein mit leeren Tellern vollgestelltes Tablett auf seinem Arm. Der Blue Parrot Club verfügte über ein Restaurant, das mit jedem Herrenclub Schritt halten konnte; der französische Koch war so launenhaft wie viele seiner Kollegen in den großen Herrenhäusern auf dem Land. An diesem Abend jedoch schien Monsieur Claydon einigermaßen friedlich zu sein, und Sally schickte insgeheim ein Dankgebet zu Himmel. Eine Krise in der Küche war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

Jack hielt ihr die mit grünem Stoff bespannte Tür mit formvollendeter Höflichkeit auf, und Sally trat in die Eingangshalle. Dieser Bereich war wie der Eingang eines Privathauses gestaltet worden, mit einem schwarzweißen Marmorfußboden, Topfpflanzen und geschmackvollen Skulpturen. Am Haupteingang standen zwei Männer in Livree, die man auf den ersten Blick für Lakaien hätte halten können. Bei genauerem Hinsehen jedoch merkte man, dass sie die Statur von Berufsboxern hatten; ihre Mienen waren entsprechend misstrauisch. Der ältere der beiden war Sallys Geschäftsführer, Dan O’Neill, der früher tatsächlich irischer Meister im Boxen gewesen war und nun das Blue Parrot leitete. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Überwachung des Spielbetriebes, wenn der Club geöffnet war. Seine boxerischen Fähigkeiten waren dabei äußerst nützlich, denn es kam durchaus vor, dass ein paar der Gäste etwas zu tief ins Champagnerglas geschaut oder sich beim Baccara ein wenig übernommen hatten, sodass sie sanft ermuntert werden mussten, das Haus unauffällig zu verlassen.

Als sie Sally erblickten, strafften sich beide Männer unwillkürlich.

„Guten Abend, Miss Bowes“, grüßte Dan respektvoll.

„Guten Abend, Dan“, gab Sally lächelnd zurück. „Guten Abend, Alfred.“

„Miss Sally.“ Alfred trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und errötete wie ein verliebter Schuljunge.

„Weiß einer von Ihnen vielleicht, ob Miss Connie heute Abend arbeitet?“, erkundigte Sally sich.

Die beiden Männer tauschten einen Blick. „Sie ist vor einiger Zeit ausgegangen“, berichtete Alfred. „Ich habe eine Droschke für sie gerufen.“

„Sie meinte, es wäre ihr freier Abend“, ergänzte Dan.

„Wissen Sie, wohin sie wollte?“, fragte Jack Kestrel.

Wieder war Sally sich seiner Präsenz deutlich bewusst; sie konnte seine Anspannung spüren, während er die beiden Männer genau im Auge behielt.

Dan sah Sally hilfesuchend an und räusperte sich, als sie nickte. „Ich glaube, sie wollte mit Mr. Basset zu Abend essen“, gab er Auskunft.

Sally hörte, wie Jack geräuschvoll den Atem einsog. „Soso“, sagte er erfreut, „wie interessant. Vielleicht will sie sich ja nach allen Seiten absichern, für den Fall, dass es mit der Erpressung nicht klappt?“

Sally biss auf ihre Unterlippe und versuchte, die Andeutung zu überhören. „Es tut mir leid, Mr. Kestrel, aber es hat den Anschein, als müssten Sie sich noch etwas gedulden, bis Sie mit meiner Schwester sprechen können – es sei denn, Sie wissen, wohin Ihr Cousin eine Dame zum Essen ausführen würde.“

„Ich bin gern bereit zu warten“, erwiderte Jack gedehnt und sah sie an. „Solange Sie sicher sind, dass Ihre Schwester heute Nacht wieder nach Hause kommt, Miss Bowes.“

Bei dieser kaum verschleierten Anspielung auf Connies Tugendhaftigkeit errötete Sally. Sie sah, wie Dan mit vor Zorn verzerrtem Gesicht einen Schritt nach vorn tat und Jack die Schultern straffte, als bereitete er sich auf einen Kampf vor. Eilig winkte sie ihren Geschäftsführer zurück. Sie wollte kein Handgemenge, schon gar nicht eins, das Dan möglicherweise nicht für sich entscheiden würde. Jack Kestrel sah aus, als wäre er ein guter Kämpfer. Außerdem konnte sie tatsächlich nicht sicher davon ausgehen, dass Connie nach Hause kam. Schon öfter war ihre Schwester die ganze Nacht fortgeblieben, aber nach der ersten schrecklichen Szene, als Connie sie angebrüllt hatte, sie wäre schließlich nicht ihre Mutter, hatte Sally sich nicht mehr eingemischt. Es tat ihr in der Seele weh, dass sie Connie nicht mehr zu erreichen schien und diese ihre eigenen, unberechenbaren Wege ging.

„Dann möchten Sie vielleicht gern bei uns zu Abend essen, während Sie warten, Mr. Kestrel?“, bot Sally ihm an. „Auf Kosten des Hauses natürlich.“

Jack lächelte herausfordernd. „Es wäre mir ein Vergnügen, aber nur, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten, Miss Bowes.“

Sally war schockiert. Wenn er sie am vergangenen Abend darum gebeten hätte, wäre sie nicht überrascht gewesen, aber nun konnte sie sich nicht vorstellen, warum Jack Wert auf ihre Gesellschaft legen sollte. Dann jedoch erkannte sie, unbegreiflicherweise leicht enttäuscht, dass er sie wahrscheinlich nur im Auge behalten wollte, damit sie ihm nicht heimlich entwischte und Connie vorwarnte. Er vertraute ihr nicht.

Und sie war nicht gewillt, ihm nachzugeben.

„Ich esse nie mit den Gästen, Mr. Kestrel“, teilte sie ihm kalt mit.

Jack hielt ihrem Blick stand. „Tun Sie mir den Gefallen.“

Zwischen ihnen schien die Luft zu knistern.

Sally zögerte. Sie speiste niemals mit den Gästen des Blue Parrot, damit es zu keinen Missverständnissen bezüglich ihrer Rolle im Club kam. Es war Aufgabe der Animierdamen, den Gästen Gesellschaft zu leisten und sie zu unterhalten. Die Eigentümerin konnte sich bisweilen unter die Gäste mischen, aber sie blieb stets distanziert. Wenn Jack Kestrel allerdings nicht bekam, was er wollte, konnte er ihr womöglich viele Unannehmlichkeiten bereiten. Ein einziges Abendessen mit ihm war ein vergleichsweise geringer Preis, den sie bezahlen musste, während sie auf Connies Rückkehr warteten. Und dann, so hoffte sie wider alle Vernunft, konnte sie die leidige Angelegenheit vielleicht aus der Welt schaffen und die unerwartete und höchst unwillkommene Bedrohung für ihr Geschäft abwenden, die Jack Kestrel darstellte.

„Also gut“, gab sie widerstrebend nach. „Aber Sie werden mir Zeit lassen müssen, mich umzuziehen.“

Jack verneigte sich. „Es ist mir ein Vergnügen, auf Sie zu warten.“

Sally sah, wie Alfred die Brauen hochzog. Das Personal hatte noch nie erlebt, dass sie gegen ihre eigenen Regeln verstieß.

„Dan, bitte führen Sie Mr. Kestrel an meinen Tisch im blauen Speisesaal.“ Sie zögerte und betrachtete Jack prüfend. Er trug zwar keine Abendgarderobe, aber sie konnte nicht bestreiten, dass er unverschämt gut aussah. Viele Männer hätten alles gegeben für so eine Figur, und an der Eleganz seines Anzugs war nichts auszusetzen. „Wir haben hier zwar eine Kleiderordnung, Mr. Kestrel“, teilte sie ihm mit, „aber ich denke, wir können in diesem Fall eine Ausnahme machen. Dan, sorgen Sie bitte dafür, dass Mr. Kestrel alles bekommt, was er wünscht.“

Jack verneigte sich erneut. „Vielen Dank, Miss Bowes.“

„Gern geschehen.“ Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich spürte Sally, dass zwischen ihnen etwas vor sich ging, etwas Starkes, Berauschendes wie ein Schluck edlen Champagners. Ihr wurde ein wenig schwindelig. Dann lächelte er, und das atemlose Gefühl in ihrer Brust verstärkte sich. Verdammt. Sie wollte nicht an die vergangene Nacht erinnert werden, genauso wenig wie an die Tatsache, dass er den legendären Charme der Kestrels besaß. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte sich noch nie auch nur im Entferntesten zu einem der Gäste des Blue Parrot hingezogen gefühlt. Warum ihr das jetzt passierte, ausgerechnet bei Jack Kestrel, dessen Ruf gefährlich und furchteinflößend war und dessen Wort sie geschäftlich ruinieren konnte, war nicht nur zutiefst verstörend, sondern schlichtweg unmöglich.

„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen“, sagte sie und verbarg ihren inneren Aufruhr hinter der kühlen, beherrschten Maske, die sie sich für ihre Rolle als Geschäftsfrau zugelegt hatte. „Ich werde Sie nicht lange warten lassen.“

Damit drehte sie sich um und eilte davon, ehe sie zu viel von ihren Empfindungen preisgeben konnte.

2. KAPITEL

Er wollte sie.

Er wollte die unterkühlte Eigentümerin des Blue Parrot in seinen Armen und in seinem Bett, und Jack Kestrel war es gewohnt, das zu bekommen, was er haben wollte. Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, da das erpresserische Treiben ihrer Schwester zwischen ihnen stand, aber Jack war entschlossen, einen Weg zu finden, wie er Miss Sally Bowes dennoch für sich gewinnen konnte.

Er war erleichtert gewesen, nachdem er herausgefunden hatte, dass ihn seine Instinkte am vergangenen Abend doch nicht getrogen hatten. Jack hasste die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sein Urteilsvermögen in Zweifel ziehen musste. Aber was für Sünden Miss Connie Bowes auch begehen mochte, er war sich sicher, dass ihre Schwester so ehrlich war, wie sie behauptete. Sally war keine Erpresserin.

Er sah ihr nach, als sie die elegante Treppe zur zweiten Etage hinaufstieg. Sie war hochgewachsen und hielt sich sehr aufrecht, mit der unbewussten Anmut eines Menschen, der schon von Kindheit an Haltung gelernt hatte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie wohl ihr familiärer Hintergrund sein mochte. Er war lange nicht in London gewesen, zu lange, um irgendetwas über die Eigentümerin des beliebtesten Clubs der Stadt wissen zu können. Aber er war entschlossen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen.

Obwohl er wusste, dass der Angestellte hinter ihm wartete, um ihn zu Tisch zu führen, rührte Jack sich nicht, bis Sally außer Sichtweite war. Oben auf der Treppe zögerte sie und drehte sich langsam um, und ihn erfüllte ein wildes Triumphgefühl, dass sie sich seiner Beobachtung die ganze Zeit bewusst gewesen war. Ihre Blicke trafen sich, und er spürte die Wirkung am ganzen Körper, bis sie schließlich verschwand und er sich wieder auf den wartenden Angestellten besann.

„Hier entlang, wenn es recht ist, Sir“,sagte der Mann. Trotz seiner tadellosen Höflichkeit war seine Feindseligkeit zu spüren. Jack verkniff sich ein amüsiertes Lächeln. Von Anfang an hatte er gemerkt, dass Sally Bowes’ Angestellte sehr beschützerisch wirkten, was sie betraf. Sie ahnten, dass er eine Art Bedrohung darstellte, daher mochten sie ihn nicht. Er fand ihre Loyalität Sally gegenüber bemerkenswert und fragte sich, was sie wohl getan hatte, um sie sich zu verdienen.

Der Geschäftsführer führte ihn aus dem beeindruckend großzügigen Eingangsbereich in einen mit einem dicken roten Teppich ausgelegten Flur, vorbei an Türen, hinter denen all die Vergnügen warteten, die das Blue Parrot zu bieten hatte. Und all die Laster, dachte Jack. Der Rauchersalon, die Blaue Bar und der Goldene Salon, wo zweifelsohne Spieltische unter hell leuchtenden Kronleuchtern genauso aufgestellt waren wie in Monte Carlo. Hier gab es nichts so Vulgäres wie im Cabaret des „Moulin Rouge“, keine tanzenden Mädchen oder als grell geschminkte Teufel Verkleidete, die die Getränke servierten. Jack fand, dass es wahrscheinlich ein guter Entschluss von Sally gewesen war, den eher ordinären Stil von Paris nicht am Londoner Strand nachzuahmen. Das Blue Parrot bot den eleganten Komfort eines Herrenclubs und eines Landsitzes in sich vereint, aber gleichzeitig herrschte hier auch eine aufregende, schillernde Stimmung, die ihn so viel reizvoller machte als die verstaubten alten Clubs von St. James.

Der Geschäftsführer trat zurück, um ihn in den Speisesaal eintreten zu lassen, doch in dem Moment öffnete sich die Tür zum Goldenen Salon, und Jack sah das Glitzern der Kronleuchter darin und die Croupiers, die am Baccaratisch die Karten gaben. Er zögerte.

„Sir …“ Die Stimme des Geschäftsführers klang nun ein wenig beunruhigt. „Miss Bowes hat mir aufgetragen, Sie in den Speisesaal zu führen.“

Jack lächelte. Er glaubte, in dieser Nacht eine Glückssträhne zu haben. „Seien Sie unbesorgt“, beschwichtigte er. „Ich werde ein paar Runden spielen, während ich auf Miss Bowes warte.“

An einem der Baccaratische nahm er Platz, und sofort erschien ein Kellner mit einem Glas Champagner. Eine der eleganten blonden Animierdamen machte sich auch bereits auf den Weg zu ihm, aber Dan hielt sie mit einem Wort zurück. Jack sah, wie sie den Kopf zur Seite neigte und große Augen machte. Was ihr der Geschäftsführer wohl gesagt haben mochte? Mit einem letzten bedauernden Blick auf Jack zog sie sich wieder zurück.

Jack nahm seine Karten, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Sally Bowes sich wieder zu ihm gesellte. Die meisten Frauen, mit denen er in Monte Carlo, Biarritz und Paris ausgegangen war, hatten ihn immer mindestens eine Stunde warten lassen. Dieses Warten hatte sich seiner Meinung nach nie gelohnt. Spröde, mondäne Frauen der Gesellschaft langweilten ihn mittlerweile; sie schienen alle aus demselben Holz geschnitzt zu sein, die eine so oberflächlich und nichtssagend wie die andere. Er hatte kein Interesse an Affären mit diesen blasierten Geschöpfen, und den Gedanken, sich eine unschuldige Braut zu suchen, wie sein Vater es verlangte, ertrug er auch nicht. Er wusste, dass er übersättigt war; niemand konnte ihn in Versuchung führen.

Niemand interessierte ihn, außer Sally Bowes mit ihren kühlen haselnussbraunen Augen und ihrer zurückgenommenen Eleganz.

Als er sie an diesem Nachmittag gesehen hatte, war sie ihm farblos, spröde und zurückhaltend vorgekommen, also genau das Gegenteil von dem, was er sich unter einer der berüchtigten Animierdamen des Blue Parrot vorgestellt hatte. Doch da war noch die Erinnerung an die vergangene Nacht und an die faszinierend sinnliche Erscheinung in dem pfirsichfarbenen Kleid. Er hatte ihre Gesellschaft sehr genossen und sie besser kennenlernen wollen. Und der fast erschrockene Ausdruck vorhin in ihren Augen ließ ahnen, dass auch er ihr nicht gleichgültig war. Das unerwartete Knistern zwischen ihnen überraschte und faszinierte ihn. Als er dann herausgefunden hatte, dass sie sogar die Eigentümerin des Clubs war, hatte das sein Interesse noch weiter angestachelt. Das war eine Frau, die über beträchtliche Charakterstärke, Intellekt und Erfolgswillen verfügen musste; dazu strahlte sie einen Reiz aus, den er umwerfend attraktiv fand. Sie war eine Herausforderung, ein Rätsel; kühl und beherrscht, doch gleichzeitig ließ sie ein feuriges Temperament unter der Oberfläche erkennen. Er hatte fast vergessen, wie es war, sich stark zu einer Frau hingezogen zu fühlen, doch jetzt drohte ihn das Verlangen zu überwältigen. Er musste sie einfach haben.

Frauen. In seiner Jugend waren sie seine große Schwäche gewesen. Er war genauso verantwortungslos gewesen wie sein Cousin Bertie – sogar noch schlimmer, wenn man ehrlich sein wollte. Er hatte sich den unglaublichsten Exzessen hingegeben. Und dann hatte er sich verliebt, und das war die mit Abstand vernichtendste Erfahrung seines Lebens gewesen, eine, die sich niemals wiederholen durfte.

Jack schüttelte den Kopf, um diese Erinnerungen zu vertreiben, und trank einen Schluck von dem kühlen Champagner. Als er vor sechs Monaten vom Kontinent nach England zurückgekehrt war, hatte ihn sein Vater beiseitegenommen und mürrisch zu ihm gesagt: „Nachdem du jetzt selbst zu Geld gekommen bist und alles versucht hast, dich umbringen zu lassen, Junge, versuch wenigstens deinen Fehltritt wiedergutzumachen, indem du eine passende Ehe eingehst.“

Seinen Fehltritt. Bei dieser Untertreibung seines Vaters verzog Jack spöttisch die Mundwinkel. Nur Lord Robert Kestrel konnte Jacks skandalöses Durchbrennen vor zehn Jahren und den anschließenden Tod seiner verheirateten Geliebten wie einen Schulbubenstreich aussehen lassen.

Ein Jahrzehnt früher, als sich der Skandal zugetragen hatte, war das noch etwas ganz anderes gewesen. Jack, gerade einundzwanzig Jahre alt, hatte kürzlich erst seinen Abschluss in Cambridge gemacht und war voller hochgesteckter Ideale und ausgefallener Pläne gewesen, Pläne, die in sich zusammengestürzt waren, als Merle ums Leben gekommen war. Die Angelegenheit war natürlich vertuscht worden, doch in der Familie hatten sich die schrecklichsten Szenen abgespielt – sein Vater in grenzenlosem Zorn, seine Mutter gramverzehrt und entsetzt. Die Enttäuschung, die er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, hatte ihm den Rest gegeben. Den Zorn seines Vaters hätte er vermutlich ertragen können, da er wusste, dass er berechtigt war, aber die stummen Vorwürfe seiner Mutter trafen ihn bis ins Mark. Er war der einzige Sohn, aber er hatte ihre Achtung zusammen mit dem Respekt seines Vaters verloren. Seine Mutter hatte auf der Treppe von Kestrel Court gestanden und ihm nachgeblickt, als er sein Zuhause in Schande verlassen musste. Er hatte sie nie wiedergesehen; sie war gestorben, während er im Ausland war.

Jahrelang war er den Frauen gänzlich aus dem Weg gegangen. Er hatte sich zuerst in den Kampf gegen die Buren in Südafrika gestürzt und sich später der französischen Fremdenlegion in Marokko angeschlossen. Worum es bei den Kämpfen ging, war ihm eigentlich gleichgültig gewesen; er hatte es allein darauf abgesehen, auf eine Art zu sterben, die seinen Vater stolz machen konnte. Aber sein Draufgängertum wurde mit dem Leben und nicht mit dem Tod belohnt, und einen glorreichen Ruf wollte er nicht. Er trat aus der Fremdenlegion aus und stieg mit einem seiner ehemaligen Kameraden ins Fluggeschäft ein, eine kluge Entscheidung, die ihn rasch zu Wohlstand brachte. Doch noch immer, selbst nach zehn Jahren, kam es ihm nicht richtig vor, dass er reich und am Leben sein sollte, während Merle tot und begraben war. Die Beziehungen, die er seither eingegangen war, waren flüchtige, oberflächliche Affären gewesen. Sein Herz war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen, und so zog er es auch weiterhin vor.

Und nun war er Sally Bowes begegnet und wollte sie. Die Vorstellung, sie zu verführen, erregte ihn über alle Maßen. Ihm fiel ein, dass sie gesagt hatte, das Blue Parrot wäre nicht eine solche Art von Club. Vielleicht stimmte das, vielleicht auch nicht. Jack war das ziemlich gleichgültig. Er hatte nur Interesse an ihr. Ihm ging es nur darum, zu gewinnen – die Frau, das Spiel, das Geld.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den Spielkarten zu.

„Matty! Matty!“ Sally riss die Tür zu ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock auf und eilte hinein. Sie war völlig außer Atem. Das hatte weniger damit zu tun, dass sie zwei Treppen hinaufgestiegen war, als vielmehr damit, dass Jack Kestrel ihr die ganze Zeit nachgesehen hatte. Noch nie hatte sie so bewusst die Blicke eines Mannes wahrgenommen, noch war sie sich überhaupt der Präsenz eines Mannes so bewusst gewesen. Viele Männer strömten durch die Türen des Blue Parrot, reiche Männer, mächtige Männer, charismatische Männer und gelegentlich auch mal einer, der alle diese Eigenschaften in sich vereinte. Niemand hatte je eine solche Wirkung auf sie gehabt wie Jack Kestrel. Keiner war so gefährlich, direkt und gut aussehend, und keiner verfügte über solch einen kühlen Charme.

Und keiner hatte je damit gedroht, ihr Geschäft und damit auch ihr Leben zu ruinieren. Daran musste sie denken, wenn Gefühle für Jack Kestrel ihren Verstand zu umnebeln schienen.

„Da bis du ja, Matty“, stellte Sally atemlos fest, als sie ihre Zofe und einstige Kinderfrau friedlich strickend am Kamin vorfand. „Ich muss mich zum Essen umziehen. Ein Herr wartet unten auf mich. Bitte, hilf mir.“

Mrs. Matson wickelte ihr Wollknäuel geradezu qualvoll langsam auf, spießte die Stricknadeln hinein und stand mühevoll auf. „Was soll die ganze Aufregung?“, fragte sie. „Ein Herr wartet auf Sie, sagten Sie? Lassen Sie ihn doch warten!“

Sally lief zum Kleiderschrank und zog die Tür auf. Matty war schon seit ewigen Zeiten in ihrer Familie; sie hatte alle drei Bowes-Mädchen großgezogen, und als Sally wegen ihrer Heirat das Elternhaus verlassen hatte, war sie mitgekommen und ihre Zofe geworden. Sie hatte Sally durch dick und dünn, in guten wie in schlechten Zeiten begleitet. Nachdem Sally beschlossen hatte, den Club zu eröffnen, hatte sie Matty taktvoll vorgeschlagen, ob sie vielleicht lieber in den Ruhestand gehen würde, als in einem dekadenten Londoner Club zu leben. Daraufhin hatte Matty resolut erklärt, dass sie sich das um nichts in der Welt entgehen lassen wollte. Sie hatte sich ein kleines Haus in Pinner an der Strecke der neuen Metropolitan Railway gekauft, aber die meiste Zeit verbrachte sie im Club.

„Immer mit der Ruhe“, sagte sie jetzt, als Sally anfing, verschiedene Kleider von den Bügeln zu nehmen und auf das Bett zu werfen. „Was ist heute Abend bloß in Sie gefahren?“

„Nichts“, erwiderte Sally. „Alles.“ Sie wirbelte herum und ergriff Mattys Hände. „Weißt du, wo Connie hingegangen ist, Matty? Es gibt Ärger. Großen Ärger sogar. Sie hat versucht, jemanden zu erpressen …“

Die Linien um Mattys Mund wurden noch tiefer, als sie die Lippen schürzte; sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Dieses Mädchen ist durch und durch schlecht. Und das wissen Sie auch, Miss Sally, selbst wenn Sie das Gegenteil behaupten. Gott weiß, ich habe sie selbst großgezogen, und sie war ein süßes kleines Kind, aber die Sache mit John Pettifer hat sie verändert …“ Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt macht sie nichts als Ärger.“

Sally ließ ihre Hände los und begann, ihre braungemusterte Bluse aufzuknöpfen. Unbeholfen vor Eile nestelte sie an den Knöpfen herum. Im hellen Licht des Eingangsbereichs und erst recht unter Jack Kestrels abschätzenden Blicken hatte sie sich in ihrer Bürokleidung sehr unansehnlich gefühlt.

„Connie ist unglücklich“, erklärte sie und stieg aus ihrem braunen Glockenrock. „Sie hat John geliebt und ist seitdem nie wieder glücklich gewesen. Aber die Ursache liegt noch weiter zurück, Matty. Es fing an, als unser Vater starb. Es ist alles meine Schuld.“

„Reden Sie nicht so.“ Mrs. Matsons Mundwinkel bogen sich nach unten. „Ich habe es Ihnen nicht einmal, sondern schon hundertmal gesagt, Miss Sally. Sie tragen keine Schuld am Tod Ihres Vaters.“

Sally schwieg. Es stimmte, sie hatten diese Diskussion schon oft geführt, und ihr Verstand sagte ihr, dass sie wirklich nicht unmittelbar für Sir Peter Bowes’ Tod verantwortlich war. Trotzdem machte sie sich täglich neue Vorwürfe, weil sie ihn vielleicht hätte verhindern können. Vielleicht hätte sie ihren Vater retten können …

„Ich weiß nicht, was ich mit Connie machen soll“, meinte sie nach einer Weile. „Ich finde keinen Zugang mehr zu ihr.“

„Sie haben es versucht.“ Matty bückte sich ächzend, um den Rock vom Boden aufzuheben. „Sie versuchen es pausenlos. Es wird Zeit, dass Sie zur Abwechslung mal an sich selbst denken, Miss Sally, wenn ich das so sagen darf. So, und wer ist nun der Herr, mit dem Sie zu Abend essen werden?“

Sally seufzte. „Mr. Kestrel. Er ist gekommen, um sich die Briefe aushändigen zu lassen, mit denen Connie offenbar seinen Onkel erpresst.“

Mrs. Matson gab ein Geräusch von sich, das an eine Dampf ausstoßende Maschine erinnerte. „Mr. Jack Kestrel? Derjenige, der mit irgendeiner Frau durchgebrannt ist und seiner Mutter das Herz gebrochen hat?“

„Höchstwahrscheinlich.“

Wenn je ein Mann dazu geboren war, Schande über eine Frau zu bringen, dann war es Jack Kestrel.

Matty schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß noch, die Sache stand in allen Zeitungen. Seine Geliebte war verheiratet, als sie mit Mr. Kestrel durchbrannte. Ihr Ehemann nahm die Verfolgung auf. Sie wurde erschossen, und es gab einen schrecklichen Skandal.“

„Wie furchtbar“, meinte Sally und erschauerte. Sie fragte sich, welche Auswirkungen eine solche Tragödie wohl auf den jungen Jack Kestrel gehabt haben mochte.

„Alter Adel, diese Familie“, fuhr Matty fort. „Ihr Mr. Kestrel hat eine vornehme Ahnenreihe, die Hunderte von Jahren zurückreicht. Es heißt, er habe sämtliche ausschweifenden Laster seiner Vorfahren geerbt, und die Geschichte mit seiner Geliebten ist wahrscheinlich der Beweis dafür.“

„Hatten die Kestrels auch irgendwelche Tugenden?“, wollte Sally wissen.

Darüber musste Matty angestrengt nachdenken. „Viele von ihnen waren bei der Armee, also waren sie vermutlich sehr mutig. Mr. Kestrel hat sich der Fremdenlegion angeschlossen, nachdem er verbannt worden war. Ich habe gehört, man hat ihm viele Tapferkeitsmedaillen verliehen.“

„Ich glaube eher, er hat versucht, dabei den Tod zu finden“, sagte Sally. „Woher weißt du nur all diese Dinge, Matty?“

„Ich weiß alles“, gab Matty selbstzufrieden zurück. „Er ist gefährlich, Miss Sally. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht. Mit seinem Charme lockt er die Vögel von den Bäumen und die Damen in sein Bett, o ja.“

„Matty!“, rief Sally entsetzt und wurde rot. „Bei mir gelingt ihm das nicht.“

„Das wäre auch besser so“, meinte Matty. „Was Sie nach Ihrem schrecklichen Ehemann brauchen, ist ein netter junger Mann, Miss Sally, keinen Schürzenjäger. So, und wie wäre es nun mit dem goldfarbenen Abendkleid von Fortuny für heute Abend?“

„Nein, danke.“ Sally betrachtete nachdenklich die Kleider auf ihrem Bett. „Ich glaube, heute Abend nehme ich das gerade geschnittene Poiretkleid. In dem fühle ich mich mutiger.“

„Dann werden wir ein anderes Korsett wählen müssen“, erwiderte Matty missbilligend. „Ich mag diese neumodischen Unterkleider nicht. Wenn das so weitergeht, gibt es bald gar keine Korsetts mehr, und wo kommen wir dann hin? Was ist denn so schlecht an den alten, bewährten Dingen, frage ich mich?“

„Man kann in ihnen nicht atmen.“

„Ich kann nun schon seit fast siebzig Jahren ausgezeichnet atmen“, empörte sich Matty. „Es schadet nicht, sich ein wenig fester zu schnüren. Setzen Sie sich, ich frisiere jetzt Ihr Haar.“

Sally nahm gehorsam vor dem großen Spiegel Platz, und Matty löste die Nadeln aus ihrem Haar, um es gründlich zu bürsten. Es war lang und schwer, von satter kastanienbrauner Farbe mit golden schimmernden Strähnen darin. Matty schimpfte immer, es wäre eine Schande, dass Sally so strenge Frisuren wählte, weil auf die Art niemand sehen konnte, wie schön es war. Sally erinnerte sie dann stets daran, dass es nicht ihre Aufgabe war, schön auszusehen, sondern das Blue Parrot erfolgreich in Betrieb zu halten.

„Und heute Abend tragen Sie das zum Kleid passende Stirnband und die Diamantnadeln, Miss Sally“, verkündete Matty jetzt. „Keine Widerrede!“

Sally hatte gar nicht vor zu widersprechen. Jack Kestrel war, dessen war sie sich sicher, ein Kenner, was weibliche Schönheit betraf. Und obwohl sie vom Aussehen her nicht mit einigen der hübschesten Damen im Blue Parrot konkurrieren konnte – von ihrer eigenen Schwester ganz zu schweigen –, so wusste sie doch, dass sie ganz passabel aussah. Das gerade geschnittene Kleid von Poiret verlieh ihr noch zusätzlich Selbstvertrauen. Lang, seidig und schwer glitt es über ihren Kopf und umspielte ihren Körper in leuchtendem Fuchsia.

„Gar nicht so schlecht“, gab Matty widerstrebend zu. „Sie haben zweifellos genau die richtige Figur dafür, Miss Sally. Bestimmt kann Ihr junger Mann sich heute Abend kaum an Ihnen sattsehen.“

„Er ist hier, um mit mir über seinen Cousin zu sprechen, nicht, um mir den Hof zu machen“, widersprach Sally und unterdrückte das verräterische Gefühl von Aufregung bei dem Gedanken an Jack Kestrels bewundernde Blicke. „Seinen Cousin Mr. Basset meine ich, nicht den Duke of Greenwood.“

Matty hob den Kopf. „Mr. Basset, der junge Mann von Miss Connie?“

„Ja“, bestätigte Sally. „Du weißt davon? Mag Connie ihn wirklich gern?“

Matty machte ein etwas grimmiges Gesicht. „Das weiß man bei Miss Connie nie so genau, nicht wahr? Obwohl sie heute Abend, glaube ich, mit ihm ausgegangen ist. Sie hat mir gesagt, sie wolle mit ihm essen gehen.“

Sally runzelte die Stirn und griff nach ihrer fuchsiafarbenen Abendhandtasche. Albert am Eingang hatte genau das Gleiche gesagt. Nur ergab das wenig Sinn, wenn Connie wirklich versuchte, Lord Basset wegen der Indiskretion seines Sohns zu erpressen. Sie würde doch gewiss abwarten, bis die Affäre beendet war, ehe sie mit der Erpressung anfing. Nein, irgendetwas anderes ging hier vor, dessen war Sally sich sicher. Ihre kleine Schwester führte etwas im Schilde, und das gefiel Sally gar nicht.

Nicht, dass sie über ihre Zweifel mit Jack Kestrel sprechen würde. Sie aß nur mit ihm zu Abend, um die Zeit zu überbrücken, bis Connie zurückkam. Das musste sie sich immer wieder vor Augen halten, und sie durfte sich auch nicht von Jacks unbestrittenem Charme und der Anziehungskraft ablenken lassen, die er ausstrahlte. Sie hatte vor, kühl und würdevoll aufzutreten und nicht einen Augenblick lang zu vergessen, dass er in vieler Hinsicht gefährlich für sie war.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Das Poiretkleid schmiegte sich verführerisch an ihren Körper, die Diamanten funkelten in ihrem Haar. Sie straffte die Schultern. Das hier war eine geschäftliche Angelegenheit, kein Vergnügen, und daran sollte sie sich lieber halten.

Dan kam sofort auf sie zu, als sie die Eingangshalle betrat. Bei seinem Gesichtsausdruck zog sie fragend die Brauen hoch.

„Schwierigkeiten?“

„Ja.“ Dan runzelte die breite Stirn. „Mr. Kestrel ist im Goldenen Salon. Er sagte, er wolle ein paar Runden Baccara spielen.“

„Und?“ Sally lächelte angestrengt weiter, als eine lärmende Gruppe von Gästen vorbeikam und bei ihr stehen blieb, um ihr Komplimente über den exzellenten Service im Blue Parrot zu machen.

„Und jetzt ist die Spielbank bereits schon um fünftausend Pfund ärmer.“

„Um Gottes willen!“ Sally war ehrlich erschrocken. Vor Kurzem hatte Jack Kestrel damit gedroht, ihr Geschäft zu ruinieren, aber sie hätte nie gedacht, dass er das noch an diesem Abend tun würde, indem er an ihren eigenen Spieltischen die Bank sprengte.

„Es kommt noch schlimmer“, sagte Dan leise, nahm ihren Arm und führte sie den Flur entlang. „Der König ist hier.“

Wie bitte?“ Einen Moment lang wurde ihr schwindelig. „König Edward?“

„Genau der.“ Dan nickte bedrückt. „Er spielt am selben Tisch wie Mr. Kestrel. Und verliert gegen ihn wie alle anderen auch.“

„Das darf doch nicht wahr sein.“ Sally beschleunigte ihre Schritte. Dieser verdammte Jack Kestrel. Sie hatte geglaubt, die Bedrohung, die er darstellte, in Schranken halten zu können. Sie hatte sich vorgestellt, wie er harmlos bei Tisch saß und ihren Champagner trank; stattdessen schlug er den König beim Baccara und ruinierte sie nebenbei gleich mit. Matty hatte recht. Er war gefährlich. Sie hätte ihn niemals aus den Augen lassen dürfen.

„Ich würde ja nur ungern sagen, dass er betrügt“, sagte Dan mit seinem breiten irischen Akzent, „aber …“ In seinen blauen Augen stand Verwirrung. „Ich hab ihn beobachtet, und er hat entweder unverschämtes Glück, oder aber …“ Er ließ das Ende offen.

Sally blieb so diskret in der Tür stehen, dass sie Jack Kestrel am Baccaratisch beobachten konnte, ohne von ihm selbst gesehen zu werden. Er saß lässig auf seinem Stuhl zurückgelehnt, eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, die Karten hielt er locker in einer Hand. Sein Jackett hatte er abgelegt, und das blütenweiße Hemd bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen, sonnengebräunten Haut. Unwillkürlich musste Sally wieder an seine verwegenen Vorfahren denken. Seine Ausstrahlung träger Arroganz, seine perfekt geschneiderte Garderobe, die lässige Anmut, mit der er sie trug – all das erinnerte an die Spieler eines vergangenen Jahrhunderts, an die tollkühnen Draufgänger, die im London des Regency Vermögen machten und wieder verloren. In einer Zeit, die genau wie die jetzige schillernd und glamourös war und in der man dem Lockruf des Geldes leicht erlag.

„Miss Bowes?“, drängte Dan flüsternd, und Sally kehrte in die Gegenwart zurück.

„Ich denke gerade nach, was ich tun soll.“

„Dann denken Sie lieber schneller, denn inzwischen hat die Bank schon zehntausend verloren.“

Sally ließ den Blick über die anderen Spieler am Tisch schweifen. Sie wollte sich nicht drängen lassen, denn von dem, was sie als Nächstes tat, konnte ihr ganzes Unternehmen abhängen. Es stand auf Messers Schneide. Wenn Jack Kestrel weiterspielte und gewann …

Die meisten anderen Leute im Raum waren ihr bekannt. In letzter Zeit suchte der König das Blue Parrot regelmäßig auf und brachte seine Spießgesellen mit. Obwohl er gerade eine Pechsträhne hatte, schien er guter Laune zu sein. Neben seinem Ellenbogen stand ein volles Glas Champagner. Der Rauch seiner Zigarre stieg nach oben und waberte um den Kronleuchter. Unter schweren, halb gesenkten Lidern hervor verfolgte er das Spiel und strich sich von Zeit zu Zeit nachdenklich über seinen akkurat geschnittenen Bart.

„Sie haben wirklich verteufeltes Glück“, hörte Sally ihn jetzt sagen. „Glück im Spiel, Pech in der Liebe, wie? Wodurch Sie zwar reich werden, aber niemanden haben, für den Sie Ihr Geld ausgeben können!“

Seine Entourage lachte pflichtschuldig, und Sally sah den Anflug eines Lächelns auf Jack Kestrels Gesicht. Er hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, eine bereitwillige Frau zu finden, die er mit Geld überschütten konnte, denn er war ohne Zweifel der bestaussehende Mann, den sie je im Blue Parrot gesehen hatte. Auch war sie nicht die einzige Frau, die das fand. Die Mätresse des Königs, Mrs. Alice Keppler, sah geradezu königlich aus in ihrem goldfarbenen Abendkleid und mit den glitzernden Diamanten auf ihrem beeindruckenden Dekolleté, und sie betrachtete Jack mit mehr Interesse, als der König es für angebracht halten mochte. Eine blonde Frau in einem engen roten Seidenkleid und mit passendem roten Lippenstift hatte sich auf den Stuhl neben Jack drapiert, aber der schien sie gar nicht zu bemerken, denn er hielt den Blick konzentriert auf die Karten gerichtet, und seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Spiel. Ungeduldig tappte die Frau mit dem Fuß auf den Boden, weil Jack sie nicht beachtete, und schnippte die Asche von ihrer Zigarette.

„Was soll ich tun, Miss Bowes?“ Dan wartete auf ihre Anweisungen. „Soll ich ihn vielleicht hinauswerfen?“

Sally lachte. Ein verlockender Gedanke, aber sie war sich nicht sicher, ob sie Dan an diesem Abend ein so striktes Vorgehen erlauben konnte – jedenfalls nicht in Anwesenheit des Königs. „Nein. Lassen Sie mehr Champagner, Kaviar und geräucherten Lachs bringen.“

„Noch mehr?“, rief Dan entsetzt. „Gott bewahre, sie haben schon ein halbes Dutzend Flaschen gelehrt und sind erst seit einer halben Stunde hier!“

„Sie klingen wie mein altes Kindermädchen“, tadelte Sally. „Wir sind nicht hier, um auf ihre Gesundheit zu achten, sondern um dafür zu sorgen, dass sie sich gut amüsieren und wir ihnen ihr Geld abnehmen. Ich werde Mr. Kestrel erinnern, dass er mit mir eine Verabredung zum Abendessen hat.“

Jack sah auf, als Sally auf den Baccaratisch zukam. Die Frau in Rot legte ihm eine Hand auf den Arm und wollte ihm etwas sagen, doch er schüttelte ihre Hand ab, und die roten Lippen verzogen sich enttäuscht. Jacks dunkler, eindringlicher Blick ruhte auf Sallys Gesicht. Prompt fühlte sie sich etwas atemlos.

Die Augen des Königs leuchteten auf, als er sie sah. „Sally, altes Mädchen! Wie geht es Ihnen? Meiner Berechnung nach sind Sie gerade zehntausend Pfund ärmer geworden, dank dieses Burschen hier!“ Er nickte in Jacks Richtung. „Verdammt unangenehme Angewohnheit von ihm, immer die Bank zu sprengen. Ich habe ihm gesagt, er soll jetzt aufhören, denn das hier ist schließlich mein Lieblingsclub und ich möchte gern wieder eingeladen werden!“

„Ich danke Ihnen, Eure Majestät“, erwiderte Sally lächelnd.

Jack streckte sich, und das weiße Hemd straffte sich über seiner muskulösen Brust. „Hat Ihr Geschäftsführer angenommen, ich betrüge?“, fragte er gedehnt. „Normalerweise wird der Eigentümer nur dann herbeigerufen, wenn man mich hinauswerfen will.“

Sally sah ihm in die Augen. „Ganz im Gegenteil, Mr. Kestrel, ich bin hier, weil ich glaubte, wir hätten eine Verabredung zum Abendessen. Wenn Sie natürlich lieber weiter Karten spielen wollen, ist das ganz Ihre Entscheidung.“

Jack lachte auf. „Ich schlage vor, wir spielen eine Runde Bézique, Miss Bowes.“ Er hielt ihrem Blick stand. „Mein ganzer Gewinn von heute Abend gegen eine Nacht mit Ihnen.“

Sally war so schockiert, dass es ihr den Atem verschlug. Jacks Augen funkelten immer noch durchtrieben, aber dahinter verbarg sich etwas anderes, eine unbarmherzige Herausforderung. Trotz ihres Entsetzens spürte Sally, wie ihr Körper auf diese sehr maskuline Forderung reagierte.

Ein empörtes Aufraunen ertönte rund um den Tisch, dann setzte Totenstille ein. Die Augen der Frau in Rot wurden ganz schmal. Sie sah aus wie eine wütende, zum Angriff bereite Schlange. Sally glaubte ihr Gift schon zu spüren. Einige der Männer tauschten Blicke.

„Schlechter Stil, Kestrel“, sagte der König gereizt. „Miss Bowes ist für solche Spiele nicht zu haben.“

„Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät“, gab Jack sanft zurück. Sein Blick ruhte immer noch auf Sally, dunkel und geheimnisvoll, und sie erschauerte. Es war, als wären sie ganz allein im Raum. „Wenn ich etwas sehe, das ich haben will, dann mache ich mich daran, es zu bekommen“, fuhr er fort. „Durch den Einsatz wird das Spiel noch aufregender.“ Er zog eine Braue hoch. „Miss Bowes?“

„Mr. Kestrel.“ Sallys Stimme war zwar ruhig, aber schneidend. „Seine Majestät hat vollkommen recht. Ich habe Ihnen heute schon einmal gesagt, dass ich nicht diese Art von Frau bin, und das hier ist nicht diese Art von Club.“

„Alles hat seinen Preis, Miss Bowes.“ Seine Jetons klickten leise, als er sie aufeinanderstapelte.

„Ich bin unbezahlbar“, konterte Sally liebenswürdig. Der König lachte, und die Spannung ließ etwas nach. „Ihr Preis hingegen beläuft sich auf zehntausend Pfund Gewinn und ein Abendessen mit mir, falls Sie das annehmen wollen.“

„Ich würde annehmen, Kestrel“, meinte einer der Männer. „Das ist mehr, als uns anderen je angeboten worden ist.“

Jack stand auf und zog sein Jackett an. „Ich akzeptiere das Essen gern“, sagte er, „und den Rest überlasse ich dem Zufall.“

Dan war mit Champagner und Kaviar zurückgekehrt. Der König küsste Sally galant die Hand und sagte, sie wäre eine ganz besondere Frau. Sally war grenzenlos erleichtert – Jacks Glückssträhne war unterbrochen worden, wenn auch zu einem hohen Preis, und die Gunst des Königs war ihr weiterhin gewiss.

Jack legte die Hand unter ihren Ellenbogen, und gemeinsam verließen sie den Spielsalon.

„Sind Sie böse auf mich?“, fragte er leise, und sein Atem streifte ihr Haar.

„Spielt das eine Rolle?“, entgegnete Sally knapp. „Ich habe den Eindruck, als wäre die Missbilligung anderer für Sie völlig bedeutungslos.“

Er lachte, und sie sah, wie seine Augen belustigt funkelten. „Sie haben mich gut durchschaut“, stellte er fest. „Übrigens können Sie die zehntausend Pfund immer noch zurückgewinnen.“

Sally bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick. „Und Sie haben mich schlecht durchschaut, Mr. Kestrel, wenn Sie glauben, ich hätte das, was ich vorhin gesagt habe, nicht ernst gemeint.“ Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Im Moment waren sie ganz allein im Flur. „Sie wollen sich wegen Connies Verhalten an mir rächen, also erwägen Sie, die Spielbank zu sprengen und mich in den Ruin zu treiben. Das ist alles, was Sie wollen.“

„Sie irren.“ Jack hob die Hand und strich ihr leicht über die Wange. „Alles, was ich will, sind Sie, Sally Bowes. Ich habe Sie begehrt, seit ich Ihnen gestern Nacht zum ersten Mal begegnet bin.“

Plötzlich kam ihr die Luft stickig vor. Sally trat einen Schritt zurück und fühlte den glatten, kühlen Putz der Wand unter ihren Handflächen. Die Tatsache, dass sie sich in der Öffentlichkeit befanden, würde ihn nicht im Geringsten stören, das wusste sie. Wenn Jack Kestrel einer Frau vor dem König einen unsittlichen Antrag machen konnte, dann war er auch durchaus imstande, sie mitten auf dem Flur zu küssen, ohne sich darum zu scheren, wer ihnen dabei zusah. Ihr war heiß und schwindelig.

„Sie können nicht alles …“, begann sie, doch er ließ ihr keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Sanft biss er in ihre Unterlippe, und glühendes Verlangen durchzuckte sie, sodass sie ihm leise aufstöhnend ihre Lippen öffnete. Da nahm er vollständig Besitz von ihrem Mund, und ihr war, als stände ihr ganzer Körper in hellen Flammen. Etwas Derartiges hatte sie noch nie zuvor erlebt.

Sie fuhren auseinander, als ein Paar den Flur entlangkam und ihnen einen neugierigen Blick zuwarf. Sally wandte das Gesicht ab. Sie hatte keine Ahnung, welche Gefühle und Emotionen sich in ihren Zügen widerspiegelten, aber sie befürchtete, man könnte ihr ihren inneren Aufruhr nur allzu deutlich ansehen. Ihr Herz klopfte stark und schnell, und sie wusste, dass sie zitterte. Jack legte ihr die Hand unter das Kinn, wie er es schon früher in ihrem Büro getan hatte, und drehte ihr Gesicht wieder dem Licht zu. Mit dem Daumen strich er über ihre Lippen, wo er sie eben noch geküsst hatte, und ihre Lust wurde so übermächtig, dass sie beinahe laut aufgestöhnt hätte.

„Sally“, murmelte er rau, „wo können wir hingehen?“

Sie verstand, was er meinte, aber der Gedanke ließ sie wieder zu Verstand kommen. „Ich kann nicht.“ Sie runzelte leicht die Stirn. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als reagierte sie nicht auf ihn, als begehrte sie ihn nicht ebenfalls. Das hatte ja schon ihr Verhalten bewiesen. Sie versuchte, ganz ehrlich zu sein. „Das geht mir zu schnell“, erklärte sie leise. „Ich bin solche Empfindungen nicht gewohnt. Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir …“

Sie sah, wie seine angespannte Miene sich ein wenig erhellte. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich habe mich hinreißen lassen …“

„Ja.“ Sally strich glättend über ihr Kleid. Ihre Bewegungen waren ruckartig, ihre Hände zitterten immer noch. „Entschuldigen Sie mich“, flüsterte sie. „Sie müssen mich jetzt bitte entschuldigen, Mr. Kestrel.“

Er hielt sie am Handgelenk fest. „Sie haben mir ein gemeinsames Abendessen versprochen“, erinnerte er sie, und der Anflug eines Lächelns spielte um seine Mundwinkel. „Das war mein Preis. Sie können sich nicht davor drücken.“

Sally sah ihn an, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. „Das muss dann aber auch alles sein.“

Er neigte kurz den Kopf. „Natürlich.“

„Und Sie müssen mir ein paar Minuten Zeit geben.“

Er nickte. „So können Sie mit Sicherheit nicht in den Speisesaal gehen.“ Ein teils zärtliches, teils befriedigtes Lächeln brachte seine Augen zum Leuchten, und Sallys Herzschlag stockte. „Sie sehen etwas … mitgenommen aus.“

Da war es wieder, dieses überwältigende Verlangen, und sie sah, dass seine Augen vor Leidenschaft ganz dunkel wurden, als er merkte, in welchem Zustand sie sich befand. Erneut streckte er die Hand nach ihr aus, doch sie riss sich los und eilte den Flur entlang zur Damentoilette. Zum Glück war niemand dort. Sally schloss die Tür sorgfältig hinter sich ab und lehnte sich schwer atmend und mit geschlossenen Augen dagegen.

Was, um alles in der Welt, war nur in sie gefahren? Welche Entschuldigung konnte es dafür geben, dass sie vergessen hatte, was für eine Gefahr Jack Kestrel sowohl für ihre Tugend als auch für ihre Existenz darstellte? Dafür, dass sie sich von ihm hatte küssen lassen und darauf auch noch so lustvoll reagiert hatte? Sie musste verrückt gewesen sein. Sie hatte nicht einmal Champagner getrunken, ganz offenbar hatte sie nur vollkommen den Verstand verloren.

Sie musste ihn genauso begehrt haben wie er sie.

Sally schlug die Augen auf. Selbst jetzt konnte sie noch Jacks Körper an ihrem spüren, dazu diese unfassbare, fließende und nicht zu unterdrückende Wärme, die durch ihre Adern geströmt war, als er sie geküsst hatte. Sie legte die Hand an ihre Lippen. Bisher war sie selten geküsst worden – und noch nie auf diese Art. Als sie verlobt gewesen waren, hatte Jonathan, ihr späterer Ehemann, sie ein- oder zweimal geküsst; nichts weiter als respektvolle, flüchtige Küsse auf die Lippen, was Sally vor künftigen Problemen hätte warnen müssen, wäre sie damals nur etwas erfahrener gewesen. Diese Küsse waren niemals so wie der von Jack gewesen, voller Glut, Leidenschaft und Verlangen. Und genau dadurch hatte sie sich verraten. Sie hatte sich noch nie so unglaublich begehrt gefühlt, noch nie auf eine solche Art, dass ihr ganzer Körper vor sinnlicher Lust gebebt hatte.

Sie ließ sich auf den kleinen roten Plüschhocker sinken und betrachtete sich hilflos im Spiegel. Jack hatte recht, sie sah mitgenommen aus. Sie wollte so aussehen, sie wollte verführt werden. Jack war in ihr Leben gestürmt und hatte nach nur zwei kurzen Begegnungen alle ihre sorgfältig errichteten Schutzzäune eingerissen. Zum ersten Mal die körperliche Liebe mit Jack Kestrel zu erleben, der ihr das Gefühl geben würde, sinnlich, lüstern und begehrenswert zu sein … Allein bei dem Gedanken wurde ihr glühend heiß.

Seufzend begann sie, ihr Haar zu ordnen; sie korrigierte den Sitz ihres Stirnbands und steckte die lockeren Diamantnadeln fest, ehe sie ihr Kleid glatt strich. Nun sah sie wieder ordentlich aus, die tadellose Eigentümerin des Blue Parrot, gepflegt und gefasst wie immer. Nur in ihrem Gesicht hatte sich etwas verändert. Ihre Lippen waren rosig und voll von Jacks Kuss, und in ihren Augen entdeckte sie ein neues, staunendes Wissen. Ihre Bedürfnisse, ihre Empfindungen und ihre Sehnsüchte waren erwacht und forderten Erfüllung.

Sie sah auf die kleine goldene Uhr an der Wand. Noch ein paar Stunden, dann war sie Jack Kestrels gefährliche Gegenwart los. Dann konnte sie mit Connie sprechen, die Briefe einfordern, sie Jack schicken – und die Sache war erledigt. Sie brauchte ihn nie wiederzusehen. Sie konnte den Wahnsinn vergessen, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Dieser Drang, alle Regeln außer Acht zu lassen, nach denen sie so lange gelebt hatte, war zu furchteinflößend. Sie war nicht sicher, wohin das führen konnte.

Sie zwang sich, wieder gesunden Menschenverstand anzunehmen, und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu fassen. Nur noch wenige Stunden in Jacks Gesellschaft … dann war es vorbei.

3. KAPITEL

Diese Frau. Wie konnte sie nur so kühl und ungerührt aussehen, wo er sie doch erst vor zehn Minuten geküsst hatte, dass ihr Hören und Sehen verging? Wie konnte sie es wagen,so kühl auszusehen, während er brannte vor Begierde, sie endlich zu besitzen?

Jack beobachtete Sally, als sie langsam auf ihn zukam. Der Kellner hatte ihn zum besten Tisch im Speisesaal geführt; einem Tisch auf der Estrade im hinteren Teil des Saals, umgeben von grünen Palmwedeln. Irgendwo, von hier aus nicht zu sehen, spielte ein Streichquartett. Es war eine bezaubernde Szenerie, entspannt und doch äußerst stilvoll. Das Essen duftete himmlisch.

Jack jedoch hatte den Appetit auf Essen verloren und fühlte sich in keiner Weise entspannt. Alle Nervenenden in ihm schienen vor Anspannung erwartungsvoll zu vibrieren. Er sah, wie Sally lächelte und stehen blieb, um andere Gäste zu begrüßen. Sie sah hoheitsvoll aus, unberührbar und sehr, sehr verführerisch in ihrem fuchsiafarbenen Seidenkleid. Es war ihm schon aufgefallen, als sie in den Spielsalon gekommen war. Natürlich. Jeder Mann im Raum hatte sie angesehen. Das gerade geschnittene Kleid war bodenlang und betonte vollkommen ihre Figur. Jack wurde der Mund trocken, und das Atmen fiel ihm schwer, als er daran dachte, wie er ihren Körper unter der glatten Seide liebkost hatte. Verdammt, für ihn gab es nur eine einzige Art, diesen Abend zu beenden – Sally Bowes dieses aufreizende Kleidungsstück auszuziehen und mit ihr ins Bett zu gehen. Noch nie hatte er sich so voller Ungeduld nach einer Frau erlebt.

Jack stand auf, als Sally an den Tisch trat. Sie bedachte ihn mit einem wohldosierten, kühlen Lächeln, das auf ihn wie ein reines Aphrodisiakum wirkte und seinen Blutdruck in schwindelerregende Höhen trieb. Er hatte sich gerade erst wieder halbwegs unter Kontrolle nach dem Zwischenfall im Flur, seine Erregung hatte sich noch nicht ganz gelegt.

„Verzeihung, dass ich Sie habe warten lassen“, sagte Sally und hörte sich dabei an, als täte ihr das nicht im Geringsten leid.

„So lange hat es gar nicht gedauert“, antwortete Jack. Plötzlich war er fest entschlossen, sie ein wenig aus der Fassung zu bringen. „Ich hoffe, Sie haben sich wieder erholt?“

Ihre Wangen röteten sich leicht. Sie wich seinem Blick aus und faltete umständlich ihre Serviette auseinander. „Danke, es geht mir sehr gut.“

Gut so. Ihr Erröten erfüllte Jack mit Befriedigung. Sie war also doch nicht so kühl, wie sie vorgab. Er konnte ihre Anspannung deutlich spüren. Es bedurfte nicht viel, das Feuer zwischen ihnen wieder zu schüren, bis es so aufloderte wie vorhin – und noch mehr. Er hatte fest vor, genau das später am Abend zu tun, doch im Moment wollte er ganz vorsichtig vorgehen, um sie nicht zu verschrecken.

„Ich habe Ihren Club bewundert“, fuhr er fort. „Das alles gehört Ihnen?“

Ein kleines, verwirrendes Grübchen bildete sich auf ihrer Wange, als sie lächelte. „Ein Teil davon. Der Rest gehört den Investoren.“

Ihre Offenheit überraschte ihn. „Sie sind hochverschuldet?“

Sie zuckte die Achseln, und ihr Blick wurde ein wenig misstrauisch. Ob sie sich an seine frühere Drohung erinnerte, er würde ihre Geschäfte ruinieren? Dann wollte sie bestimmt keine finanzielle Verwundbarkeit zeigen.

„Das Gebäude gehört mir“, sagte sie. „Das ist das Wichtigste.“

Jack schickte den Kellner fort und füllte ihr Champagnerglas selbst nach. „Und wie sind Sie dazu gekommen? Ein recht ungewöhnlicher Besitz für eine Dame, wie mir scheint.“

„Meine Großmutter hat mir das Haus hinterlassen“, erklärte Sally. „Damals war es natürlich ein Privathaus, aber ich hatte nicht das Geld, es zu unterhalten, also baute ich es zu einem Unternehmen aus.“

Sie musste einen ausgeprägten Geschäftssinn haben, um so erfolgreich zu sein. „Glauben Sie, Ihre Großmutter hätte das gebilligt?“

Sally lachte. „Das bezweifle ich. Sie war eine sehr konservative, viktorianische Dame, Mr. Kestrel, und sie missbilligte alles an mir, von meiner liberalen Erziehung bis hin zu meinen politischen Überzeugungen.“ Sie sah ihm in die Augen. „Ich bin Mitglied der National Union of Women’s Suffrage Societies, also Sympathisantin der Suffragettenbewegung, Mr. Kestrel. Meine Schwester Petronella ist sogar militante Suffragette.“

„Natürlich!“ Jack kannte den Namen Petronella Bowes aus den Zeitungen. „Sie war eine der Frauen, die sich vor ein paar Monaten an den Zaun in der Downing Street gekettet haben.“

„Ja.“ Sally strich nachdenklich mit dem Finger über ihr Champagnerglas. „Nell unterstützt die Bewegung leidenschaftlich. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie sogar noch aktiver. Ich nehme an, damit hat sie die Lücke gefüllt, die er hinterlassen hat. Sie ist sehr radikal in ihren Ansichten.“ Sie sah ihn an. „Missbilligen Sie es, wenn eine Frau ihre eigene politische Meinung hat, Mr. Kestrel? Die meisten Männer tun das.“

Jack lächelte sie an. „Ich glaube, ich habe genug Selbstbewusstsein, um mit so etwas gut umgehen zu können, Miss Bowes.“

Sally lachte amüsiert auf. „Ja, ich denke, nur Männer, die sich von intelligenten Frauen bedroht fühlen, stehen dem missbilligend gegenüber.“

„Und deren gute Meinung ist nun wirklich nicht viel wert.“ Jack beugte sich nach vorn. „Sagen Sie, Miss Bowes, welche Eigenschaften suchen Sie denn bei einem Mann?“

Er sah, wie das Leuchten aus ihren Augen verschwand. „Trotz allem, was vorhin geschehen ist, suche ich nicht einmal nach einem Mann, Mr. Kestrel.“ Ihre Stimme klang angespannt.

Jack strich leicht über ihre Hand. „Wegen Ihrer politischen Ansichten? Aber bestimmt haben doch nicht alle Suffragetten Probleme mit dem männlichen Geschlecht?“

„Nein.“ Sie zog ihre Hand fort. Als sie ihn ansah, war ihr Blick offen und ehrlich. „Es liegt nicht an meinen politischen Überzeugungen, Mr. Kestrel. Ich war schon einmal verheiratet, und ich fürchte, dass diese Erfahrung mich nicht gerade ermutigte, Herzensangelegenheiten etwas Positives abzugewinnen.“

„Wenn das so ist, wie erklären Sie sich dann, was zwischen uns vorgefallen ist?“

Sie rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl hin und her und zuckte die Achseln. „Ach, das war … wie nennt man so etwas? Körperliche Anziehungskraft?“

„Sinneslust?“, schlug Jack vor.

„Sinneslust. Ja, wahrscheinlich.“ Wieder strich sie mit den Fingern über den Stiel ihres Champagnerglases, und dieses Mal war es Jack, der auf seinem Stuhl hin und her rutschte. „Wie ich hörte“, fuhr Sally fort, „sind Sie der Liebe auch eher abgeneigt, Mr. Kestrel.“ Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln.

Jack zog die Brauen hoch. „Ich merke, jemand hat über mich geplaudert.“ Das überraschte ihn nicht weiter. Jeder in London schien über ihn zu reden, er fragte sich nur, was genau man sich über ihn erzählte.

Sally lächelte. „Ein Mann wie Sie ist so etwas doch sicher gewohnt.“

„Ein Mann wie ich?“ Er sah sie herausfordernd an. „Wie meinen Sie das?“

Seine Direktheit schien sie nicht aus der Fassung zu bringen, aber sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. „Ein Mann, der vermögend und einflussreich ist und bei Geschäften und den Frauen Erfolg hat, nehme ich an.“

Jack lachte. „Für so einen Mann halten Sie mich?“

„Stimmt es denn nicht?“

In diesem Augenblick servierte der Kellner ihnen den Spargel auf einer silbernen Platte. Das ersparte Jack eine Antwort. Er hatte nicht vor, mit Sally Bowes über längst vergangene Affären zu reden, er interessierte sich nur für das, was vor ihnen lag. Und über seine unglückliche Liebe und seine Beziehung mit Merle sprach er niemals. Mit niemandem.

Er ertappte sich dabei, dass er Sally gern nach ihrer Ehe gefragt hätte, aber er spürte, dass es dafür noch zu früh war; sie würde ihm eine Abfuhr erteilen. Sie hielt ihn ganz bewusst auf Distanz, auch wenn er nicht beabsichtigte, diesen Zustand für den Rest des Abends beizubehalten. Er glaubte vielleicht nicht an die Liebe, aber an körperliche Anziehungskraft glaubte er unbedingt, und die würde ihre Erfüllung finden. Er beobachtete sie, wie sie eine Stange aufspießte, sie in geschmolzene Butter tauchte und mit sichtlichem Genuss verzehrte.

„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich für uns beide bestellt habe“, sagte sie, „aber ich weiß nun einmal, was aus unserer Küche am besten schmeckt.“

Jack neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Also halten Sie mich auch für einen Mann, der es einer Frau gestattet, die Führung zu übernehmen?“

Ihre Blicke trafen sich. Abwesend leckte Sally Butter von ihrem Finger, und sofort durchzuckte Jack wieder Begehren. Vielleicht sollten sie doch lieber wieder über Politik reden. Im Allgemeinen brachte dieses Thema jegliche Lust zum Erliegen, andererseits kam es ihm so vor, als könnte mit Sally Bowes jedes Gesprächsthema plötzlich unkontrollierbares Verlangen in ihm auslösen. Bis jetzt war es ihm gelungen, es im Zaum zu halten, aber es fiel ihm höllisch schwer.

„Ich bezweifle, dass Sie ein Mann sind, der gern die Führung abgibt“, antwortete sie nach einer Weile. „Die Art, wie Sie sich vorhin verhalten haben, lässt nicht unbedingt auf ein … nachgiebiges Naturell schließen.“

Jack verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Ich glaube, Sie durchschauen mich recht gut, Miss Bowes.“

„Das glaube ich auch“, gab sie gelassen zurück.

Ihre Kühle, ihre Offenheit und ihre Selbstsicherheit trieben seinen Blutdruck noch weiter in die Höhe. Plötzlich kam ihm der Speisesaal außergewöhnlich warm vor. „Und Sie wollen mich nicht fragen, was ich meinerseits über Sie denke?“, fragte er.

Wieder formte sich das Grübchen auf ihrer Wange, als sie lächelte.„Nein, wohl kaum. Wissen Sie, ich bin selbstbewusst genug und deshalb nicht auf Ihre Billigung angewiesen. Auch nicht auf Ihre Kritik.“ Ihr Tonfall änderte sich. „Die höre ich oft genug von anderen Seiten.“

Jack warf ihr einen fragenden Blick zu. „Wegen der Politik?“

„Und wegen vieler anderer Dinge.“ Sally machte eine wegwerfende Handbewegung. „Eine alleinstehende Frau, die einen Club wie diesen betreibt? Noch dazu eine Witwe?“ Sie sah ihm in die Augen. „Mr. Kestrel, Ihnen ist vielleicht nicht bekannt, dass ich bereits die Scheidung eingereicht hatte, als mein Mann plötzlich starb. Die Polizei wurde gerufen, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht ermordet hatte, um mir die Kosten und die Schande einer Scheidung zu ersparen. Skandalträchtiger kann man wohl kaum sein.“

„Nur wenn Sie ihn tatsächlich ermordet hätten“, stimmte Jack sanft zu. Ihre Enthüllungen schockierten ihn nicht – er hatte schon viel zu viel von der Welt gesehen, um sich noch von irgendetwas schockieren zu lassen –, aber er war neugierig, was für eine Art Mann ihr Gatte gewesen sein mochte. Was hatte sie sich von einem Mann gewünscht, ehe ihre Träume von der Liebe zerbrochen und durch Tod und Schande beendet worden waren? Er fand, es war kein Wunder, dass sie vorsichtiger damit war, sich hinzugeben, als die meisten anderen Frauen in der glitzernden, unmoralischen Welt der höheren Gesellschaftskreise.

Sally lachte leise. „Ich versichere Ihnen, ich habe Jonathan nicht ermordet. Nicht, dass die Idee bisweilen nicht verlockend gewesen wäre. Er starb an der Grippe. In jenem Jahr wütete sie ziemlich heftig. Ich erkrankte auch daran, aber ich überlebte.“

„Wie war er?“, wollte Jack wissen.

Ihr Lächeln erstarb, und sie senkte die Lider. „Er war schwach, lasterhaft und gab mir mit seinen schamlosen Grausamkeiten und Seitensprüngen Gründe genug für eine Scheidung“, sagte sie. Eine Sekunde lang nahm Jack einen Ausdruck trostlosester Einsamkeit in ihren Augen wahr, dann zuckte sie die Achseln und griff nach ihrem Champagnerglas. „Verzeihen Sie mir. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie ja im Ausland gewesen sind und daher nichts von meinen skandalösen Geschichten mitbekommen haben.“ Sie sah auf. „Es war seinerzeit eine echte cause célèbre, wie das wohl bei allen Scheidungen der Fall ist.“

Das konnte Jack sich gut vorstellen. Ob die Frau nun die geschädigte Partei war oder nicht – eine Scheidung ruinierte ihren Ruf und beraubte sie ihres Platzes in der anständigen Gesellschaft. Dass sie bereits die Scheidung eingereicht hatte – auch wenn der rechtzeitige Tod ihres Mannes sie vor der endgültigen Schande bewahrt hatte, diesen bitteren Weg bis zum Ende zu gehen –, hatte mit Sicherheit Sallys guten Ruf schwer beschädigt. Es war kein Wunder, dass sie für sich eine neue Existenz hier im Blue Parrot hatte aufbauen müssen, und das war ihr in großem Stil gelungen.

„Das tut mir leid“, meinte er. „Ich bedauere, dass Sie das alles ertragen mussten.“

Sie zuckte die Achseln. „Zum Glück hatte ich mein Erbe. Es hätte schlimmer kommen können. Aber Sie verstehen jetzt sicher, warum mir der Club so wichtig ist.“

Das ist eine Warnung, dachte Jack. Sie hatte seine Drohung nicht vergessen, ihr alles zu nehmen, was für sie wertvoll war. Sie traute ihm nicht. Er bezweifelte, ob sie überhaupt noch irgendjemand traute, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Vielleicht war sie genauso überrascht wie er über die Leidenschaft, die so jäh zwischen ihnen aufgeflammt war. Und er wusste immer noch nicht, ob Sally dieser Leidenschaft nachgeben würde. Erneut brachte die Herausforderung, die sie für ihn verkörperte, sein Blut in Wallung.

„Was ich Ihnen über Connie gesagt habe, entspricht der Wahrheit“, sagte sie plötzlich. Sie sah ihm in die Augen, und ihm stockte der Herzschlag angesichts der Intensität ihres Blicks. „Ich wusste nichts von ihrem Plan, Ihren Onkel zu erpressen.“

Jack nickte. „Ich weiß.“ Er war zwar Zyniker, aber er hielt seine Instinkte für verlässlich, und die hatten ihm gesagt, dass Sally Bowes ein ehrlicher Mensch war.

Er sah, wie sie erleichtert lächelte. „Ich danke Ihnen.“

Der Kellner räumte die leeren Teller ab und brachte nun Fasan mit zartem, karamellisiertem Gemüse. Eine weitere Flasche Champagner wurde geöffnet. Jack lenkte das Gespräch auf Biarritz und Monte Carlo, auf die Gesellschaft, die Kultur und die neue liberale Regierung. Auf Sallys Drängen erzählte er ein wenig von dem Luftfahrtunternehmen, das er nach seiner Rückkehr aus der Armee gegründet hatte. Er war sich sehr bewusst, dass Sally so nah bei ihm saß, er war sich ihres Lächelns, ihrer leisen, etwas rauchigen Stimme und ihrer Finger bewusst, die ab und an seinen Ärmel streiften. Die Versuchung, sich über den Tisch zu beugen und sie zu küssen, wurde allmählich überwältigend, doch er bewahrte Geduld. Bald …

Die Lichter im Saal schienen jetzt dämmeriger, und die Musik des Streichquartetts war den wohltönenden Klängen eines Pianos gewichen. Der Kellner servierte Cremetörtchen mit geraspelter Bitterschokolade und kandierten Veilchen. Die Champagnerflasche war leer.

Und Jack wartete, wog ab und plante sorgfältiger als je zuvor die Verführung.

„Hätten Sie gern noch einen Kaffee, Mr. Kestrel?“ Sally nahm den letzten Bissen von ihrem Dessert und legte ihren Löffel ab. Auf ihrer Wange war etwas Creme. „Brandy? Zigarren?“

„Nein, vielen Dank.“ Inzwischen war er voll und ganz auf Sally konzentriert und wollte sich nicht mit Alkohol oder Zigarren aufhalten. Er streckte die Hand aus und wischte ihr sanft die Creme von der Wange. Sie fühlte sich unglaublich weich an. Am liebsten hätte er ihr die Hand ganz auf die Wange gelegt, um diese Weichheit noch deutlicher zu spüren. Die Heftigkeit dieses Bedürfnisses erschreckte ihn. Sein Verlangen nach ihr ließ sich kaum noch unterdrücken. Flüchtig fragte er sich, was nur mit ihm los war. So wurde dieses Spiel normalerweise nicht gespielt.

„Sie hatten etwas Creme auf der Wange“, erklärte er ein wenig heiser.

„Ach!“ Eine Sekunde lang sah Sally hinreißend verwirrt und verwundbar aus. Dann wich sie mit einem misstrauischen Augenausdruck zurück, doch er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.

„Ich würde mir gern die Gartenanlagen von Ihnen zeigen lassen“, sagte er. „Wollen wir nach draußen gehen?“

Die Anspannung zwischen ihnen wurde fast greifbar. Sally biss sich auf die Unterlippe. „Mr. Kestrel, das wäre wirklich keine gute Idee.“

Jack fand, es war die beste Idee, die er seit langer Zeit gehabt hatte. Eine dunkle Laube finden, Sally im Arm halten und sie wieder küssen … „Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nur dann berühre, wenn Sie mir die Erlaubnis geben“, sagte er und wusste genau, dass das gelogen war.

Er sah die Unentschlossenheit in ihrem Blick und spürte ihre innere Zerrissenheit. Sie wusste ebenso gut wie er, was geschehen würde, sobald sie allein im Dunklen waren, und obwohl sie nicht abgeneigt war, so war sie doch auch misstrauisch. Er nahm ihre Hand, strich mit dem Daumen leicht über den Handrücken und merkte, dass sie etwas zitterte.

„Ich habe gehört, der Garten sei nach dem Vorbild des Moulin Rouge angelegt“, sagte er, „und dass Sie die Pläne selbst entworfen haben. Ich würde ihn wirklich gern sehen.“

Sally lachte widerstrebend, und die Spannung lockerte sich ein wenig. „Wir haben zwar keine Elefantenattrappe und auch kein falsches gotisches Schloss, aber die Anlagen sind trotzdem sehr hübsch.“

„Dann zeigen Sie sie mir …“

Er hielt den Atem an, aber nach einer Weile nickte sie. Ihre Miene war verschlossen. „Also gut.“

Sie verließen den Speisesaal und gingen den mit rotem Teppich ausgelegten Flur entlang bis zu den großen Türen, die hinaus zum Garten führten. Er beobachtete verstohlen ihre geschmeidigen Bewegungen und spürte sofort, wie sein Körper darauf reagierte. Noch nie in seinem Leben hatte er ein so machtvolles und besitzergreifendes Verlangen nach einer Frau empfunden. Wenn er mit ihr schlafen konnte, nur ein einziges Mal, so würde sich dieser Hunger gewiss legen, der seine ganze Selbstbeherrschung ins Wanken brachte. Sie waren beide erfahrene, weltoffene Menschen. Sally kannte die Regeln genauso gut wie er und würde sich der Leidenschaft bestimmt ganz ohne falsche Scham hingeben. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und unterdrückte verbissen den wahnsinnigen Impuls, sie gleich hier an Ort und Stelle zu nehmen.

Draußen im Garten führte der Pfad zwischen Rosensträuchern hindurch, die mit sanft im Sommerwind schwingenden Papierlampions geschmückt waren. Obwohl die Nacht warm war, erschauerte Sally.

„Ihnen ist kalt“, stellte Jack fest. Er zog sein Jackett aus und hängte es ihr über die Schultern.

„Nein, ich …“ Sally zog die Jacke fester um sich. Im Lichtschein der Lampions wirkten ihre Augen übergroß und dunkel. „Ich finde, wir sollten wieder hineingehen.“ Ihre Stimme klang zögernd, als spürte sie instinktiv das Ausmaß seines Verlangens. „Es war ein Fehler. Außerdem ist Connie mittlerweile vielleicht zurückgekommen und …“

„Zur Hölle mit Connie.“ Die plötzliche Erinnerung an diese Frau machte ihn zornig, und sein Tonfall war grober als beabsichtigt. Jack legte eine Hand auf Sallys Arm. „Ich möchte nicht über sie sprechen. Eigentlich möchte ich überhaupt nicht sprechen. Sally?“

Sie hob den Kopf und sah ihn fragend an, und genau das hatte er gewollt. Ihr warmer Atem streifte sein Gesicht wie eine zarte Liebkosung, und er konnte ihr Parfum wahrnehmen, das so leicht und duftend war wie die Sommerblumen, die sie umgaben.

Er senkte den Kopf und küsste sie. Als Beginn einer wohldurchdachten Verführung war das geradezu vollkommen, ein Paradebeispiel draufgängerischen Verhaltens, auf das Jack unter anderen Umständen vielleicht zu Recht stolz gewesen wäre. Was ihn jedoch vollkommen überraschte, war seine eigene Reaktion. Er hatte geglaubt, dieses Mal würde er vorbereitet und Herr der Lage sein, aber sobald seine Lippen ihre berührten, setzte sein logisches Denken aus, und er wurde fortgespült von einer Erregung und einem so übermächtigen Verlangen, dass ihm beinahe schwindelig wurde.

Sally hielt den Atem an und wurde für einen Moment ganz starr in seinen Armen, doch dann entspannte sie sich und öffnete ihm die Lippen. Er schlang die Arme noch fester um sie und versank ganz in ihrem Duft und ihrem Geschmack. Sie presste die Handflächen gegen seine Brust und erwiderte seine Küsse ohne Vorbehalte und Zurückhaltung. Sie schmeckte leicht nach Schokolade und süßer Unschuld, und das war eine so berauschende Mischung, dass Jack beinahe seine Selbstbeherrschung verloren hätte. Doch er war ein erfahrener Mann und kein Junge mehr; er hielt sich mühsam zurück und zwang sich, es langsam angehen zu lassen. Er wusste, dieses Mal musste er sie umwerben, nicht unter Druck setzen. Er musste sie ganz sanft bis zu dem Punkt bringen, an dem keiner von ihnen beiden mehr umkehren wollte.

Das Jackett rutschte ihr von den Schultern und fiel zu Boden. Als sie erschauerte, zog er sie noch dichter an sich. Das Kleid fühlte sich glatt und seidig unter seinen Händen an, aber das war es nicht, was er fühlen wollte. Er wollte sie nackt, ihre nackte Haut an seiner spüren. Er wollte den Körper unter diesem Kleid enthüllen, sie erkunden, ihr höchste Lust bereiten.

„Ich möchte mit dir schlafen“, murmelte er an ihrem Mund, und sie zuckte zusammen. Er ahnte, dass das eine ganz instinktive Reaktion war und nicht bewusst. Zitternd löste sie sich aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück.

„Jack, ich …“

„Und du willst mich ebenfalls.“ Er wusste, dass es so war, und er wollte, dass sie es selbst zugab.

„Ja“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Ja, das will ich. Aber es geht nicht, Jack. Hast du Connie vergessen? Deinen Cousin und die Tatsache, dass du noch vor drei Stunden gedroht hast, mich zu vernichten?“

Er hatte es in der Tat vergessen wie alles andere auch in der Glut ihrer Umarmung und ihrer Küsse. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er wieder daran – und beschloss, dass das alles unwichtig war. Er streckte wieder die Arme nach ihr aus, ohne ihre Frage zu beantworten, um sie mit Händen und Lippen umzustimmen. Er küsste sie, bis er merkte, dass die Kraft sie verließ und die Beine unter ihr nachzugeben drohten. Jetzt würde sie sein werden. Er wusste es. Ein unglaubliches Triumphgefühl breitete sich in ihm aus. Mit einem Schwung hob er sie auf seine Arme und ging mit ihr zum Haus zurück. Sie schmiegte den Kopf an seine Schulter, ihr Haar streifte sein Kinn.

„Die Dienstbotentreppe“, flüsterte sie. „Es darf mich keiner sehen …“

Jack erwog flüchtig, mit ihr geradewegs durch den Eingangsbereich und dann die Haupttreppe hinaufzugehen, bevor er diesen Gedanken wieder verwarf. Ihm persönlich hätte das nichts ausgemacht, aber sie hatte schließlich einen gewissen geschäftlichen Ruf zu bewahren, und das respektierte er.

An der Terrassentür ließ er sie behutsam herunter und führte sie den Gang entlang, geradewegs durch die unauffällige Tür, hinter der man nach unten in ihr Büro und die Küche gelangte und nach oben in ihr Schlafzimmer. Im Licht sah er, dass Sallys Gesicht benommen wirkte vor Leidenschaft, ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihr Atem ging stoßweise vor Verlangen. Trotzdem wollte er ihr keinen Augenblick Zeit lassen, darüber nachzudenken, was gerade geschah. Auf einem Treppenabsatz zog er sie in die Arme, drückte sie gegen das Geländer und küsste sie mit verzehrender Glut. Sie stieß einen kehligen Laut aus, und seine Erregung nahm zu. Er küsste sie, bis sie beide außer Atem waren und nach Luft rangen.

Schließlich überraschte sie ihn damit, dass sie seine Hand nahm und ihn die restlichen Stufen hinaufzog, einen weiteren Flur entlang bis in ihr Zimmer.

Jack drehte den Schlüssel im Schloss herum und drehte sich zu ihr um. Nur eine Lampe brannte, und in ihrem Schein sah Sally atemberaubend aus – ihre Brust hob und senkte sich schwer beim Atmen, ihr Haar war in Unordnung geraten, und ihre Lippen wirkten weich und geschwollen von seinen Küssen.

Er bewegte sich nicht. Wie ein echter Frauenheld hatte er vorgehabt, ihr keine Zeit zu lassen, ihre Meinung zu ändern, und sie zielstrebig zu verführen. Doch nun zögerte er plötzlich.

„Bist du sicher, dass du das wirklich willst?“, fragte er langsam.

Ihre schönen Augen weiteten sich, und einen Moment lang hatte er große Angst, sie würde sich ihm verweigern. Er hatte keine Ahnung, warum er solche Angst davor hatte, aber es war so. Und dann lächelte sie, und grenzenlose Erleichterung durchströmte ihn.

„Ja“, sagte sie. „Ich bin ganz sicher.“

Sally war sich noch nie im Leben so sicher gewesen. Sie wusste, es war töricht, vollkommen untypisch für sie und wahrscheinlich geradezu unverantwortlich, mit Jack Kestrel zu schlafen, doch das war ihr gleichgültig. Sie fühlte sich herrlich unbekümmert.

Beim Essen hatte sie Jack einiges über sich erzählt, aber nichts über ihre Gefühle – ihre Verwirrung und ihren Kummer wegen Jonathans Zurückweisung; die Angst und den Schmerz, wenn er seine Unzufriedenheit so grausam an ihr ausgelassen hatte; ihre feste Überzeugung, bieder und unattraktiv zu sein, ein Mensch, den man nicht lieben konnte, nicht nur, weil sie sich äußerlich nicht schön fand, sondern auch, weil von Haus aus mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war so behütet gewesen, als sie geheiratet hatte, war von ihrem behaglichen Elternhaus geradewegs in das ebenso komfortable Haus ihres Ehemanns gezogen. Nicht einen Schritt war sie von dem Weg abgewichen, den ihre gesellschaftliche Schicht und ihre Erziehung ihr vorgezeichnet hatten. Und dann war alles schrecklich und katastrophal schiefgegangen. Zwei entsetzliche Tragödien hatten ihr Leben erschüttert. Ihr Vater war gestorben, und ihre Ehe hatte sich als Fehler erwiesen.

Fünf Jahre lang hatte sie hart daran gearbeitet, über all das Unheil hinwegzukommen. Sie hatte akzeptiert, dass Connie die Schönheit von ihnen beiden war und sie selbst diejenige mit dem Verstand. Und dann war Jack Kestrel im Blue Parrot aufgetaucht, und sein Verlangen nach ihr war wie ein sanfter Regen gewesen, der auf ausgedörrtes Land fiel. Und deshalb hatte sie den Entschluss gefasst – auch wenn es noch so überstürzt und unbesonnen war –, dass sie nun endlich herausfinden wollte, wie körperliche Liebe wirklich war.

Allerdings hatte sie angenommen, dass Jack die Führung übernehmen würde, aber nun zögerte er, und das machte sie nervös. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging auf ihn zu.

„Du wirst mir beim Öffnen meines Kleides helfen müssen“, sagte sie. „Es tut mir leid, aber ohne meine Zofe schaffe ich das nicht allein.“

Jack lächelte, und bei diesem Lächeln wurde ihr ganz schwindelig vor Verlangen. Er drehte sie um und fing an, das Poiretkleid aufzuknöpfen. Mit den Lippen streifte er ihren Nacken und küsste jeden Zentimeter, den er entblößte. Sally spürte seine Zungenspitze auf ihrer Haut und erbebte. Leise raschelnd fiel das Kleid zu Boden, und sie stieg heraus, ehe sie die Schuhe abstreifte. Als sie in ihrem Korsett vor ihm stand, überfielen sie plötzlich die altbekannten Zweifel. Sie war hässlich und unattraktiv, Jack würde seine Meinung ändern, sich eine Ausrede einfallen lassen und fortgehen. Bei dem Gedanken begann sie zu frösteln und schlang tröstend die Arme um sich.

Jack drehte sie wieder zu sich herum, und als ihre Blicke sich trafen, stockte Sally der Herzschlag, denn er sah sie an, als wäre sie das Erlesenste, das er je gesehen hatte. Seine Hand ruhte warm auf ihrer nackten Schulter.

„Sally Bowes, du bist wunderschön.“

Ungläubig und fassungslos blieb sie ganz still stehen und starrte ihn an, während er einen Schritt auf sie zutrat und ihr Stirnband löste, sodass ihr das Haar weich über die Schultern fiel. Die Nadeln fielen lautlos auf den dicken Teppich, doch Jack achtete gar nicht darauf. Er vergrub eine Hand in ihrem Haar und zog sie an sich, um sie erneut zu küssen. Die Welt begann sich um sie zu drehen, und Sally hätte bestimmt das Gleichgewicht verloren unter diesem Ansturm von Gefühlen, doch Jack hob sie auf seine Arme und legte sie auf ihr großes, breites Bett.

„Es tut mir leid“, sagte er, „aber für so etwas habe ich jetzt keine Geduld.“

Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. Er würde jetzt doch nicht einfach aufhören? Das könnte sie nicht ertragen. Die Matratze gab nach, als er sich vom Bett erhob, und Sally setzte sich auf. Sie hörte ein leises Klicken, als Jack Mattys Schneiderschere vom Tisch nahm, und sah sie im Lampenschein funkeln. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie zu ahnen begann, was er vorhatte. Das war eine echte, große Schneiderschere, nicht irgendein harmloses Spielzeug.

„Aber … sie ist scharf!“

Er legte die Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft zurück auf das Bett. „Dann halte still“, ermahnte er sie mit einem verwegenen Grinsen. „Es tut mir leid wegen des Korsetts. Ich werde dir ein neues kaufen.“

Er setzte die Schere am oberen Rand des Korsetts zwischen ihren Brüsten an. Sally spürte das kalte Metall auf ihrer Haut und fing an, vor Nervosität, aber auch vor Verlangen zu zittern. Auf einmal konnte sie es kaum noch erwarten, das einengende Wäschestück loszuwerden, und sie wurde unruhig, doch aus Furcht blieb sie vollkommen reglos liegen.

Beim ersten Schnitt erschauerte sie. Mit ruhiger Hand schnitt Jack weiter, der Stoff gab nach. Ihre Brüste fühlten sich schwer an und sehnten sich nach seiner Berührung, aber Jack ließ sich nicht ablenken. Auf der Höhe ihres Bauchnabels hielt er einen Moment lang inne, und Sally vergrub die Hände in der Bettdecke.

„Hör jetzt bloß nicht auf!“, verlangte sie und hörte, wie er lachte. Sie betrachtete sein im Lampenschein geheimnisvoll wirkendes, konzentriertes Gesicht, das Funkeln der Schere und ihre weiße Haut, die unter den auseinanderfallenden Wäscheschichten zum Vorschein kam. Als er erneut innehielt, entfuhr ihr ein halb erstickter, halb schluchzender Laut, und sie hob die Hände, um ihre Blöße zu bedecken. Jack legte die Schere zur Seite und nahm ihre Hände fort. Dann packte er den restlichen Stoff und riss ihn durch, um den Anblick ihres Körpers endlich ganz in sich aufnehmen zu können.

Kühle Luft streifte ihre nackte Haut, die Brüste mit den empfindsamen Knospen, die sich sofort aufrichteten, und die geheime Stelle zwischen ihren Schenkeln, die sich beinahe schmerzhaft nach Erfüllung sehnte. Ungeduldig entledigte sie sich ihrer Seidenstrümpfe, bevor sie Jack ungestüm am Hemd zu sich herunterzog. Irgendetwas zerriss. Sie spürte Jacks Haut warm, fest und ein wenig rau unter ihren Handflächen und seinen Mund kühn und fordernd auf ihrem. Er liebkoste ihre Brust mit einer Hand und ließ dann seine Lippen und seine Zunge folgen, um sie noch besser zu erkunden. Sally wand sich hilflos vor Lust auf dem Bett. Schließlich warf er die Fetzen ihrer Unterwäsche zu Boden, zog seine eigene Kleidung aus und schob sich über sie.

Sally war vollkommen versunken in all diese unvertrauten, aufregenden Empfindungen und vergaß dabei ganz, dass es da noch etwas gab, was sie ihm noch nicht erzählt hatte. Er war nicht vorsichtig, weil er nicht wusste, dass er das sein musste. Er drang abrupt in sie ein, und Sally spürte den Widerstand ihres Körpers, spürte, wie Jack ihn überwand, bis er ganz tief in ihr war. Und dann, als er begriffen hatte, erstarrte er.

Es tat weh. Ziemlich weh sogar, genug jedenfalls, um sie aus dieser warmen, sinnlichen Stimmung zu reißen, in der sie geschwelgt hatte. Sie zuckte zusammen, er verlagerte leicht sein Gewicht, und auch das tat weh. Sie war ängstlich, enttäuscht und fragte sich, wie sich ihr Lustgefühl so schnell hatte auflösen können. Jack hob die Hand und strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht.

„Sally?“

Vor Scham schloss Sally die Augen. All diese wundervollen, erregenden Empfindungen waren jetzt vollständig erloschen, übrig geblieben waren nur noch Verlegenheit und äußerstes Unbehagen. Wie konnte sie noch immer so intim mit diesem Mann verbunden sein – einem eigentlich völlig fremden Mann – und nichts anderes fühlen als Scheu und Befangenheit?

„Müssen wir jetzt darüber reden?“, fragte sie kläglich.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Nein, wir müssen jetzt nicht darüber reden.“

„Gut.“ Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, weil sie vorhatte, aufzustehen und sich etwas – ganz gleich was – anzuziehen, aber er folgte ihrer Bewegung, ohne sich aus ihr zurückzuziehen. Ganz tief in ihrem Innern erwachte wieder ein Funken der Erregung, die sie noch vor Kurzem gespürt hatte. Sie erschauerte unwillkürlich.

„Jack …“

„Du wolltest nicht reden.“ Er zog sie fester an sich und drang erneut tief in sie ein. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen reagierte ihr Körper darauf. Jack stieß einen zufriedenen, kehligen Laut aus und beugte den Kopf über ihre Brüste, um sanft an den aufgerichteten Knospen zu saugen, während er sich gleichzeitig langsam und bedächtig in ihr bewegte. Allmählich spürte sie, wie sich wieder diese pulsierende Wärme in ihr ausbreitete, und sie fing an, vor Verlangen zu erbeben; ein Verlangen, das für sie eine ungekannte, köstliche und atemberaubende Offenbarung war. Er war so sehr eins mit ihr, dass das Gefühl sie überwältigte; sie schrie auf, und im selben Moment schlug die Woge der Lust über ihr zusammen. Als Jack seine eigene Erfüllung fand und kraftlos neben sie sank, blieb sie schwer atmend liegen, erfüllt von andächtigem Staunen.

Jack drehte sich um und drehte die Flamme der Lampe höher. Sein Gesicht war dunkel, seine Miene hart, und Sallys Herz setzte einen Schlag aus.

„Und jetzt“, sagte er ruhig, „werden wir reden.“

Jack stützte sich auf einen Ellenbogen und betrachtete Sally. Auf dem Boden neben dem Bett lagen die Fetzen ihres Korsetts, auf dem Nachttisch glitzerte die Schere. Sally hatte die zerwühlten Laken über sich gezogen, das Haar bedeckte wirr ihre Schultern, und ihre Haut schimmerte rosig. Ihr Blick wirkte verhangen: Jack fand, dass sie wie ein gefallener Engel aussah.

Und über alle Maßen begehrenswert. Er spürte, wie sich sein Verlangen erneut regte, und unterdrückte eisern den Wunsch, sie gleich noch einmal zu lieben. So viel also zu seinem Irrglauben, das Fieber der Leidenschaft würde abklingen, sobald er sie einmal besessen hätte. Jetzt war es nur noch höher gestiegen; jetzt, da er erfahren hatte, wie hinreißend sie war, wollte er immer mehr von ihr.

Jetzt, da er wusste, dass sie ihm ganz allein gehörte.

Eine riesige Woge tiefster, ursprünglichster Befriedigung erfasste ihn, wie er das noch nie zuvor erlebt hatte. Es war außerordentlich beunruhigend festzustellen, dass er zu so einer Empfindung fähig war. Das wies auf Gefühle hin, die er lieber nicht näher erforschen wollte.

„Also“, begann er, als er merkte, dass sie nicht geneigt war, mit dem Gespräch anzufangen, „du warst noch Jungfrau.“ Er sah sie an. Sie wich seinem Blick aus, zerknüllte das Laken zwischen ihren Fingern und wirkte gleichzeitig verführerisch und trotzig. So etwas wie Entrüstung machte sich in ihm breit. „Du bist eine verwitwete Frau, wärst beinahe geschieden worden, bist die Eigentümerin des mondänsten Clubs in London …“ Er verstummte. „Wie, zum Teufel, ist das passiert?“, vollendete er seinen Satz langsam.

Sie lächelte kläglich. „Es … es ist eben nicht passiert.“

„Nein. Das weiß ich jetzt zu schätzen.“

Sally blickte an sich herab. Inzwischen hatte sie das Laken ganz um ihren herrlichen, sinnlichen Körper gewickelt. Jack hätte ihn am liebsten wieder ausgewickelt.

„Jonathan war nicht imstande, unsere Ehe zu vollziehen“, erklärte sie nach einer Weile.

„Eindeutig nicht.“

„Er … er fand mich nicht attraktiv.“ Sie errötete verlegen. „Ich glaubte, mit mir stimmte etwas nicht.“

„Und da dachtest du, du benutzt mich, um zu beweisen, dass mit dir doch alles in Ordnung ist?“ Die Worte entfuhren ihm härter als beabsichtigt. Er sah, wie sie zusammenzuckte, und verfluchte sich insgeheim.

„Ich dachte“, verbesserte sie ihn, „es wäre etwas ganz Außergewöhnliches, dass du mich zu begehren schienst.

Er fand das überhaupt nicht außergewöhnlich. Die einzige Schwierigkeit bestand für ihn darin, ihr zu widerstehen. Ihr Ehemann war offensichtlich ein Narr gewesen. Es sei denn …

„Bevorzugte er die Gesellschaft von Männern?“

Sally schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Ich denke eher, er bevorzugte Straßenmädchen. Er sagte, bei ihnen hätte er keine Probleme, aber ich wäre …“ Sie zögerte, und ihre Stimme klang ausdruckslos. „Ich wäre zu langweilig für seinen Geschmack. Er versuchte, die Ehe zu vollziehen, aber es ging nicht. Nachdem wir es ein paar Mal erfolglos versucht hatten, kam er nie wieder in mein Schlafzimmer. Es war demütigend. Ich dachte, die Schuld läge bei mir.“

Jack wollte die Hand nach ihr ausstrecken, ließ sie dann aber wieder sinken. Er wollte ihr zu gern erneut beweisen, wie unglaublich anziehend er sie fand, aber zuerst mussten sie dieses Gespräch zu Ende führen. „Hör mir gut zu.“ Er ergriff ihre Hand, und das Laken verrutschte ein wenig. Sie wollte es wieder zurechtziehen, doch er hinderte sie daran. „Du musst mittlerweile verstanden haben, dass du eine ungewöhnlich attraktive Frau bist. Dass dein Mann kein Interesse an dir hatte, ist in keiner Weise deine Schuld.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Vielen Dank.“ Sie klang so höflich, als hätte er ihr eben eine Tasse Tee angeboten. Jack verspürte plötzlich den brennenden Wunsch, sie leidenschaftlich zu küssen.

„Und es hat nie einen anderen gegeben?“, wollte er wissen.

Sie schüttelte den Kopf.

„Warum dann ich?“, fragte Jack. „Und warum jetzt?“

Sie sah ihn mit ihren schönen braunen Augen an und zögerte.

„Sally?“, beharrte er.

„Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber … ich wollte es so.“ Sie zuckte die Achseln. „Das mag sich etwas schamlos anhören …“

„Dafür ist es nun ein wenig zu spät.“

Sie lächelte. „Ja.“ Ihr Blick wurde offen und direkt. „Ich wollte herausfinden, wie es ist.“ Plötzlich errötete sie. „Und ich wollte es mit dir herausfinden.“

„Du hättest mich vorwarnen können“, wandte Jack sanft ein. „Es wäre schöner gewesen.“ Er lächelte. „Schöner für dich.“

Sie sah befangen zur Seite. „Es war ja nicht schlecht für mich.“ Sie malte mit dem Finger Kreise auf das Laken. „Wäre es für dich ein Unterschied gewesen, wenn du Bescheid gewusst hättest? Hättest du mich dann zurückgewiesen?“

Jack dachte nach. Er musste an das unstillbare Verlangen denken, das er für sie empfunden hatte, dieses Verlangen, das er bereits von Neuem verspürte. Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. Er bekam einen Zipfel des Bettlakens zu fassen. „Aber ich bin ja auch schließlich ein Draufgänger.“

Ihre Augen weiteten sich erstaunt. „Ich dachte …“ Sie musste sich räuspern. „Ich dachte, du würdest jetzt gehen?“

Er lachte und zog so plötzlich das Laken weg, dass sie bis zur Taille nackt vor ihm lag. „Wie viel du noch lernen musst, mein Liebling.“

4. KAPITEL

Sally wachte auf, als die Morgensonne sanft in ihr Gesicht schien. Ganz langsam schlug sie die Augen auf. Sie ahnte, dass es ziemlich früh sein musste, denn das Tageslicht hatte noch nicht seine volle Kraft. Draußen auf der Straße hörte sie das Rumpeln der Kutschenräder und die Stimmen der Händler, die ihre Stände aufbauten, aber daneben waren auch das Zwitschern der Vögel und das Plätschern des Brunnens im Garten zu vernehmen. Friedliche Geräusche.

Sie gähnte, streckte sich und tastete mit der Hand neben sich. Das Bett war leer. Irgendwie hatte sie damit gerechnet. Jack war gegangen, während sie geschlafen hatte.

In dieser langen, heißen Nacht hatte er sie noch zweimal geliebt. Er hatte sie Dinge gelehrt, von denen sie nie zu träumen gewagt hatte; sie an Orte geführt, von deren Existenz sie nie gewusst hatte, und ihr etwas über sich selbst und ihre Reaktionen beigebracht, das sie überraschte und überwältigte. Mit großer Zärtlichkeit hatte er sie in den Armen gehalten, aber trotz ihrer Unerfahrenheit hatte sie das nicht mit Liebe verwechselt. Sie wusste, dass er sie nicht liebte. In ihm steckte etwas – dessen war sie sich schon jetzt nur zu deutlich bewusst –, das sie nicht erreichen konnte; irgendetwas Dunkles, das er fest in sich verschlossen hielt.

Auf dem Nachttisch hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen. „Dinner heute Abend um acht.“ Die selbstbewusste Handschrift auf dem weißen Papier verriet, dass er nicht einen Moment lang die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, sie könnte ablehnen. Sally musste unwillkürlich lächeln. Also war es noch nicht vorbei. Ihr wurde heiß bei dem Gedanken.

Seufzend setzte sie sich auf, griff nach ihrem Morgenmantel und schlüpfte in die zierlichen, mit Schwanendaunen gefütterten Pantöffelchen, eine der wenigen Frivolitäten, die sie sich leistete. Beim Anblick des zerknitterten fuchsiafarbenen Kleides auf dem Boden runzelte sie die Stirn, doch als sie das zerschnittene Korsett sah, wurde sie rot. Von nun an würde sie Mattys Schneiderschere wohl immer mit ganz anderen Augen sehen.

Während sie ihr Zimmer verließ und sich auf den Weg zur Treppe machte, dachte Sally an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Ihr ganzer Körper schien sich anders anzufühlen, weich, schwer, gesättigt. Da war kein schlechtes Gewissen, sie war vielmehr erstaunt über sich selbst. Erstaunt und erfreut … Doch hinter dieser Freude verbarg sich auch etwas Angst. Sie hatte Angst, sich letzte Nacht vielleicht in Jack Kestrel verliebt zu haben. Alles war so schnell gegangen. Wenn sie die Tür auch nur einen Spalt öffnete und ihren Gefühlen Zutritt gewährte, so befürchtete sie, würde die Liebe sie überwältigen. Und das wiederum würde Jack nicht wollen.

In der vergangenen Nacht hatte sie Lust nicht mit Liebe verwechselt. Sie mochte zwar unerfahren sein – zugegeben, mittlerweile nicht mehr ganz so unerfahren –, aber sie war kein leicht zu beeindruckendes junges Mädchen mehr. Sie wusste, dass Jack sie ebenso leidenschaftlich begehrt hatte wie sie ihn, aber gleichzeitig war ihr klar, dass sie für ihn nur eine Affäre war. Trotzdem konnte sie sich nicht helfen, sie verspürte bereits sämtliche Alarmzeichen – das Herzklopfen bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, diese seltsame Atemlosigkeit, die nicht nur mit dem körperlichen Liebesakt zu tun hatte, und die reine Freude an seiner Gesellschaft. Sie musste sehr vorsichtig und vernünftig sein, denn Jack wollte ihre Liebe mit Sicherheit nicht, und sie wollte nicht, dass er ihr das Herz brach …

Gähnend stieg sie die Treppe hinunter in den Eingangsbereich. Sie liebte die frühen Morgenstunden, wenn es ganz still im Haus war und sie das Gefühl hatte, es gehörte nur ihr allein. An diesem Morgen schienen ihre Sinne geschärfter als sonst; sie nahm den schweren Lavendel- und Bienenwachsduft der Möbelpolitur war, sie sah, wie das frühe Sonnenlicht die warmen Holzfarben zum Leuchten brachte, und hörte das Rollen der Kutschen draußen auf der Straße. Der Strand schien niemals zu schlafen. Selbst um diese Uhrzeit waren schon das Rumpeln der Räder und laute Stimmen zu vernehmen. Aber hier im Haus gab es kein anderes Geräusch als das Plätschern des kleinen Wasserfalls im Atrium, der zwischen Palmenwedeln und kühlen Marmorstatuen glitzerte.

Auf der Fußmatte vor der Tür lag ein Brief. Er musste irgendwann letzte Nacht von einem Boten zugestellt worden sein. Sally erkannte die Handschrift ihrer Schwester Petronella auf dem Umschlag. Sie hob ihn auf und setzte sich auf die Treppe, um den Brief zu lesen.

Bitte, liebe Sally, bitte, bitte hilf mir! Clarrie und Anne sind im Holloway Gefängnis, weil sie sich geweigert haben, ihre Geldstrafen zu zahlen, und jetzt sind ihre Familien völlig mittellos und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Ich brauche Geld für Lebensmittel, Unterkunft und Medizin. Meine eigenen Kleinen sind krank und haben Fieber. Wenn Du mir zweihundert Pfund leihen könntest …

Sallys Wohlbefinden löste sich schlagartig auf, und sie las den Brief langsam ein zweites Mal. Zweihundert Pfund … Der Briefbogen glitt ihr aus den Fingern. Zweihundert Pfund waren ein Vermögen, davon konnte man ein Haus kaufen oder problemlos eine ganze Familie ein Jahr lang unterhalten. Sie wusste jedoch, wie sündhaft teuer Medizin war und dass sich ein Fieber in den überfüllten Mietshäusern rasend schnell wie Feuer ausbreiten und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen konnte. Ihr war auch klar, dass Nell sie nicht um Geld bitten würde, wenn sie nicht vollkommen verzweifelt war. Genau wie Sally war auch Nell zu stolz, Almosen anzunehmen; sie war fest entschlossen, selbst Geld zu verdienen.

Sally lehnte den Kopf an das Treppengeländer und schloss die Augen. Sie hatte keine zweihundert Pfund. Bei der Renovierung des Blue Parrot hatte sie ihr ganzes Vermögen eingesetzt und sich sogar verschuldet. Trotzdem hatte sie sich immer um Nell und Connie gekümmert und ihnen zu helfen versucht, so gut sie nur konnte. Das war ein Teil des Abkommens, das sie nach dem Tod ihres Vaters mit sich selbst geschlossen hatte. Sie dachte an Nells Kampf um ihr tägliches Brot und an die Kinder anderer Frauen, wenn die Männer tot waren oder sie verlassen hatten. Ihre Kehle schnürte sich zu vor Mitleid und Kummer.

Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn Du mir nicht helfen kannst, hatte Nell geschrieben. Ich muss selbst eine Geldstrafe wegen Landfriedensbruchs zahlen. Manchmal denke ich, es ist das alles nicht wert, und doch kann ich dem Prinzip der Suffragettenbewegung und des Frauenwahlrechts nicht abschwören. Wenn ich mich zwischen den Suffragetten und der Tatsache entscheiden soll, dass Lucy und George Hunger leiden müssen, dann weiß ich mir keinen Rat. Bitte hilf mir, Sally. Du bist meine einzige Hoffnung.

Sally seufzte. Sie unterstützte die Frauenbewegung nicht durch militante Aktionen wie Nell, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zwar für Politik interessierte, aber so wenig tat, um ihrer Schwester zu helfen. Und jetzt litten und starben womöglich Kinder, weil kein Geld für Medizin da war. Sally konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihnen etwas zustieß.

Sie hob den Brief vom Boden auf und ging wieder nach oben. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das nötige Geld auftreiben konnte. Von der Bank konnte sie sich nichts mehr leihen, es sei denn, sie nahm eine Hypothek auf das Haus auf, und das war ihr zutiefst zuwider. Es gab ein paar Leute, die sie eventuell ansprechen konnte – Gregory Holt zum Beispiel, einen der Investoren des Clubs und einen alten Freund der Familie. Er hatte ihr stets seine Schulter zum Ausweinen angeboten, aber Sally wusste, dass er mehr als nur Freundschaft von ihr erhoffte, und wollte nicht in seiner Schuld stehen. Jack konnte sie nicht fragen. Schließlich kannte sie ihn kaum, und das würde ihrer Beziehung ein ganz anderes Gewicht verleihen. Sie war fest entschlossen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

Im Vorbeigehen klopfte sie an Connies Tür, aber niemand antwortete. Sie blieb stehen, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinein. Das Bett war unberührt. Erneut seufzend ging sie zurück in ihr eigenes Zimmer und läutete nach der Zofe, die ihr den Tee servieren sollte. Plötzlich schien der Tag nicht mehr so hell und vielversprechend. Ihr war klar, sie musste eine Lösung für Nells Probleme finden, und zwar schnell. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

„Und wie findest du es?“, fragte Jack. Er beobachtete Sallys Gesicht und wartete auf ihre Reaktion. Sie hatten im vornehmen Restaurant der Franco-British-Exhibition zu Abend gegessen, der großen internationalen Ausstellung in White City, und nun schwebten sie in der Gondel eines Riesenrads gut sechzig Meter über der Erde. Unter ihnen breiteten sich die weißen Stuckgebäude der Exhibition aus wie eine verwunschene, im Mondschein glitzernde Welt. Der Wasserfall wurde von tausend bunten Laternen illuminiert, deren Licht sich in allen Regenbogenfarben auf dem Wasser des kleinen Sees spiegelte. Sally seufzte selig auf, und Jack erkannte überrascht, wie sehr es ihm gefiel, sie glücklich zu sehen.

„Es ist sehr, sehr schön.“ Sie drehte sich lächelnd zu ihm um. „Und völlig verrückt von dir, so viel Geld zu bezahlen, nur damit wir die Gondel für uns allein haben.“

Jack zuckte die Achseln. „Ich wollte diese Erfahrung eben nur mit dir allein machen.“

Sally drehte sich wieder nach vorn, stützte die Ellenbogen auf den Gondelrand und sah auf die Lichter der Hauptstadt. „Es heißt, bei klarem Wetter könne man bis Windsor sehen“, sagte sie. „Wir waren am Tag der Eröffnung hier. Es war ein fürchterliches Gedränge. Ich hatte meine Schwester Nell und ihre Kinder mitgenommen.“ Sie lachte. „Connie weigerte sich mitzukommen; sie sagte, es wäre zwar der letzte Schrei, sich hier sehen zu lassen, aber für sie wären zu viele gewöhnliche Menschen auf der Ausstellung. Ihr ist einiges entgangen, wir hatten sehr viel Spaß.“

Jack wunderte sich nicht über diesen Einblick in Connie Bowes’ Charakter. Je mehr er über sie erfuhr, desto unterschiedlicher kamen ihm die beiden Schwestern vor. Er hatte jemanden den ganzen Tag nach Connie und seinem Cousin Bertie Ausschau halten lassen, nachdem Sally ihm am Morgen eine Nachricht gesendet hatte, dass Connie in der Nacht nicht nach Hause gekommen wäre. Er wusste nicht genau, wer von den beiden ihn gereizter machte – Bertie, der seiner Familie so großen Kummer machte zu einer Zeit, in der sein Vater schwer erkrankt war, oder Connie, die ohne Zweifel hoffte, den Hauptgewinn zu ziehen.

Alles in allem war es ein unbefriedigender Tag gewesen. Jack war es nicht gewohnt, bei geschäftlichen Treffen mit den Gedanken anderswo zu sein. Grund dafür war die Frau, die jetzt neben ihm stand und die Aussicht bewunderte. Den ganzen Tag lang hatte seine Konzentrationsfähigkeit sehr zu wünschen übrig gelassen. Er hatte jede Menge Arbeit, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, musste viele dringende Entscheidungen fällen und hatte einen übervollen Terminkalender. Er jedoch hatte lieber mit Sally Bowes die Ausstellung besuchen wollen, anstatt an diesem Abend zu dem eigentlich vorgesehenen Geschäftsessen zu gehen. Langsam zweifelte er an seinem Verstand.

Es hatte ihn vollkommen aufgewühlt, als er am Morgen aufgewacht war und gemerkt hatte, wie sehr es ihm widerstrebte, Sallys Bett zu verlassen. Das Bedürfnis, bei ihr zu bleiben, war so überwältigend gewesen, dass es ihn erschreckt hatte. Noch nie hatte er länger als unbedingt nötig bei einer Frau liegen wollen. Aber Sally hatte sich weich und warm an ihn geschmiegt, wohlig erschöpft von ihrem leidenschaftlichen Liebesspiel. Er hatte sich dabei ertappt, sie so fest im Arm zu halten, als wollte er sie nie wieder gehen lassen.

Irgendwann hatte er dann doch die Kraft aufgebracht zu gehen, doch das war ganz und gar vergeblich gewesen, denn er hatte ohnehin den ganzen Tag über nur an sie gedacht. Er lächelte leicht vor sich hin. Da hatte er geglaubt, sein Verlangen würde gestillt sein, wenn er nur einmal mit ihr schlief – und stattdessen war seine Sehnsucht nach ihr nun größer als zuvor.

Genauso verstörend wie seine ungezügelte Lust war sein schlechtes Gewissen, eine Unschuldige zu verführen. Jack hielt sich stets an die Spielregeln, und Jungfrauen zu erobern war nicht sein Stil. Er wusste, Sally würde sagen, sie wäre im selben Maß Verführerin und Verführte, dass seine Skrupel unnötig wären und sie gut auf sich selbst aufpassen könnte. Trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, dass das, was er getan hatte, falsch gewesen war. Vielleicht war er doch altmodischer, als er geglaubt hatte, denn obwohl er sie erst seit drei Tagen kannte und eine tief verwurzelte Abneigung gegen die Ehe hatte, wollte er das Richtige tun. Sein Impuls, Sally einen Heiratsantrag zu machen, war sehr stark, und er sagte sich, dass das nichts mit seiner Freude an ihrer Gegenwart zu tun hatte, sondern einfach, weil man ihn zu einem Gentleman erzogen hatte.

„Jack?“ Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung. An diesem Abend trug sie ein Kleid aus dunkelgrüner Seide, das sich fließend an ihren Körper schmiegte. Es war mit kleinen Blumen bestickt und am Ausschnitt mit Spitze besetzt, die eigentlich eher züchtig bedecken sollte, stattdessen aber umso mehr Sallys vollkommen gerundeten Busen betonte. Die Nacht war warm, daher trug sie nur eine hauchdünne Stola um die Schultern. Durch den zarten Stoff schimmerte ihre Haut blass und verführerisch.

Das Riesenrad drehte sich langsam weiter, dann war die Fahrt vorbei. „Hättest du Lust, mit mir in einem dieser Schwanenboote auf dem See zu fahren, bevor wir nach Hause gehen?“, fragte sie.

Jack wäre am liebsten auf dem kürzesten Weg zurück zum Club gefahren, um da weiterzumachen, wo sie in der vergangenen Nacht aufgehört hatten, aber Sally sah so aufgeregt und glücklich aus. Schon hatte sie seine Hand ergriffen und zog ihn mit sich zum See. Auf der weißen Zierbrücke blieben sie stehen.

„Was für eine wundervolle Nacht!“, schwärmte Sally. Sie sah ihn von der Seite her an. „Bei jedem anderen würde ich sagen, dass diese Nacht unglaublich romantisch ist, aber ich erinnere mich, dass du mir gestern sagtest, du hieltest nichts von so wirklichkeitsfremden Dingen.“

„Ich glaube nicht an die Liebe“, erwiderte Jack. „Diesen Begriff hat man nur erfunden, um körperliches Verlangen beschönigend zu umschreiben.“

Sally seufzte und hielt den Blick auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche gerichtet. „Und doch musst du einmal verliebt gewesen sein.“

„Es stimmt, dass ich dachte, ich wäre in Merle verliebt“, gab Jack beinahe schroff zu. Ihre Worte rührten zu sehr an die schmerzhaften Erinnerungen, an die er erst vor wenigen Augenblicken gedacht hatte. „Ich liebte sie. Es war die mit Abstand schlimmste Erfahrung meines Lebens.“

Sallys Augen wirkten auf einmal groß und dunkel. „Warum?“

„Weil ich jegliche Beherrschung und alles Urteilsvermögen verloren habe.“ Jack zuckte die Achseln. „Ich möchte nicht darüber reden.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du hast doch auch geglaubt, deinen Mann zu lieben, als du geheiratet hast, nicht wahr? Und man kann ja wohl kaum behaupten, dass das ein glückliches Ende genommen hätte.“

Autor

Terri Brisbin
Das geschriebene Wort begleitet Terri Brisbin schon ihr ganzes Leben lang. So verfasste sie zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, bis sie 1994 anfing Romane zu schreiben. Seit 1998 hat sie mehr als 18 historische und übersinnliche Romane veröffentlicht. Wenn sie nicht gerade ihr Leben als Liebesromanautorin in New Jersey genießt, verbringt...
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