Geraubte Unschuld in den Highlands

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Highlands, 1869. Dieses schreckliche Schottland! Unerwartet hat Connor McCraight das Anwesen Bealadair samt dem Titel des Duke of Lothian geerbt. Schnellstmöglich will er alles verkaufen und in seine Heimat Texas zurückkehren. Doch die bezaubernde Elsbeth Carew, Haushälterin auf Bealadair, lässt ihn zögern. In ihren sturmgrauen Augen glaubt er zu versinken; ihr rabenschwarzes Haar ist wie der Nachthimmel über der Prärie. Und jeden Tag verflucht er die Schicklichkeit, die mit seinem schottischen Adelstitel einhergeht! Denn bei Elsbeth will er nicht Duke, nicht Laird sein. Sondern nur ein heißblütiger Amerikaner, der sie liebt …


  • Erscheinungstag 13.08.2019
  • Bandnummer 343
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736606
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Schottisches Hochland,

Januar 1869

Connor McCraight war kurz davor, die Kutsche anhalten zu lassen, eines der Pferde auszuspannen und nach Bealadair zu reiten.

Inzwischen schreckte ihn die Vorstellung, zwölf Stunden auf einem ungesattelten Pferderücken zu verbringen, weniger als die Aussicht, weiterhin tatenlos dasitzen zu müssen. Er widerstand der Versuchung, die Taschenuhr seines Vaters aus der Westentasche zu ziehen und einen Blick darauf zu werfen. Nein, er wollte nicht wissen, wie viel Zeit er heute schon vergeudet hatte.

Zu Hause war der Sonnenuntergang, eine allabendliche Explosion von Rot und Orange am westlichen Himmel, für ihn mit dem Gefühl verbunden, etwas vollbracht zu haben. Entweder hatte er die Zäune abgeritten, sich mit einigen seiner Vorarbeiter getroffen, neu errichtete Außengebäude besichtigt oder an seinem Schreibtisch gesessen und sich gezwungen, die nie enden wollende Verwaltungsarbeit zu erledigen.

Hier dagegen bedeutete das Ende des Tages nur, dass er diesen verdammten Schnee nicht mehr sehen konnte.

In Texas schneite es auch. Viel sogar, jedenfalls in einigen Teilen des Staates. Aber ein Wintertag in Schottland hatte etwas an sich, das ihm äußerstes Unbehagen verursachte. Die Kälte war schneidend, drang ihm durch den Mantel bis in die Knochen. Säße er nicht in dieser Kutsche wie in einer Falle, hätte er sich Bewegung verschaffen und sich ablenken können.

Er wusste, wie es war, sich kurz vor einem Blizzard draußen aufzuhalten, wenn einem die Augenbrauen und Wimpern weiß überfroren und die Wangen sich so erstarrt anfühlten, als wollten sie nie wieder auftauen. Aber dieser Wind hier in Schottland kam von Norden und war scharf wie eine frisch abgezogene Rasierklinge. Das grelle Weiß des schottischen Schnees tat einem in den Augen weh. Es hatte etwas Bösartiges, wie er sich an den senkrechten Felswänden und in den zotteligen Baumkronen regelrecht festkrallte.

Wie konnte es in einem einzigen Landstrich nur so verdammt viele Berge geben? Man nannte sie nicht einmal Berge, sondern Ben Irgendwas, ein Name unaussprechlicher als der andere. Sie waren nicht wie die Berge im Westen von Texas. Sie erhoben sich nicht majestätisch in den Himmel, sodass man unweigerlich an den Schöpfer oder etwas anderes Erhabenes dachte. Nein, sie ragten aus dem Boden wie dicke schwarze Zinnen mit gezackten, schnee- und eisbedeckten Graten.

„Wie flach es ist“, hatte sein Vater häufig gesagt, wenn sein Blick über ihr Land geschweift war. „Man kann fast von einem Ende zum anderen sehen.“

Das stimmte natürlich nicht, aber Connor verstand nun den Beiklang von Erstaunen in Graham McCraights Stimme. In Schottland reichte die Sicht kaum über die nächste Schneeflocke hinaus. Oder irgendein verfluchter Berg verstellte den Blick.

Hoffentlich gab es auf Bealadair wenigstens genügend Kamine, damit er sich aufwärmen konnte. Wenn sie ihr Ziel erreichten – man hatte ihm versichert, dass dies bald der Fall sein würde, obwohl das Wort für seinen Geschmack ein wenig zu oft benutzt worden war in letzter Zeit –, würde er vermutlich steif wie ein Brett sein vor Kälte.

Als ihm kürzlich eine Bemerkung über das Wetter entschlüpft war, hatte Augustine Glassey nur schmallippig gelächelt wie üblich. Connor wusste nicht, ob der Anwalt von Natur aus missmutig war oder einfach so verdammt vorsichtig, dass er jedes Wort auf die Goldwaage legte, ehe er sich äußerte.

Meistens hockte Glassey ohnehin wie eine Krähe in irgendeinem Winkel und beobachtete wachsam, was um ihn her vor sich ging.

Wenigstens saß er nicht bei ihm in der Kutsche.

Sam, der sich auf der Sitzbank ihm gegenüber in die Ecke gequetscht hatte, machte ein Auge auf, schloss es wieder und bemerkte schließlich müde: „Wir sind fast da. Nur noch ein kleines bisschen Geduld.“

„Ich habe mich schon viel zu lange in Geduld geübt“, erwiderte Connor gereizt. „Ich fühle mich wie in einem Sarg.“ Einem kalten Sarg. Die Kutschenheizung hielt bestenfalls die eine, ihr zugewandte Seite seiner in Stiefeln steckenden Füße warm, und das war es auch schon.

„Besser mit der Kutsche als mit dem Zug.“ Sam hielt die Augen geschlossen.

Dem konnte Connor nichts entgegensetzen. Die Reise von London war ein Chaos gewesen. Zweimal hatten sie den Zug wechseln und ihr gesamtes Gepäck von einer Eisenbahngesellschaft zur nächsten schleppen müssen. Welches Genie hatte bloß beschlossen, Gleise mit zwei unterschiedlichen Spurbreiten in ein und demselben Land zu verlegen?

Glassey hatte sich bemüßigt gesehen, ihn darauf hinzuweisen, dass sie von London aus immerhin erster Klasse gereist waren. Connor hatte die Auskunft nicht sonderlich beeindruckt. Die Fenster im hinteren Teil des Waggons waren undicht gewesen. Aber wenigstens hatte der heiße, von der Lokomotive ausgestoßene Qualm die Kälte draußen gehalten.

Irgendwann waren sie im Norden Schottlands angekommen, doch das hatte nicht bedeutet, dass irgendetwas angenehmer geworden war. Mehr als einmal hatten sie halten müssen, waren an einen anderen Zug angekoppelt worden, mal mit weniger, mal mit zusätzlichen Waggons, jedenfalls kamen sie langsamer voran, als wenn er den Weg auf einem ordentlichen Pferd zurückgelegt hätte.

Nur dass er dann wahrscheinlich erfroren wäre.

Eins zumindest hatte Glassey bei ihrem letzten Halt richtig gemacht. Die beiden Droschken samt Kutschern waren im Voraus bestellt worden und hatten bereits auf sie gewartet. Zu Connors Erleichterung hatte der Anwalt sich entschlossen, in dem anderen Gefährt Platz zu nehmen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ihm die Gesellschaft des Schotten erspart blieb. Er musste sich nicht mehr Glasseys Meinungen anhören, die der Mann zu allem und jedem zu äußern pflegte, und das mit einem Akzent, der ihm auf die Nerven zu gehen begann.

Der Mann war der Sprache einfach nicht mächtig.

Jedes Wort klang, als habe es eine Bruchkante so scharf wie die einer Glasscherbe. Glassey aber gab nicht nur seine Meinung zum Besten – was auch Sam häufig genug tat –, sondern er dozierte. Darin erinnerte er Connor an seinen Koch daheim. Auch Cookie hatte zu allem eine Meinung, und nicht genug damit, dass er sie ungefragt kundtat, er musste einen zudem unbedingt überzeugen, dass er recht hatte, und das wollte er auch hören.

Der Anwalt würde es sicher nicht schätzen, mit einem Koch verglichen zu werden. Wahrscheinlich würde er diese angewiderte Miene aufsetzen, die ihn wirken ließ, als sei ihm der Geruch einer verwesenden Kuh in die Nase gestiegen.

Glassey hatte ein langes Gesicht, beinahe so, als habe man gleich nach seiner Geburt sein Kinn gepackt und es nach unten gezogen. Von den Augenwinkeln bis zu seinen Mundwinkeln mäanderten Falten über seine Wangen, und er kleidete sich in düsteres Schwarz wie der Bestatter in Austin. Das Schlimmste an seinem Erscheinungsbild war jedoch sein Bowler. Der Hut machte einen runden Kopf und passte nicht zum Rest seines kantigen Äußeren.

Das Einzige, was zu seinen Gunsten gesagt werden konnte, war, dass er mit dem Hintergrund zu verschmelzen schien, sobald Connor seinen Blick auf ihn heftete. Seinen McCraight-Blick, wohlgemerkt, der besagte, dass er genug hatte von Glasseys Unsinn und nichts mehr davon hören wollte.

Von seiner Mutter wusste Connor, dass dieser Blick angeboren war. Dem Jüngsten von sechs Geschwistern – von denen die vorherigen fünf Mädchen waren – sagte man nach, dass er das Ebenbild seines Vaters sei. Bei dem tränenreichen Wiedersehen mit seiner Familie hatte man ihm berichtet, dass sein Vater unerwartet umgekommen war – beim Reinigen seines Gewehrs in einer der Hütten an dem Zaun, den er am Tag zuvor abgeritten hatte.

Connor hatte es nicht fassen können, konnte es immer noch nicht.

Bis Glassey vor ein paar Wochen auf seiner Türschwelle erschienen war, hatte er nichts von der Existenz seiner Verwandtschaft in Schottland gewusst, die aus einer Tante und drei Cousinen und einem verstorbenen Onkel bestand. Und ganz bestimmt hatte er nichts von einem Anwesen geahnt oder gar davon, dass er der Erbe war.

Er hatte nichts zu suchen in einem fremden Land, in dem er sich halbtot fror. Er hätte zu Hause sein sollen, wo er gebraucht wurde.

„Dein Vater hätte gewollt, dass du hinfährst.“

Die Worte seiner Mutter, mit sanfter Stimme gesprochen, waren der Grund, dass er Glassey nach Schottland begleitete.

Inzwischen wünschte er, er hätte sich geweigert. Andererseits bezweifelte er, dass, solange es die XIV-Ranch gab, irgendjemand in der Lage gewesen war, Linda McCraight etwas abzuschlagen.

Das leuchtend rote Haar zu einem kompliziert aufgesteckten Zopf geflochten, pflegte sie dazustehen, hoch aufgerichtet und stolz, die Hände vor der Taille gefaltet, und einen mit ihren großen braunen Augen unverwandt anzublicken – den Augen, die alle ihre Kinder von ihr geerbt hatten. In dieser Haltung verkörperte sie eine Gelassenheit, für die Connor sie nur bewundern konnte.

„Als McCraight bist du es ihnen schuldig“, hatte sie hinzugesetzt. „Zumal als der letzte männliche McCraight.“

„Ja, Madam.“ Er war kein kleiner Junge mehr und leitete die XIV-Ranch seit zwei Jahren allein. Trotzdem hatte er nur genickt, sich jeden Einwand, der ihm in den Sinn gekommen war, verkniffen und die notwendigen Vorbereitungen getroffen, damit Joe Pike, sein zukünftiger Schwager und einer seiner Bereichsverwalter, ihn während seiner Abwesenheit vertreten konnte.

Es war undenkbar, dass er es seiner Mutter gegenüber an Respekt fehlen ließ, aber verdammt, er wünschte, er hätte etwas gesagt, irgendetwas, das es ihm erspart hätte, ausgerechnet nach Schottland fahren zu müssen.

Sam entwirrte in seiner Ecke seine langen Glieder, griff nach seinem Hut, den er auf seinem Brustkorb abgelegt hatte, und setzte ihn sich auf den Kopf. Er erschauerte, zog ein Gesicht, dann schüttelte er seine in Stiefeln steckenden Füße einen nach dem anderen.

Sam sprach nicht viel, doch seine Miene ließ unzweifelhaft erkennen, was er dachte. Im Augenblick zeichnete sich Verwunderung darauf ab, so, als stelle er sich die Frage, was in aller Welt ihn dazu veranlasst hatte, Connor nach Schottland zu begleiten.

Sam Kirby war ein Freund seines Vaters. Großgewachsen, glatzköpfig und mit einem Bartwuchs gesegnet, dem kein noch so häufiges Rasieren Einhalt zu gebieten vermochte, erinnerte er Connor an das Bild eines Jesuitenpaters, das er einmal gesehen hatte. Aber Sam war alles andere als ein Mönch. Die Geschichten um seine Eroberungen kannte jeder auf der Ranch, sie waren legendär.

Sam und sein Vater waren Freunde gewesen von dem Moment an, da Graham McCraight sich in Texas niedergelassen hatte. Connor wusste nicht, wie die Sache zustande gekommen war, aber irgendwie hatten sein Vater und Sam nicht nur das Konsortium finanziert, das das Staatskapitol gebaut hatte, sondern auch die architektonische Planung und den Bau selbst überwacht. Im Gegenzug hatten die gesetzgebenden Organe ihnen das Land für die Ranch übereignet.

Sam war kein Unternehmer. Er war nicht einmal ein Rancher. Graham hatte ihn mit einem Steppenläufer verglichen, jenem kugelförmigen Wüstenstrauch, den der Wind übers Land treibt. Wenn Sam etwas fand, das ihn interessierte, mischte er dabei mit, egal ob es sich um den Abbau von Gold oder ein geschäftliches Unternehmen mit einem Mann aus dem Osten handelte, der eine Warenhauskette eröffnen wollte. Aber Sam kam immer wieder zurück auf die XIV-Ranch, als wäre sie sein Zuhause. Vielleicht war er deshalb für Connor fast wie ein Onkel. Ganz im Gegensatz zu dem Fremden, dessen Ableben der Grund seines Hierseins war.

Er hatte Sam nach dem Mann gefragt, ehe sie in Texas aufgebrochen waren.

„Hat mein Vater je mit dir über seinen Bruder gesprochen?“

„Hin und wieder“, Sam hatte genickt, „wenn wir uns betranken.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass er mir gegenüber jemals etwas auch nur angedeutet hat.“

Er hätte seine Mutter fragen sollen, ehe er zu der Reise aufgebrochen war, doch er versuchte seinen Vater nicht öfter zu erwähnen als unbedingt notwendig. Denn jedes Mal, wenn er es tat oder wenn eine seiner Schwestern auf ihn zu sprechen kam, trat ein ganz bestimmter Ausdruck in die Augen seiner Mutter. Als trüge sie den Kummer der ganzen Welt in ihrem Herzen.

Sie weinte noch immer jede Nacht.

Er hatte sich sogar überwunden, Glassey zu fragen, kurz bevor sie an Bord des Schiffes gegangen waren. Der Anwalt hatte ihm nicht sagen können, weshalb Graham vor vierzig Jahren nach Texas ausgewandert war.

Abgesehen davon hatte sein Vater keine Geheimnisse gehabt. Graham war ein aufgeschlossener, ungestümer Riese von einem Mann gewesen, der sich eine geradezu kindliche Fähigkeit zu staunen bewahrt hatte, ob es um die Geburt eines Kalbes ging oder die Milchstraße am Firmament. Er hatte gern philosophische Gespräche geführt, am liebsten bei nicht so alltäglichen Gelegenheiten wie am Lagerfeuer oder nach einem Bad im Fluss.

Als Connor nach dem College nach Hause gekommen war, hatte sein Vater sein Wissen auf vielen Gebieten geprüft. Herausgefordert, seine Überzeugungen zu verteidigen, war Connor gezwungen gewesen, lang und eingehend über Grahams Fragen nachzudenken, ehe er geantwortet hatte. Bis dahin hatte er seinen Vater nie für einen gebildeten Mann gehalten, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie er seine Professoren sah. Ziemlich rasch jedoch war ihm klar geworden, dass es ihm selbst an Wissen mangelte und dass Graham McCraight es mit jedem Gelehrten aufnehmen konnte.

Was hätte sein Vater von dieser Reise, die er so zögerlich angetreten hatte, gehalten? Graham war überzeugt gewesen, dass ein Mann das tun musste, was er für richtig hielt. In diesem Geist war Connor erzogen worden, und das bedeutete auch: Man musste für die Konsequenzen seines Handelns einstehen. Es ging nicht an, jemand anderen für die Entscheidungen verantwortlich zu machen, die man freiwillig getroffen hatte.

Dummerweise konnte von Freiwilligkeit in diesem Fall nicht die Rede sein.

Und genauso wenig war Connor bereit, der vierzehnte Duke of Lothian und Laird des McCraight-Clans zu werden.

2. KAPITEL

Was würde aus ihnen werden? Etwas musste geschehen, so viel war sicher. Sie standen vor dem Ruin. Der neue Duke würde jede Minute eintreffen, wie einer der Stalljungen, die am Tor zur Straße postiert waren, hatte ausrichten lassen. Es waren insgesamt fünf, in dicke Mäntel gehüllt, mit wollenen Mützen auf dem Kopf, und sie hatten an verschiedenen Stellen des Anwesens Aufstellung genommen, damit sie sofort Bericht erstatten konnten, wenn der neue Duke aus Amerika gesichtet wurde.

Niemand im Salon wirkte auch nur im Entferntesten aufgeregt. Vielleicht hielten sich alle an das oft geäußerte Motto Ihrer Gnaden: Aufregung und Besorgnis führen nur zu Falten. Die Duchess of Lothian sah mindestens zehn Jahre jünger aus, als sie angeblich zählte.

Aber waren die Umstände nicht dazu angetan, in Panik zu geraten? Elsbeths Nerven jedenfalls lagen blank. Ihr war schleierhaft, wie man in einer solchen Lage die Ruhe bewahren konnte.

Der Raum war voller Menschen, keiner von ihnen sprach.

Lara hatte sich auf dem Sofa niedergelassen, neben ihrem Ehemann Felix. Anise saß auf einem der Stühle und wirkte gelangweilt. Muira, Elsbeths Liebling unter den Schwestern, knabberte vornehm an einem Keks. Rhona, die Duchess of Lothian, thronte in einem Sessel vor dem Kamin und tat, als sei es ein ganz normaler Abend auf Bealadair.

Muira nahm sich noch einen Keks.

In jeder anderen Situation hätte die Duchess ihre Tochter dafür getadelt, dass sie das perfekte Arrangement der Köstlichkeiten auf dem Tablett für den neuen Duke durcheinanderbrachte, aber vielleicht hatte sie es gar nicht bemerkt. Oder sie war doch ein bisschen aufgeregt.

In der Küche wusste man kaum noch, wohin mit den Kuchen und Keksen. Seit mehr als zehn Tagen wurde gebacken, was das Zeug hielt, um auf diesen Moment vorbereitet zu sein. Seit sie die Nachricht erhalten hatten, dass der neue Duke in London eingetroffen war und sich auf dem Weg nach Norden befand.

Vor zwei Stunden hatte Ihre Gnaden angeordnet, mehrere Flaschen der besten Weine aus dem Keller zu holen. Sämtliche Karaffen waren mit McCraight-Whisky gefüllt. Aber aufgrund der strengen Anordnungen der Duchess trank niemand.

Unterdessen stibitzte Muira sich einen weiteren Keks.

„Es ist Zeit.“ Unvermittelt stand Rhona auf und blickte alle der Reihe nach an.

Die Reaktion auf ihre Ankündigung war ein allgemeines Stöhnen.

„Aber es schneit doch.“ Ihr Einwand brachte Elsbeth einen scharfen Blick der Duchess ein.

„Das spielt keine Rolle“, entgegnete sie würdevoll. „Hier geht es um Tradition. So haben es die McCraights immer gehalten.“ Elsbeth hörte den unausgesprochenen Vorwurf nur allzu gut: Du wirst es ohnehin nie verstehen. Du bist keine von uns.

Aber auch wenn sie keine McCraight war, wurde von ihr erwartet, dass sie genau wie die anderen vor dem Haupteingang Aufstellung nahm, um den neuen Duke willkommen zu heißen.

Alle der im Raum Versammelten erhoben sich und folgten der Duchess nach draußen. Das Ende der Prozession bildeten die Diener. Wie satte Entenküken watschelten sie hinter den anderen her.

Gestattete die Tradition nicht einmal, dass sie Mäntel anzogen oder Umhänge überwarfen, ehe sie draußen Aufstellung nahmen? Oder galt es als Respektsbezeugung, steif gefroren zu sein? Das Schneetreiben war so dicht, dass Elsbeth sich fragte, ob der Stalljunge wirklich eine Kutsche gesehen oder sich das Gefährt nur herbeigewünscht hatte. Schweigend stellten sie sich in einer langen Reihe vor dem Eingang von Bealadair auf. Wahrscheinlich hatten alle Angst, dass ihnen bei den eisigen Temperaturen der Atemhauch an den Lippen festfrieren würde, wenn sie es wagten, den Mund aufzumachen.

Ob den anderen genauso kalt war wie ihr? Die Duchess hatte angeordnet, dass weder Mäntel noch Umhänge, Hüte oder Schals getragen werden durften, damit der neue Duke sicher sein konnte, dass sie keine Gefahr für ihn darstellten und ihm nichts antun wollten. Er sollte sehen, dass sie nichts unter ihrer Kleidung verbargen, keine Zweihandschwerter, keine Langdolche, keine Schilde.

Elsbeth war sich sicher, dass diese idiotische Tradition aus Zeiten stammte, in denen es noch keine Zivilisation in den Highlands gegeben hatte.

Und sie hätte wetten können, dass die Ahnen der McCraights sich vor Lachen auf die Schenkel schlugen beim Anblick ihrer bibbernden, blau gefrorenen Nachfahren, die da standen wie ehedem die Pikten. Die vielleicht gar nicht blau tätowiert waren, sondern einfach nur einen Winter im Hochland erlebt hatten.

Wäre der dreizehnte Duke noch am Leben gewesen, er hätte einer so törichten Maßnahme gewiss nicht zugestimmt. Was für ein Unfug, korrigierte Elsbeth sich umgehend. Wäre er noch am Leben gewesen, hätte keiner von ihnen hier draußen gestanden und gebetet, dass die Kutsche endlich eintraf.

Langsam wurde es dunkel, und entweder um den Neuankömmling willkommen zu heißen oder um den steif gefrorenen McCraights ein wenig Wärme zu spenden, waren Fackeln entzündet worden, die die geschwungene Auffahrt nach Bealadair beleuchteten.

Im fünfzehnten Jahrhundert war die Heimstatt des Clans ein mittelalterlicher Bergfried gewesen, errichtet auf einem Stück Land, das die McCraights hundert Jahre zuvor erworben hatten. Die ursprüngliche Burg mit ihren Steinmauern stand noch immer auf einem steilen Berg oberhalb des Dornoch Firth und war Schauplatz etlicher traditioneller Festlichkeiten, einschließlich der Begrüßung des Lairds. Glücklicherweise hatte Rhona wenigstens in diesem Punkt beschlossen, mit der Tradition zu brechen. Sonst hätten sie auch noch den steilen Weg bergabwärts in der beißenden Kälte zurücklegen müssen. In dem Schneesturm, der seit dem Nachmittag wütete, wäre der Aufstieg zu der alten Festung ein Himmelfahrtskommando geworden.

Stattdessen standen sie an der Ostseite von Bealadair versammelt, unter dem Hammond Tower, benannt nach dem Baumeister, der den Umbau des Hauses im vergangenen Jahrhundert geleitet hatte. Das Gebäude mochte nicht zu Schutzzwecken errichtet worden sein, aber es wies Elemente auf, die auf die Ursprünge als Festungsanlage hindeuteten, etwa die zinnenartige Randeinfassung des Dachs, die überdimensionierten Ecktürme und die kampfbereit wirkenden steinernen Statuen auf den Brüstungen, jede ein Mitglied des Clans darstellend. Wäre das Wetter besser gewesen, hätte der neue Duke auch die im Wind flatternden Wimpel sehen können, das Rot und Schwarz der McCraights vor den weißen Mauern von Bealadair.

Der neuere Teil des Hauses war ein großer viereckiger Anbau mit fünf Stockwerken. Er hatte Türme an jeder Ecke und war durch ein vierstöckiges Gebäude mit dem nach hinten liegenden älteren Teil Bealadairs verbunden.

Der gesamte Komplex umfasste alles in allem einhundertneunundachtzig Räume, in denen in den letzten Tagen unablässig Staub gewischt, Fußböden geputzt und gewienert und die Luft mit neuen Potpourris erfrischt worden war. Man hatte die Kronleuchter heruntergelassen und jeden einzelnen der gläsernen Lampenschirme in Essigwasser getaucht, anschließend poliert, bis er blinkte, und dann wieder in die Fassung geschraubt. Die Wandbespannungen waren vorsichtig abgebürstet worden, selbst die, die schon vierhundert Jahre alt waren. Die Diener hatten sämtliche Läufer in den Korridoren zusammengerollt und nach draußen gebracht, wo eine fröhliche Mannschaft von Dienstmädchen und Lakaien sie ausgeklopft hatte.

Alles war bereit für den Mann in der Kutsche, die sich auf der langen Zufahrt näherte.

Würde er die Mühe zu schätzen wissen? Würde er überhaupt etwas davon bemerken?

In dem dichten Schneetreiben war die Droschke kaum zu erkennen. Nur die Kutschenlaternen leuchteten gelblich.

Nichts auf Bealadair gehörte ihnen mehr. Der neue Besitzer war der Mann, der in Kürze aus der Kutsche steigen würde und die Macht hatte, sie mit einer Handbewegung zu vertreiben.

Elsbeth erschauerte. Sie sehnte sich nach ihrem Umhang. Und nach einem Schal um den Hals. Und einem Hut auf dem Kopf. Ihre Lippen und ihre Fingerspitzen waren völlig taub.

Um sie herum begannen die anderen, mit den Füßen aufzustampfen und sich die Arme um den Oberkörper zu schlagen. Man konnte die Atemwölkchen, die sie ausstießen, in der Dunkelheit sehen.

Merkte Rhona nicht, dass sie sich zu Tode froren?

Manchmal, so kam es Elsbeth vor, schien die Duchess zu vergessen, dass es sich bei der Dienerschaft von Bealadair um menschliche Wesen handelte. Viele ihrer Befehle waren widersinnig. Gestern hatte sie angeordnet, dass die Schürzen der Hausmädchen gestärkt werden sollten, und heute war es den Dienerinnen nicht gestattet gewesen, sich hinzusetzen oder auf andere Weise die Uniformen zu zerknittern. Die Bediensteten konnten sich entscheiden – entweder sie taten die Arbeit, für die sie bezahlt wurden, oder sie standen nutzlos und steif herum, bis der Duke eintraf.

Solcherart waren die Entscheidungen, die Rhona zu treffen pflegte. Änderungen, die nicht praktikabel waren. Vor ein paar Monaten hatte sie Anweisung erteilt, dass die Hausmädchen allesamt die gleiche Frisur haben sollten, einen hochkompliziert geflochtenen Knoten. Es kostete die Frauen so viel Zeit, ihr Haar herzurichten, dass Elsbeth die Anordnung ihrer Gnaden widerrufen hatte, selbst auf die Gefahr hin, sich für die Dienerschaft in die Bresche werfen zu müssen. Glücklicherweise hatte die Duchess nichts davon bemerkt.

Rhona liebte es, Verfügungen zu erlassen. Sie machte Ankündigungen, wedelte mit der Hand wie eine Königin und verlangte ein ganz bestimmtes Gebaren. Um dann genauso schnell zu vergessen, was sie angeordnet hatte.

Elsbeth kam es so vor, als wäre es Rhona egal. Der Duchess gefiel es, dass man ihr gehorchte, und sei es nur für den Augenblick. Elsbeth gab sich große Mühe, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten, auch wenn er nicht ganz den Umständen entsprach.

Im vergangenen Jahr hatte sie die Rolle der Haushälterin übernommen. Mrs. Ferguson litt an einer immer schlimmer werdenden Arthritis. Es war einfacher für die arme Frau, in ihrem Zimmer zu bleiben, als die vielen Treppen auf Bealadair zu überwinden.

Keines der Familienmitglieder hatte etwas dagegen gehabt, dass Elsbeth den Pflichten der Wirtschafterin nachkam. Alle wollten, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch stand, dass ihre Zimmer sauber und aufgeräumt waren und dass man sie mit so gewöhnlichen Unannehmlichkeiten wie schmutziger Wäsche, Angelegenheiten der Dienerschaft und belanglosen Nebensächlichkeiten wie einem undichten Dach nicht behelligte.

Was Elsbeth anging, so genoss sie es, einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen zu können. Abends setzte sie sich mit Mrs. Ferguson zusammen, beriet sich mit ihr über die Aufgaben, die erledigt werden mussten. Die Haushälterin war seit über zwanzig Jahren auf Bealadair und kannte das Haus mindestens genauso gut wie die McCraights. Sie war ein Organisationsgenie und wusste über die zahlreichen Sammlungen, die das Anwesen beherbergte – von Waffen bis zu historischen Dokumenten –, in allen Einzelheiten Bescheid.

Zweifellos würde der neue Duke wissen wollen, welchen Umfang sein Erbe hatte. Dank Mrs. Fergusons Hilfe konnte Elsbeth ihm ein vollständiges Bestandsverzeichnis liefern.

Die Kutsche bog auf den Vorplatz ein. Ein Stalljunge rannte herbei, um das Gespann zu halten. Einer der Lakaien folgte ihm und öffnete den Schlag.

Von ihrer ältesten Tochter Lara und deren Ehemann Felix begleitet, trat die Duchess zur Kutsche. Elsbeth stand zu weit entfernt, um zu verstehen, was sie sagte, doch wahrscheinlich hieß sie den Neuankömmling willkommen. Vielleicht sagte sie etwas auf Gälisch, um schottische Gefühle heraufzubeschwören. Immerhin war der neue Duke Amerikaner, der mit seinen schottischen Wurzeln erst vertraut gemacht werden musste. So jedenfalls wurde es behauptet.

Niemand hatte diesen unbekannten Neffen jemals erwähnt. Bis zu dem Tag, da Mr. Glassey ihnen die Nachricht aus Amerika gesandt hatte, waren sie davon ausgegangen, dass der vierzehnte Duke of Lothian und Laird des Clans der McCraight Gavins Bruder sein würde.

Von dem Mann, der nun aus der Kutsche stieg, wussten sie buchstäblich nichts.

Das Erste, was Elisbeth von ihm sah, waren seine Stiefel. Abgewetzt, spitz zulaufend und das Gegenteil des auf Hochglanz polierten Leders, wie es der verstorbene Duke bevorzugt hatte und sein Schwiegersohn es immer noch tat.

Der neue Duke trug einen schwarzen Anzug aus Wollstoff, doch einen Mantel wie seinen hatte Elsbeth noch nie gesehen. Gearbeitet aus braunem Leder, reichte er ihm fast bis an die Knöchel und war mit dickem weißen Fell gefüttert. Den Hut hatte er weit heruntergezogen, er entsprach keiner ihr bekannten Mode. Eigenartig. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass der neue Duke Kleidung tragen könnte, wie sie ihr noch an niemandem begegnet war.

Er warf einen Blick über die Schulter, sagte etwas zu einem hochgewachsenen, dürren Mann, der hinter ihm aus der Kutsche stieg und gekleidet war wie er. Dann trat er zum Kutschbock und sprach mit dem Fahrer. Der Mann nickte, antwortete, und was immer er sagte, schien den Duke zufriedenzustellen, denn er trat zu Rhona, lüftete den Hut und nickte ihr zu.

Er hatte dunkelbraunes Haar, das schon einen Moment später mit Schnee überpudert war, doch er erweckte nicht den Eindruck, als mache ihm das Wetter etwas aus. Sein Begleiter schien nicht so unempfindlich zu sein. Er stellte den Kragen hoch und starrte zum Himmel.

Auch Mr. Glassey, der der zweiten Kutsche entstiegen war, wirkte nicht sonderlich erbaut von dem Wetter. Er begrüßte die Duchess, sagte etwas zu den beiden Amerikanern, dann wandte er sich zu Rhona und bot ihr den Arm, offenbar in der Absicht, sie ins Haus zu geleiten.

Der neue Duke und sein Begleiter folgten ihnen, das taten dann auch alle anderen. Elsbeth ging langsamer und gab den Hausmädchen, die sie mit der Aufgabe betraut hatte, Anweisung, als Erstes die heißen Erfrischungen zu servieren. Niemand hatte voraussagen können, um welche Zeit die Kutsche ankommen würde oder ob der Duke und seine Begleiter es bei dem Unwetter überhaupt schaffen würden. Deshalb hatte sie Vorkehrungen getroffen, dass entweder ein Dinner, ein spätes Nachtmahl oder ein Frühstück serviert werden konnte.

Würden noch mehr Leute kommen? Auch das hatte niemand zu sagen vermocht. Sie würde Mr. Glassey beiseitenehmen und ihn fragen müssen. War der Duke verheiratet? Hatte er eine Familie?

Es wäre weitaus besser für sie alle, wenn er keine Frau und keine Kinder hätte. Dann musste er Rhona und ihre Töchter nicht umgehend verjagen.

Was sie selbst anbelangte, so wusste sie, dass ihre Zeit auf Bealadair zu Ende ging.

Der ehemalige Duke war ein so sanftmütiger Mensch gewesen, der erste wirklich freundliche Mensch, mit dem Elsbeth es nach dem Tod ihrer Eltern zu tun gehabt hatte. An dem Tag, da sie auf Bealadair eingetroffen war, hatte er ihr versichert, dass sie hier stets ein Zuhause haben würde. Ihren Vater und ihn hatte eine lange Freundschaft verbunden.

„Ich habe drei Töchter“, hatte er hinzugesetzt. „Betrachte dich als die vierte. Dein Vater hätte für meine Mädchen dasselbe getan, wäre die Situation umgekehrt gewesen.“

Hatte Gavin je darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn er starb? Oder hatte er, wie so viele andere, geglaubt, er würde ewig leben?

Hatten ihre Eltern ebenfalls in diesem Glauben gelebt?

In letzter Zeit hatte Elsbeth oft an sie denken müssen, vielleicht wegen ihrer eigenen unsicheren Zukunft. Aber wenigstens konnte sie auf ein kleines elterliches Vermächtnis zurückgreifen, das der dreizehnte Duke ergänzt hatte. Arm würde sie nicht sein. Wenn sie wollte, konnte sie sich irgendwo ein kleines Cottage kaufen und ein sittsames, wenn auch glanzloses Leben führen.

Das Ende des Daseins, so wie sie es kannte, würde vielleicht in nur wenigen Tage kommen. Allerdings rechnete niemand in der Familie damit, seine Sachen packen zu müssen. Bei der einzigen Gelegenheit, da sie es gewagt hatte, das Thema anzusprechen, war sie von der Duchess mit ein paar Worten zum Schweigen gebracht worden.

„Du weißt ja nicht, was du da sagst. Graham ist der Bruder meines geschätzten Gatten. Selbstverständlich wird er uns nicht davonjagen. Rede nicht solch einen Unsinn!“

Aber nicht Graham war der neue Duke geworden, sondern sein Sohn. Als Elsbeth sich auf den Weg zur Laird’s Hall machte, fragte sie sich unwillkürlich, ob die Duchess ihre Bemerkung über familiäre Gefühle wohl noch einmal überdacht hatte.

Connor McCraight war in Amerika geboren. Er hatte keine Beziehung zu Schottland. Wahrscheinlich sprach er noch nicht einmal Gälisch. Was wusste er von Bealadair? Oder von seiner Familie? Was sollte ihn davon abhalten, sie von dem Anwesen zu verjagen? Oder die Dienerschaft komplett zu entlassen und durch seine eigenen Lakaien zu ersetzen? Würde er Amerikaner herkommen lassen, damit sie ihn bedienten? War damit zu rechnen, dass noch mehr Leute eintrafen?

Fragen über Fragen, von denen sie keine beantworten konnte. Langsam öffnete sie die Tür zur Laird’s Hall.

3. KAPITEL

Es war dunkel, als sie ihr Ziel erreichten. Dass sie gut ankamen, verdankten sie allein der Geschicklichkeit ihrer Kutscher und der Tatsache, dass es zwischen der letzten Bahnstation und Bealadair keine Rasthäuser gab. Wäre es anders gewesen, Connor hätte angehalten, den Pferden Ruhe gegönnt und dafür gesorgt, dass sie sich alle tüchtig aufwärmen konnten.

Als die Kutsche das Tempo drosselte, spähte er aus dem Fenster, doch außer Schneetreiben konnte er nichts erkennen. Schnee stob gegen die Scheiben, glitt daran hinunter und bildete winzige Verwehungen auf dem Rahmen.

Kurz darauf kam das Gefährt abrupt zum Stehen. Es schwankte noch, als Connor den Schlag aufstieß und von einem wütenden Schneetreiben begrüßt wurde.

„Willkommen auf Bealadair, Euer Gnaden“, hörte er eine weibliche Stimme sagen.

Die Frau, die ihn begrüßte, war in ein dunkelgrünes, über und über mit Schnee bedecktes Kleid gewandet. Sie trug weder einen Mantel noch einen Umhang, nichts, das ihr Schutz vor Kälte und Nässe bot. Ihr Lächeln wirkte starr – wahrscheinlich war es festgefroren –, und sie hatte die Augen gegen den Wind zusammengekniffen.

Hinter ihr spuckte eine Fackel zischend Funken, und er nahm an, dass die Wärme, die sie ausstrahlte, das Einzige war, das die Frau vor dem Erfrieren bewahrte.

Er stieg aus und hätte sie am liebsten als Erstes überredet, ins Haus zu gehen, doch dann sah er, dass der Rest der Gesellschaft auf ihn zukam, um ihn zu begrüßen. Wenigstens glaubte er, das sei der Grund, weshalb ungefähr fünfzig Menschen im Schneegestöber ausgeharrt hatten.

„Ich bin die Duchess of Lothian.“ Ihre Stimme begann zu zittern. „Willkommen auf Bealadair.“

„Könnten wir ins Haus gehen, Madam?“

Er wollte gern einräumen, dass die Schotten kühner waren als er. Dass sie dümmer waren, wusste er bereits. Warum sonst hätten sie bei diesem Wetter ohne Mantel und Hut im Freien stehen sollen?

Er wollte ein warmes Zimmer, ein Dach über dem Kopf und etwas Heißes zu trinken. Als Erstes jedoch dankte er dem Kutscher und drängte ihn, sich so schnell wie möglich eine Bleibe zu suchen.

Glassey stieg aus der anderen Kutsche, begrüßte die Duchess und geleitete sie die Treppen hinauf zu der eisenbeschlagenen Eingangstür. Connor sah sich nach Sam um. Dann folgten sie den beiden wie mutterlose Kälber.

Sicher hätte die Duchess of Lothian es nicht geschätzt, mit einem Longhorn verglichen zu werden. Sie war eine imponierende Erscheinung und musterte ihn auf eine Weise, wie es manche seiner Rinder taten. So als nehme sie Maß und versuche einzuschätzen, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten würde.

Vermutlich hätte er etwas Versöhnliches sagen sollen. Aber vielleicht erwartete sie auch, dass er sie zu der Dummheit, die sie soeben demonstriert hatte, beglückwünschte. Zugegeben, das von Fackeln beleuchtete Empfangskomitee war eindrucksvoll, aber hatten diese Leute nicht wenigstens so viel Verstand wie Schafe? Was zur Hölle veranlasste sie, hier draußen zu stehen wie begossene Pudel?

Noch mehrmals warf ihm die Duchess Blicke zu, während sie ein Foyer durchquerten, das ihm größer vorkam als der Empfangssalon zu Hause. Allerdings sprach sie ihn nicht an und er sie auch nicht. So langsam gewann er den Eindruck, dass er sie behandeln musste wie eine Kuh, die neu in eine bereits vertraute Herde kam.

Longhorns, Rinder also, die im Umfeld von Menschen gehalten wurden, waren freundlich und zutraulich. Sie machten keinen Ärger, waren einigermaßen fügsam. Doch wenn man das Pech hatte, an eines zu geraten, das einzelgängerisch veranlagt war, musste man damit rechnen, dass es sich aufführte, als sei es der Boss.

Er würde zusehen müssen, dass die Duchess wusste, mit wem sie es bei Connor McCraight zu tun hatte.

Gott sei Dank hatte er Sam. Der Mann verfügte über ein verblüffendes Gespür für Probleme, noch ehe sie sich zeigten. Es war, als wisse er im Voraus, wer als Erster die Fäuste ballte.

Die Duchess wandte sich nach links und nickte einem Lakaien zu, der neben einer Flügeltür stand.

„Die Laird’s Hall, Euer Gnaden.“

Die Tür ging auf, und Sam trat vor und machte eine hübsche kleine Verbeugung vor der Duchess. Er nahm ihre Hand, hielt ihre Fingerspitzen wie ein spanischer Grande.

„Euer Gnaden“, sagte er mit merkwürdig ausdrucksloser Stimme, „ich bin Sam Kirby. Danke, dass Sie mich in Ihrem Hause willkommen heißen.“

Sam konnte sich anhören wie ein New Yorker, wie jemand aus Alabama oder wie ein gebürtiger Texaner. Es hing davon ab, was ihm gerade am besten passte.

Anscheinend passte es ihm gerade, zu klingen wie jemand aus Nirgendwo.

Irgendwann hatte Sam in Washington, D. C. gelebt und dort wahrscheinlich gelernt, wie man mit Menschen umging. Über diese Zeit redete er genauso wenig wie Connor über den Bürgerkrieg.

„Sind Sie ein Verwandter, Mr. Kirby?“

Wie alle anderen Schotten, denen er begegnet war, klang auch die Duchess merkwürdig, so als knirschten die Worte, die sie sprach, oder als lösten sie sich in nichts auf. Er verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte. Vielleicht erging es Sam besser.

Connor hatte nicht damit gerechnet, dass er in Schottland einen Übersetzer brauchte.

Während Sam noch mit der Hand der Duchess beschäftigt war, sah er selbst sich schon einmal um.

In Texas war er an Weite und einen freien Blick gewöhnt, an die große Prärie, so weit das Auge reichte. Die Häuser in Texas waren bescheiden, Orte, an denen man sich nach der harten Arbeit des Tages ausruhen und erholen konnte.

Bei den Schotten schien es genau umgekehrt zu sein. Sie schienen das Außen nach innen holen zu wollen. In dem Raum, den die Duchess „Laird’s Hall“ nannte, hätte eine mittelgroße Viehherde überwintern können. Wahrscheinlich, so nahm Connor an, war dies der Ort, wo der Anführer des Clans alle arbeitstüchtigen Männer zusammenrief, wo man Wahlen abhielt und Streitfälle geschlichtet wurden.

Stammesverhalten hatte er von seinem Vater gelernt. Aber er wäre froh gewesen, wenn Graham ihm von Bealadair erzählt hätte.

Was er bis jetzt davon gesehen hatte, ließ ihn vermuten, dass das Anwesen größer war als eine Burg und auf jeden Fall größer als jede andere private Wohnstatt, die er kannte.

Die XIV hatte vier Hauptbereiche, Verwaltungseinheiten von überschaubarer Größe. Für jeden Bereich gab es ein zentrales Gebäudeensemble mit einer Schlafbaracke, verschiedenen Nutzbauten und Stallungen und einem Haupthaus für den Bereichsvormann. All diese Gebäude samt dem Haus, in dem seine Mutter lebte, und seinem eigenen hätte man in Bealadair unterbringen können und wahrscheinlich noch bemerkenswert viel Raum übrig gehabt.

Von Glassey wusste er, dass sie zu fünft waren. Warum lebten sie auf einem so riesigen Anwesen? Allein der Versuch, jemanden in einem solchen Kasten zu finden oder auch nur den Weg vom Schlafzimmer zur Küche zurückzulegen, erschien ihm eine unvorstellbare Vergeudung von Mühe. Und die vielen Diener? Er hatte Dutzende Frauen in schwarzen Kleidern mit weißen Schürzen und Häubchen gesehen, außerdem Männer in Uniformen, die aussahen, als wären sie für eine Parade herausgeputzt.

„Der Duke war einer der reichsten Männer in Schottland, Euer Gnaden“, hatte Glassey ihn informiert. „Was für Sie angesichts der Größe der XIV-Ranch vielleicht nicht von wesentlicher Bedeutung ist.“

Connor hatte die verkappte Frage des Anwalts unbeantwortet gelassen. Ihm war nicht daran gelegen, dem Mann die finanzielle Lage der Ranch zu enthüllen. Genauso wenig gedachte er zu erwähnen, dass der Umfang seines Erbes die Zukunft der XIV sehr viel sicherer gestalten würde.

Wenigstens würde er sich keine Sorgen mehr über Viehpreise machen müssen. Auch nicht über die Anschaffung neuer Nutztiere. Er würde in die Triebwagen investieren können, wie er es vorgehabt hatte, aber auch in andere Verbesserungen in allen vier Bereichen. Er würde zusätzliche Männer anheuern, neue Pferde anschaffen und seine Mutter und die Schwestern nach New York schicken können, damit sie sich die Dinge kauften, die sie dringend brauchten.

Die Ausstattung der Laird’s Hall jedenfalls machte auf ihn den Eindruck, dass Glassey nicht übertrieben hatte. Allein die Beleuchtungsvorrichtungen aus Messing und Kristall wirkten ausgefallen genug, um aus Frankreich stammen zu können.

Die Wände waren mit scharlachrotem Samt bespannt, dem gleichen Material, aus dem die von der Decke bis zum Fußboden reichenden Vorhänge an den mehr als zwölf Fenstern bestanden. Seine Mutter und seine Schwestern hätten diesen Raum umwerfend gefunden und wären vom Arrangement der Sofas, Sessel, Polsterbänke, Tische und all der anderen französisch aussehenden Möbel begeistert gewesen. Jedenfalls erschienen ihm die geschwungenen Stuhlbeine, die zu zerbrechlich wirkten, als dass sie das Gewicht eines Mannes tragen konnten, französisch.

Er mochte Leder. Einen behaglichen Sessel, bei dem man sich keine Gedanken darüber machen musste, dass man die Polster ruinierte. Einen strapazierfähigen Sessel. Er musste nicht mit Hörnern verziert sein wie der, den sein Vater, kurz bevor er gestorben war, in Austin hatte anfertigen lassen; riesig, breit, komfortabel, mit zehn Hörnern ihres eigenen Viehs geschmückt. Seine Mutter hatte sich strikt geweigert, ihn im Empfangssalon aufzustellen, woraufhin Graham nichts anderes übrig geblieben war, als das Möbelstück in dem Haus unterzubringen, das Sam auf dem Gelände der Ranch errichtet hatte.

Die Laird’s Hall würde ein paar Ledersessel statt der extravaganten Möbel gut gebrauchen können.

Der Duchess und seinen anderen Verwandten schien der Raum zu gefallen, so wie er war. Sie nahmen ihre Plätze ein, entweder auf den Sofas oder den Sesseln, und blickten ihn erwartungsvoll an. Was sollte er jetzt tun?

Sam gab immer noch den weltgewandten Diplomaten, ließ sich über die Zugfahrt von London nach Norden aus. Die Duchess – Connors Tante, auch wenn er Schwierigkeiten hatte, sie als solche zu sehen – lächelte und fing an, ihm seine Cousinen vorzustellen.

„Lady Lara Gillespie, Euer Gnaden“, erklärte sie höflich, „meine älteste Tochter.“

Connor fragte sich, ob er sie unterbrechen sollte. Es ging ihm schon gegen den Strich, wenn Glassey ihn Euer Gnaden nannte. Warum also sollte er sich eine solche Albernheit von einer Verwandten gefallen lassen? Und was hatte es mit der blödsinnigen Anrede Lady auf sich? Titel bedeuteten diesen Leuten offenbar verdammt viel.

Waren die Schotten alle so? Oder nur seine ihm bis dato unbekannte Familie? Waren sie wirklich so seltsam, wie es schien? Immerhin hatten sie ohne Mantel im Schneegestöber auf ihn gewartet, um ihn zu begrüßen, und außer dass sie sich ein paar Minuten vor dem Kamin aufwärmen mussten, schienen sie nicht unter der Kälte gelitten zu haben.

Er selbst war durchgefroren bis auf die Knochen. Mit Mühe und Not hatten sie ihr Ziel erreicht, ehe der Schneesturm mit aller Gewalt losgebrochen war. Schottland, so schien es ihm, war fest entschlossen, ihn den Kältetod sterben zu lassen. Er nahm den Hut vom Kopf, das gebot die Höflichkeit, doch er ließ seinen Mantel an, als er seine Cousinen begrüßte.

Lady Lara war großgewachsen, sie hatte braunes Haar und braune Augen, ähnlich wie ihre beiden Schwestern, außerdem ein Muttermal am äußeren Augenwinkel und das flüchtigste Lächeln, das er je gesehen hatte. Ein Blinzeln, und es wäre ihm entgangen.

Ihr braunes Haar, das sie offen trug, war dick und lockig, ihre Nase kräftig und ihr Mund breit. Er konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie, wenn sie es sich gestatten würde, ein ausgelassenes Lachen hätte.

Dem Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen schien es allerdings wenig zu geben, das sie zum Lachen fand.

Er hatte genau diesen Blick schon einmal bei einem Hilfsarbeiter auf der Ranch gesehen. Der Mann war es müde gewesen, nichts anderes vor Augen zu haben als den weiten Horizont. Und in der Tat, man konnte es sattbekommen, ständig nur Gras, ab und an einen Mesquitebaum und Kakteen zu sehen. Er sehnte sich nach Hügeln und Tälern und Flüssen, die breiter waren als die Bäche, die man zu Fuß durchwaten konnte.

Unwillkürlich fragte sich Connor, wonach Lady Lara Gillespie sich sehnte. Oder was sie nicht mehr sehen konnte.

Felix Gillespie war etwas kleiner als seine Gattin, mit einem ziegenähnlichen Kinnbart, einem tadellos geschnittenen Oberlippenbärtchen und Haupthaar, das zu lang war für Connors Geschmack.

Felix stand mit leicht gespreizten Beinen da, als sei er bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Seine Lippen waren nach oben gebogen, doch das Lächeln reichte nicht bis in seine Augen.

Wäre Felix auf der XIV-Ranch um Arbeit vorstellig geworden, Connor hätte ihn nicht angeheuert – seinem Gefühl nach war es besser, den Mann eine Zeit lang im Auge zu behalten, bis sich herausgestellt hatte, ob er Freund oder Feind war.

Felix und seine Frau lebten noch auf Bealadair, ein Umstand, der Connor erstaunte. Zu Hause in Texas bereitete seine jüngste Schwester sich auf ihre in ein paar Monaten stattfindende Hochzeit vor; die anderen vier waren bereits verheiratet. Eustace und Joe würden eines der Häuser im westlichen Gebietsbereich beziehen, bis sie sich dort ein eigenes Haus bauen konnten.

Connor war zwar der Erbe der Ranch, doch er teilte seinen Wohlstand aus Überzeugung. Joe Pike, der Mann, den Eustace heiraten würde, hatte mehr als einmal unter Beweis gestellt, dass er es wert war, und Connor übereignete ihm und seiner Schwester gern ein paar tausend Acres, damit sie einen Anfang machen konnten.

Lady Anise, die Nächste in der Reihe derjenigen, die ihm vorgestellt werden sollten, hatte weichere Gesichtszüge, eine weniger kräftige Nase und einen nicht ganz so breiten Mund. Sie lächelte nicht. Auch nicht, als ihre Mutter ihren Namen nannte. Dafür neigte sie majestätisch den Kopf.

Im Gegensatz zu ihren beiden älteren Schwestern strahlte Lady Muira ihn an. Connor war erstaunt.

„Möchten Sie nicht zum Kamin treten und sich ein bisschen aufwärmen, Euer Gnaden?“, fragte sie ohne lange Vorrede. „Sicher haben Sie auf der Reise hierher erbärmlich gefroren, und ich bin froh, dass Sie eingetroffen sind, bevor das Schneetreiben schlimmer wurde.“

Muiras Augen waren kleiner als die ihrer Schwestern, ihre Brauen überraschend markant. Sie hatte rosig überhauchte Wangen. Ihr Mund war so breit wie der von Lara. Connor gewann den Eindruck, dass Muiras Aussehen für die Menschen zweitrangig war. Ihm zum Beispiel war viel wichtiger, dass er sich das erste Mal, seit er das Haus betreten hatte, willkommen geheißen fühlte, vielleicht auch deshalb, weil Muira ihn an Eustace erinnerte.

„Wollen Sie damit sagen, das Schneetreiben kann noch schlimmer werden?“ Er erwiderte das Lächeln.

„Aber ja, sicher. Es sieht so aus, als dürften wir uns auf einen unserer aufsehenerregenden Hochlandschneestürme gefasst machen. Dann könnte es sein, dass wir wochenlang eingeschneit sind.“

Er hoffte ernsthaft, dass es nicht so kam. Er wollte die Angelegenheit hinter sich bringen, aus dem Weg schaffen und in ein paar Wochen wieder zu Hause sein.

„Wir sind dabei, die Vorbereitungen für die Begrüßung des Lairds zu treffen, Euer Gnaden. Sie wird in zehn Tagen abgehalten werden.“

Er drehte sich zu seiner Tante um. „Die Begrüßung des Lairds? Was ist das?“

Glassey, der verschwunden schien, seit sie das Haus betreten hatten, hatte nichts dergleichen erwähnt.

„Es ist Tradition, dass die Mitglieder des Clans sich versammeln, um den neuen Laird zu begrüßen, Euer Gnaden. Ursprünglich eine sehr formelle Veranstaltung, die auf Castle McCraight ihren Anfang nahm und in diesem Raum ihren Abschluss fand. Daraus wurde vor hundert Jahren ein Ball. Weniger formell, dafür aber sehr viel unterhaltsamer.“

Er bezweifelte es. Mit der Vorstellung eines Balls verband er nichts Unterhaltsames.

„Unter normalen Umständen würden wir ein solches Fest nach dem Tod des lieben Gavin natürlich nicht geben“, fuhr Rhona fort, „aber Euer Gnaden dem Clan vorzustellen ist etwas anderes. Selbst Verwandte, die in London leben, haben angedeutet, dass sie gern kommen würden.“

Er hatte ein bisschen Erfahrung mit Entfernungen und damit, wie lange es dauern konnte, sie zurückzulegen. Wenn die in Rede stehenden Gäste dieses Balls sich dem aussetzen mussten, was er und Sam auf der Reise von London hierher zu ertragen hatten, fragte er sich, ob der Anlass es wirklich wert war.

Doch in den Augen der Duchess stand ein Ausdruck von Eifer, den er gut kannte. Seine Schwester Barbara pflegte ihn genauso anzusehen, wenn ihr Ehemann auf Reisen war und sie eine Begleitung brauchte, weil sie eine Einladung zu irgendeiner Festivität erhalten hatte. Dieser Blick war ein sicheres Zeichen dafür, dass er bei der Soirée, die die Duchess und seine Cousinen planten, anwesend sein würde.

Er schoss Sam einen Blick zu, doch der hatte sich in einem Sessel in der Nähe der Duchess niedergelassen und starrte sie immer noch hingerissen an.

Seine Tante schien ihm eine dieser hochnäsigen Personen zu sein, die sich anderen überlegen glaubten, nur weil sie zu einer bestimmten Familie gehörten – was, wie Connor fand, reines Glück war und sonst nichts. Sie hätte genauso gut die Tochter seines Kochs auf der Ranch oder von einem seiner Schmiede sein können.

Titel beeindruckten ihn nicht sonderlich; ein Umstand, den Mr. Glassey noch nicht verstanden hatte.

Stolz war gerechtfertigt, wenn man seine Arbeit gut machte. Connor arbeitete gern, von der Morgen- bis zur Abenddämmerung. Das war es, worauf es ankam.

Als die Duchess ihm bedeutete, Platz zu nehmen, blieb er stehen. Er wollte nicht sitzen, das hatte er die vergangenen zwölf Stunden getan, noch wollte er Konversation machen. Er hatte keine Lust, über das Wetter zu reden. Es schneite nach wie vor, und es sah so aus, als würde es weiterschneien. Was gab es da zu sagen? Auch wollte er nicht über seinen Vater sprechen. Jedenfalls noch nicht. Und schon gar nicht, wenn er sich nicht ganz auf der Höhe fühlte.

Auf diesem Anwesen, in diesem riesigen Haus war sein Vater aufgewachsen. An diesem Ort hatte Graham zwanzig Jahre seines Lebens verbracht. Einem Ort, über den er nie gesprochen hatte.

Er konnte sich seinen Vater hier nicht vorstellen, nicht in diesem überladenen Raum mit den Kronleuchtern und dem scharlachroten Samt. Aber es war natürlich nicht ausgeschlossen, dass ihn irgendetwas in dem Haus plötzlich an Graham erinnern würde. Connor fragte sich, ob er innerlich darauf vorbereitet war, und der Gedanke erschien ihm merkwürdig und verwirrend. Vielleicht hatte er darum nicht nach Schottland reisen wollen, aus Angst, sich wieder mit seinem Vater befassen zu müssen. Statt mit Geistern würde er mit Erinnerungen konfrontiert sein. Nicht seinen eigenen, sondern denen seines Vaters und der Familie, die er nicht kannte. Von der er nicht einmal so recht wusste, ob er sie kennen wollte.

Er ging zu einer der hohen Fenstertüren. Als er sie erreichte, konnte er die kalte Zugluft von draußen spüren und fragte sich, warum man die Vorhänge nicht zugezogen hatte. Andererseits war die Aussicht auf die Fackeln und den fallenden Schnee nicht schlecht.

Es war eine merkwürdige Erfahrung für ihn, einem Schneesturm zuzusehen und sich keine Sorgen um seine Männer und sein Vieh machen zu müssen.

Ein weiterer Grund, weshalb er eigentlich nicht hier sein sollte. Der Winter war eine gefährliche Jahreszeit auf der Ranch. Sicher, er hatte eine Mannschaft verlässlicher und engagierter Verwalter. Er würde ihnen vertrauen müssen, genau wie sein Vater ihm vertraut hatte.

Ich werde nicht ewig leben, Connor. Ich glaube an dich. Ich weiß, dass du alles richtig machen wirst. Das hast du immer getan.

War es richtig gewesen, nach Schottland zu reisen? Wenn es nach seiner Mutter ging, ja. Selbst seine Schwestern waren dafür gewesen. Doch jetzt, da er hier stand und den Widerhall der Vergangenheit in diesen Räumen spürte, fragte er sich, ob er nicht doch einen Fehler gemacht hatte.

Er wollte nicht hier sein. Nicht mit Menschen sprechen, die er nicht kannte, über Themen, die ihm gleichgültig waren, in einer Umgebung, die er nicht mochte.

„Findest du nicht, Connor?“, fragte Sam in seine Gedanken hinein.

Ohne sich umzudrehen wusste er, dass Sam ihn vorwurfsvoll anblickte. Ein mahnender Ton lag in seinen Worten, zweifellos hatte er ihn verdient. Er hatte es an Höflichkeit fehlen lassen. Um genau zu sein, verhielt er sich ungehobelt.

Oder, wie seine Schwester Alison es zu formulieren pflegte: „Manchmal kannst du beleidigend wortkarg sein, Connor.“

Seiner Meinung nach übertrieb sie, aber er verstand, was sie meinte. Er sollte geselliger sein, aufgeschlossener, mehr Zeit damit verbringen, sich leichtlebig zu gebärden und irgendwelchen Unsinn von sich zu geben.

Er wandte sich um und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht.

In diesem Moment ging die Tür auf, und jeder Gedanke an steife Höflichkeiten verflüchtigte sich beim Anblick der Person, die den Raum betrat.

4. KAPITEL

Leise öffnete Elsbeth die Tür. Genau in dem Moment, da sie die Laird’s Hall betrat, drehte der neue Duke sich um und starrte sie an.

Niemand hatte ihr gesagt, dass er ein Mann in seinen besten Jahren war. Wieso hatte Mr. Glassey nicht erwähnt, dass er so groß war und den Raum beherrschte, selbst einen so riesigen, eindrucksvollen wie die Laird’s Hall.

Sie merkte, wie ihr der Atem stockte, eine absolut lächerliche Reaktion. In Gegenwart eines gut aussehenden Mannes hatte sie noch nie die Fassung verloren, und das würde sie auch jetzt nicht tun, zumal dieser Mann einen so weitreichenden Einfluss auf ihre Zukunft nehmen konnte.

Sie trat beiseite, als eine Prozession an Hausmädchen hereinkam, Tabletts mit heißen Erfrischungen in den Händen, die sie auf den zahlreichen Beistelltischen verteilten. Es war schon spät, die Zeit für ein Dinner lange vorbei, doch sie hatten dafür gesorgt, dass der Duke und seine Begleitung etwas zu essen haben würden, wenn sie hungrig von der Reise waren.

Der neue Duke sah aus, als wolle er etwas sagen, doch dann sah er beiseite und wandte sich zu Rhona um.

Er hatte seinen Mantel nicht ausgezogen. Der Majordomus war krank, doch eine so elementare Handreichung wie dem Gast seinen Mantel abzunehmen hätte auch einer der Lakaien erledigen können, oder etwa nicht?

Elsbeth ging auf den neuen Duke zu und streckte die Hand aus. „Euer Gnaden, wenn Sie mir Ihren Mantel geben wollten?“

Er sah sie an.

Nahm er Anstoß an ihrem Kleid? Im Gegensatz zu den McCraight-Schwestern trug sie keine Toga mit Schottenmuster zu dem einfachen schwarzen Seidenkleid, das jedoch weder abgetragen noch fleckig war. Fand er es womöglich zu schlicht?

Nein, sie würde keine Närrin aus sich machen. Was kümmerte es sie, was er von ihrem Kleid hielt?

Sie hatte kalte Füße. Ihre Schuhe waren zu dünn für den Schnee. Am liebsten hätte sie sich wie Felix vor den Kamin gestellt. Oder wie Muira eine heiße Schokolade eingegossen. Stattdessen stand sie da wie eine höhergestellte Bedienstete und wartete höflich, dass der Gast ihr seinen Mantel reichte.

„Danke.“ Er zog den Mantel aus, legte ihn der Länge nach zusammen und übergab ihn ihr.

Er war überraschend schwer, viel schwerer, als sie erwartet hatte.

Sie sah beiseite und begegnete Rhonas Blick.

Anscheinend hatte sie wieder etwas Falsches getan, doch im Moment war sie zu beschäftigt, um sich Gedanken darüber zu machen. Sie hatte es aufgegeben, die Anerkennung der Duchess zu gewinnen.

„Es liegt daran, dass du so viel hübscher bist als wir“, hatte Muira ihr einmal gesagt.

Woraufhin Elsbeth die Freundin ungläubig angestarrt hatte.

„Red keinen Unsinn! Ich bin nicht hübscher als ihr.“

„Oh doch, das bist du.“ Muira hatte bekräftigend genickt. „Jeder kann es sehen. Du bist eine Schönheit, während wir nur akzeptabel aussehen.“ Wenn Muira lächelte, veränderte sich ihr Gesicht. Ihre braunen Augen funkelten, und auf ihren runden Wangen zeigte sich ein schmeichelhafter Roséton. „Mir macht das nichts aus. Ich möchte nicht so hübsch sein, dass jedermann mich anstarrt. Anise ist wahrscheinlich neidisch, aber alle Welt weiß um ihre Eitelkeit.“

Elsbeth verdrängte Muiras Worte aus ihren Gedanken. Weder konnte sie etwas für ihre grauen Augen noch für ihr schwarzes Haar. Und die McCraight-Mädchen waren genauso hübsch wie sie, allen voran Anise.

Wenn die Duchess sie nicht mochte, weil sie kein hässliches Entlein war, konnte sie nichts dagegen tun. Allerdings lag der wahre Grund dafür, dass Rhona und sie nicht miteinander auskamen, wohl eher in Elsbeths Beziehung zu dem verstorbenen Duke. Mit den Jahren waren Gavin und sie gute Freunde geworden und Elsbeth hatte nicht nur jeden Tag den Tee mit ihm in der Bibliothek eingenommen, sondern es sich auch angewöhnt, von der Reparatur des undichten Dachs bis hin zu Fragen der Poesie alles mit ihm zu besprechen. Er wiederum hatte mit ihr über seine Schwierigkeiten geredet, die Geschichte der McCraights zu Ende zu schreiben, und sie davon abbringen wollen, zu viel zu arbeiten.

Für sie waren diese Gespräche etwas Besonderes gewesen, denn sie hatten ihr das Gefühl gegeben, dass sie nach Bealadair gehörte, jedenfalls manchmal. Es war kein Wunder, dass sie dieses Gefühl seit Gavins Tod nicht mehr hatte.

Sie wies Maisie, eine der erfahreneren Bediensteten an, bei der Tür stehen zu bleiben für den Fall, dass jemand noch etwas brauchte.

„Behalten Sie die Tabletts im Auge, Maisie. Und wenn etwas nachgereicht werden muss, gehen Sie sofort zur Küche und holen es.“ Sie hatten wahrhaftig genug Essen vorbereitet.

Mit der Anweisung, ihn sorgfältig zu trocknen, übergab Elsbeth den Ledermantel einem der Hausmädchen. Die Bedienstete und sie tauschten einen Blick. Der Mantel war mit unglaublich dickem, flauschigem Fell gefüttert und wahrscheinlich das wärmste Kleidungsstück, das sie beide je gesehen hatten. Die Außenseite des Leders war aufgeraut, Wassertropfen perlten daran herab.

„Amerikanisch, nicht wahr?“ Das Hausmädchen musterte sie fragend.

Elsbeth nickte. „Ich nehme es an.“

Wieso hatte Mr. Glassey sie nicht informiert, dass der neue Duke so ungewöhnlich gekleidet war? Abgesehen davon – wo war der Anwalt überhaupt abgeblieben?

Sie fand ihn damit beschäftigt, die Verteilung des Gepäcks aus den zwei Kutschen zu überwachen.

„Sie sollten das nicht tun müssen“, erklärte sie kopfschüttelnd und setzte hinzu, dass der Majordomus die Aufgabe erledigt hätte, wäre er nicht krank. „Mr. Barton leidet an einem Gichtanfall. Der arme Mann hütet seit fast einer Woche das Bett.“

„Es macht mir keine Mühe, Miss Carew.“

In genau diesem Moment stolperte einer der Lakaien durch die Tür, einen Sattel auf der Schulter, wie Elsbeth ihn noch nie gesehen hatte, weder was die Form noch die Verzierungen anging. Die Punzierung war kunstvoll und aufwändig und bedeckte fast das gesamte Leder.

Sie gab Anordnung, den Sattel in die Stallungen zu bringen, doch Mr. Glassey unterbrach sie hastig. „Verzeihen Sie, Miss Carew, aber Seine Gnaden wollte den Sattel in sein Zimmer gebracht haben, wenigstens bis er sich vergewissert hat, dass der Stall in Ordnung ist.“

„In Ordnung ist?“

„Wir haben den Sattel in Kutschen, an Bord von Schiffen und in mehreren Zügen mitgeschleppt, Miss Carew. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ängstlich besorgt ist um ein Besitzstück wie Seine Gnaden um diesen Sattel.“

Wie überaus merkwürdig.

„Sind Sie wirklich ganz sicher, Mr. Glassey?“

„So sicher, wie man sich einer Tatsache nur sein kann, Miss Carew, eingeschlossen der, dass ich lebe und atme. Der Mann hat den Sattel nicht aus den Augen gelassen.“

„Also gut“, widerrief sie ihre eigene Anweisung. Dann würde sie den Sattel eben in die Suite des Dukes schaffen lassen.

Unwillkürlich fragte sie sich, was Seine Gnaden wohl sonst noch aus Amerika mitgebracht hatte.

„Ich überwache die Verteilung der restlichen Koffer und Truhen“, bot sie Glassey an. „Sie können sich unterdessen in die Laird’s Hall begeben.“

Der Anwalt kannte den Weg. In der Laird’s Hall war Gavins Testament verlesen worden statt in der Bibliothek, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. So wie seine Vorgänger unter den Lairds des Clan McCraight hatte er um die Anwesenheit der Mitglieder seines Stammes gebeten. Heute zählten sie etwas über zweihundert. An jenem Tag hatten sie sich in der Halle versammelt und vernommen, dass der Laird jedem von ihnen eine bestimmte Summe vermacht hatte. Der Betrag war nicht groß, aber er würde ihr Leben leichter machen. Wenn Tränen vergossen wurden, dann nicht nur aus Wertschätzung für die Großzügigkeit des Lairds, sondern aus echter Trauer um den Duke, den sie verloren hatten.

Wusste der neue Duke, welche Verpflichtungen er dem Clan gegenüber hatte? Die Zeit würde es zeigen.

„Mir wäre es lieber, Miss Carew, wenn Sie mich diese Arbeit erledigen ließen. Seine Gnaden und ich waren in den letzten Tagen nicht immer einer Meinung.“

Normalerweise fiel es ihr leicht, ihre Neugier im Zaum zu halten, nicht jedoch an diesem Abend.

„Ist es schwierig, mit ihm auszukommen?“, konnte sie sich nicht zurückhalten zu fragen.

Mr. Glassey sah sie an, dann sah er beiseite.

Sie dachte schon, dass er nicht antworten würde, doch dann seufzte er und sah sie wieder an.

„Seine Art zu denken ist gewöhnungsbedürftig, Miss Carew.“

Elsbeth schwieg, wartete auf weitere Erklärungen.

„Seine Gnaden wollte nicht nach Schottland kommen. Er fragte mich sogar, ob es eine Möglichkeit gäbe, den Titel abzulehnen.“

„Das kann er nicht ernst gemeint haben, Mr. Glassey“, Elsbeth war fassungslos.

„Ich fürchte, doch, Miss Carew. Während der gesamten Reise hielt er mir täglich vor, welche Pflichten er zu Hause erfüllen müsste. Er schätzt es nicht, hier zu sein.“

Sie hatte den Eindruck, dass Mr. Glassey es genauso wenig geschätzt hatte, nach Amerika und wieder zurück reisen zu müssen. Als sie, so taktvoll sie konnte, eine diesbezügliche Andeutung machte, schüttelte der Anwalt hastig den Kopf.

„Es ist nicht Amerika, Miss Carew. Sondern Texas. Und daran wurde ich praktisch stündlich erinnert. Der vierzehnte Duke of Lothian ist Texaner.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Mr. Glassey schüttelte abermals den Kopf. „Ich bin sicher, er wird Sie schneller darüber aufklären, als Ihnen lieb ist.“

Mehr war dem Anwalt nicht zu entlocken, und er weigerte sich auch, seinen Platz bei der Tür zu verlassen. Als alle Gepäckstücke auf die verschiedenen Zimmer verteilt waren, blickte er sehnsüchtig zur Treppe.

„Ich nehme nicht an, dass Sie den andern erzählen würden, ich sei plötzlich krank geworden und hätte mich auf mein Zimmer zurückgezogen?“

Der Anwalt pflegte nicht mit der Familie zu verkehren. Wenn er auf Bealadair weilte, nahm er nicht einmal das Dinner mit ihnen ein, sondern ließ sich sein Essen auf dem Zimmer servieren. Elsbeth hatte sich immer gefragt, ob er die McCraights nicht mochte oder ob er sich mehr als Angestellter und nicht so sehr als gesellschaftlich gleichgestellt betrachtete. Aber das war keine Frage, die sie mit ihm erörtern konnte.

„Möchten Sie, dass ich es tue?“

Er seufzte wieder. „Nein, ich glaube nicht. Es wäre ungehobelt, und Ihre Gnaden hat vielleicht Fragen an mich.“

Autor

Karen Ranney
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