Gewagte Annäherung & missachtete Etikette - Gentlemen in Versuchung (3-teilige Serie)

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DER DUKE UND DIE VERBOTENE VERSUCHUNG
Sie ist die schönste Frau, die Gabriel Sinclair jemals gesehen hat - beim Anblick von Miss Thea Neville verschlägt es ihm die Sprache! Noch sprachloser ist der angehende Duke allerdings, als er erfährt, was seine Tante von ihm verlangt: Er soll die betörende Amerikanerin in die Kunst englischer Benimmregeln einführen. Damit sie in der feinen Gesellschaft möglichst schnell eine gute Partie macht! Der Gedanke, dass schon bald ein fremder Gentleman seinen Schützling sinnlich küsst, missfällt Gabriel außerordentlich. Wenn er Thea schon gesellschaftliche Regeln beibringt, will er auch derjenige sein, der sie das Lieben lehrt …

SKANDALÖSE VERLOBUNG MIT LORD TOWNSEND
Er ist der gefeierte Held der Stunde - besonders bei der Damenwelt! Seit seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen Napoleon wird Lord Cooper Townsend von schwärmerischen Debütantinnen bedrängt. Wie anders ist doch da die unkonventionelle Miss Daniella Foster! Sie will ihn keineswegs in eine Ehe locken. Nein, sie bittet ihn nur herauszufinden, wer ihre Schwester erpresst. Dass Cooper ihr trotzdem einen skandalösen Kuss raubt - ein sinnliches Versehen. Doch als Gefahr droht, muss er sich mit Dany eilends zum Schein verloben. Plötzlich hat Seine Lordschaft ein ernstes Problem: unzähmbare Leidenschaft …

PIKANTES LÜGENSPIEL MIT DEM VISCOUT
Ich werde mich um deine Tochter kümmern. Das Versprechen, das Darby Travers, Viscount Nailbourne, seinem sterbenden Freund gegeben hat, muss er einhalten! Was zu einer Herausforderung wird, als besagte Tochter vor seinem Anwesen in Wimbledon steht. Denn die kleine Marley wird von einer ebenso hinreißenden wie widerspenstigen Schönheit begleitet: Sadie Grace Boxer, der Schwester des Verstorbenen. Sadies aufsässigen Mund mit heißen Küssen zum Schweigen zu bringen, erscheint Darby bald ausgesprochen reizvoll. Oder sie gar zu seiner Viscountess zu machen? Wenn er bloß nicht das Gefühl hätte, dass sie ihm ein gefährliches Geheimnis verschweigt …


  • Erscheinungstag 20.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520461
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Ralf Markmeier
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2015 by Kathryn Seidick
Originaltitel: „An Improper Arrangement“
erschienen bei: HQN Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLD
Band 342 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Elisabeth Hartmann

Abbildungen: Harlequin Books S.A., MightyTravelier / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733736590

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

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PROLOG

Die Schlacht von Champaubert

10. Februar 1814

G abriel Sinclair hatte seine Freunde im Lauf der Jahre schon zu zahlreichen verrückten Einsätzen oder Unternehmungen überredet, doch dabei ging es immer um Spaß, Abenteuer und, seit sie zu Männern herangewachsen waren, ziemlich oft um willige Frauen.

Was keine Erklärung dafür war, warum sie ihm dieses Mal gefolgt waren, da nichts als Kälte, Langeweile und der Verzicht aufs Mittagessen winkten – wobei Letzteres nicht unbedingt als besonders großes Opfer betrachtet werden konnte.

Große Schlachten seien nicht mehr zu erwarten, hieß es allerorten, schon gar nicht, nachdem die alliierten Truppen Napoleons Heer bei La Rothière in Grund und Boden gestampft hatten. Jetzt war jeden Tag damit zu rechnen, dass Boney abdankte, die Krone niederlegte und sie alle nach Hause gehen konnten.

„Erklär uns noch mal, warum wir hier sind, Gabe, und Frostbeulen an unsern kostbarsten Körperteilen riskieren“, sagte Cooper Townsend und wickelte sich noch fester in seinen Uniformmantel. „Hat unser russischer Freund uns am falschen Ort kampieren lassen?“

„Ich dachte, darüber wären wir uns schon einig. Alle tun so, als wäre der Krieg bereits vorbei“, brummte Gabriel und betrachtete die grobe Karte, die er zuvor gezeichnet hatte, als er allein die Gegend auskundschaftete. Es war nicht so, dass er Englands Verbündetem nicht traute, aber er setzte eben mehr Vertrauen in sich selbst. Außerdem erteilte er lieber Befehle, statt welche zu empfangen, und es ärgerte ihn, dass sie sich nun laut Befehl den Russen anschließen sollten. „Schau dir das an, Rigby“, er hielt Jeremiah Rigby die Karte unter die Nase. „Fünftausend Männer, aber von Blücher im Stich gelassen und weit auseinandergezogen wie weicher Karamell. Unser freundlicher Gastgeber, der liebe General Olsufiew, muss noch die Hälfte der benötigten Wachen aufstellen, und die wenigen, die bereits im Einsatz sind, verstecken sich nur in den Büschen und schnarchen.“

„Aber nicht die, die wir wachgetreten haben, als wir hierherkamen.“ Cooper grinste. „Mein einziges Vergnügen seit Tagen.“

Ohne auf die Bemerkung einzugehen, fuhr Gabriel fort, seine Ansicht darzulegen. „Ein kräftiger Biss in diesen dünnen Karamell, und die Franzosen haben unsere Linien durchbrochen – und wir haben keinerlei Rückendeckung bis auf einen halb zugefrorenen Fluss.“

„Ja, ja, sehr schön. Mit Worten bist du geradezu ein Künstler, Gabe. Nicht, dass ich dieses Ding entziffern könnte.“ Jeremiah Rigby stieß die jämmerliche Karte von sich. „Schlimmer noch, jetzt habe ich Appetit auf Karamell.“ Er zwinkerte Cooper zu. „Hätte auch nichts gegen ein Kaninchen einzuwenden, wenn ich’s mir recht überlege. Da wir überhaupt keine Franzosen gesichtet haben, könnten wir diese lächerliche Patrouille, zu der du uns alle geprügelt hast, Gabe, doch aufgeben und stattdessen auf die Jagd gehen.“

„Später, Leute, nicht jetzt. Unser Weltuntergangsprophet könnte doch noch recht behalten. Wäre zwar eine Schande, aber es geschehen ja ständig die merkwürdigsten Dinge.“

Sie alle wandten sich Darby Travers zu, der mit dem Fernglas träge den Horizont absuchte, weil nichts anderes zu tun war.

„Gib her, das gehört mir. Siehst du? Genau hier ist ein Name eingeritzt, gleich unter dem meines Großvaters. Er hat es geschenkt bekommen, als er am Hof von Russlands Zarin Elisabeth England repräsentierte. Wir haben eine Zeit lang dort gelebt, und so hat Papa es geschafft … Na, jedenfalls habe ich dir nicht erlaubt, es anzufassen.“ Myles Neville, der jüngste ihrer kleinen Kundschafter-Truppe, schnappte sich das Fernglas und stand auf, wurde aber von den anderen rasch an der Hose gepackt und wieder nach unten gezogen.

„Herrgott, du bist ja schlimmer als ein Kleinkind, das um seine Spielsachen streitet“, schimpfte Gabriel. „Blöde Bohnenstange. Warum schwenkst du nicht gleich eine Fahne? Was hast du entdeckt, Darby?“

„Sonne, reflektiert von Metall, genauso, wie irgendwer da drüben den Lichtreflex auf dem Fernglas gesehen haben wird. Das glaube ich zumindest. Unter den Bäumen auf der anderen Seite der Wiese. In etwa dreihundert Meter Entfernung, würde ich sagen. Ich habe es nicht nur einmal, sondern zweimal aufblitzen sehen, an zwei verschiedenen Stellen.“

„Wahrscheinlich eine von unseren Patrouillen.“ Neville hob das Fernglas an die Augen und suchte die Baumgrenze ab. „Wo? Ich kann nichts sehen.“

„Ein Wunder, dass er das Glas richtig herum hält“, murmelte Darby und rieb sich die kalten Hände.

„Also, das war gemein, Darby. Schäm dich.“ Rigby wandte sich Gabriel zu und flüsterte nicht übermäßig leise: „Erklär mir noch mal, warum wir diesen Milchbart überhaupt mitgeschleppt haben.“

„Gewiss nicht nur deshalb, weil er so nett darum gebeten hat, das kannst du mir glauben. Ich dachte, er könnte sich vielleicht als nützlich erweisen. Rückblickend war das nicht eben ein genialer Gedanke. Aber er spricht Russisch, hast du das vergessen? Der Einzige von uns, der die Sprache beherrscht, falls wir Olsufiew in aller Eile eine Nachricht schicken müssen. Andernfalls wollten wir ihn, falls du dich erinnerst, an eine Zeltstange fesseln, damit er sich nicht verläuft.“

Der junge Neville wischte sich das widerspenstige Haar aus den Augen, wirkte vorübergehend perplex, schien dann jedoch einen Entschluss zu fassen. „Ich soll gehen und dem General Meldung erstatten, nicht wahr? Aber was soll ich ihm melden? Bisher haben wir nichts außer diesen Lichtreflexen gesehen. Wir wissen doch gar nicht, ob unter den Bäumen da unsere eigene Patrouille läuft oder Boneys gesamtes Heer sich zum Angriff sammelt.“

„Kaum zu fassen, ich glaube, ich bin der gleichen Meinung wie der Kleine. Er muss wohl irgendwann einmal ein Buch gelesen haben oder so. Myles, vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für dich.“ Gabriel spie auf den Boden.

„Tatsächlich? Dann, hm, ja … Dann mache ich mich mal auf den Weg, um … um was?“

„Um den Stab des Generals zu alarmieren, Sergeant Major Ames zu holen und ihm zu sagen, er möge zwei Dutzend von unseren Besten abkommandieren, damit sie längs der Hügelkuppe Streife gehen, und sie dann im Laufschritt zu uns schicken, wo sie weitere Befehle erhalten werden“, erwiderte Gabriel müde. „Fang mit Ames an, danach sprichst du mit dem General. Wenn du zum Sergeant Major zurückkehrst, hat der die Jungs aufgestellt. Hast du das verstanden, Myles, oder müssen wir es dir schriftlich geben?“

„Natürlich habe ich verstanden. Ich bin ausgesprochen intelligent. Deswegen konnte mein Vater mich als Adjutanten im Generalstab unterbringen, wo ich außer Gefahr … Ach, was. Wir brauchen gute englische Truppen, um diese verdammten Froschfresser im Auge zu behalten. Ihr habt die Männer in zwanzig Minuten, mein Wort als Gentleman darauf.“ Er trabte los, mit ihrem einzigen Fernglas am Gürtel.

Cooper schaute ihm versonnen nach. „Gentleman darf er sich erst dann nennen, wenn dieser verdammte Kammerdiener, den sein Vater ihm mitgegeben hat, es für nötig befindet, ihn öfter als zweimal pro Monat zu rasieren. Aber hügelabwärts, womöglich sogar auf der Flucht vor dem Feind, legt er ein gutes Tempo hin, dank seiner langen Beine und so.“

Auch Gabriel folgte der Bohnenstange mit dem Blick, beobachtete, wie die stockdürren Beine sich seltsam unkoordiniert bewegten, Myles aber irgendwie dennoch aufrecht hielten. „Väter und ihr Ehrgeiz. Neville ist der einzige Grund dafür, dass unser Truppenkontingent hier steht, um den Kleinen zu hüten, statt beim Hauptheer zu bleiben. Herrgott, wie ich den Kerl hasse. Vielleicht hätten wir Myles nicht allein losziehen lassen sollen. Es war ganz sicher nicht seine Idee, England zu verlassen. Wenn er auch nur mit einem verstauchten Knöchel zu seinem einflussreichen Papa heimkehrt, werden wir wahrscheinlich alle vor Gericht gestellt.“

„Vielleicht war die Zeltstange doch die bessere Idee. Wie lange warten wir auf ihn, Gabe?“

„Nicht lange. Nur, bis er mit unseren Männern zurückkommt. Seht es doch einfach so, Jungs: Auch, wenn Darby vielleicht nur eine unserer eigenen Patrouillen gesehen hat, sind wir Myles erst einmal los.“

Cooper grinste. „Jedes Ding hat zwei Seiten, wie man so schön sagt.“

Da sonst nichts zu tun war und selbst Darby anfing, an dem zu zweifeln, was er glaubte, gesehen zu haben, hockten sie sich nieder und behielten die Baumgrenze im Auge.

Gabe wusste, dass seine Freunde ihm hierher gefolgt waren, weil er schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit stets automatisch das Kommando übernahm. Aber ob das so gut war? Sie besaßen jetzt alle den gleichen Rang und hatten jeweils ihre eigenen Leute befehligt, bis sie Gabes kombinierter englisch-russischer Truppe zugewiesen wurden. Wenn sie sich nun in die Nesseln setzten, indem sie auf eigene Faust losschlugen … und dadurch ziemlich eindeutig zeigten, dass ihr Glaube an die militärische Genialität des russischen Generals sich in Grenzen hielt? Sie waren schließlich keine halbbetrunkenen Freunde, die ihre Uniformmäntel auf einer Zechtour schwungvoll wie Matadore einsetzten, um einen Stier zu verwirren, nein, sie waren bewährte Soldaten, die den möglichen Angriff eines verzweifelten Feindes diskutierten.

„Wenn ich nun recht habe?“, fragte Gabriel leise.

Cooper gähnte. „Womit?“

„Mit Bonapartes verzweifeltem Bedürfnis, einen Sieg zu erringen. Wenn er nun tatsächlich da draußen steht?“

„Ah, ich verstehe, was Sache ist, Coop“, mischte Darby sich munter ein. „Unser lieber Freund hier zweifelt tatsächlich an sich selbst. Für alles auf der Welt gibt es ein erstes Mal. Sorge dich nicht wie ein altes Weib, Gabe. Wir sind hier alle einer Meinung. Und was sollten wir an diesem gottverlassenen Ort sonst auch tun?“

„Danke, Darby, für das schwache Lob. Trotzdem hätten wir keinen großen Vorsprung, falls er sich wirklich da draußen im Wald versteckt.“

Cooper klopfte Gabriel auf den Rücken. „Die Bäume auf der anderen Seite der Wiese sind weit weg. Denk an deinen Shakespeare: ‚Nicht Tod und nicht Verderben ficht mich an, kommt Birnams Wald nicht her nach Dunsinane.‘“

Gabe lachte leise. „Tja, und was hat diese Prahlerei dem guten Macbeth genützt?“

Rigby hob den Kopf, vermutlich, um seine jämmerlich abstehenden Ohren zu spitzen. „Hört um Himmels willen auf, Shakespeare zu zitieren. Wenn Darby nicht die Prüfungsarbeit für mich geschrieben hätte, würde ich immer noch bis über beide Ohren in Theaterstücken und Sonetten stecken und allen Spaß versäumen. Was nicht heißt, dass wir im Moment viel Spaß hätten.“

Cooper streckte seine Beine auf dem kalten Boden aus, als wollte er sich für längere Zeit einrichten. „Da hast du’s, Gabe. Lass uns weiterhin dem niederträchtigen Earl of Broxley die Schuld zuschieben, der schließlich nach wie vor der Grund dafür ist, dass wir überhaupt hier halbherzig Kindermädchen für seinen Erben spielen.“

Alle schwiegen, bis Rigby sich auf den Rücken fallen ließ, sein Bein hochstreckte und wie wild seine Wade massierte. „Ein Krampf, verdammt noch mal. Wirklich, Gabe, du hast uns weiß Gott schon Besseres geboten als das hier.“ Er richtete sich auf und spähte erneut zur Baumgrenze hinüber. „Habe bislang gar nichts gesehen, nicht einmal ein Kaninchen für den Topf. Wie spät ist es, Darby, alter Knabe?“

„Fast zehn Uhr. Wir warten schon länger als zwanzig Minuten.“

Gabriel hatte inzwischen die Umgebung zu ihrer Rechten und Linken begutachtet und im Geiste bereits die Soldaten aufgestellt, die Neville mitbringen würde. Alle hundert Meter ein Mann würde reichen, und es gab reichlich Deckung. „Er sollte inzwischen eigentlich zurück sein oder zumindest den General benachrichtigt und Ames zu unserer Unterstützung geschickt haben.“

Rigby lachte schnaubend. „Wahrscheinlich musste er erst einmal die Unterhose wechseln, weil er sich aus Angst vor der Schlacht bepisst hat.“

„Horcht mal. Ist euch aufgefallen wie still es ist, trotz Rigbys Freude an seinem eigenen Witz? Keine Vögel, keine kleinen Tiere, die im Unterholz rascheln. Wir sind nicht die Einzigen, die den Atem anhalten und warten, was als Nächstes passiert.“

„Diese verdammt Ruhe, bevor die Hölle losbricht“, sagte Cooper und hob den Kopf, als wollte er Witterung aufnehmen. „Höchste Zeit, von hier zu verschwinden?“

„Höchste Zeit, von hier zu veschwinden“, stimmte Gabriel zu.

„Hat das nicht längst schon jemand vorgeschlagen?“, knurrte Rigby. „Ich weiß, ich dachte an …“

Was immer Rigby hatte sagen wollen, fiel einem kurzen Hornstoß zum Opfer, als eine Doppelreihe kampferprobter französischer Kavallerie aus dem Stand in Galopp fallend unter den Bäumen hervorbrach, gefolgt von einer scheinbar endlosen Reihe von Infanterie mit aufgepflanztem Bajonett. Hunderte von Vögeln stoben aus ihren Nestern in den Baumkronen gen Himmel, beinahe als wären sie Teil des Angriffs.

Welcher Befehlshaber schickte denn die Kavallerie zuerst? Ein verzweifelter Mann? Oder ein wahnsinnig kluger Taktiker, einer, der keine Angst hatte, seinen Angriff der Situation anzupassen. Es konnte nur Bonaparte persönlich sein, der ihnen entgegentrat. Gabriel verwünschte sich, weil er nicht jede mögliche Alternative berücksichtigt hatte. Er hatte seine Freunde in größere Gefahr gebracht, als ihnen gedroht hätte, wenn sie bei der Truppe verblieben wären.

„Weißt du eigentlich, wie sehr ich es hasse, wenn du recht hast!“, schrie Darby Gabriel an. Sie warfen ihre unförmigen Uniformmäntel ab, schnallten ihre Rucksäcke fest und liefen den Hügel hinab in Richtung der lichten Baumreihe, die sich zwischen ihnen und einer Schlangenlinie von Zelten erhob, die sich längs am Fluss entlangzog: ihr Lager, das ihnen jetzt so weit entfernt erschien.

Keine englischen Soldaten marschierten ihnen entgegen, um ihnen Deckung zu geben, bis sie ihre eigenen Linien erreichten. Kein Sergeant Major Ames, keine russischen Truppen formierten sich, die Waffen bereit, vor ihren Zelten. Und weit und breit kein Myles Neville in Sicht. Nur der Rauch von tausend kleinen Kochfeuern stieg vor ihnen auf, mitsamt dem Geruch von Borschtsch.

Hinter ihnen näherten sich rasant das Getrappel von Hufen und das Geschrei der Franzosen.

Hätte eine frühzeitige Warnung den Ausgang dieses Tages geändert? Wahrscheinlich nicht. Napoleon wusste, dass er dringend einen Sieg benötigte, um das Volk der Franzosen wieder um sich zu scharen, und auch, wenn seine Infanterie insgesamt nicht gut ausgebildet oder auch nur gut bewaffnet war, war sie den alliierten Truppen doch zahlenmäßig vierfach überlegen.

In weniger als einer Stunde wurde aus dem leichten Triumph von La Rothière die peinliche Katastrophe von Champaubert, wodurch die Stimmung zugunsten Napoleons umschlug und er den Mut zum Weiterkämpfen fasste. Schließlich hatte er nur zweihundert Männer verloren, die Alliierten hingegen mehr als viertausend, und ungezählte endeten in Gefangenschaft, darunter Olsufiew.

Wie durch ein Wunder überlebten Gabriel und seine Freunde die verheerende Niederlage, wenn auch nicht unbeschadet. Cooper Townsend hatte einen Schuss in die Seite abbekommen, und Jeremiah Rigby führte Darby Townsend, dessen Augen verbunden waren, den Pfad neben der Straße entlang.

„Aus dem Weg! Aus dem Weg!“

Der Befehl, in kehligem Französisch ausgestoßen, warnte die scheinbar endlose Reihe der Gefangenen und ließ sie in Schlamm und Matsch zu beiden Seiten der Straße stolpern, als eine weitere Equipage vorbeirollte.

Gabriel hob den Blick und sah gerade noch, dass der russische General und einige seiner Führungskräfte in einem von Pferden gezogenen Wagen an dem langen Zug der marschierenden Gefangenen vorbeikutschiert wurden. Ein hoher Dienstgrad brachte halt Privilegien mit sich, selbst bei einer Niederlage.

„Wo steckt Broxleys Balg?“, rief er, wohl wissend, dass der Mann kein Wort Englisch verstand, was ihm in diesem Moment allerdings egal war. Er lief dem Wagen hinterher und zerrte Cooper mit sich.

„Ich kann nicht mehr, Gabe“, keuchte Cooper, und seine Erschöpfung verhinderte jede weitere Verfolgung. „Hast du ihn gesehen? Ich habe ihn nicht gesehen.“

„Ich habe ihn gesehen. Er hockte direkt neben Olsufiew. Jemand hat ihn in eine russische Uniform gesteckt.“

„Dann steht er jetzt also unter dem Schutz des Generals. Das ist halt Politik, Gabe. Geld und Politik. Lass es dabei bewenden.“

Doch Gabriel war erzürnt, beinahe außer sich vor Wut und wusste nicht, wohin damit. Coop könnte sterben, und Darby hatte die Sehkraft mindestens eines Auges eingebüßt. Viele von ihren Männern lagen noch immer auf dem schlammigen Boden, wo sie verrotten würden. Die Franzosen hatten den gefallenen Feinden Stiefel und Waffen abgenommen, bevor sie das Schlachtfeld verließen.

„Wenn du deinen Papa siehst“, rief er dem weiterfahrenden Wagen nach, „sag ihm, dass ich ihn verfluche für das, was heute hier geschehen ist, und dich verfluche ich als einen verdammten Feigling!“

Er spürte den französischen Gewehrkolben nicht, der ihn seitlich am Kopf traf, doch als er halb in einer eisigen Pfütze liegend wieder zu sich kam, hatte er Kopfschmerzen, die ihn danach beinahe noch ein ganzes Jahr lang immer wieder quälen sollten.

Nicht ganz zwei Monate nach diesem, seinem letzten wahren Sieg war Napoleon schließlich gezwungen abzudanken, und endlich konnten alle heimkehren. Gabriel Sinclair und seine Freunde Jeremiah Rigby und Cooper Townsend suchten gerade bei White’s Entspannung, schlürften Wein und knackten Walnüsse, als der Letzte ihres Quartetts, Darby Travers, sich zu ihnen gesellte. Er warf eine zusammengefaltete Zeitung auf den Tisch und ließ sich mit düster-verächtlicher Miene in einen Sessel sinken.

„Lest das, meine Freunde. Myles Neville ist gerade von den Russen ausgezeichnet worden, für unverzichtbare Diens te , vermutlich an General Olsufiew, Mütterchen Russland und sämtlichen Geschöpfen Gottes. Die Zeitung berichtet, dass ihm in Paris ein Fest gegeben und ein Orden verliehen wurde. Ist das zu glauben? Dieser verdammte Earl of Broxley hat sich nicht damit zufriedengegeben, dass er seinen Sohn lebend zurückbekam, nein, irgendwie ist es ihm auch noch gelungen, den Hosenpisser zu einem Helden zu machen.“

1. KAPITEL

Cranbrook Chase, August 1815

B asil Sinclair, der sechste Duke of Cranbrook, lag im Sterben.

Vielleicht auch nicht.

Bei Basil konnte man nie sicher sein.

So ziemlich alles konnte ihn ins Bett stolpern und alle, die es hören wollten (eine schwindende Anzahl von Ohren), wissen lassen, dass er nicht mehr lange zu leben habe, im Begriff sei, das Zeitliche zu segnen, den Löffel abzugeben, den Abgang zu machen, mit den Füßen voran aus dem Haus getragen zu werden und so weiter.

Er war nicht immer so gewesen. Vor zwanzig Jahren war er ein glücklich verheirateter fünfter Sohn, führte das Leben eines verwöhnten und mit reichlich Geld ausgestatteten Mannes und bereiste mit seiner schönen Frau Vivien die Welt.

Vivien und Basil, Basil und Vivien, unbeschwert, ausgelassen, zu jedem Abenteuer bereit. Sorgenfrei.

Doch dann starb Boswell, der zweite Duke, nur wenige Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag. Gesund wie ein Fisch im Wasser, kreuzfidel, zechfreudig, mit einer Geliebten auf dem Lande und ein, zwei Kanarienvögeln in der Stadt. Blendend aussehend (und von vielen beneidet) war er eines Abends mit einem hübschen jungen Ding am Arm auf dem Weg zur Tanzfläche, als er plötzlich stehen blieb, etwas äußerte, was sich anhörte wie „Örp?“ , die Augen himmelwärts verdrehte und umfiel wie ein Stein.

Gelinde gesagt entnervend, aber der Bursche hatte auf jeden Fall ein gutes Leben gehabt. Alles in allem war es keine schlechte Art zu sterben.

Basil und Vivien hatten ihm die letzte Ehre erwiesen, auf ihre Art um ihn getrauert (mit einer Afrikareise, auf der sie alles jagten, was vier Beine und einen Schwanz hatte) und sich in der beruhigenden Gewissheit gewiegt, dass der Geldstrom unter Basils älterem Bruder Bennet ungetrübt weiterfließen würde.

Bis Bennet nur zwei Wochen vor seinem sechzigsten Geburtstag, während er, an der Seite seiner ihm kürzlich anverlobten und hoffentlich fruchtbaren Braut ein neues Paar Brauner durch den Hyde Park lenkte, ein ziemlich erstauntes „Örp?“ äußerte, die Augen verdrehte und auf den Kiesweg sackte. Zum Glück ließen sich die Braunen, die, wie man so sagt, „mehr Schein als Sein“ waren, leicht anhalten, bevor sie die Kutsche samt kreischender Verlobter in die Serpentine zogen.

Als die Neuigkeit fast ein halbes Jahr später Basil erreichte, nagte er an seiner Unterlippe, derweil seine liebste Vivien unter Uuuh und Aaah das Taj Mahal bewunderte und nicht mitbekam, dass ein winziger Keim der Sorge sich im Gehirn ihres Mannes eingenistet hatte.

Sechzehn Monate später, als Ballard (der vierte Duke für diejenigen, die den Überblick behalten wollen, und das wollte Basil auf jeden Fall), der gerade voller Raffinesse ein mittelmäßiges Blatt in einen Fünftausend-Guineas-Profit umgewandelt hatte, seinen Gewinn einsacken wollte, zögerte er plötzlich und äußerte etwas, was sich laut seinen Mitspielern anhörte wie „Örp?“. Gleichzeitig verdrehte er die Augen, und im nächsten Moment lag er mit dem Gesicht in den Spielchips.

Ballard hätte acht Tage später seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.

„Lass mich raten“, sagte Jeremiah Rigby und hob eine Hand, um seinen Freund Gabriel bei der Wiedergabe dieser Geschichte zu unterbrechen. Die beiden Freunde saßen auf einer Bank im Garten von Cranbrook Chase. „Basil und Vivien waren auf dem Mond und verspeisten grünen Käse, als die Nachricht sie erreichte?“

Gabriel lächelte, denn er war kein gänzlich humorloser Mann, nicht mal wenn es sich um ziemlich schwarzen Humor handelte. „Nicht ganz. Sie hielten sich irgendwo in Virginia auf und besuchten einen entfernten Verwandten meiner Tante. Sie ist übrigens gerade wieder dort gewesen, das damalige Wiedersehen musste sie ja aufgrund von Onkel Ballards Tod abkürzen.“

„Dein Onkel hatte sie diesmal offenbar nicht begleitet, denn er liegt ja dort oben im Sterben.“

„Wieder einmal. Er liegt wieder einmal im Sterben. Aber lass mich zu Ende erzählen.“

„Ja, irgendwo gibt es noch einen weiteren B , nicht wahr? Der erste Duke war ein fleißiger Mann, und seine Frau war noch fleißiger. Bronson? Bundy? Baldric? Erzähl mir, dass er auf Prinneys Schoß sein Örp ausstieß, dann sterbe ich als glücklicher Mensch.“

„Bellamy, und er ließ sich gerade eine neue Garderobe anpassen, als es geschah“, fuhr Gabriel fort, ohne auf Rigbys Seitenhieb gegen den Prinzregenten einzugehen. „Man munkelt, die Weste sollte aus orangefarben gestreifter Seide sein. Das zumindest blieb der vornehmen Gesellschaft erspart.“

„Er hatte den neuen Anzug zur Feier seines sechzigsten Geburtstags in Auftrag gegeben?“

Gabriel erhob sich und zupfte seine Manschetten zurecht. Er war ein großer Mann, viel größer als sein eher untersetzter Freund, und war es daher gewohnt, auf den anderen herabzublicken, wenn er mit ihm sprach. Das tat er auch jetzt und zog in gespieltem Tadel eine Augenbraue hoch. „Wer erzählt noch mal diese Geschichte? Ja, er stand vier Tage vor seinem Sechzigsten, und in Cranbrook House am Portman Square war für den Abend danach eine ziemlich große Feier geplant. Onkel Bellamy hatte es ausdrücklich darauf angelegt, den Fluch Lügen zu strafen.“

Auch Rigby war aufgesprungen, plötzlich wieder ganz Ohr. „Ach, den zu erwähnen, hast du wohl vergessen. Es gibt einen Fluch? Bitte erzähl doch weiter. Nichts kann einen langweiligen Nachmittag so beleben wie ein guter Fluch.“

„War ja klar, dass du darauf anspringst. Ja, Onkel Basil glaubt fest daran. In dem Moment, als er die Nachricht erhielt, dass er der Erbe war – ich glaube, sie hielten sich gerade in Venedig auf –, packte er Tante Vivien ein, reiste heim und verkriecht sich seitdem hier auf Cranbrook Chase. Er ist überzeugt davon, dass sein Vater und seine Brüder zu exzessiv gelebt haben – was auch auf ihn und Tante Vivien zutrifft – und dass die neidische Schicksalsgöttin dafür einen Preis einfordert. Er hat Reisen, Wein, Gesang und Abenteuer aufgegeben. Und die Frauen. Laut Tante Vivien, die leider mit nichts außer ihrem Alter hinter dem Berg hält, ist sie in diesen Verzicht inbegriffen. Seine größte Sorge ist, dass er mit seiner Buße zu lange gezögert hat und nicht einmal lange genug leben wird, um, nun ja, Örp zu sagen.“

„Verstehe. Nein, eigentlich nicht, aber erzähl weiter. Moment. Bevor du das tust, will ich noch rasch wissen: Wie ist dein Vater eigentlich gestorben? Und wann?“

„Das hat länger gedauert, als ich dachte, trotzdem, danke für deine Sorge. Mein Vater hat die sechzig ebenfalls nicht erreicht.“

„Aha! Du selbst führst auch ein ziemlich rasantes Leben, mein Freund. Warum verkriechst du dich nicht oben bei dem Großonkel und rezitierst Psalmen?“

„Papa hat sich in einen ziemlich intimen Körperteil geschossen, als er mit seinen Freunden auf der Jagd war. Sie behaupteten, sie hätten sich ernsthaft darum bemüht, einen Druckverband anzulegen, aber schlicht nicht genug Platz dafür gefunden.“

Rigby hüstelte höflich hinter vorgehaltener Hand, zweifellos, um ein Lachen zu verbergen, und Gabriel ging genauso höflich über diese Geste hinweg. „Und bevor du fragst, mein Großvater, der Bruder des ersten Dukes, ist im Alter von zweiundachtzig Jahren friedlich im Schlaf gestorben. Ich glaube, mir droht keine Gefahr, mein einziges Problem besteht lediglich darin, dass ich nun der Alleinerbe dieses – wie die Griechen sagen – Hypochonders bin, der sich in seinem Schlafzimmer versteckt. Und sein sechzigster Geburtstag nähert sich mit Riesenschritten.“

„Sind wir also hier, um zur Feier des Tages ein Fest zu planen, oder geht es um ein Begräbnis?“

„Nichts von beidem. Ich habe einen Brief – nein, einen Befehl – von Tante Vivien erhalten, in dem sie mich über ihre unmittelbar bevorstehende Rückkehr aus Amerika informiert. Ich soll sie hier empfangen, denn, Gott steh mir bei, sie hat eine Überraschung für mich.“

„Das bedeutet vermutlich nichts Gutes?“

„Kommt darauf an. Wärst du gern das höchstwahrscheinlich einzige Kind auf der Welt gewesen, das sein Kinderzimmer mit einem ausgestopften Lemuren teilt – einem grinsenden, wohlgemerkt, der noch dazu Glasaugen hat? Außerdem besitze ich, um nur ein paar Dinge zu nennen, Kuhglocken aus der Schweiz, Hut und Stange eines Gondoliere aus Venedig und eine Art merkwürdigen weißen Kittel – ich weigere mich, ihn als Gewand zu bezeichnen – aus Indien. Auch ein Affe war vorgesehen, doch der ist leider auf der Heimreise verstorben. Den Affen hätte ich vermutlich gemocht.“

„Ich glaube, ich möchte den Lemuren sehen, bevor ich dir eine Antwort gebe. Was meinst du denn, was hat sie dir aus der Wildnis Amerikas mitgebracht? Ich habe Zeichnungen von wirklich fantastischen Federhauben gesehen, die die Indianer dort anscheinend gern tragen. Überleg mal, welche Aufregung das gäbe, wenn du mit solch einem Ding auf dem Kopf in London herumstolzieren würdest.“

Gabriel fixierte Rigby mit fragendem Blick. „Würdest du mir bitte noch mal rasch ins Gedächtnis rufen, warum ich dich mitgeschleppt habe? Du wirst dich eindeutig nicht als hilfreich erweisen.“

„Ich soll dir den Rücken stärken, wenn du die Duchess schamlos anlügst und ihr erklärst, du könntest nicht länger bleiben, weil du eine gewisse junge Dame in London umwirbst und ihr versprochen hast, dich zur ‚Kleinen Saison‘ einzufinden.“

„Ah ja, jetzt weiß ich es wieder. Aber nicht nur eine Dame. Mehrere Damen . Als letzter und einziger Erbe meines Onkels bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich heiraten und Kinder zeugen muss. Sprich um Himmels willen nie von nur einer Dame, sonst will Tante Vivien sie kennenlernen. Sie wird schon zufrieden damit sein, dass ich mir ihren Rat zu Herzen genommen habe und mich anschicke, selbst ein paar Erben hervorzubringen.“

„Wenn du schon mal dabei bist, solltest du wohl auch noch etwas anderes versuchen“, schlug sein Freund vor.

„Nämlich?“

„Da du behauptest, du wärst keineswegs scharf darauf, in absehbarer Zeit der siebte Duke zu werden, könntest du dafür Sorge tragen, dass Onkel Basil am Tag nach seinem sechzigsten Geburtstag gesund und munter aufwacht und die Sonne begrüßt.“

„Und wie soll ich das deiner Meinung nach bewerkstelligen? Nach seinen Worten wartet zwischen jetzt und November irgendwo da draußen ein Örp auf ihn.“

„Klar. Aber denk doch mal nach, Gabe. Wenn er tatsächlich vor seinem Sechzigsten ins Gras beißt, heißt das, dass fünf von den ersten sechs Dukes of Cranbrook sich mit ihrem Titel einen Fluch eingehandelt haben.“

„Das ist bislang noch keinem aufgefallen.“

Rigby grinste, und dank seines leicht rundlichen Gesichts sah er aus wie ein pausbackiger Engel. „Es wird ihnen schon auffallen, wenn ich es herumerzähle. Es ist die beste Geschichte, die ich seit Jahren gehört habe. Den ersten Duke hast du gar nicht erwähnt. War er auch ein Örp ?“

Gabe wurde allmählich unbehaglich zumute, wozu Rigbys verdächtig gute Laune noch beitrug. „Er nahm an einem Jagdrennen teil, sein stets zuverlässiges Pferd scheute vor einer Hürde, und der Duke flog darüber hinweg.“

„Vielleicht hatte das Pferd ein Örp gehört und hat deswegen gescheut. Und …? Dein Gesicht verrät mir doch, dass noch mehr dahintersteckt.“

„Und der erste Duke, mit Namen Bryam, starb nur wenige Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag.“

Rigby breitete die Arme aus. „Da hast du’s. Der Fluch der Cranbrooks. Dazu verdammt, den Löffel abzugeben, bevor sie so richtig in Fahrt gekommen sind, und ihre Nachkommen mit dem gleichen traurigen Schicksal zu belegen. Niemand wird dich heiraten wollen, Gabe. Ich hätte jedenfalls keine Lust, Kinder von dir zu bekommen.“

„Tja, den Göttern sei Dank für wenigstens das“, erwiderte Gabe sarkastisch und spitzte die Ohren, als er glaubte, eine Kutsche auf der Zufahrt zu hören. „Auf, auf. Ich glaube, meine Tante kommt. Und wenn du in ihrer Gegenwart ein Wort von dem äußerst, was in der letzten halben Stunde geredet wurde, stopfe ich dich eigenhändig aus und hänge dich neben Lord Lemur an die Wand.“

„Du hast das Ding immer noch? Du hast ihm sogar einen Namen gegeben? Und das findest du nicht irgendwie merkwürdig? Darf ich es sehen?“ Rigby beschleunigte seine Schritte, um mit dem langbeinigen Gabriel mithalten zu können, während sie gemeinsam auf die massiven Mauern von Cranbrook Chase zustrebten. „Wie auch immer, mein Alter, dir bleibt nichts anderes übrig. Irgendwie musst du Onkel Basil mindestens noch ein Jahr lang am Leben erhalten. Wenn ich dich noch einmal daran erinnern darf: Du sagtest bereits, dass du es nicht eilig damit hast, Duke zu werden.“

Gabriel blieb so abrupt stehen, dass sein Freund ihn beinahe angerempelt hätte. „Gut, du hast deinen Standpunkt klargemacht. Ich glaube nicht an diesen Fluch, denn es gibt hier keinen Fluch. Sämtliche Dukes of Cranbrook haben getrunken und gefeiert wie Imperatoren der römischen Antike und konnten sich wahrscheinlich glücklich schätzen, überhaupt so lange gelebt zu haben. Das einzige Problem meines Onkels besteht vermutlich darin, dass er sich zu Tode ängstigt. Und mir fällt nun also deiner Meinung nach die Aufgabe zu, ihn im Alleingang zu retten, ohne die geringste Ahnung, wie ich das anstellen soll, damit er nicht …“

„Nicht im Alleingang. Ich werde dich nur zu gern unterstützen. Das ist nur gerecht, zumal ich derjenige sein darf, der das Gerücht über die mit einem Fluch belegten Bs verbreiten darf, sobald wir zurück in der Stadt sind. Los jetzt, ich will unbedingt sehen, was die Duchess dir dieses Mal mitgebracht hat.“

„Was auch immer es sein mag, du kannst es haben“, verkündete Gabriel, als sie sich um das Gebäude herum der vorfahrenden Kutsche näherten.

Selbst aus der recht großen Entfernung erkannte er rasch die zierliche, weiche Gestalt seiner Tante, die sich soeben von einem Diener über die Falttreppe auf den festen Boden helfen ließ. Die Massen ihres silbrigen Haares waren zu langen mädchenhaften Locken gedreht, die ihn an Würste im Schaufenster erinnerten. Darüber hatte sie einen riesigen Schlapphut gestülpt, der anscheinend aus einem Dutzend runder Schichten von lavendelfarbener Seide gefertigt war. Ihr Kleid, von ähnlicher Farbe und aus noch mehr dünnen Seidenlagen bestehend, die im Wind wehten, war merkwürdig verkürzt und ließ ihre Knöchel und ihre kleinen Füße frei, die in Schuhen mit violetten Absätzen steckten. Das Violett nahm die Farbe der künstlichen Trauben auf, die hier und da ihren Rock zierten.

„Die Duchess?“, flüsterte Rigby. „Sie erinnert mich an … hmm, ich weiß nicht, was, aber irgendwie an Zuckerwerk.“

Doch Gabriel hörte nicht zu. Er war zu sehr in den Anblick eines weiteren Beins vertieft, eines Frauenbeins mit schmalem Fuß und den schönsten Fesseln, die er je gesehen hatte … Und er hielt sich durchaus für urteilsfähig, denn er hatte weiß Gott schon viele Fesseln gesehen.

Als Nächstes kam ein gelber Strohhut zum Vorschein, den der Diener geschickt auffing.

Erst dann schob eine junge Frau auch ihr zweites Bein aus der Kutsche und zeigte sich in Gänze. Sie posierte in einem buttergelben Kleid auf der obersten Stufe, hielt sich mit beiden Händen am Schlag fest und betrachtete ihre Umgebung.

Ihr Haar war vollkommen schwarz und zeigte auch im direkten Sonnenlicht keinen roten oder goldenen Schimmer. Sie trug es offen, sanft umschmeichelt vom Wind. Im Profil war sie eine perfekte Schönheit, von der geraden Nase mit den faszinierend geblähten Nasenflügeln bis zu der klaren Kinnlinie … und den üppig gerundeten Brüsten.

Und dann wandte sie den Kopf und blickte in Gabriels Richtung, und er sah, wie voll ihre Lippen waren, die ganz langsam zu lächeln begannen. Sommersprossen sprenkelten ihren leicht goldbraun getönten Teint. Ihre Augen waren fast so schwarz wie ihr Haar. Und ihre Augenbrauen …? Wie sollte man diese Brauen beschreiben? Sie waren dicht, setzten fast direkt über den inneren Augenwinkeln an und verliefen nahezu gerade; erst auf Höhe des Brauenknochens bogen sie sich nach unten. Sie sahen aus wie schwarze Flügel, einzigartig, faszinierend.

Sie hätte eine Kriegsgöttin sein können. Weiß Gott, in seinen unschuldigen Jugendjahren wäre er errötend ihren Spuren gefolgt und hätte womöglich sogar eine Ode auf ihre Augenbrauen verfasst. Gut, dass er inzwischen älter und klüger war.

„Ah, Gabriel, da bist du ja“, rief seine Tante und winkte mit einem spitzenbesetzten Taschentuch in seine Richtung. „Nun komm schon. Nicht trödeln, Sunny! Sieh nur, die Überraschung, die ich dir versprochen habe. Thea, wink doch Gabriel mal zu!“

„Das ist es? Das ist deine Überraschung? Sie ist deine Überraschung? Die ich haben kann, wie du gesagt hast?“ Rigby schlug ihm auf den Rücken, so heftig, dass Gabriel ins Taumeln geriet. „Du bist ein echter Freund, Sonnyboy , wirklich.“

2. KAPITEL

D orothea Neville wandte rasch ihr Gesicht ab und senkte das Kinn, wohl wissend, dass es unhöflich wäre, über den Mann zu lachen, der dastand wie der Ochs vorm Berge, oder über den anderen, der bis über beide Ohren grinste. Natürlich sollte sie sich auch nicht fragen, welche Worte zwischen ihnen gewechselt wurden, während sie näher kamen, wenngleich sie sicher war, dass sie sich auf ihre Person bezogen.

Sie hätte ihren Hut nicht absetzen und ihr Haar nicht lösen dürfen. Doch bei geöffnetem Fenster war der Fahrtwind zu verlockend gewesen, um des Anstands wegen darauf zu verzichten.

Es war eine ihrer größten Schwächen – unter vielen, wie ihre Mutter meinte –, die noch mal zu einem schlimmen Ende führen würde, ebenfalls eine Warnung vonseiten ihrer Mutter.

Sie sah unfrisiert aus, windzerzaust, und dass sie ihren Hut mit dem Zuruf „Fang!“ dem Diener zuwarf, konnte auch nicht zu ihren besten Einfällen gerechnet werden.

Doch wer hatte gewusst, dass es vor Zeugen geschehen würde?

Und welch ein Glück, dass die Duchess das Wort ergriffen hatte, bevor Dorothea die restlichen zwei Stufen der Falttreppe hinunterspringen konnte, einfach nur froh, sich wieder bewegen zu dürfen, statt in der beengten Kutsche sitzen zu müssen, die Knie bis praktisch unters Kinn hochgezogen.

Sie stieg behutsam die Stufen hinunter, raffte ihren Rock gerade so weit, dass sie sehen konnte, wohin sie den Fuß setzte, und blieb kurz neben der Duchess stehen, bevor sie ein paar Schritte von ihr abrückte, weil sie sich in der Nähe dieser Frau immer wie eine Riesin fühlte.

Was daran lag, dass die Duchess zwar breit, aber dafür ziemlich klein war.

Nein, das stimmte nicht. Es lag daran, dass Dorothea, wie sie wohl wusste, so groß war. Sie überragte ihre eigene Mutter, ihren Stiefvater und ihre beiden Halbschwestern, erhob sich über sie wie eine hohe Eiche inmitten von Jungbäumen.

Was nicht hieß, dass sie in Gesellschaft die Schultern nach vorn zog oder versuchte, sich klein zu machen, denn sie war stolz auf ihre Größe. Sie war das Kind ihres Vaters, und er war groß gewesen, war immer noch groß, verflucht sollte er sein … Papa war womöglich so hochgewachsen wie der eine der beiden Gentlemen, die sich jetzt näherten. Ihre Hüte hatten sie abgenommen. Der größere neigte sich rasch über die Hand, die die Duchess ihm darbot.

„Tante“, sagte er. „Willkommen zu Hause. Der Duke liegt oben im Sterben.“

Die Frau runzelte die Stirn. „Schon wieder? Er hatte mir versprochen, es während meiner Abwesenheit zu unterlassen. Was ist es denn dieses Mal? Sieht er Sterne? Das hatten wir schon ziemlich lange nicht mehr.“

„Von Sternen hat er nie gesprochen, nein, aber ich entsinne mich, ihn von kranken Körpersäften sprechen gehört zu haben. Ich fürchte, ich habe ihm nicht allzu aufmerksam zugehört.“

Die Duchess nickte, und die zahlreichen seidenen Lagen ihres Huts nickten mit ihr. „Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen, Sunny; das tut keiner von uns.“

Dorothea tauschte einen Blick mit dem zweiten Herrn, der offensichtlich nicht der Großneffe und Erbe war und anscheinend genauso verblüfft über diesen unbeschwerten Wortwechsel war sie. Doch dann lächelte er, und sie kam zu dem Schluss, dass sie Freunde werden würden. Sie erwiderte das Lächeln.

„Sonnyboy“, sagte der Herr und versetzte dem Großneffen einen Rippenstoß, „ob du wohl in Betracht ziehen würdest, mich der Duchess vorzustellen … und ihrer Begleitung?“

Jetzt war es offenbar an der Zeit für die beiden Herren, einen Blick zu tauschen, doch sie lächelten nicht. Vielmehr schienen sie sich für kurze unbehagliche Sekunden mit Blicken zu messen, bevor der Neffe sich an die Duchess wandte und fragte, ob es gestattet sei, ihr seinen Freund Sir Jeremiah Rigby, Baronet, vorzustellen.

Die Duchess brummte etwas halbwegs Angemessenes. Sie bot Rigby die Hand, damit er sich über diese neigen konnte, und wandte sich wieder ihrem Großneffen zu. „Gabriel, Sir Jeremiah, es ist mir ein besonderes Vergnügen, Sie beide mit meiner hübschen neuen Freundin aus Virginia bekannt zu machen: Miss Dorothea Neville. Gönne ihnen einen netten Knicks, meine Liebe, damit wir alle im Haus Schutz vor diesem lästigen Wind suchen können, bevor mein Hut sich in alle vier Himmelsrichtungen verflüchtigt.“

Thea tat wie gebeten. Die bisherige Erfahrung lehrte, dass das einfacher war, als sich alles, was die Duchess von sich gab, zu Herzen zu nehmen oder gar als Beleidigung zu betrachten. Gleichzeitig bot sie den Herren die ausgestreckte Hand. Der Baronet, der ihr ohnehin näher war, verneigte sich gekonnt darüber und trat zurück, um Gabriel Sinclair ebenfalls Gelegenheit zu dieser Höflichkeitsgeste zu geben.

Er streifte ihre Hand nur knapp und verbeugte sich eher nachlässig. Er sah ihr kurz in die Augen, bevor er den Kopf schüttelte, als wollte er irgendeinen Gedanken verwerfen. „Miss Neville“, sagte er, dann bot er seiner Tante den Arm und überließ es Rigby, Dorothea die Marmorstufen zur Eingangshalle des imposanten Gebäudes hinaufzugeleiten.

Ein kleiner Schnösel, wie? dachte sie und fixierte seinen Rücken. Er sieht extrem gut aus, aber mir wäre es lieber, er wäre sympathisch. Daran muss ich noch arbeiten, wenn ich längere Zeit in seiner Gesellschaft verbringen will.

Im Haus angekommen, verkniff sie es sich, die eindrucksvolle lichtdurchflutete Eingangshalle mit der riesigen ovalen Glaskuppel einige Stockwerke über ihrem Kopf hingerissen anzustarren. Sie merkte auch nicht an, dass die Halle riesig genug war, um darin vor großem Publikum ein Kricket-Spiel zu veranstalten, sofern die Möbel vorher ausgeräumt wurden.

Es war ja nicht so, dass architektonische Größe oder Schönheit ihr fremd waren. Virginia war übersät mit Herrenhäusern aller Art, viele von ihnen im Stil der prachtvollen Residenzen ihrer Besitzer in England erbaut.

Doch sie hatte nun mal noch nie zuvor gut drei Dutzend vergoldeter Vogelkäfige in allen Größen und Formen gesehen. Die Dinger waren offenbar planlos aufgehängt, aufgestellt, in Ecken zusammengedrängt worden, sämtlich bewohnt von einer prachtvollen Ansammlung exotischer Vögel. Vögel in allen Farben und Größen. Vögel mit Augen, die unecht wirkten, Vögel mit Schnäbeln, die gelb waren wie die Sonne oder lang und ebenholzschwarz. Orangefarbene und grüne und geradezu erschreckend leuchtend blaue Vögel, Vögel mit langen Schwanzfedern oder merkwürdigen Federhauben auf den Köpfen.

Ein regelrechter Wald aus Pflanzen, die sie nicht kannte, wuchs in riesigen Messingkübeln. Es gab Pflanzen mit schlaffen Wedeln, groß wie Elefantenohren, und hohe Bäume mit schlankem Stamm, die statt Rinde eher eine Art exotischer Schuppen aufwiesen und von einem wilden Kopfputz aus stachligem Grünzeug gekrönt waren. Die Palmen erkannte sie, denn die hatte sie bereits in Virginia gesehen. Ein Bananenbaum war ihr zwar noch nie vor die Augen gekommen, doch sie war ziemlich sicher, hier und jetzt einen vor sich zu haben, denn Büschel kleiner grüner Früchte hingen etwa fünf Meter über dem Fliesenboden in ihren Kronen.

Merkwürdig – nicht so merkwürdig wie die restliche Einrichtung, aber trotzdem zumindest bemerkenswert – war die Tatsache, dass sich auf Drittelhöhe zwischen dem Fußboden und der Kuppel beidseitig eine Art Balkon entlangzog. Eine Beobachtungsplattform? Und sie fand schon ihren Stiefvater verschroben, weil er darauf bestand, dass sein neuer Landauer kanariengelbe Räder haben musste, einfach aus dem Grund, dass er so etwas während seines letzten Englandaufenthalts im Hyde Park gesehen hatte!

Ein Pfauhahn stolzierte vorüber, gefolgt von seiner unscheinbaren Pfauhenne, blieb stehen, um seinen prachtvollen Schwanz aufzufächern, und schritt dann weiter.

Zwei livrierte Diener arbeiteten inmitten dieser Fauna und Flora, füllten Wasser nach, hoben Federn auf und kehrten, wie es aussah, hinter den Pfauen her. Einer der Käfige stand offen, darin steckte zur Hälfte ein Diener, der nach etwas griff, was Thea lieber nicht identifizieren wollte.

In zwei identischen Kaminen auf zwei gegenüberliegenden Seiten der riesigen Halle brannte Feuer, und in der Mitte befand sich ein …

„Ein Springbrunnen? Ein Wasserfall? Aber … aber das ist unmöglich.“ Thea hatte gar nichts sagen wollen, aber wie sollte man bei diesem Anblick stumm bleiben?

Sie wünschte, sie hätte ihren Hut behalten, dann hätte sie sich gegen die drückende Hitze Luft zufächeln können.

Jeremiah Rigby neigte sich ihr zu. „Wie ich hörte, haben der Duke und die Duchess früher weite Reisen unternommen und von überallher Souvenirs mitgebracht. Falls Sie noch nie einen ausgestopften Lemuren gesehen haben, möchten Sie sich später vielleicht einmal an Sonnyboy wenden.“

„Ausgestopft?“ Thea fasste den nächstbesten Käfig ins Auge und sah zu ihrer Erleichterung, dass das kleine Vogelpaar – eine Art Wellensittiche vielleicht? – eifrig die Köpfchen aneinanderrieb. „Diese Vögel sind doch alle lebendig, nicht wahr, nicht nur einige von ihnen?“

„Sind sie, und da sich unter ihnen auch Papageien und dergleichen befinden, werden einige von ihnen uns alle wohl überleben. Ich kann gar nicht sagen, wie oft mein Freund mir mit seiner Begeisterung darüber in den Ohren liegt.“

„Jetzt scherzen Sie, oder?“

„Wie verrückt. Ich fürchte, all diese hübschen Vögel werden nicht mehr in diesem prächtigen Saal leben, sobald er einzieht.“

„Hier herrscht ein ziemlich säuerlicher Geruch. Ich wusste, dass die Duchess ein Paar unserer einheimischen Kraniche nach England mitnehmen wollte, doch mein Stiefvater hat sie gewarnt: Die Vögel hätten wahrscheinlich die Reise nicht überstanden. So etwas wie dies hier habe ich mir nicht vorstellen können.“

Die Duchess, die ihre Vögel bewundert hatte, musste die letzten Worte wohl gehört haben, denn sie gesellte sich zu Thea, um sie aufzuklären. „Basil ist das Genie, das hinter allem steckt. Als er Duke wurde, habe ich mich über den traurigen, überfüllten Zustand des Aviariums beklagt, und das hier ist das Ergebnis. Das Haus meines lieben Cousins in Virginia hat ihn auf die Idee gebracht. Er fand es klug, Türen an beiden Enden des Hauses anzulegen, um im Sommer Durchzug zu ermöglichen. Deshalb ließ Basil eine stickige alte Bude abreißen, die im Wege stand, und an der Rückfront ein halbes Dutzend Fenstertüren einbauen. Recht häufig öffnen wir vorn und hinten alle Türen zum Lüften, bei mildem Wetter, versteht sich. Die Pfauen pflegen wegzulaufen, aber sie kommen immer wieder.“

Schließlich meldete sich Gabriel zu Wort. „Meine Tante vergisst zu erwähnen, dass Basil das Treppenhaus erst zumauern ließ, nachdem sich herausgestellt hatte, dass freilaufende Vögel zum Wandern tendieren. Haben wir genug gesehen?“ Er deutete auf eine Reihe von Türen rechts von ihm.

„Ja, ja, begeben wir uns nach oben“, stimmte die Duchess ihm zu. „Ich sollte allerdings sofort Basil aufsuchen.“

„Er hält sich noch“, versicherte Gabriel. „Mindestens ein paar Monate.“

Die Duchess versetzte ihm spielerisch einen Klaps auf den Arm. „Böser Junge! Er wird nicht sterben, ganz gleich, wie sehr er sich diesen albernen Fluch einredet. Und wenn er doch sterben sollte, nun, dann lasse ich nicht zu, dass er sich deswegen vorher hier verkriecht. Und darüber möchte ich mit euch reden. Komm, liebste Thea, du spielst eine große Rolle in meinen Plänen.“

Jetzt blickte der Neffe sie wieder so an, was immer auch unter so zu verstehen sein mochte. Versuchte er vielleicht, das Schielen zu erlernen? Wirklich, es war höchst beunruhigend. Sie brauchte ihn nicht. Eigentlich nicht. Sie würde tun, was sie zu tun hatte, und ihn nicht um Hilfe bitten, ganz gleich, was die Duchess dachte.

Erneut ließ sie sich von Jeremiah Rigby den Arm bieten. Einer der Diener beeilte sich, die Doppeltür zu öffnen, und Thea blickte hinauf in ein schön geschwungenes Treppenhaus, das vormals wohl sehr imposant gewesen war. Sie folgte den anderen pflichtschuldig nach oben.

„Die Tür zu Ihrer Linken, Miss Neville, öffnet sich zu dem Balkon, der übers Aviarium hinweg zum Westflügel und zu einem identischen Treppenhaus führt. Rechts von Ihnen befindet sich der Eingang zum Großen Salon. Tante?“

„Ich weiß, es sieht schrecklich aus, Sunny, aber es war notwendig.“

„Nichts von alledem war notwendig.“

Thea musste Gabriel Sinclair zustimmen. Wenn man unbedingt in einem Dschungel leben wollte, ließe sich leicht ein Dschungel finden und … nun ja, dort wohnen. Sie begann tatsächlich, Mitleid mit dem Mann zu empfinden. Vielleicht war es gar nicht so famos, wie man dachte, der Erbe eines Dukes zu sein …

Sie begaben sich in den Großen Salon, und nachdem sie neben der Duchess auf einem hübschen, mit gestreifter Seide bezogenem Sofa Platz genommen hatte, suchte sie Gabriels Blick. Sie lächelte, hoffentlich liebreizend, zog bedächtig ihre Handschuhe aus und faltete die Hände im Schoß.

„Hatten Sie eine angenehme Reise?“, erkundigte sich Gabriel.

Ah, er war offenbar der gleichen Meinung wie sie. Sie würden einfach noch mal von vorn anfangen mit ihrer Bekanntschaft.

„Sie war herrlich, Sir, ja. Wir haben Virginia mit gutem Vorsprung vor möglichen spätsommerlichen Tropenstürmen verlassen, und die gesamte Überfahrt war erfreulich ereignislos.“

So. Das war höflich, informativ, und wenn er ein wenig erstaunt über ihr klares, präzises, kultiviertes Englisch sein sollte, ließ er das nur einen flüchtigen Moment lang durchblicken.

Die Duchess machte sich bereits an dem Teetablett zu schaffen, das die Dienstboten in den Raum gebracht hatten, schenkte Tee ein und reichte dünn geschnittene Gurkensandwichs herum.

„Da hatten Sie in der Tat Glück. Ist es Ihre erste Reise nach England, Miss Neville?“ Ja, er war eindeutig neugierig. Hatte er etwa gedacht, sie würde sämtliche Vokale auf diese träge, lässige Art zerdehnen, die ihre Halbschwestern sich sehr zur Verzweiflung ihrer Mutter angewöhnt hatten?

„Ja, in der Tat.“

Sir Jeremiah blickte zu seinem Freund auf, als hätten die beiden aus ihren Worten irgendeine Schlussfolgerung gezogen. Thea war nicht sicher, ob es eine erfreuliche oder eine traurige Schlussfolgerung war, aber zweifellos war eine Entscheidung gefallen.

„Bislang bin ich nur aus England abgereist .“

Wieder ein Austausch von Blicken. Womöglich wurde die Entscheidung von eben noch einmal überdacht.

Also wirklich. Wie unhöflich von den beiden. Thea hoffte, die Duchess würde sich einmischen, die Sachlage erklären, doch ihre Gastgeberin schien völlig in das Abzählen der Zuckerwürfel für ihren Tee vertieft.

„Ich bin als Engländerin geboren, Sir. Sowohl mein Bruder als auch ich sind englische Staatsbürger, aber er war älter als ich, und da ich zweiundzwanzig Jahre alt bin, liegt das lange zurück. Er wurde vor meiner Geburt von einem Fieber dahingerafft. Wie auch immer, wir haben England verlassen, um uns in Virginia anzusiedeln, wo meine Eltern nicht auf Schritt und Tritt auf traurige Erinnerungen stoßen würden. Mama war meinethalben schrecklich betrübt; sie fürchtete, ich würde niemals eine Saison in London erleben dürfen, doch Papa versprach ihr, dafür zu sorgen, dass ich diese Gelegenheit erhalte.“ Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände, in erster Linie, damit ihre Augen Gabriel Sinclair nichts verraten konnten, was sie lieber für sich behielt. „Leider kam er während einer Reise nach England, wo er seine restlichen Angelegenheiten regeln wollte, ums Leben.“

„Eine Familie mit vielen Tragödien“, bemerkte Gabriel und nickte. „Mein Beileid.“

Thea wand sich ein wenig. Sie hatte vermutlich mehr Informationen preisgegeben, als die Männer benötigten, doch die Art, wie die beiden sie unverwandt ansahen, war nervtötend, und sie neigte zum Plappern, wenn sie nervös war. Ihre Mutter wies sie ständig darauf hin. Tatsächlich war sie eine traurige Enttäuschung für Mama, meistens zumindest. Die arme Frau wäre hier und jetzt längst in Ohnmacht gesunken, spätestens in dem Moment, als Thea ihr fortgeschrittenes Alter offenbarte.

Die Duchess hatte endlich aufgehört, in ihrem Tee zu rühren. „Theas Mutter wurde meine Busenfreundin, als ich während Basils und meiner ersten Amerikareise meinen Cousin besuchte“, erklärte sie. „Und bei meinem jetzigen Aufenthalt haben wir unsere Freundschaft aufgefrischt. Zwar hatte ich selbst nie eine Tochter, doch ich konnte ihren Schmerz nachempfinden, als sie das Versprechen ihres verstorbenen Mannes erwähnte, und auch die Enttäuschung ihrer ältesten Tochter, weil die nun nicht die Londoner Saison bekam, die ihr Vater und ihre Mutter sich so für sie gewünscht hatten. Da konnte ich gar nicht anders, als meiner Freundin anzubieten, Thea nach England mitzunehmen.“

„Und, hm, das ist meine Überraschung? Ich fürchte, ich verstehe nicht“, sagte Gabriel.

„Nicht ganz, Sunny. Deine Überraschung besteht darin, dass du Miss Neville gemeinsam mit mir in die Gesellschaft einführen wirst, wenn wir alle, Basil eingeschlossen, nach London zur ,Kleinen Saison‘ fahren.“

„Oh, ich glaube eher nicht.“ Gabriel stand auf, um sich vor Thea zu verbeugen. Eine Sturmwolke aus unterdrücktem Zorn legte sich über seine attraktiven Züge. „Auch wenn ich am Boden zerstört bin, weil ich Sie nicht begleiten kann, Miss Neville, fürchte ich, dass ich bereits andere Pläne habe, nämlich ins Meer zu steigen und mich zu ertränken. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen …?“

„Sunny!“, rief seine Tante ihm nach, während Sir Jeremiah Rigby sich laut lachend auf die Schenkel schlug.

Doch Gabriel Sinclair zögerte nicht, sondern marschierte, ohne sich noch einmal umzuschauen, aus dem Raum. Sein stürmischer Abgang hinterließ bei Thea zwei Gedanken. Erstens war hier womöglich mehr im Schwange, als sie zu wissen glaubte … Und zweitens konnten nur eine liebe alte Dame mit Silberhaar oder ein ausgemachter Idiot es wagen, diesen Mann Sunny oder Sonnyboy zu nennen.

3. KAPITEL

G abriel wartete auf die Duchess. „Lauf nicht weg, Euer Gnaden“, sagte er, als sie endlich aus den Räumen des Dukes kam, und packte sie am Arm, bevor sie seiner gewahr wurde. „Ich glaube, du und ich, wir sollten uns irgendwohin zurückziehen, wo wir unter uns sind. Wir haben einiges zu besprechen, nicht wahr?“

Die Duchess lächelte zu ihm auf. „Willst du nicht wenigstens fragen, wie es Basil heute geht?“

„Du meinst, da Rigby und ich ja gestern eingetroffen sind, ist der alte Junge jetzt dem Grab einen Schritt näher?“

„Wir alle sind sterblich, Sunny“, betonte sie und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Vergiss das nicht.“

„Aber man sollte nicht darauf fixiert sein, nicht, wenn man das Leben genießen will, solange es dauert.“

Die Duchess seufzte und nickte. „Da magst du recht haben, ja. Ich glaube, allmählich langweilt er sich mit seinen eigenen Weltuntergangs-Prophezeiungen, oder aber er fühlt sich zumindest einsam. Er hat mich schrecklich vermisst, musst du wissen, und als ich ihn nun wissen ließ, dass ich gedenke, nach London zu fahren und erst nach seinem Geburtstag wiederzukommen? Tja, da hatte ich ihn schon halb in der Kutsche. Ich verlasse mich darauf, dass du ihn von seinen trüben Gedanken ablenkst, sobald wir in London sind.“

„Ich? Wieso ich?“

„Meine Güte, wieso nicht? Auch wenn ich ihn liebe, und zwar unsagbar, ist er in den vergangenen Jahren doch eine traurige Belastung für mein normalerweise fröhliches Gemüt geworden, und zwar so sehr, dass ich ihn gelegentlich verlassen muss, sonst würde ich mit nach unten gezogen, in seine Grube der Verzweiflung. Nach unten gezogen , Sunny.“

„Ja, in die Grube. Ein indiskutables Schicksal“, pflichtete Gabriel ihr bei. Er liebte seine Tante, liebte sie wirklich. Aber zuzeiten …

Die Duchess seufzte schwer. „Ich wusste mir wirklich nicht mehr anders zu helfen. Ich hatte so viel Spaß mit ihm, Sunny. Ach, wie haben wir gelacht, wie haben wir uns geliebt! Habe ich dir mal von der Nacht erzählt, als wir uns in die Pyramiden schlichen, eine Decke ausbreiteten und …“

„Zweimal. Du hast es mir zweimal erzählt. Einmal, als ich noch klein genug war, um die Sache als herrliches Abenteuer zu betrachten, und dann ein weiteres Mal, als ich rot wurde wie eine Tomate und mir am liebsten die Ohren verstopft hätte.“

„Oh“, erwiderte die Duchess leise, doch dann siegte wieder ihre Frohnatur. „Wir haben die ganze Welt bereist, neue Speisen gekostet, neue Landschaften gesehen, großartige Erfahrungen gesammelt … Bist du noch im Besitz dieser kupfernen Klangschalen, die wir aus Tibet mitbrachten?“

Gabriel massierte sich den Nacken. Seine Tante kannte ihn gut genug, um zu wissen, warum er auf sie gewartet hatte und wohin er mit ihr gehen wollte, deshalb nahm sie den längstmöglichen Umweg dorthin.

„Ganz sicher stecken sie irgendwo in einem Schrank, ja. Einer meiner Lehrer hat sie seinerzeit konfisziert, als ich sie ein bisschen zu begeistert mit dem Holzschlegel bearbeitet habe. Er ließ mich wissen, dass der Big Ben nicht annähernd so laut und misstönend läutet.“

„Sie sind eigentlich so gefertigt, dass sie melodisch klingen.“

„Dann dürften sie nicht mit einem schweren Holzschlegel versehen sein.“ Er geleitete seine Tante in ein kleines Wohnzimmer. „Ich sollte sie wohl wieder auftreiben, oder? Rigby würde vermutlich seinen Spaß daran haben, auf die Dinger einzudreschen.“

„Man drischt nicht auf eine Klangschale ein. Sie dient der Meditation, der Suche nach der eigenen Mitte, der … Ja, warum nicht, schenk dem Jungen die Klangschalen. Die Geschenke, die wir dir mitgebracht haben, waren wohl nicht besonders passend für ein kleines Kind, nicht wahr?“

„Der Lemur war eine nette Geste“, räumte Gabriel hilfreich ein. „Wenn ich auch glaube, dass ich mindestens bis zu meinem zehnten Lebensjahr nur mit brennender Kerze neben dem Bett einschlafen konnte. Aber lass uns über deine jüngste Überraschung sprechen, ja?“

„Dorothea. Scheußlicher Name. Klingt, als wäre sie jetzt schon eine bedauerliche alte Jungfer, vom Schicksal vergessen.“

„Mit zweiundzwanzig ist sie zwar noch keine alte Jungfer, aber auf dem besten Wege dorthin.“

„Wie grausam ihr Männer sein könnt. Sieh bloß um Himmels willen davon ab, wie ein Marktschreier durch Mayfair zu springen und laut zu verkünden, wie sehr sie in die Jahre gekommen ist, wird schon alles gut. Sie ist ziemlich hübsch. Danke, mein Lieber“, sagte die Duchess, als Gabriel ihr ein Glas Sherry reichte. Ihr Blick erinnerte an den eines gekränkten Hündchens, das dachte, sein Herrchen würde sich über Rotwildgedärm auf der Türschwelle freuen. „Nun ja, ich vermute, du willst über Dorothea sprechen.“

Lieber hätte er sich scharfe Splitter unter die Fingernägel geschoben. Monate waren vergangen, seit er das letzte Mal ernsthaft an die Nevilles gedacht hatte, an Vater und Sohn. Dem Sohn hatte er bereits verziehen, dumm, wie der Junge nun mal war, aber damit klarzukommen, was der Earl angerichtet, wie er das Leben großartiger Männer aufs Spiel gesetzt hatte, das war nicht so einfach. Und seine heftige Reaktion, als er heute den Namen Neville hörte, zeigte, dass er seinen Zorn und seinen inakzeptablen Wunsch, sich irgendwie an dem Mann zu rächen, noch nicht überwunden hatte.

Und jetzt hatte seine Tante ihm eine Neville als „Überraschung“ mitgebracht. Warum?

„Dorothea Neville. Ja, lass uns über Miss Neville plaudern. Oder sind der Name und möglicherweise auch deine nochmalige Reise nach Virginia etwa reiner Zufall?“

„Du weißt doch, dass Basil und ich damals gezwungen waren, Amerika zu verlassen, weil unsere beiden Länder einander den Krieg erklärten. Warum sollte ich jetzt, nachdem wieder Frieden herrscht, nicht noch einmal dorthin reisen?“

Es fiel Gabriel immer schwerer, seine gespielte neugierige Gleichmütigkeit aufrechtzuerhalten, aber wenn er zu sehr drängte, würde seine Tante womöglich gar nicht mehr über Miss Neville reden, und er müsste sie wieder eine Ewigkeit plappern lassen, bis sie endlich bereit war, zum Thema zurückzukommen. „Dieser Friede wurde lange vor deiner Abreise geschlossen. Und nachdem ich aus meiner monatelangen unangenehmen Gefangenschaft zurückgekehrt war.“

„Ja, mein Lieber, diese entsetzlichen Qualen, diese Kopfschmerzen, die du so stoisch ertragen hast. Aber wir haben sie bemerkt; wie sollten wir denn nicht? Als du zurückkamst, warst du nicht mehr der liebe Junge, den wir kannten, und das hat uns das Herz gebrochen. Und es wurde noch unerträglicher, als du Basil und mir endlich diese Sache mit dem Earl und seinem Sohn anvertraut hast. Ich habe es dir nicht erzählt, aber ich war seinerzeit in London und bin auf eine Sause zu Ehren des Sohns geraten. Sein Vater strahlte und stolzierte mit derart stolzgeschwellter Brust umher, als hätte man ihm selbst diesen albernen Orden um den Hals gehängt. Basil wäre entsetzt gewesen! Er nimmt sich entschieden zu wichtig, der Earl, das war schon immer so. Kennst du ihn?“

Natürlich hatte Gabriel den Mann während seiner wenigen kurzen Besuche in London nach seiner Heimkehr aus dem Krieg gesehen, aber er hatte ihn nie angesprochen. Was sollte er denn tun? Ihn als den Schuft beschimpfen, der er war, einen bedeutend älteren Mann zum Duell herausfordern? Nein, falls Rache geübt, der Gerechtigkeit Genüge getan werden sollte, dann gewiss nicht im Duell.

„Nein“, erwiderte er, nicht fähig, den Sarkasmus in seiner Stimme zu unterdrücken, „das Vergnügen hatte ich noch nicht.“

„Vergnügen hat sehr wenig mit Henry Neville zu tun. Er war immer ziemlich gemein zu Basil, schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit, er hat immer einen Grund gefunden, sich über ihn lustig zu machen. Was nicht heißt, dass er jemals freundlich zu Menschen ist, die ihm nicht dienlich sein können, aber der arme Basil war, glaube ich, für ihn immer eine besonders willkommene Zielscheibe. Ich weiß noch, dass er ihn Sinclair den Banausen nannte, als mein armer Liebster eine der Sehenswürdigkeiten Athens falsch benannte. Broxley berichtigte ihn ziemlich boshaft und stellte dann die Frage in den Raum, warum Basil eigentlich ständig reise, wenn er sich doch gar nicht erinnern konnte, wo er gewesen war. Dein Onkel hat sich nie als Experten bezeichnet, verstehst du? Es machte ihm lediglich Freude, über seine Erinnerungen an all die interessanten Orte zu reden, die wir besucht hatten.“

„Davon hast du mir nie erzählt.“

Die Duchess tat Gabriels Bemerkung mit einer lässigen Handbewegung ab. „Was hätte es uns allen denn genützt? Es hätte dich doch nur verärgert. Die Banausen-Beleidigung erfolgte übrigens kurz nach dem Tod des vierten Dukes, und Basil zeigte schon erste Anzeichen von Gebrechlichkeit. Ungefähr fünfzig Personen müssen die herablassende und kränkende Bemerkung des Earls gehört haben, da kannst du dir vorstellen, wie schnell sich der Klatsch in der vornehmen Gesellschaft verbreitete. Sinclair der Banause, Sinclair der Banause. Gemein. Männer sind nichts weiter als zu große böse Jungen. Daraufhin nahmen die Seitenhiebe von seinesgleichen kein Ende, wochenlang, Sunny, denn Männer sind so gern bereit, über andere zu lachen. Ständig fragten sie Basil, ob er wüsste, wo er sich gerade befand. Und vergiss nicht, es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass Broxley deinen Onkel auf irgendeine Weise der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Ich habe geschäumt vor Wut. Der Earl hatte überhaupt keinen Grund, so etwas zu sagen, oder?“

„Nein. Der Mann ist eindeutig ein Schuft“, bestätigte Gabriel geistesabwesend. Er war in Gedanken damit beschäftigt, Neville und Neville zusammenzuzählen und zu einem verständlichen Ergebnis zu kommen. Die liebe Vivien war nun mal nicht die Hellste, doch sie war immerhin eine Frau, und der Verstand einer Frau konnte ziemlich gefährlich werden, wenn er auf Rache sann.

Die Duchess beugte sich in ihrem Sessel vor.

Gabriel folgte ihrem Beispiel. Jetzt wurde es endlich gemütlich, und man kam hoffentlich auf den Punkt.

Sie blickte nach rechts und nach links und senkte die Stimme. „Ich glaube, ich habe mir etwas ausgedacht, was uns beide glücklich machen kann.“

Lieber Himmel, waren sie plötzlich zu Verschwörern geworden?

„Mir war nicht bewusst, dass ich unglücklich bin“, flüsterte Gabriel zurück, hob beide Hände und blickte an sich herab. „Sieht man mir das an?“

Die Duchess lehnte sich wieder zurück und griff an ihre aufgetürmten silbernen Locken. „Versuch nicht, mich mit der Behauptung abzuwimmeln, dass du nicht genauso an Rache interessiert bist wie ich, denn das haut nicht hin, Sunny. Du und deine Freunde, zum Beispiel dieser nette junge Mann dort unten, ihr alle habt Schreckliches durchgemacht.“

„Wir hätten vielleicht auch dann Schreckliches durchgemacht, wenn Myles getan hätte, was ihm befohlen worden war. Ich hatte Zeit genug, mir das klarzumachen.“ Mehr als genug Zeit, zum Teufel noch mal. Ausreichend Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und einen Teil der Schuld auf seine eigenen Schultern zu laden.

„Ach, Unsinn! Dieses Kind, noch feucht hinter den Ohren, war doch nie zum Kämpfen rausgeschickt worden wie du und deine Freunde. Er war nur dort, weil der Krieg so gut wie vorbei war – abgesehen von dieser Scheußlichkeit bei Waterloo – und sicher untergebracht bei den Russen, wo das Ungeheuerlichste, was ihm passieren konnte, darin bestand, dass er abends vom General unter den Tisch gesoffen wurde. In dem Moment, als er erkannte, dass er in Gefahr geraten könnte, ergriff er das Hasenpanier und rannte zurück zum Führungsstab. Euch überließ er eurem Schicksal.“

„Und er lieferte die gesamten Truppen, englische wie auch russische, völlig unvorbereitet dem Angriff aus“, ergänzte Gabriel, der seinen alten Zorn aufsteigen fühlte. „Sprich weiter.“

„Hol mir den Schal da drüben, Sunny, und lege ihn mir um die Schultern. Mir wird ein wenig kühl.“

Wieder tat Gabriel wie befohlen, wahrscheinlich mit mehr Eile als Anmut. Seine Tante pflegte nun mal jede Unterhaltung in die Länge zu ziehen, bis sie so weit war, zum eigentlichen Thema zu kommen. Einmal war er gezwungen gewesen, eine geschlagene Stunde lang ihren verschlungenen verbalen Wegen zu folgen, bis sie zum Kern einer ihrer Geschichten kam (der leider nur in der Aussage bestand: „Und dann fuhren wir heim.“).

Diesmal begann sie ihre Erzählung mit ihrer ersten Reise nach Amerika – ein nettes Land, kann jedoch England nicht das Wasser reichen –, schilderte einige der damals besuchten Sehenswürdigkeiten, einschließlich dieser unverschämten Freiheitsglocke. Sie und Basil waren weitgehend an der Küste geblieben, nachdem sie schreckliche Dinge über das wilde Landesinnere gehört hatten (auch wenn es vielleicht lustig gewesen wäre, ein paar der Indianer zu sehen, über die so viel geredet wurde), angefangen in Boston, über New York – so viele ihrer Städte leihen sich von uns Namen aus und setzen einfach das Wörtchen Neu davor, als würden sie dadurch besser oder so. Trotzdem, eine schöne Reise, ein Land mit wirklich gastfreundlichen Bürgern, wie sie sich selbst bezeichnen. Glaubte Gabriel, dass sie damit den französischen citoyen aus deren eigener Revolution kopieren wollten?

„Tante …?“

„Ja, Sunny?“

Er hatte einen fatalen Fehler begangen, indem er ihre Gedankengänge unterbrach. „Ach, nichts. Erzähl weiter.“

„Das tu ich doch. Du möchtest wahrscheinlich, dass ich über Virginia berichte. Das war unser eigentliches Reiseziel, das bescheidene Heim meines Cousins am James River, benannt zu Ehren unseres James des Ersten. Es hat nur etwa fünfzehn Schlafzimmer, eine dürftige Zahl, doch Basil und ich haben es genossen, abends draußen zu sitzen und auf den Fluss zu blicken.“

Gabriel begann, bis zehn zu zählen.

„Und da saßen wir – ich erinnere mich klar und deutlich –, als Mrs. Rutherford und ihre älteste Tochter, Dorothea Neville, mir vorgestellt wurden. Damals ging das Mädchen noch zur Schule und war nicht sehr gesprächig. Ich habe mich nicht bemüht, sie näher kennenzulernen. Du weißt, dass ich nicht viel davon halte, Kinder in den Tagesablauf einzubeziehen; ich finde sie außerordentlich langweilig, außerdem neigen sie dazu, unter elterlichem Zwang, den Erwachsenen dümmliche Gedichte vorzutragen. Aber zurück zu meinem Besuch.“

„Ah, wir machen Fortschritte.“

„Wie bitte, mein Lieber?“

„Sie trug nicht denselben Nachnamen wie ihre Mutter?“, wetzte er rasch die Scharte aus.

„Wie klug von dir, dass es dir aufgefallen ist, Sunny. Allerdings muss ich gestehen, dass ich dem Unterschied nicht viel Beachtung geschenkt habe, bis zu dem Abend, an dem Theodora – so heißt ihre Mutter, sie hat auch einen eher unvorteilhaften Namen – und ich Gelegenheit zu einem netten Plausch hatten. Eine wahrlich traurige Geschichte.“

„Miss Neville hat beim Tee so etwas angedeutet.“

„Ach ja? Oh, ich erinnere mich. Mittlerweile redet sie viel mehr. Ein Glück. Dann fasse ich mich also kurz.“

Und wir halten einen Moment inne und danken Gott und all seinen Heiligen …

„Da musste ich natürlich noch einmal zurückkommen, um sie wiederzusehen und das hoch aufgeschossene, schlaksige Kind, das inzwischen erwachsen war, und um mehr über die Ausreise aus England und den traurigen Tod des lieben, geliebten Harry zu erfahren. Harry , Sunny. Eine ziemlich gewöhnliche Abkürzung für Henry. Natürlich war das alles Quatsch. Nicht, dass man es Theodora, der armen Seele, verübeln könnte, die von ihrem Liebsten verlassen wurde. Ich selbst hätte allerdings eine plausible Erklärung dafür zusammenstoppeln können, hätten die Umstände mich dazu gezwungen. Und immerhin trifft ihr Unterhalt immer noch vierteljährlich ein, denn das hatte ihr Gatte geregelt, bevor er, ahem, starb .“

„Und dir ist es gelungen, der Frau die Wahrheit zu entlocken?“ Gabriel war nicht sicher, ob ihm die Richtung gefiel, die dieses Gespräch nahm.

„Wenn dir die Täuschung so lange gelungen wäre, wenn du einen neuen Mann gefunden und ihm zwei Kinder geboren hättest und in den Kreisen, die in Amerika als feine Gesellschaft gelten, akzeptiert wärst, würdest du dann einer nahezu Fremden gegenüber alles ausplaudern?“

Nein, das würde er nicht. „Dann willst du also sagen, Euer Gnaden, du selbst hast den Schluss gezogen, dass Miss Neville ein … ein …“

„Ein uneheliches Kind ist. Ein Kind der Liebe. Leider außerhalb der Ehe geboren. Ach, vergiss nicht, den Mund wieder zu schließen, Sunny. So etwas passiert doch ständig. Vergiss nicht, ich habe die Welt gesehen, und ich kenne mich aus.“

Ihre Version der Welt hatte sie gesehen, das musste man ihr lassen. „Das ist eine faszinierende Theorie, äh, Vermutung, schätze ich. Bist du ganz sicher?“

„Ich werde dich nicht bitten, eine Bibel zu holen, damit ich darauf schwören kann, aber ja, ich bin ganz sicher. Oder sind dir ihre ziemlich einzigartige Größe und Haarfarbe nicht aufgefallen? Und dann ihre Augenbrauen. Die werden gewisse Leute ausgesprochen interessant finden, wenn Thea in die Gesellschaft eingeführt wird.“

Gabriel schluckte die Worte herunter, die er hatte sagen wollen, auch wenn er beim besten Willen nicht wusste, wie sie gelautet hätten. „Ihre Augenbrauen?“, wiederholte er stattdessen.

„Du willst doch nicht behaupten, sie wären dir nicht aufgefallen? Sie stehen ihr gut, ziemlich außergewöhnlich, meinst du nicht auch? Stark, aber nicht erdrückend. Mit ihrer Größe und diesem rabenschwarzen Haar wird sie sich aus der Menge der jämmerlich kleinen milchgesichtigen blonden Häschen herausheben, die sich durch die ,Kleine Saison‘ kichern. Gegen diese Sommersprossen muss ich allerdings etwas unternehmen.“

„Nein!“, platzte Gabriel heraus, bevor ihm bewusst wurde, was er getan hatte. Jetzt musste die Duchess bloß noch auf den Gedanken kommen, dass er besagte Sommersprossen bemerkt und sogar bewundert hatte, und schon würde sie im Frühling eine Hochzeit anberaumen. Oder vielleicht doch nicht, nachdem sie Miss Neville soeben zum unehelichen Kind erklärt hatte? Andererseits hatte der dritte Duke die Zofe seiner Mutter geheiratet. Vom Zimmermädchen zur Duchess. Ungewöhnlich, doch in der Familie Sinclair war schon Merkwürdigeres vorgekommen.

Um auf der sicheren Seite zu sein, schob Gabriel rasch eine Erklärung für seinen Einspruch nach. „Sie ist eine erwachsene Frau, Tante, und mir scheint, du willst sie – sie und mich – benutzen, um es dem Earl heimzuzahlen. Sie ist nicht unser Schützling, Tante. Sie ist unser Opfer. Dein Opfer. Damit will ich nichts zu tun haben, vielen Dank, auch wenn ich weiß, dass deine Absichten gut sind. Aber ich weigere mich, daran teilzuhaben. Nimm Rache, wenn du willst, aber von jetzt an bin ich nicht mehr dabei. Tut mir leid.“

Oh, aber er war so sehr in Versuchung …

„Zügle deine Selbstgerechtigkeit, Sunny, sie beeindruckt mich nicht. Anders, als du offenbar glaubst, wenn du dich auf dein hohes Ross der Perfektion schwingst, zieht Basil die Reise nach London einzig und allein deshalb in Erwägung, weil er hofft, mitansehen zu können, wie wir den anmaßenden Earl in die Schranken weisen.“

Gabriel spürte, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. „Du hast ihm schon gesagt, ich wäre mit dem Plan einverstanden, stimmt’s?“

„Er würde niemals zulassen, dass ich ein solches … ein solches Projekt allein ausführe.“

„Und du glaubst wirklich, dieses Projekt bewirkt, dass er nicht mehr an seinen bevorstehenden Tod denkt, bis sein Geburtstag verstrichen ist?“

Sie zog sich den Schal fester um die Schultern und brachte irgendwie eine kokette Miene zustande. „Ich will meinen Mann zurück, wie er einmal war, in jeder Hinsicht. Meine Pläne drehen sich nicht ausschließlich um Miss Neville, Sunny. Ich will dich ja nicht in Verlegenheit bringen, doch lass dir gesagt sein, dass ich zwar viel zu betagt bin, um mir einen Liebhaber zu nehmen, aber längst noch nicht altersschwach. Und da Basil jegliche … Freuden immer wieder unterbricht, um sich von mir den Puls messen zu lassen, kann ich schon länger nichts mehr empfinden außer Enttäuschung. Und ich hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder mehr sein zu können als nur seine Ehefrau auf dem Papier. Überlass Basil mir. Ich brauche dich nur, damit du mir hilfst, ihn aus seinem Trübsinn aufzurütteln, damit er wieder aktiv wird – in jeder Hinsicht, falls du verstehst, was ich meine. Den Rest übernehme ich.“

Da der Boden sich partout nicht auftun wollte, um ihn entgegenkommenderweise zu verschlingen, fragte Gabriel: „Und Miss Neville? Was geschieht mit ihr?“

Die Duchess blinzelte verwirrt. „Na, gar nichts. Du glaubst doch nicht wirklich, ich würde aller Welt ihre traurigen Lebensumstände verkünden, oder? Deswegen ist die ,Kleine Saison‘ so viel sicherer für unser Vorhaben. Miss Neville wird vorgestellt, jemand wirft ein Auge auf sie – ich vertraue darauf, dass du ihre Verehrer auf Herz und Nieren prüfst –, sie heiratet einigermaßen gut mit der Mitgift, die dein Onkel ihr aussetzt, und das war’s. Ich will lediglich, dass der Earl sie sieht, dass er erkennt, wer sie ist, und krank wird vor Angst, dass wir es auch wissen könnten. Er soll sich genauso unbehaglich fühlen, wie der arme Basil sich seinetwegen gefühlt hat.“

„Dabei vergisst du eine Sache. Miss Neville wird ihn ebenfalls erkennen, schon am Namen. Harry Neville. Henry Neville? Was passiert dann?“

Die Duchess seufzte. „Ja, sie ist ziemlich aufgeweckt. Das habe ich selbst schon festgestellt. Leider befand sich das Schiff mitsamt der lieben Thea schon auf halbem Weg nach England, als mir diese Erkenntnis kam. Der Plan muss unser Geheimnis bleiben, bis wir uns am Grosvenor Square eingerichtet haben, und damit es nicht zu peinlichen Szenen kommt, wirst du es ihr dann sagen.“

Wer soll es ihr sagen?“

„Nun, du glaubst doch gewiss nicht, ich würde es tun, oder? Dann stünde ich ja als abscheuliche Person da, als Intrigantin womöglich, und das würdest du mir doch nicht antun. Es muss so aussehen, als hättest du Theas Ähnlichkeit mit dem Earl erkannt und über den gemeinsamen Nachnamen nachgedacht, während deine liebe, aber dumme Tante nie mehr als einen Zufall dahinter vermutet hat. Fragst du dich nicht auch, warum er keinen falschen Namen angenommen hat, als er Theodora zu seiner Geliebten machte? Das ist schon sonderbar, um nicht zu sagen nachlässig.“

Gabriel lehnte sich in seinem Sessel zurück, stützte einen Ellenbogen auf die Armlehne und drückte das Kinn in die Hand, damit er erst redete, wenn er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er sollte sich Miss Neville vornehmen und ihr verraten, dass sie ein uneheliches Kind war? Wunderbar. Lieber nahm er noch ein halbes Dutzend ausgestopfte Lemuren in Kauf.

„Ja, sonderbar“, brachte er schließlich hervor. „Wenn nicht gar nachlässig.“

„Ja, aber manche Menschen haben nun mal von Geburt an keinen gesunden Menschenverstand, schon gar nicht in Sachen Verführung und dergleichen. Denk doch nur an unseren Prinzregenten und diese Mrs. Fitzherbert und was für ein Chaos daraus hätte entstehen können. Tja, ginge es um einen schlichten Smith oder Jones, dann würden wir jetzt nicht hier sitzen und dieses Gespräch führen, nicht wahr?“

Gabriel starrte in sein leeres Glas. „Ich glaube, ich brauche noch etwas zu trinken.“

„Bitte nicht zu viel, Sunny. Weißt du noch, der dritte Duke? Hat sich beinahe ins Grab getrunken. Komm, gib mir einen Kuss.“ Sie stand auf und bot ihm ihre gepuderte Wange. „Ich gehe noch einmal zu Basil, um das Datum für unsere Reise nach London festzulegen. Ich denke, zwei Wochen sollten reichen, oder? Wirklich, Thea ist gar nicht so übel. Amerika ist nicht unbedingt zurückgeblieben , aber sie braucht doch noch einen gewissen Schliff, um sie auf einige unserer weniger reifen Londoner Herren vorzubereiten, die recht … nun ja, aggressiv ist vielleicht ein zu starker Ausdruck, um ihr Werbeverhalten zu beschreiben, aber dennoch. Darum kümmerst du dich, nicht wahr, denn ich muss mir ja den Kopf darüber zerbrechen, wie ich Basil auf andere Gedanken bringen und von der Vorstellung ablenken kann, dass er in Kürze das Zeitliche segnet. Ja, selbstverständlich kümmerst du dich darum.“

Sie tätschelte seine Wange. „Du bist ein so guter Junge, Sunny. Du bist seit jeher mein Lieblings-Großneffe.“

„Ich bin dein einziger Großneffe. Ich bin dein einziger Neffe überhaupt“, sagte er zu ihrer entschwindenden Rückansicht, während die Duchess rüschenumweht aus dem Zimmer schwebte.

Als er allein war, blickte er auf den Tisch mit den Getränken und erwog seine Möglichkeiten.

Sollte er allein trinken und sich so volllaufen lassen, dass er entweder auf einem der Sofas einschlief oder ein freundlicher Dienstbote ihn fand und ins Bett schleppte?

Oder sollte er Rigby suchen, damit sie sich zusammen volllaufen lassen konnten? Doch wenn er das tat, würde er seinem Freund letzten Endes womöglich von Miss Neville, ihrem Status als uneheliche Tochter und vom Projekt seiner Tante erzählen. Es war schlimm genug, dass Rigby aufgrund der Namensgleichheit bereits einen Verdacht geäußert hatte.

Wenn er die Geburtsumstände der jungen Frau preisgab, überschritt er eine Grenze und begab sich ins Land des Unverzeihlichen. Er war ohnehin schon verachtenswert, weil er auch nur in Erwägung zog, sich für den Plan der Duchess einspannen zu lassen. Er saß aber auch, wie er blitzartig erkannte, ganz schön in der Falle. Falls Basil sich weigerte, nach London zu reisen, und starb, wäre alles nur Gabriels Schuld. Wenn Basil hingegen nach London fuhr und dort starb, konnte niemand Gabriel dafür verantwortlich machen. Für eine derart kapriziös-einfältige Person – und das meinte er ganz liebevoll – hatte seine Tante weiß Gott eine feinsinnige Art, ihre Männer in die Ecke zu drängen.

Gabriel griff nach der Weinkaraffe und nahm sie mit zu seinem Sessel. Er würde allein trinken, das war sicherer.

Während der ersten Stunde versuchte er, einen Weg aus den Nesseln zu finden, in die seine Tante ihn gesetzt hatte.

Während der zweiten Stunde erwog er mit der geballten Konzentration eines Betrunkenen, der sich für nüchtern hält, wie er sich aus der Affäre ziehen und stattdessen Rigby in die Pläne seiner Tante einbinden könnte.

Als es ihm schließlich gelang, in sein Schlafgemach zu torkeln, blickte er der unverbrüchlichen Wahrheit ins Auge.

Ihm blieb nichts anderes übrig.

Wenn diese ganze Sache vorbei war, würde seine Ehre von ihm verlangen, die Augenbrauen zu heiraten.

Merkwürdig, dass seine Tante nicht darauf gekommen war …

4. KAPITEL

G abriel erwachte mit dem Geschmack nach toter pelziger Maus im Mund, was ihn dazu bewog, in Richtung Fenster und zu dem Tablett zu stolpern, das Horton, sein Kammerdiener, dort gerade auf dem runden Esstisch abgestellt hatte.

Langsam fanden die Erinnerungen den Weg zurück in seinen Kopf und wiesen darauf hin, dass besagter Kopf sehr realistisch Gefahr lief zu platzen wie eine überreife Melone. Die Duchess und die Augenbrauen hatten ihn genötigt, zu tief ins Glas zu schauen. In mehr als nur ein Glas. So elend hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er und sein Freundestrio eine Tour unternommen hatten, um zu feiern, dass … zu feiern, dass … Nun ja, es musste sich in jedem Fall um einen entschieden fröhlicheren Anlass gehandelt haben als den, der aktuell dafür sorgte, dass er derartig durch den Wind war.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Sir“, zwitscherte der Kammerdiener munter, und seine Stimme setzte einen regelrechten Amboss-Chor zwischen den Ohren seines Herrn in Gang. „Ich habe mit dem Tablett draußen gewartet, bis ich Sie stöhnen … bis ich hörte, dass Sie aufwachen, Sir. Ich habe Ihnen Kaffee gebracht, gegen meine bessere Einsicht, denn ich denke, in Ihrem derzeitigen Zustand würde Ihnen Gänsewein besser bekommen.“

„Wasser? Ich soll Wasser trinken? Schenken Sie mir Kaffee ein, Horton, oder reichen Sie mir die Kanne. Was die abgedeckten Schüsseln betrifft, was immer sie enthalten mögen, nein, danke.“

Erst nachdem er sich an der heißen, schwarzen Flüssigkeit die Zunge verbrüht hatte, fragte er: „Wie spät ist es, Horton?“

„Beinahe Mittag“, antwortete der Kammerdiener mit einem Hauch von Tadel in der Stimme. Horton war im Großen und Ganzen ein guter Kammerdiener, ließ jedoch gegelgentlich auch eigene Befindlichkeiten durchblicken, vor allem dann, wenn Gabriel wieder mal rücksichtslos den Zeitplan des Mannes durcheinanderbrachte.

„Schon Mittag, Horton? Ich sollte mich schämen.“

„In der Tat, Sir. Ihr Freund, der Baronet, lässt sich entschuldigen, aber da Sie gestern Abend keinen Wert auf seine Gesellschaft gelegt haben und der ihm versprochene Spaß anscheinend ein Ende hat, ist er heute Morgen gleich nach dem Frühstück abgereist. Er hat einen Brief hinterlassen.“

Damit reichte Horton ihm ein Schreiben.

„Das Siegel wurde gebrochen“, bemerkte Gabriel und blickte zu seinem Diener auf, der sich hastig daranmachte, das verschmähte Tablett zu entfernen. Nur die kleine silberne Kaffeekanne ließ er stehen.

„Es hätte etwas Dringendes sein können, Sir.“

Gabriel versuchte mit zusammengekniffenen Augen, Rigbys Krakelschrift zu entziffern.

Horton leistete Beistand, indem er die Vorhänge öffnete und die Mittagssonne ins Zimmer ließ.

Dienstboten können einen Mann schlimmer quälen als ein ganzes Regiment ausländischer Folterknechte.

„Danke, Horton.“ Gabriel musste zwar heftig blinzeln, weigerte sich aber, den Vorgang als Abstrafung zu akzeptieren. „In dem Brief steht nichts anderes als das, was Sie mir bereits gesagt haben.“

„Deswegen habe ich ja gewartet, bis Sie von selbst aufgewacht sind, Sir“, erwiderte Horton so langsam und deutlich, als müsste er einem Kind etwas erklären. „Die Duchess bittet Sie, heute Nachmittag Miss Neville zu unterhalten, da Ihre Gnaden mit dem Duke beschäftigt sein wird. Sie meint, eine Fahrt über den Besitz wäre sicher vergnüglich und Sie und Miss Neville könnten einander besser kennenlernen.“

„Ja, das ist genau das, was ich nach einem Abend unvernünftiger Zecherei brauche. Gestelzte Gespräche ohne Sinn, verbunden mit einer Holperfahrt, um diese verdammten Kopfschmerzen zu lindern.“

Darauf fiel offenbar nicht einmal Horton eine Antwort ein. „Ihr Bad ist im Ankleidezimmer für Sie bereit, und ich habe Ihnen einen Anzug herausgelegt, den ich für einen Tag auf dem Land für angemessen halte.“

„Da Ihre Gnaden unseren Gast vermutlich bereits über den Ausflug informiert hat, lassen Sie bitte Miss Nevilles Zofe wissen, dass Miss Neville sich um ein Uhr zum Aufbruch bereithalten möchte. Und vielen Dank. Wie würde ich bloß ohne Sie zurechtkommen, Horton?“

Der Kammerdiener errötete bis zum Ansatz seiner Halbglatze. „Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Sir.“

Horton hatte schon ein paar Jahre in Gabriels Diensten gestanden, bevor sein Herr in den Krieg zog, um dann abgemagert und verhärmt heimzukehren, mit Blutergüssen, die zu frisch waren, um vom Tag der unseligen Schlacht herrühren zu können. Horton hatte ihn bemuttert, Gabriel hatte es zugelassen, und offenbar glaubte der Mann nun, sich dadurch Privilegien gesichert zu haben, die über die eines bloßen Angestellten hinausgingen.

Womit er völlig richtiglag, und zwar verdientermaßen.

Eine Stunde später, als die Uhr in der Eingangshalle einmal schlug, was jedoch in all dem Krächzen und Flügelschlagen im Aviarium nahezu unterging, trabte Gabriel die Stufen hinunter. Er ließ die Tür zum Treppenhaus schnellstens hinter sich ins Schloss fallen, in der Erwartung, dass Miss Neville pflichtschuldigst am Haupteingang seiner harrte.

„Georgie, hast du die junge Dame gesehen?“, fragte er den hemdsärmeligen Jungen, der emsig einen der Käfige reinigte. „Und sag mir bitte, dass das, was du da in den Käfig legst, nicht die Londoner Zeitung von heute ist.“

„Ja, Sir, die letzte. Mr. Hemmings gibt sie mir immer, wenn die Familie zu Mittag gegessen hat. Sind zu nichts anderem mehr gut, sagt Mr. Hemmings, wenn sie durchgelesen sind.“

„Na, großartig.“ Die Zeitungen mochten ja zwei Tage alt sein, wenn sie in Cranbrook Chase eintrafen, aber alle Nachrichten blieben neu, bis man sie zur Kenntnis nahm. „Und die junge Dame?“

„Miss Neville? Ja, Sir. Ich soll Ihnen sagen, dass sie draußen wartet, nich’ hier drinnen, wo die Vögel in der Mauser sind, und Sie sollen sie gefälligst draußen treffen, weil Sie ganz bestimmt nich’ hier im Dschungel rumsteht.“

Die Frau zierte sich offenbar nicht, ihre Meinung zu sagen. Gabriel lächelte, als er aus dem Haus trat und Miss Neville vor seinem Zweispänner auf und ab wandern sah. Sowohl der Pferdeknecht, der die Köpfe der Pferde hielt, als auch der livrierte Diener sahen ihr dabei zu, als verfolgten sie ein Tennis-Match in Wimbledon.

Miss Neville bot in der Tat einen grandiosen Anblick.

Sie trug eine kurze, enge dunkelblaue Jacke, die nur bis zu ihrer lächerlich schmalen Taille reichte und nicht zugeknöpft war, um den Blick auf die gerüschte weiße Leinenbluse darunter freizugeben. Ebensolche Rüschen rieselten an den Handgelenken aus den Ärmelmanschetten. Das allein schon war faszinierend, gelinde gesagt. Doch als Gabriel den Blick von ihrer Taille abwärts wandern ließ, bis zu den Stiefelspitzen, und wieder hinauf, wurde ihm klar, dass sie die längsten Beine in der gesamten Schöpfung besitzen musste. Beine bis hoch hinauf zu ihren Hüften. Beine, die, wenn sie sich so zielstrebig mit großen, nicht unbedingt damenhaften Schritten bewegten, einem Mann unfeine Gedanken in den Kopf setzen konnten, Gedanken, die er vermutlich nie mehr loswerden würde.

Gabriel funkelte erst den Pferdeknecht, der hastig zu Boden schaute, dann den Lakaien, der jünger war und nur anerkennend grinste, finster an.

„Miss Neville, ich habe Sie warten lassen. Wie ungezogen von mir“, sagte er. Sie drehte den Kopf in seine Richtung, und ihm entging nicht der kurze, gereizte Blick, mit dem sie ihn bedachte, bevor sie ein Lächeln und einen Knicks zustande brachte.

„Unsinn, Sir“, erwiderte sie zuckersüß, „ich bin selbst erst seit einem kurzen Moment hier. Ich bin nur froh, dass nicht ich es war, die Sie hat warten lassen. Wie ich hörte, hatten Sie eine unruhige Nacht. Es wird doch nicht an dem Steinbutt gelegen haben, der zum Abendessen gereicht wurde?“

Zwar war es für Gabriels Geschmack noch etwas zu früh, um über gebutterten Fisch und würzige Muscheln zu reden, doch das wollte er Dorothea nicht wissen lassen, schon gar nicht, da er ziemlich sicher war, dass sie irgendwie von seinem Trinkgelage am Vorabend erfahren hatte.

„Hübscher Hut, Miss Neville“, entgegnete er und bedeutete dem Lakaien, auf das hintere Trittbrett des Zweispänners zu springen, während er Thea eigenhändig auf den Sitz half. „Sind Sie sicher, dass er Ihre Nase vor der Sonne schützt? Ihre Gnaden sind überaus besorgt wegen Ihrer Sommersprossen.“

Sie antwortete erst, als er um den Wagen herumgegangen war und die Zügel, die der Pferdeknecht ihm reichte, übernommen hatte. „Ihre Gnaden würde es auch gern sehen, wenn ich fünfzehn Zentimeter kleiner wäre, aber manche Dinge sind eben nicht zu verwirklichen. Und ich mag Sommersprossen. Ich habe mir sagen lassen, sie seien ungewöhnlich bei jemandem mit so dunklen Haaren wie meinen.“

Natürlich zwang diese Behauptung ihn, ihr ins Gesicht zu schauen, während der Knecht die Pferde freigab und sie die bogenförmige Zufahrt hinunterfuhren. „Debütantinnen passen normalerweise gut auf und greifen sogar zu drastischen Maßnahmen, um Sommersprossen zu vermeiden. Ich glaube, einige von ihnen meiden die Sonne sogar wochenlang komplett.“

„Dies mag ja meine erste Begegnung mit der feinen englischen Gesellschaft sein, Sir, aber ich bin weiß Gott keine Debütantin. Ich wurde knapp nach meinem sechzehnten Geburtstag auf einem Weihnachtsball in die Gesellschaft eingeführt.“

„Das ist recht früh, kommt aber vor.“ Gabriel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Pferde. „Zweiundzwanzig sind Sie jetzt, damals waren Sie sechzehn. Dazwischen liegen sechs Jahre, Miss Neville. Sie haben in all dieser Zeit keine Eroberung gemacht? Kein Wunder, dass Ihre Mutter Sie so bereitwillig Ihrer Gnaden überlassen hat. In Virginia waren Ihnen wohl langsam die Verehrer ausgegangen, oder?“

Er gehörte gehängt. Oder zumindest geknebelt. Doch im Augenblick war er der jungen Dame nicht wohlgesinnt, trotz der hübschen Sommersprossen und der langen Beine. Sie hatte sein Schicksal besiegelt und wusste es nicht einmal.

Doch sie lachte nur und fragte ihn nach den Bäumen, die die Zufahrt vor ihnen säumten. Sie war zu klug, um nicht zu wissen, dass er sie eben beleidigt hatte, und er war ihr noch weniger wohlgesinnt, weil sie seinen Seitenhieb ignorierte und ihm damit das Gefühl gab, weniger wert als ein Wurm und nunmehr dazu verpflichtet zu sein, sie besser zu behandeln.

„Das, Miss Neville, sind Schwarze Maulbeerbäume. Im Gegensatz zu Weißen Maulbeerbäumen. Ein Unterschied, den wir Engländer zu unserer großen Enttäuschung im sechzehnten Jahrhundert erkennen mussten. Sie wachsen schnell, lassen sich leicht ersetzen, wenn einer eingeht, und einer der früheren Dukes mochte sie, obwohl die Beeren nutzlos sind, sowohl für Saft als auch für Gelee. Unangenehm im Geschmack wäre noch geschmeichelt. Schlimmer noch, auch Seidenraupen mögen sie nicht.“

Sie betrachtete noch einmal die Reihe dunkel belaubter, ziemlich ausladender Bäume. „Seidenraupen? Ich wusste gar nicht, dass England Seidenhandel betreibt.“

„Wir betreiben auch keinen, obwohl es mit Sicherheit nicht an mangelnder Entschlossenheit liegt. Unser erster König James ließ beim Buckingham Palast ein Feld, eine Zucht, eine Baumschule, wie immer man es nennen mag, anlegen. Daraufhin befahl er Landbesitzern in ganz England, zehntausend weiterer Bäume zu kaufen und zu pflanzen. Wir wollten China in der Seidenproduktion Konkurrenz machen, unsere Seide sogar nach Frankreich verkaufen, statt wie bis dahin – und wie heute immer noch – aus Frankreich Seide über den Kanal zu uns hinüberschmuggeln zu lassen.“

Sie hatten die Maulbeerbäume hinter sich gelassen, als Gabriel die Pferde nach rechts lenkte, auf einen sorgfältig angelegten Rundweg, der sich zum Nutzen und Vergnügen der Damen, die Cranbrook Chase besuchten, über den ganzen Besitz schlängelte.

„Die Bäume sehen doch recht gesund aus“, bemerkte Thea. „Was ist passiert?“

„Nichts, Miss Neville. Absolut nichts ist passiert. Offenbar war der König schlecht beraten. Weiße Maulbeerbäume ziehen Seidenraupen an. Nicht die schwarzen.“

„Ach, was für ein Pech. Ließen sie sich denn nicht dazu überreden, die Schwarzen Maulbeerbäume zu mögen? Wo doch nur solche zur Verfügung standen, meine ich.“

„Anscheinend nicht.“ Gabriel wandte sich Miss Neville zu, schaute sie an und begriff plötzlich, dass sie kein geistloses Häschen war. Beinahe glaubte er zu hören, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten, und sie spann ihre Fäden um Gabriel, fesselte ihn mit seinen eigenen Worten. „Vermutlich mag man etwas, oder man mag es eben nicht. Verfügbarkeit scheint dabei keine Rolle zu spielen. Für Seidenwürmer, wohlgemerkt.“

„Oh ja, für Seidenwürmer. Mit Männern verhält es sich wahrscheinlich anders, und Frauen sollten lernen, sich zu den einzig verfügbaren hingezogen zu fühlen.“

„Ich hätte sogleich um Entschuldigung bitten sollen. Sie hätten es mir ohnehin früher oder später heimgezahlt. Mit den Maulbeerbäumen habe ich Sie lediglich frühzeitig mit Munition versorgt.“

„Aber nur, weil ich Sie auf das Thema brachte, als ich die Bäume sah. Ich kenne die Geschichte von König James’ Maulbeerbäumen. Im Saint James Park gedeihen noch ein paar, und man hat mir empfohlen, danach Ausschau zu halten, falls einer meiner Verehrer mich zu einer Ausfahrt dorthin einlädt. Den Ort kann ich jetzt also schon mal von meiner Ausflug-Vorschlagsliste streichen.“

Es war seine eigene Schuld. Er war an diesem Tag nicht in Höchstform, und sie hatte eindeutig Anstoß daran genommen, dass man ihr befahl, sich um ein Uhr bereitzuhalten, statt sich höflich zu erkundigen, ob sie um ein Uhr vielleicht Lust auf eine Ausfahrt hatte. Er war ihr gegenüber im Nachteil, das wusste sie, und die Maulbeerbäume waren womöglich nicht ihr einziges Folterinstrument, um ihn daran zu erinnern, dass er sich seit ihrer Ankunft wie ein ausgemachter Esel aufführte.

„Wir könnten sicherlich in diesem Ton fortfahren, Miss Neville, und uns weitere Wortgefechte liefern, allerdings gibt es zwei Gründe, die dagegensprechen. Nein, drei. Erstens, ich zahle immer noch den Preis für den unvernünftigen Trost, den ich gestern Abend gesucht habe.“

Gabriel hielt nur kurz inne, um Luft zu holen, und schon ging sie auf ihn los. „Ja, ich habe davon gehört, wenngleich man mir versicherte, dass es keine feste Angewohnheit von Ihnen ist, sich sinnlos zu betrinken. Meine Zofe, Clarice, ist versiert darin, jemandem Informationen zu entlocken, und Ihr Kammerdiener mag ja treu ergeben sein, kann aber den Mund nicht halten. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, Sir. Das sollten Sie sich vielleicht merken.“

„Herrgott noch mal“, sagte Gabriel leise. Doch sie hatte ihn gehört. Sie saßen dicht nebeneinander, wenngleich Welten sie trennten, leider nur im übertragenen Sinne. Gabriel wünschte sie dahin, wo der Pfeffer wächst. Doch, ja, das tat er! Ganz sicher. „Nummer zwei, Miss Neville, und das dürfte für uns beide auf der Hand liegen: Sie sind klüger als ich.“

„Und nicht darüber erhaben, mich an einem Mann schadlos zu halten, der Schmerzen leidet“, hob sie lächelnd hervor. „Das kommt erschwerend hinzu. Übrigens, wie geht es Ihrem Kopf? Mein Stiefvater schildert diesen Zustand so: Der Kopf steckt in einem Schraubstock, während der Teufel einem auf dem Bauch herumhüpft. Mich wundert nur, dass jemand, der diese Qual erlebt hat, sie freiwillig wiederholen möchte. Aber Ihre Gnaden hat Sie dazu gebracht. Das verstehe ich.“

„Damit wäre auch Nummer drei abgehakt. Bleibt die Frage: Was sollen wir dagegen tun?“

Da war wieder dieses Lächeln, an sich hinreißend, doch er wusste es jetzt besser. Vielleicht sollte er in Deckung gehen oder vom Zweispänner springen und sich aus der Schusslinie entfernen.

„Ich weiß nicht, was Sie dagegen tun wollen, Sir, aber wären Sie im Wohnzimmer geblieben, statt diese lächerliche Bemerkung von sich zu geben und wegzulaufen wie ein Kaninchen bei der ersten Witterung des Fuchses, dann hätten Sie gehört, wie ich mich bei Ihrer Gnaden für ihre Idee bedankt habe, sie aber gleichzeitig wissen ließ, dass ich leider ablehnen muss … aus naheliegenden Gründen.“

„Ich bewundere Ihr Durchhaltevermögen, Miss Neville, während Sie meine spontane Reaktion verurteilen, aber glauben Sie tatsächlich, die Duchess hätte sich durch Ihre Ablehnung umstimmen lassen?“

Ihr Lächeln reichte aus, um zehn Tassen Tee damit zu süßen.

„Oh nein, vielmehr war sie ziemlich einverstanden mit meinem Lösungsansatz.“

Jetzt hätte er sich unter den Zweispänner kauern und schützend die Hände um den Kopf legen sollen. War seine Tante etwa zu dem gleichen Schluss gekommen wie er und diese grinsende Erzfeindin nun im Begriff, einen Heiratsantrag aus zweiter Hand anzunehmen? Nein, das konnte es nicht sein. „Und wären Sie so freundlich, mir mitzuteilen – wobei ich fast sicher bin, dass ich Kopf und Kragen riskiere –, um was für eine Lösung es sich handelt?“

„Sir Jeremiah hat sich mir als Begleiter angeboten, und die Duchess hat den Vorschlag sogleich aufgegriffen. Ich habe zugestimmt, und alles ist geregelt. Sie sind für das Projekt, mich an den Mann zu bringen, wie Ihre Gnaden es auszudrücken beliebt, nicht mehr notwendig, Sir.“

„Sir Jere … Rigby ? Hat meine Tante den Verstand verloren? Ist sie dermaßen verzweifelt? Rigby? “ Gabriel hatte mit allem Möglichen gerechnet. Aber das? Das niemals.

Endlich erlosch Theas Lächeln. „Stimmt etwas nicht mit dem Mann?“

„Sie haben verdammt recht, mit dem Mann stimmt … Aber nein, natürlich nicht. Rigby ist ein feiner Kerl. Solide bis auf die Knochen.“

„Ihre Gnaden meint, bei ihm sei gewissermaßen eine Schraube locker, aber wir würden schon zurechtkommen.“

„Ein Esel schimpft den anderen Langohr, klar. Das war zu erwarten“, sagte Gabriel leise, mehr zu sich selbst. „Nun, das kommt nicht infrage. Sie haben genug am Hals, Miss Neville, und brauchen nicht auch noch Rigby obendrauf. Und Sie verstehen doch sicher, dass die Duchess nur deshalb zugestimmt hat, weil sie weiß, dass ich eingreifen und nicht zulassen würde, dass Rigby mit seinen guten Absichten Ihnen jegliche Chance vermasselt, einen Weißen Maulbeerbaum zu finden.“

„Oh, aber …“

„Es ist beschlossen, Miss Neville, wie meine Tante bereits sehr gut weiß, sonst hätte ich mich gestern Abend nicht so unvernünftig volllaufen lassen, nachdem ich mit ihr gesprochen habe.“

Er schwieg eine Weile und fragte sich, seit wann er so brutal offen zu einer Dame sprach. Dann sagte er: „Ich kann nicht glauben, dass ich wie ein grüner Junge hereingelegt worden bin. Sie ist so weich und pudrig und … und rüschig. So reizend und warmherzig und, bei aller Liebe, nicht allzu gescheit. Aber eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Gabe, sie hat dir nie im Leben absichtlich ein Schnippchen geschlagen; das hast du ganz allein besorgt.“

„Führen Sie oft Selbstgespräche? Ich ebenfalls, auch wenn ich versuche, es bleiben zu lassen, weil meine Mutter fürchtet, es könnte ein Hinweis auf ein krankes Hirn sein.“

„Wahrscheinlich hat sie recht. Und so, wie ich mich im Augenblick fühle, sollten Sie wohl um Ihre Sicherheit fürchten, bis man mich irgendwo einsperren kann. Wie auch immer, Miss Neville, wir werden Sir Jeremiah, wenn wir ihn in London sehen, dafür danken, dass er sich für die gute Sache opfern wollte, doch ich werde als Ihr Begleiter in die Bresche springen. Ich bin vielleicht nicht der beste Aufpasser, den Sie finden könnten, doch immerhin werde ich Sie, was Ihre Verehrer betrifft, nicht auf den Holzweg führen. Rigby ist nicht so scharfsichtig; er mag grundsätzlich jeden.“

„Im Unterschied zu Ihnen.“

Sogleich kam ihm Henry Neville in den Sinn. „Ja, im Unterschied zu mir. Ich mag manche Menschen weniger als andere. Vielleicht bin ich da zu voreingenommen.“

„Oder Sie sind zu rasch mit Ihrem Urteil bei der Hand“, warf sie ein und zuckte mit ihren schmalen, eleganten Schultern. „Ich kann Anspruch auf eine ähnliche Schwäche erheben und sollte wohl um Entschuldigung bitten. Ich tu’s aber nicht.“

Gabriel warf ihr einen flüchtigen Blick zu und fragte sich, ob es ihnen vom Schicksal bestimmt war, nie ein Gespräch führen zu können, das nicht von Mehrdeutigkeiten belastet war.

Sie hatte mit dieser Bemerkung auf ihn gezielt, musste ihn gemeint haben, zumindest dessen war er sicher. Aber was konnte sie gegen ihn haben? Er wurde allgemein als liebenswürdiger Bursche betrachtet. Andererseits mochte sie ihrerseits Dutzende von Freunden in Virginia haben, die, anders als er, große Stücke auf sie hielten.

Anscheinend konnten sie einander einfach nicht leiden. Wie merkwürdig. Zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft sollte sich eigentlich keiner von ihnen eine Meinung über den anderen gebildet haben, und doch hatten sie anscheinend beide das Bedürfnis, ihre spontanen Reaktionen auf den jeweils anderen sehr deutlich zu machen.

Oder zu leugnen?

In Anbetracht dessen, wie heftig er auf sie reagierte, wie stark er sich ihrer Gegenwart bewusst war, war diese ausdrückliche Betonung einer gegenseitigen Abneigung wohl die beste Lösung für sie beide. Auf jeden Fall die sicherste.

„Ihre Gnaden sagte, irgendwo an dieser Wegstrecke befinde sich eine hübsche Steinbrücke über einem malerisch mäandernden Bach. Ich glaube, eben gerade gesehen zu haben, wie sich die Sonne im Wasser spiegelt. Gibt es Fische in diesem Bach?“

„Jeden Frühling werden welche ausgesetzt, ja. Und jetzt werden Sie mir vermutlich beibringen, dass Sie eine versierte Anglerin sind.“

Sie wandte den Kopf, das Lächeln blühte wieder auf, ihre dunklen Augen blitzten, und Gabriel fragte sich, wie lange seine vermeintliche Abneigung gegen diese Frau ihn schützen würde … oder sie. „Aber nein. Meine Mutter findet, diese Tätigkeit sei unpassend für eine Dame. Angeln in England auch Damen? Ihre Frage schien mir darauf hinzuweisen. Bringen Sie mir das Angeln bei, bevor wir nach London aufbrechen? Uns bleibt noch eine ganze Woche, wenn nicht mehr. Bitte? Ich habe meinem Stiefvater ein paar Mal beim Angeln zugesehen, und ich glaube, ich könnte Talent dazu haben.“

„Ich glaube, das würde mich in keiner Weise überraschen. Nun gut, Miss Neville. Ich bringe es Ihnen bei. Als Ihr Begleiter werde ich Ihnen so gut wie alles beibringen, was ich kann.“

Gott steh ihr bei. Gott steh mir bei. Gott steh uns beiden bei …

5. KAPITEL

N ach dem Abendgebet zog die Duchess sich in die Räume des Dukes zurück, und Thea begab sich auf die Galerie oberhalb des Aviariums. Hier, so glaubte sie, würde sie mit ihren Gedanken allein sein können.

Es war eine Schande, dass ihr keine anderen kamen als solche von zweifelhaftem Wert.

Welch seltsames Zwischenspiel war diese Ausfahrt mit Gabriel Sinclair gewesen. Noch nie im Leben war sie sich eines anderen Menschen derart ärgerlich bewusst gewesen, zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

Als er einmal versehentlich ihre Hand gestreift hatte, musste sie sich schwer zusammenreißen, um nicht zu schaudern, und ganz bestimmt nicht vor Abscheu. Sie hätte ihn für einen abgefeimten Verführer halten können, allerdings sprach der Umstand dagegen, dass er ihre Reaktion anscheinend gar nicht wahrnahm. Nein, in der Gegenwart dieses Mannes konnte sie nicht locker sein, nicht eine Sekunde lang. Denn es gehörte ganz und gar nicht zu ihren Plänen, dem eigenwilligen Charme des Großneffen der Duchess auch nur minimal nachzugeben.

Aber sie hatte es gewollt. Sein gelegentliches Lächeln und sein ansprechend schönes Gesicht verführten sie zur Unachtsamkeit, verleiteten sie dazu, sie selbst zu sein und seine Gesellschaft einfach zu genießen.

Und zwar in dem Maße, wie er die ihre offenbar nicht genoss.

Er war höflich gewesen, wenn er sich darauf besann, doch in erster Linie wirkte er wie ein Mann, den sehr vieles beschäftigte, nichts davon angenehm.

Eigentlich sollte es sie nicht überraschen, dass die Aussicht, sie durch die Saison begleiten zu müssen, keine Freudentänze bei ihm auslöste. Er würde derjenige sein, dessen Erlaubnis ihre Verehrer, sofern sie welche haben sollte, einholen mussten, wenn sie ihr den Hof machen wollten. Eine seltsame Situation, denn wenn je ein Mann eine Frau hatte loswerden wollen, dann war er dieser Mann und sie der offenkundige Mühlstein, der ihm jetzt um den Hals hing.

Die Duchess hatte ihr so viel Mut gemacht, hatte sich am Nachmittag endlos über ihren prachtvollen Großneffen ausgelassen und seine Begeisterung für ihre ziemlich unausgegorene Intrige. Offenbar sah die Frau tatsächlich kein Haar in der Suppe, die sie im Labor ihres Gehirns zusammengebraut hatte. Sie würde sich revanchieren können (und ihren Mann zurückgewinnen), Theas Mutter würde Revanche bekommen, und niemand würde Genaues wissen – abgesehen von ihrem gemeinsamen Zielobjekt, das selbstverständlich mitbekommen sollte, dass eine metaphorische geladene Pistole auf seinen guten Ruf gerichtet war.

Thea überdachte ihre Position; sie war in dieser Konstellation die geladene Pistole. Die Duchess glaubte, Thea wäre aus zwei Gründen beteiligt: um ihre Mutter glücklich zu machen und sich selbst einen reichen englischen Mann zu angeln. Ihre Mutter glaubte, sie hätte eingewilligt, um der Duchess zu helfen, die ihr die Möglichkeit bot, das Leben zu führen, das ihre Mama sich immer für sie erträumt hatte.

Doch niemand hatte sie gefragt, warum sie sich so bereitwillig auf diese Pläne einließ. Das hätten sie allerdings tun sollen, vor allem Theas Mutter, die weiß Gott nicht stolz das Kinn recken und behaupten konnte, ihre Tochter sei eine höchst fügsame und entgegenkommende junge Dame.

Denn ich habe meine eigenen Pläne.

Sie fragte sich, für was oder wen Gabriel Sinclair sie wohl halten mochte. So viel war klar: Er betrachtete sie keinesfalls als unverhofften Sonnenstrahl, der in die Eintönigkeit seines Lebens einbrach.

Sie hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, hörte Schritte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Sie hatte die Unterarme auf das kunstvoll geschnitzte Geländer gestützt und beugte sich vor, als wollte sie die eigenartigen Naturwunder da unten näher in Augenschein nehmen.

„Ich glaube, ich habe noch nie derartig leuchtende Farben gesehen“, sagte sie und wandte sich schließlich doch um, als Gabriel Sinclair neben ihr stehen blieb. „Manche sind einfach zu schön, um wahr zu sein, oder? Natürlich habe ich schon grüne Papageien gesehen, aber Vögel wie diese sind mir fremd. Hoffentlich finden sich in der Bibliothek ein paar Bücher, die mir mehr Aufschluss geben.“

Er stützte sich knapp eineinhalb Meter von ihr entfernt ebenfalls mit den Unterarmen auf dem Geländer ab. Als wären sie alte Bekannte, was sie ganz gewiss nicht waren. Trotzdem fühlte sie sich meist recht wohl in seiner Gegenwart, vielleicht, weil er gut zu seiner Tante war. „Sie machen Lärm. Sie stinken. Was gibt’s da sonst noch zu erfahren?“

„Sie mögen sie nicht“, stellte sie fest.

„Ich habe nichts gegen sie, bis auf ihren derzeitigen Aufenthaltsort. Wissen Sie, worauf wir hier stehen, Miss Neville?“

„Ich vermute, es ist ein Teil des Treppenhauses, auch wenn ich mir die Anlage im Kopf nicht so richtig vorstellen kann.“

„Es handelt sich nicht um irgendein Treppenhaus, Miss Neville. Wir stehen auf einem Teil des Treppenhauses. Nicht ganz eines der sieben Weltwunder, aber ähnlich verloren, zumindest zurzeit. Wenn Sie mögen, stellen Sie sich vor, die Wände zu unseren Seiten und die Türen wären nicht vorhanden.“

„Ich sage es nicht gern, aber diese Wände wirken tatsächlich, hm, wie in aller Eile hochgezogen.“

„Ja, und das ist noch freundlich ausgedrückt. Zur Entschuldigung des Dukes – eigentlich gibt es keine – muss gesagt werden, dass der Bau wirklich dringend war, aus Gründen der Einhegung , verstehen Sie? Wie auch immer, denken Sie sich, wenn Sie können, diese Wände weg, sodass die dahinter verborgenen Treppen in ihrer ganzen Pracht sichtbar werden.“

Thea schloss einen Moment lang die Augen und öffnete sie wieder. Gabriel fixierte sie, fast als wollte er sich ihr Gesicht genauestens einprägen. Seine Züge hatte sie bereits gründlich erfasst: weiches dunkelbraunes Haar mit etwas spitzem Ansatz und goldenen Strähnen, wenn die Sonne darauf schien, Augen von der Farbe eines Sommerhimmels, eine bemerkenswert gerade Nase, ein festes Kinn. Er war nicht klassisch schön. Er war … greifbar schön.

Hör auf damit! Du sollst an das Treppenhaus denken!

„Gut, ja“, sagte sie schnell, „ich stelle es mir vor. Eigentlich brauche ich es mir nicht vorzustellen. Ich habe ähnliche Bauweisen in Virginia gesehen. Nicht alle Amerikaner wohnen in Blockhütten am Rande der Wildnis, wissen Sie?“

Er zog belustigt eine Augenbraue hoch. „Ein Punkt für Sie, und ich fürchte, ich muss versuchen, den Baronet nicht allzu schwer zu enttäuschen, wenn ich ihm erkläre, dass sich im Reisegepäck meiner Tante kein großer Federkopfschmuck befindet. Wie, kein Lächeln? Sie sind nicht amüsiert? Nun gut, zurück zu unserer Vorstellung.“

„Ja, bitte“, sagte Thea und trat vom Geländer zurück. Sie fing an, sich bei den Wortgefechten mit diesem Mann zu wohl zu fühlen und sich seiner Nähe allzu deutlich bewusst zu sein.

Gabriel trat ebenfalls zurück und breitete die Arme aus, als wollte er die links und rechts von ihm verborgenen Treppenhäuser umfassen. „Oh ja, ich habe etwas vergessen, nicht wahr? Nicht nur die Wände links und rechts vor uns, sondern auch die hinter uns verbergen identische Treppenhäuser. In etwa geformt wie eine riesige Sanduhr ohne Deckel und Boden und mit einem Balken, der die Mitte markiert. Jetzt stellen Sie sich die Treppenhäuser vor, mitsamt dem Bereich, in dem wir uns derzeit aufhalten – dem Balken –, der ohne sichtbaren Halt in der Luft zu hängen scheint.“

Thea riss die Augen auf. „Er hängt in der Luft? Aber … aber das ist unmöglich. Er kann nicht in der Luft hängen.“

„Ich wollte, Sie könnten es sehen. Es ist der einzige derartige Bau in England, vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Wenn er nicht komplett zerlegt wird – was der Duke in Erwägung gezogen hat, wohlgemerkt –, werden wir nie erfahren, wie das möglich gemacht wurde. Der Sage nach hat der Architekt seine Pläne und Zeichnungen verbrannt und sich an genau dieser Stelle herabgestürzt, im Glauben, niemals etwas konstruieren zu können, was diese Schöpfung überflügelt. Er ist aufs Geländer gestiegen, hat die Arme über den Kopf gehoben und sich ins Leere geworfen. Leider sind ihm im Unterschied zu unseren krächzenden Freunden hier erst Flügel gewachsen, nachdem er auf dem Boden aufgeschlagen war.“

Thea blickte auf das Geländer und wich dann wohlweislich ein paar Schritte zurück. „Er ist gesprungen? Von genau dieser Stelle aus?“

Gabriel warf den Kopf in den Nacken und lachte, und Thea kam sich sogleich dumm vor. „Das ist Unsinn, nicht wahr? Alles, was Sie mir erzählt haben, ist ausgemachter Unsinn. Sie sind ein schlechter Mensch.“

„Sie sind entschieden freundlicher als der Baronet.“ Gabriel nahm sie beim Arm und führte sie zum Ende des frei schwebenden Balkons. „Er ist erst darauf gekommen, als ich erwähnte, dass der Architekt im Hause spukt, durch die Räume fliegt und warnt: ‚Ich verrate es nie … Ich verrate es nie!‘“

Thea versuchte erfolglos, ihr Lächeln zu unterdrücken. „Ich sollte das nicht lustig finden.“

„Ah, aber Sie finden es lustig. Als Ihr Begleiter gehört es zu meinen Pflichten, Sie zu belustigen. Soll ich Ihnen jetzt den Garten zeigen?“

„Solange keine Gespenster in der Eibenhecke hocken, meinetwegen.“ Er hakte sie unter, und sie machten sich auf den Weg die lange, geschwungene Treppe hinunter – eine der beiden Treppen, die zur Rückseite des Herrenhauses führten – und durch die Fenstertüren nach draußen. „Immerhin passen diese Treppen zum vorderen Eingang. Der Duke hat nicht bei allen Veränderungen geschludert.“

Er bot ihr erneut den Arm, als sie die Steinstufen zum Garten hinunterstiegen.

„Damit wollen Sie vermutlich andeuten, dass wir für kleine Freuden dankbar sein sollten.“

„Nein, so weit würde ich nicht gehen. Was haben Sie mit dem Aviarium vor, wenn Sie der Duke sind? Wollen Sie der Duchess das Herz brechen, indem Sie alles niederreißen? All diese prächtigen Vögel in kleine Käfige stecken und sie … ihrer Mauser überlassen?“

Er führte sie zu einer Bank, und sie setzten sich, knapp außer Sichtweite der Rückseite des Gebäudes.

„Ah, Sie erkennen mein Dilemma. Ich kann nur darauf hoffen, dass der Duke noch mindestens zwanzig Jahre lebt, während ich meinen kleineren, aber recht netten Besitz knapp fünf Meilen von hier bewohne.“

Thea fühlte aufrichtig mit dem Mann.

„Dann ist es eine Schande, dass er sich dort oben zum Sterben verkrochen hat.“

„Wir setzen immer schon wieder hinzu. Er hat sich schon wieder zum Sterben verkrochen.“

„Verzeihen Sie meinen Fehler. Doch die Frage bleibt dieselbe. Da die Duchess und ich in Kürze nach London reisen, damit ich die Waffen einer Frau einzusetzen lerne, bevor ich dann im Frühling offiziell in die hiesige Gesellschaft eingeführt werde, sehe ich für keinen von uns ein gutes Ende. Sie vielleicht? Nicht, wenn die Duchess in Trauer ist und Sie sich hier niederlassen müssen. Ich kenne den Ausdruck vor die Hunde gehen , aber Sie werden vor die Vögel gehen.“

„Ist man in Amerika immer so unverblümt?“

„Ich kann nicht für ganz Amerika sprechen, Sir. Aber ich spreche gern für mich selbst. Die Duchess will, dass Sie in London mein Begleiter sind, und Sie haben eingewilligt, obwohl Sie sich lieber die Augen ausstechen würden. Halten Sie mich für eine dermaßen große Herausforderung? Die Duchess hat mich bereits wissen lassen, dass meine Garderobe tragisch unmodern ist.“

Gabriel fixierte ihre Brust. Wirklich, er fixierte sie, was Thea mehr als nur befangen machte. „Was ist das überhaupt für ein Ding da?“

Sie hob die Hände an den feinen weißen, mit zarter Spitze abgesetzten Batist. „Das hier? Sie haben doch sicher schon mal ein Schultertuch gesehen. Das ist ein großes Quadrat aus Stoff, zu einem Dreieck gefaltet, um die Schultern gelegt und in der Mitte befestigt, dazu gedacht, …“

„Die Männer ins Kartenzimmer zu vertreiben. Nehmen Sie es ab.“

Thea presste die Hände noch fester an die Brust, wohl wissend, was sich unter dem Tuch befand. „Ganz sicher nicht. Das Schultertuch dient dem Anstand.“

„Dann entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, die Duchess hätte Sie hierhergebracht, um Sie unter die Haube zu bringen.“

„Sie müssen das nicht ganz so schonungslos formulieren, aber: ja.“

„Wie du mir, so ich dir, Miss Neville. Nun, in dem Fall muss das hier weg.“

Mit einer vermutlich geübten Bewegung entfernte Gabriel die kleine Perlenbrosche, und das Schultertuch klaffte auf.

„Aha. Genau so, wie ich es mir gedacht habe. Ich kenne den Umfang Ihrer Mitgift nicht, Miss Neville, doch wenn es um marktfähige Vorzüge geht, dann glaube ich, Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel.“

Sie gab ihm eine Ohrfeige, bevor sie denken konnte, und zog dann hastig das Schultertuch über ihre halb freigelegte Brust.

„Das habe ich verdient“, räumte Gabriel ein und rieb sich die Wange; sie hatte die Kraft des Schlags nicht bemessen, sie hatte einfach hingelangt. Ihre Handfläche und ihre Finger brannten. „Aber bevor Sie jetzt schreiend zur Duchess laufen, Miss Neville: Am Schnitt Ihres Kleides ist überhaupt nichts auszusetzen. Ich bezweifle, dass es in London jemandem auffallen oder eine Bemerkung entlocken würde. Nun ja, das stimmt nicht ganz. Ich bin ziemlich sicher, dass ich etwas dazu bemerken würde. Etwas Wohlwollendes.“

„Das sollte Ihnen eine weitere Ohrfeige eintragen, wissen Sie?“ Er reichte ihr die Brosche, und sie befestigte sie rasch wieder. „Sind alle Engländer wie Sie?“

„Alle Männer sind wie ich, Miss Neville. Hat Ihre Mama Ihnen das nicht erklärt? Oftmals denken wir monatelang an nichts anderes.“

„Diesmal scherzen Sie nicht, oder?“

„Nicht, wenn ich Ihr Begleiter sein soll, nein. Wir sind ziemlich reinlich, wir haben Manieren und gehen aufrecht, aber Männer sind weitestgehend Tiere. Wenn Sie sich darauf einlassen, mit einem von ihnen in den Garten zu gehen, dürfen Sie nie sicher sein, dass der Gentleman seine … niederen Instinkte im Zaum hält.“

„Ich werde ganz sicher nie wieder mit Ihnen in einen Garten gehen. Haben Sie noch weitere Lektionen für mich parat?“

„Nur noch eine, zumindest für heute Abend. Ich bin sehr dafür, dass eine Frau darauf eingestellt ist, mehr zu tun, als einem Mann mit ihrem geschlossenen Fächer auf den Unterarm zu tippen und zu sagen: ‚Aber, Sir, Sie gehen zu weit.‘“

Trotz allem musste Thea lachen. Also wirklich, machte diese Situation ihr etwa Spaß?

Gabriel nahm ihre Hand in seine und krümmte ihre Finger zur Faust. „Nein, ziehen Sie den Daumen unter den Fingern heraus. Sonst könnten Sie, wenn der Schlag ausgeführt ist, feststellen, dass besagter Daumen gebrochen ist. So ist’s recht, pressen Sie den Daumen fest an den Zeigefinger.“

Er hatte seine Hand um ihre gelegt, seine Finger über ihren Fingern, und drückte ihre Faust.

„Nun, ein Hieb ohne ein gewisses Maß an Vorbereitung hat wenig Kraft. Man ballt nicht einfach die Hand zur Faust und zielt auf das Kinn oder eine andere verwundbare Stelle, die einem in den Sinn kommt.“

„Das ist doch lächerlich.“ Sie versuchte, ihre Hand zu befreien.

„Es ist meiner Erfahrung nach eine Lektion, die mehr junge Frauen lernen sollten.“ Er bewegte ihre Hand, bis der Ellenbogen sich beugte und ihre Faust sich seitlich von ihr befand, nicht vor ihr. „Spüren Sie das? Die Spannung in Arm und Schulter? Gut. Jetzt stoßen wir die Faust vor, so etwa. Sie drehen Faust und Ellenbogen, sodass der Handrücken nach oben weist … Ja, gut so. Auf diese Weise landen Sie einen Volltreffer, ohne sich die Knöchel zu brechen. Und zielen Sie auf den unteren Teil der Wange, nahe beim Ohr. So, und legen Sie gehörig Schwung hinein.“

Indem er das sagte, führte er ihre Faust nach vorn, bis er, die Hand nun um ihr Handgelenk gelegt, ihre Faust an seine Wange drückte.

Sie blickte auf ihre Hand, die so engen Kontakt mit seinem Gesicht aufgenommen hatte, dann in seine belustigt blinzelnden Augen. Sie holte Luft. Schluckte nervös und sah, wie seine Pupillen sich zusammenzuziehen schienen, und endlich wurde ihr bewusst, dass sie kaum einen halben Meter voneinander entfernt saßen, in der Abenddämmerung, in einem Garten, fern von jeder anderen Menschenseele oder in diesem Fall von jeder Vogelseele.

„Sie haben höchst erstaunliche Augenbrauen, Miss Neville“, sagte er. „Sie waren so ziemlich das Erste, was mir an Ihnen aufgefallen ist. Andere Augen als die Ihren würden sie vielleicht erdrücken, doch bei Ihnen verstärken sie nur das Geheimnis dieser langen dunklen Wimpern und tiefbraunen Iris. Ist da nicht sogar ein Hauch von Gold im inneren Kreis? Faszinierend.“

Thea zog allen Ernstes eine zimperliche Ohnmacht in Betracht. Die Berührung seiner Hand, sein warmer, süßer Atem an ihrer Wange. Sie hatte ihn beim ersten Sehen als außergewöhnlich gut aussehend eingestuft, sich jedoch nie im Leben vorgestellt, ihm so nahe zu kommen. Schlimmer noch, sie verspürte diesen verrückten Drang, die Hand zu öffnen und wagemutig an seine Wange zu schmiegen.

Was lächerlich war, denn sie kannte ihn ja kaum, und vieles, was sie über ihn wusste, war nicht unbedingt dazu angetan, ein Mädchenherz schneller klopfen zu lassen. Und jetzt gab er leere Schmeicheleien von sich, was sie hätte beleidigen sollen, während ihr gleichzeitig klar wurde, wie gern sie jedes Wort geglaubt hätte, das er sprach.

„Gut. Versuchen wir es noch einmal.“

„Wie bitte?“ Thea verbot ihren Gedanken das Abschweifen, denn sie begaben sich auf dünnes Eis. Mit diesem Mann war es gefährlich, nicht jederzeit auf Zack zu sein.

„Ich sagte: Versuchen wir es noch einmal. Dieses Mal machen Sie es allein, und legen Sie etwas Schwung in die Bewegung. Der Schlag soll nicht einfach nur an meiner Wange abprallen. Das ist schlimmer als eine kräftige Ohrfeige.“

Thea ballte im Schoß die Hände zu Fäusten. „Ich werde Sie nicht schlagen. So etwas tun Frauen nicht, und es ist nicht nur albern, sondern unfein von Ihnen, so etwas anzuregen.“

„Nein, Miss Neville, unfein ist das hier .“

Und dann küsste er sie. Auf den Mund. Er küsste sie tatsächlich.

Dann lehnte er sich zurück und grinste Thea an.

Daumen an den Zeigefinger pressen, den Arm seitlich zurückdrehen, Handrücken nach oben, vorstoßen und zack!

„Autsch! Weib, verdammt noch mal, das war mein Ohr!“

Er rieb sich das Ohr, und sie biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick auf die immer noch geballte Faust und fragte sich, wie diese aus eigenem Antrieb hatte vorschießen können, um jetzt wieder in ihrem Schoß zu liegen. Pochend zwar, aber wieder in ihrem Schoß.

„Wahrscheinlich höre ich jetzt vierzehn Tage lang die Engelein singen.“

„Es tut mir leid“, sagte Thea zerknirscht. Sie hatte ihm nicht wehtun wollen. „Aber Sie haben mich dazu gedrängt.“

„Gedrängt? Madam, ich habe dich geküsst.“

„Ja. Aber dahinter steckte eine Absicht.“

Gabriel lachte, und Thea verzog in Anbetracht ihrer eigenen Worte das Gesicht. „Ich küsse selten ohne Absicht. Ich möchte nicht behaupten, dass du dreißig Runden im Ring von Gentleman Jacksons Faustkampf-Club durchstehen würdest, aber für deine Zwecke reicht es, es reicht definitiv.“

„Wie erfreulich. Und was meinen Sie, wie viele Tiere werde ich in meiner Zeit in London wohl schlagen?“

Er ergriff ihre Hände, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, dann legte er ihr eine Hand an den Rücken und führte sie denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. „Ich hoffe, überhaupt keines, aber in der ,Kleinen Saison‘ wimmelt es von grünen Jungen vom Lande, die sich dort den letzten Schliff aneignen sollen. Solchen jungen, ungeübten Grünschnäbeln traue ich nicht über den Weg, zumal ich selbst vor gar nicht so langer Zeit einer von ihnen war. Jedenfalls gibt es keine Spaziergänge im Garten mehr, nicht ohne deine Zofe, verstanden? Wir sind hier nicht in Virginia.“

„Das stimmt. Virginia ist bedeutend zivilisierter. Ich habe mich bereits in der Gesellschaft bewegt, Sir, und ich hatte nie Anlass, auch nur in Betracht zu ziehen, dass ich mich handgreiflich verteidigen müsste, gegen … gegen …“

„Gegen übermäßige Glut der Leidenschaft?“

Wenn er doch nur den Mund halten würde. Wenn sich doch bloß der Boden auftäte und sie verschlänge. Sie beschleunigte ihren Schritt auf dem Gartenweg und wünschte, sie wären nicht so weit gegangen. Alles wäre ihr lieber gewesen als noch eine weitere Minute in der Gesellschaft dieses verflixten Mannes. „Ja. Genau das.“

„Dann werde ich Virginia nie besuchen, denn die Männer dort müssen kurzsichtige Dummköpfe sein.“

„Meine Güte, ist das die Art der Engländer, Frauen Komplimente zu machen? Falls für heute Abend keine weiteren Lektionen mehr vorgesehen sind, wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Sir, und hoffe, dass Sie morgen etwas oder jemand anderes finden, um sich die Zeit zu vertreiben“, sagte Thea, als sie vor der Haustür angelangt waren.

„Gabriel und du.“

Er hielt ihr die Tür auf, doch sie blieb auf der Schwelle stehen und sah sich noch einmal nach ihm um. „Wie bitte?“

„Ich sagte: Gabriel. Oder noch lieber Gabe. Und sag Du zu mir. Immerhin haben wir uns heute Abend schon so viel besser kennengelernt.“

„Ach, lieber nicht. Wir sind weder verwandt noch befreundet. Und nachdem ich Sie, wie Sie sagten, heute Abend schon so viel besser kennengelernt habe, glaube ich nicht, dass wir es je sein werden.“

Gabriel legte eine Hand an seine gerötete Wange und verzog das Gesicht. „Autsch! Glückwunsch, Miss Neville. Ich glaube, das war jetzt der empfindlichste Schlag des Abends.“

Sie verdrehte die Augen. „Sie sind unmöglich, wissen Sie? Und äußerst unsympathisch.“ Thea fand, dass sie ein großartiges letztes Wort gefunden hatte, mit dem sie es ihm wenigstens ein bisschen heimzahlen konnte. Sie drehte sich auf dem Absatz um und betrat als Erste dieses Tollhaus.

„Tür zu, Miss Sinclair! Tür zu! Caspar ist wieder ausgebüxt und kommt in Ihre Richtung!“, warnte der Diener und lief auf sie zu, einen riesigen, stabilen Schmetterlingskescher in den Händen. Seine Warnung ging beinahe unter im Krächzen und Kreischen aus sämtlichen Käfigen im Aviarium, das klang, als wollten die Vögel einen Gefährten anfeuern.

„Ach, du lieber Gott im Himmel, nicht schon wieder.“

Die Tür fiel in dem Moment mit Nachdruck hinter ihr ins Schloss, als ein unglaublich großer weißer Vogel, unübersehbar getrieben vom Freiheitsdrang, von der Galerie herabschoss. Thea duckte sich, kniff die Augen zu und legte die Hände schützend um ihren Kopf, als das Ding an ihr vorüberflatterte. Seine Flucht musste nun, nachdem die Tür geschlossen war, wohl in einer Katastrophe enden. Der Vogel konnte unmöglich früh genug wieder hochziehen, und auch, wenn Thea nicht allzu viel über Papageien wusste, war sie doch ganz sicher, dass sie im Gegensatz zu Kutschen und dergleichen nicht mit einer Bremse ausgestattet waren.

Sie wartete auf den Aufprall, auf den scheußlichen Bums, hörte dann jedoch Gabriel sagen: „Benimm dich bitte, Caspar. Diese Jacke ist ziemlich neu.“

Thea drehte sich um und sah den Mann lässig dort stehen, den Arm auf Schulterhöhe erhoben … und auf diesem Arm hockte der Papagei und nickte mit dem Kopf wie zum Versprechen, dass er sich benehmen würde.

„Wie … wie hast du das gemacht?“

Gabriel grinste und hob auch den anderen Arm, sodass der Papagei hinauf und über seine Schultern klettern konnte, wobei er nur kurz innehielt, um den Kopf an Gabriels Wange zu reiben.

„Verdammter Vogel, verdammter Vogel. Ark! In den Topf mit ihm, in den Topf mit ihm!“

Thea schlug die Hand vor den Mund, um ihr Lächeln zu verbergen. „Er kann sprechen?“

„Er spricht nach, imitiert. Caspar und ich sind alte Freunde. Nicht wahr, Caspar? Er ist auch so ein Geschenk vom Duke und der Duchess, eine Papageienart namens Kakadu, doch jetzt lebt er hier. Caspar, gib Gabe ein Küsschen.“

Der Kakadu gehorchte, berührte mit seinem krummen blauen Schnabel Gabriels geschürzte Lippen, und dann vollführte er etwas ganz und gar Erstaunliches: Er öffnete einen dunkelgelben Federkamm wie einen Fächer an seinem Hinterkopf.

„Taschenspielertricks? Und du hast sie ihm vermutlich beigebracht?“

„Was soll ich zu meiner Verteidigung sagen? Ich war das einzige Kind im Haus, allein im Kinderzimmer, und ich brauchte jemanden, mit dem ich reden, dem ich meine Geheimnisse anvertrauen konnte. Verdammt . Nein, Caspar, lass das.“

Es war natürlich ausgeschlossen, aber Thea hätte schwören können, dass der Papagei – der Kakadu – gerade ein menschliches Weinen nachgeahmt hatte. Das Weinen eines Kindes.

„Hat Caspar gerade … War das …?“

„Ganz sicher nicht.“

„Ich irre mich doch nicht!“

„Komm, du bösartiger Vogel. Zeit, dich wieder in den Käfig zu stecken. Kommst du, Miss Neville?“

Thea folgte ihm, wohl wissend, dass sie sonst notgedrungen würde bleiben müssen, wo sie war, und dazu war sie entschieden zu neugierig. „Caspar – Geheimnisse .“

Wieder öffnete der Vogel den Schnabel und gab ein trauriges Kinderweinen von sich. Die überwältigende Tristesse rührte an ihr Herz. „Es tut mir so leid. Das mache ich nie wieder“, flüsterte sie, doch Gabriel gab vor, weder Caspar noch sie gehört zu haben.

Ein stolzer Mann, ein stolzer Mann, dessen liebster Freund in Kindertagen offenbar ein Kakadu gewesen war – das war etwas, das wahrscheinlich niemand wissen sollte.

Gabriel blieb vor einem der größeren Käfige stehen. Er war aus Messing und ähnelte in Form und Größe einem kleinen Pavillon. Ein rasches Durchzählen ergab, dass sich fünf weitere Vögel darin befanden, vermutlich lauter verschiedene Papageienarten, die drinnen auf Caspars Rückkehr warteten.

Caspar sollte nicht allein sein, nicht der einzige Vogel in seinem eigenen einsamen Aviarium.

„Ich schließe die Tür, Sir“, sagte der Diener und trat vor. „Es tut mir so leid, Sir. Er war ganz brav und hat mich überhaupt nicht beachtet, und dann hat er sich über meinen Kopf hinweg aus dem Staub gemacht.“

Mund und Schnabel trafen noch einmal aufeinander, dann breitete Caspar die Flügel aus, um halb hüpfend, halb fliegend die oberste Sitzstange aufzusuchen. „Schon gut, Wiggins. Er hat jahrelange Übung im Ausreißen. Miss Neville? Darf ich dich zur Treppe geleiten? Unser Wiggins zieht jetzt bald die Vorhänge zu, und es wird dunkel im Aviarium. Und bevor du fragst: Im Dunkeln gehen wir durch die Türen des Musikzimmers ein und aus, was im Grunde unwichtig ist, da wir keinen abendlichen Besuch und keine Party mehr hatten, seit der Duke mit dem Sterben angefangen hat.“

„Wie traurig.“

„Ganz meine Meinung. Bis zu jenem Zeitpunkt ging es hier recht lebhaft zu. Hast du je gesehen, wie erwachsene Männer ein Treppengeländer herunterrutschen? Wie ich hörte, fand jährlich zu Weihnachten ein Wettrutschen statt. An Geländern hat es zwar nie gemangelt, aber dann fehlten irgendwann die Teilnehmer. Der vierte Duke sieht auf seinem Porträt nur so ernst aus, weil ein Lächeln seine scheußlich abgebrochenen Schneidezähne freigelegt hätte. Manche behaupten, deswegen habe er nie geheiratet; weiter verbreitet allerdings ist die Meinung, es habe daran gelegen, dass er ein Saufbold war, den nichts interessierte, was nicht mit Kartenspiel, Pferden oder Weinkellern zu tun hatte. Er konnte jedoch höchst eindrucksvoll durch die defekten Zähne pfeifen.“

Thea lachte, gestattete es sich, amüsiert zu sein, und ließ das Thema Caspar, der Kakadu, höflich fallen. „Bist du auch mal ein Treppengeländer heruntergerutscht?“

„Ich fürchte, nur ein einziges Mal, was mir eine gehörige Tracht Prügel einbrachte und jeden weiteren Versuch im Keim erstickte. Außerdem musste ich mindestens eine Woche lang mein Hammelfleisch im Stehen essen.“

Sie waren am Kopf der Treppe im Westflügel angelangt, die durch die lang gestreckte, weitläufige Halle zu einem weiteren Treppenhaus und den Gästezimmern führte. Thea war überhaupt nicht müde, wusste aber, dass es Zeit war, Gute Nacht zu sagen und diesen merkwürdigen, peinlichen und dennoch ziemlich unterhaltsamen und aufschlussreichen Abend zu beenden.

Vielleicht waren sie jetzt Freunde. Oder wenigstens keine Feinde mehr. Sie knickste flüchtig. „Gute Nacht … Gabe.“

Sein Lächeln war nicht triumphierend – was ein Glück für ihn war –, sondern vielmehr freundlich. „Gute Nacht, Thea. Morgen Vormittag gehen wir angeln, wie versprochen, und am Nachmittag wollen wir mal sehen, wie es um deine Tanzkünste bestellt ist.“

„Ach ja? Ich hätte gedacht, Tanzen wäre Inhalt der heutigen Lektion gewesen.“

Mit diesen Worten und während sie dem verflixten Kerl wenigstens noch ein bisschen wohlgesinnt war, ließ sie ihn stehen und suchte ihr Schlafgemach auf, mit hoch erhobenem Kinn, das vielleicht ein bisschen zitterte, nachdem sie nun endlich das letzte Wort gehabt hatte.

6. KAPITEL

G abriel kam gut zehn Minuten vor dem mit Thea ausgemachten Zeitpunkt in der Eingangshalle an.

Aber sie war bereits da. „Ist das ein Wettbewerb?“, fragte er statt einer Begrüßung. „Wenn es so ist, wird bald keiner von uns überhaupt noch zu Bett gehen können.“

Sie tat Frage wie auch Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Ich war zu aufgeregt, um länger als bis zur Morgendämmerung zu schlafen. Bin ich angemessen gekleidet? Ich dachte, Reitkostüm und Stiefel wären am besten geeignet, weil Clarice, als sie das Fenster öffnete, einen kühlen Lufthauch und taunasses Gras bemerkte. Sie glaubt, mit einem einzigen Blick in die Runde und einem kurzen Schnuppern in der Luft auf den Punkt genau das Wetter vorhersagen zu können.“

Gabriel sah zu, wie sie ihre Handschuhe überstreifte und peinlich genau darauf achtete, dass der weiche Samt schön glatt jeden einzelnen Finger umschloss. Nervös? Machte seine Gesellschaft sie tatsächlich nervös? Und sollte diese Vorstellung nicht die Laune eines Mannes heben, der sich knapp zwölf Stunden zuvor komplett zum Narren gemacht hatte?

Er sollte sie zum Weiterreden animieren, Interesse an ihrer Zofe zeigen, vorführen, wie sympathisch er sein konnte, und zeigen, dass sie sich nicht von ihm bedroht fühlen musste.

„Bitte, erzähl mir mehr. Deine Clarice scheint ja ein einzigartiges Goldstück zu sein.“

Und da war wieder dieses Lachen, lebhaft und reizend. „Einzigartig? Ja, Clarice kann wohl zu Recht als einzigartig bezeichnet werden. Einmal hat sie einen schrecklichen Schneesturm prophezeit, und alle haben abgewinkt, weil der März schon zur Hälfte herum war und viele Bäume bereits grün wurden. Daraufhin hat sie sämtliche Stiefel versteckt und allen einen Large Cent abgeknöpft, als sie die Stiefel am nächsten Morgen benötigten, um hinaus in den Schnee zu gehen.“

„Sie hat nicht nur Schnee, sondern gleich einen Schneesturm vorausgesagt?“

Thea nickte. „Clarice macht kaum jemals halbe Sachen. Drei Tage und Nächte lang hat es nicht aufgehört zu schneien. Die Verwehungen reichten zum Teil beinahe bis an die Dächer, ansonsten war die Schneedecke kniehoch. Seitdem bezieht Clarice ihr Taschengeld weitgehend von den ortsansässigen Farmern und dergleichen, die sie dafür bezahlen, dass sie ihnen weissagt, wann die richtige Zeit für die Aussaat gekommen ist oder für die Ernte, bevor der Regen einsetzt. Und natürlich plant keine Mama eine Hochzeit, ohne zuvor Clarice Rat eingeholt zu haben, um sicherzugehen, dass ihre Tochter eine dieser glücklichen Bräute sein wird, für die die Sonne den ganzen Tag lang scheint. Für diesen Dienst berechnet sie doppelt, und alle zahlen bereitwillig.“

„Nicht nur begabt, sondern auch noch einfallsreich, deine Zofe“, bemerkte Gabe und bekam allmählich Lust, die Frau kennenzulernen. „Hast du mir nicht auch erzählt, sie habe ganz eigene Methoden , um an Informationen zu kommen? Kann es sein, dass du eine Hexe nach England eingeschleust hast, Miss Neville?“

„Clarice – eine Hexe? Du meinst, eine von diesen hässlichen alten Weibern auf den Zeichnungen in Kinderbüchern? Alte Frauen, ganz in Schwarz, mit großen Hakennasen, oft noch mit einer dicken Warze auf der Spitze?“ Thea lachte. „Ach ja, und mit einem scheußlich gackernden Lachen?“

„Jetzt steht mir wohl eine jämmerliche Enttäuschung bevor?“

„Oh ja, und was für eine.“ Dieses Mal hätte sie beinahe gekichert.

Sie hatte ein wunderbares Lachen, ungekünstelt, voller Freude. Gabe durfte nicht vergessen, sie möglichst oft zum Lachen zu bringen.

Er hätte den ganzen Vormittag hier stehen und sich einfach nur an ihrer Gesellschaft freuen mögen, doch irgendetwas warnte ihn, dass er früher oder später – höchstwahrscheinlich früher – etwas sagen oder tun würde, was sie in Harnisch brachte oder zu einer ihrer spitzen Fragen verleitete, auf die er keine stichhaltigen Antworten fand. Und dann würde er sich wünschen, wieder in seinem Bett zu liegen, während ein wachsamer Horton mit schussbereiter Donnerbüchse die Tür hütete.

„Gib mir noch einen kleinen Moment Zeit, nach Caspar zu sehen. Ich glaube, die Pferde werden bereits vorgeführt.“

„Ich habe schon nach ihm gesehen. Er hatte den Kopf unter einen Flügel gesteckt und schlief noch.“

„Er hatte einen aufregenden Abend.“ Gabriel warf einen Blick auf den Korridor, den zu beiden Seiten eine Reihe dekorativer Käfige säumte. Ein Dienerpaar schaufelte emsig Körnerfutter in geschickt miteinander verbundene Futtertröge. Andere Vögel waren bereits wach und drängten darauf, gefüttert zu werden. Danach würden sie dann, wie Mutter Natur es eingerichtet hatte … „Wollen wir aufbrechen? Wir möchten doch nicht zu spät zum Mittagessen zurück sein.“

Der Zweispänner wartete wieder draußen, doch dieses Mal sagte Gabriel, nachdem Thea Platz genommen hatte: „Jimmy, Gratulation, du Glückspilz. Du hast heute Vormittag frei.“

„Ja, Sir, Mr. Sinclair!“

„Das war sehr nett von dir“, sagte Thea, als der Lakai zurücktrat und Gabriel die Braunen über die Zufahrt lenkte. „Oder?“

Gabriel lachte. „Wir zwei bauen unsere Beziehung eindeutig auf Misstrauen auf. Dir droht heute Morgen keinerlei Gefahr von mir. Meine düstereren Instinkte kommen erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Vorschein.“

„Weil Männer Tiere sind. Und oft monatelang nur an das Eine denken“, wiederholte sie, was er am Vorabend geäußert hatte. „Ich überlege, ob ich mir diesen Merkspruch mit Kreuzstich auf ein Kissen sticke.“

„Aber nicht auf dein Kopfkissen. Dort warnt er dich zu spät.“

Und beide lachten. Keiner von ihnen hätte lachen dürfen. Er nicht, weil er ein entschieden falsches Spiel trieb, schon an der Grenze zum Vulgären, wenn er so etwas zu einer Dame sagte. Und sie nicht, weil sie, wenn sie lachte, damit deutlich machte, dass sie verstand, worauf er anspielte … Tja, was zur Hölle war sie dann? Wenn eine andere Frau ihn für seine Bemerkung geohrfeigt hätte, wäre doch auch klar gewesen, dass sie die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte. Die Ohrfeige hätte sie verraten.

Was war also schlimmer? Eine Ohrfeige, die zeigte, dass die Betreffende den Gedanken durchaus schon einmal zugelassen hatte, oder ein Lachen, das womöglich ein Zeichen dafür war, dass die Frau ebenfalls darüber nachgedacht hatte, aber wenigstens Sinn für Humor – und womöglich ein gewisses Interesse an der Sache – besaß, während die Ansicht der Ohrfeigerin immer noch zweifelhaft war.

„Du erinnerst mich ein bisschen an meinen Freund Ben“, sagte sie, während Gabriel die Pferde über eine gemähte Wiese lenkte und am Bach anhielt. „Er war nie zu penibel, mit mir zu scherzen, nicht einmal über die haarsträubendsten Dinge.“

Ben? dachte Gabriel. Er betätigte die Bremse, wickelte die Zügel um den Hebel, sprang ab und ging um den Zweispänner herum, um Dorothea behilflich zu sein. Wer ist Ben? Ein Freund? Ein Nachbar? Ein verheirateter Mann? Ein Toter, der ihr Herz mit sich ins Grab genommen hatte? Konkurrenz? Und woher kam dieser letzte alberne Gedanke? Aber Ben ist eindeutig irgendwer. Sie ist immerhin zweiundzwanzig. Frauen verlieben sich immerzu. Mädchen ver- und entlieben sich mindestens zweimal im Monat. Warum denke ich überhaupt über diesen Ben nach?

„Ein Freund in Virginia?“, fragte er. Sie legte ihre behandschuhte Hand in seine und sprang leichtfüßig zu Boden. Er hielt sie fest, indem er die Hände an ihre Taille legte, die er mit seinen langen Fingern beinahe komplett umfassen konnte. Blöde Frage. Wo sonst sollte er leben? In einem Schloss auf dem Mars?

Sie sah zu ihm auf, was angesichts ihrer Größe nicht sehr weit war, aber dennoch gerade weit genug, um ihm ein wunderbar angenehmes Gefühl zu geben. Und diese Augenbrauen. Theas dunkle Augen waren bezaubernd, intelligent, betörend. Aber ohne diese Augenbrauen wären sie nichts von allem. Sie forderten einen Mann geradezu zu dem Versuch heraus, den Blick abzuwenden.

Also versuchte er es. Er wandte den Blick nach links … und genauso schnell wieder zurück. Diese vollen Lippen, die hübschen braunen Sommersprossen, die Nase und Wangen sprenkelten, diese dichten dunklen Wimpern, die ihre Augen noch geheimnisvoller wirken ließen. Und dann wieder diese Augenbrauen. Geformt von Meisterhand.

„Du starrst mich an“, bemerkte Thea einigermaßen verlegen. „Wegen der Augenbrauen, stimmt’s? Das machen alle. Lass es bleiben.“

Gabriel ließ die Arme sinken. „Warum? Ich finde, sie machen dich zu … nun ja, zu dir. Ich kann mir dich nicht anders vorstellen.“

„Mama konnte es durchaus“, sagte sie und rückte von ihm ab. „Sie wollte, dass Clarice sie abrasiert und mir neue malt. Sie hatte gelesen, dass diese Praxis bei Französinnen gang und gäbe wäre. Manche würden sogar so weit gehen, sich Brauen aus Mäusefell formen und ankleben zu lassen. Ich habe dieses Ansinnen nicht allzu freundlich abgelehnt. Im Grunde hat Mama schon vor Jahren bei dem Gedanken, was aus mir werden sollte, verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Das Angebot der Duchess war ihre letzte Hoffnung, mich jemals zu verheiraten und meinen Halbschwestern vor den Traualtar zu helfen. Ihr größter Wunsch ist, uns alle hier in England unterbringen zu können, damit sie und mein Stiefvater wenigstens einmal im Jahr zu Besuch kommen können.“

Gabriel beschäftigte sich damit, die Ruten und den Angelkasten von dem Zweispänner loszuschnallen. Dabei fand er auch einen Weidenkorb, den er Thea übergab, in der Hoffnung, dass er eine Flasche Wein enthalten möge, vielleicht auch etwas zu essen. Äpfel, vielleicht ein paar glasierte Kuchen. Irgendetwas, was er in den Mund schieben konnte, um nichts Falsches zu sagen, was garantiert bald der Fall sein würde, wenn es ihm nicht gelang, auf etwas anderes als den lieben Ben oder Dinge wie Mäusefell zu sprechen zu kommen.

Es gelang ihm nicht. Er musste es trotz allem wissen. „Deswegen hielt deine Mutter nichts von Ben? Weil er kein Engländer war?“

„Sie hielt nichts von …? Ach, natürlich, ja, ja. Sie hielt überhaupt nichts von ihm. Deswegen verfiel ich für Wochen in tiefste Schwermut.“

„Kein Grund, schnippisch zu werden“, warnte er sie, während sie den Korb abstellte und Gabriel eine der Angelruten praktisch aus der Hand riss. „Ich habe lediglich eine Vermutung geäußert.“

„Ja, das tust du ziemlich oft, nicht wahr?“ Sie betrachtete die Rute mit unübersehbarem Kennerblick. Wahrscheinlich verstand sie mehr vom Angeln als Gabriel.

Er verneigte sich in ihre Richtung. „Ich bitte um Entschuldigung. Wieder einmal.“

„Du hast schon einmal um Entschuldigung gebeten? Es tut mir so leid, aber das ist mir wohl entgangen. Merkwürdig, da du doch reichlich Gründe hast, um Entschuldigung zu bitten.“

Waren diese Wortgefechte, die sie sich lieferten, die einzige Art von Gespräch, die sie je führen würden, während Gabriel doch tief innerlich wusste, dass er viel mehr wollte? Sicher, er hatte einen dummen Fehler begangen. Einen eklatanten, unverzeihlichen Fehler. Ich fürchte, dass ich bereits andere Pläne habe, nämlich ins Meer zu steigen und mich zu ertränken. Herrgott! Wie hatte er so etwas sagen können, als ihm angetragen wurde, ihr Begleiter durch die Saison zu sein? Danach war er Thea aus dem Weg gegangen, und dann hatte er sie geküsst. Irgendwo in alledem steckte auch noch eine Lüge, wenn auch nur zum Scherz ausgesprochen, doch insgesamt sammelte er für sein Verhalten bestimmt keine hübschen Sternchen in seinem Aufgabenheft.

Aber wie lange sollte das noch so weitergehen? Dass sie ihn bestrafte? Ihm nicht traute?

Dass sie ihn komplett zum Narren machte, wobei er sie noch unterstützte, verdammt!

Dennoch konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen. Meine Tante benutzt uns beide als Werkzeug ihrer Rache an dem Earl, und, oh ja, um ihren Gatten vor einem Schicksal zu bewahren, das nicht schlimmer als der Tod, sondern der Tod selbst ist. Du weißt es nicht, Miss Neville, und ich versuche immer noch, mich dagegen zu wehren, aber als Ihre Gnaden ihr jüngstes Geschenk für mich präsentierte, hat sie sich wirklich selbst übertroffen.

„Mit dir hatte ich … nicht gerechnet“, sagte er endlich, nach jedem Strohhalm greifend, der ihn vielleicht retten konnte. „Die Duchess bringt mir von ihren Reisen stets ein Geschenk mit. Auch, wenn ich inzwischen ein erwachsener Mann bin – oder zumindest bis vor Kurzem noch geglaubt habe, einer zu sein –, freue ich mich noch heute auf diese Geschenke.“

„Du willst damit sagen, dass du lieber ein hübsches Paar goldener Manschettenknöpfe bekommen hättest“, sagte Dorothea und nickte. „Ja, das verstehe ich jetzt.“ Sie nahm die Rute in die linke Hand, kam auf Gabriel zu, streckte ihm die rechte Hand entgegen und ließ ihm keine andere Wahl, als diese zu ergreifen. „Wenn du bereit dazu bist, fangen wir noch einmal von vorn an, ohne bleibenden Unmut zwischen uns.“ Sie drückte seine Hand und schüttelte sie. „Guten Tag, ich bin Dorothea Neville. Erfreut, dich kennenzulernen.“

Er erwiderte den Händedruck und trat zurück, um sich zu verbeugen. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Miss Neville.“

„Ach, und noch etwas“, sie hob eine Hand, um ihn aufzuhalten, damit er nicht hinunter zum Bachufer ging. „Ich sollte dich wohl wissen lassen, dass mein Onkel Ben, der Bruder meines Stiefvaters und mindestens sechzig Jahre alt, mir mehr übers Angeln beigebracht hat, als du jemals wissen wirst.“

Gabriel war nicht blind für Herausforderungen. Er mochte diese Frau wirklich, auch wenn sie ihn in den Wahnsinn trieb.

„Tatsächlich, Thea? Dann sagst du sicher nicht Nein zu einer kleinen Wette? Wer von uns die meisten Fische fängt?“

Sie war schon drauf und dran, einzuschlagen, doch dann holte sie Luft und sagte: „Zeig mir vorher deinen Angelkasten.“

„Ah, da haben wir’s. Typisch Frau, schon suchst du nach Ausreden.“ Er stellte den Angelkasten ab und öffnete ihn. Sogleich hockte sie sich nieder und kramte in den kleinen Fächern, die seine Lieblingsköder enthielten.

„Worauf angeln wir?“, fragte sie, während sie jeden einzelnen Köder begutachtete wie ein Profi.

Gabriel sah zu, wie sie behutsam den einen oder andern von seinen Lieblingsködern in die Hand nahm und wieder ablegte. „Forelle. Der Herbst ist in England eine gute Zeit für Forelle.“

„Forelle“, wiederholte sie und blickte zu ihm auf. „Hast du dann auch zufällig einen kleinen Spaten in diesem hübschen Kasten untergebracht?“

Ach, jetzt spielte sie sich doch nur auf!

„Würmer? Du willst nach Würmern graben? Ich spieße sie aber nicht für dich auf den Haken.“

„Ich habe auch nicht vor, dich darum zu bitten. Ah, da ist tatsächlich ein Spaten.“ Sie richtete sich auf, das Werkzeug in der Hand. „Ich setze einen amerikanischen Large Cent gegen einen englischen Schilling, dass ich mehr Fische fange als du, und größere obendrein. Ich weiß nicht genau, ob die Münzen genau den gleichen Wert haben, aber der Unterschied dürfte nicht allzu groß sein.“

„Gegen einen Schilling? Dann bist du wohl nicht übermäßig zuversichtlich, Thea, oder?“

„Der Betrag hat nicht viel zu bedeuten“, erwiderte sie, und da war schon wieder dieses Lächeln. „Es geht um das Recht, heute Abend bei Tisch mit der gebutterten Forelle auf dem Teller zu prahlen. Wollen wir anfangen? Du willst doch sicher nicht, dass die Morgenzeitung in den Vogelkäfigen ausgelegt ist, wenn wir endlich nach Hause kommen.“

Gabriel schnappte sich seinen liebsten Köder – er sah aus wie ein Wurm, was auch der Sinn der Sache war – und hätte sich beinahe den Haken in den Daumen gestoßen. Sein Köder würde im Wasser sein, bevor sie auch nur einen einzigen Wurm gefunden hatte.

„Woher zum Teufel weißt du von der Zeitung? Lass mich raten: deine Zofe?“

„Ja, Clarice. Wie gesagt, dein Kammerdiener hat eine lockere Zunge, und Clarice weiß genau, wie sie die in Bewegung setzen kann. Ah, schau dir das bitte mal an. Keine zwei Minuten habe ich gegraben, und schon finde ich diesen hübschen fetten Wurm. Der ist perfekt.“

Nein, ich muss mich berichtigen. Es ist nicht unbedingt so, dass ich sie mag. Ich ertrage sie. Vielleicht tut sie mir sogar leid. Was diese Sache angeht, dass sie Myles Nevilles uneheliche Schwester ist: Das kriegen wir schon irgendwie geregelt, ohne dass ich meine Freiheit vor dem Traualtar opfere. Ja, mit ein wenig Glück sind die Nevilles längst auf dem Weg zum Lachsfischen in Schottland und kommen gar nicht nach London, und wenn die ,Kleine Saison‘ zur Hälfte herum ist, wird Thea nicht mehr mein Problem sein. Anscheinend liebt sie ja das Landleben. Wir müssen nur einen Bräutigam für sie finden, der eine große Vorliebe fürs Bukolische hat, nur kurz in die Stadt kommt, um eine Frau zu finden, und sich dann sofort wieder auf den Weg nach Cumberland oder so macht und nach Würmern gräbt und Kinder großzieht. Ja, ja, mehr brauche ich nicht. Nur ein bisschen Glück. Ich habe keinen Grund zur Panik. Oder zur Sorge. Oder für Gedanken an Augenbrauen. Überhaupt keinen.

Er ging zu der Stelle, wo Thea am grasigen Ufer saß und mit erdverschmierten Fingern den Haken und den sich krümmenden Wurm hielt. Sie wirkte so unbeschwert wie sonst nichts auf der Welt.

Gabriel konnte nicht anders. „Nun? Wirst du deinen Wurm jetzt auf den Haken spießen, oder gibst du ihm einen Namen und hältst ihn als Haustier?“

Sie blickte zu ihm auf und kicherte, ja, sie kicherte. Es weckte ein gutes Gefühl in ihm, so, als hätte er etwas unglaubliches Kluges von sich gegeben.

Endlich konnte er sich entspannen. Alles würde gut werden. Was hier begann, war keine großartige Liebesgeschichte, keine unstillbare Leidenschaft, die sein Leben komplizieren würde. Er war unglücklich gewesen, hatte sich viel zu lange in seinem Trübsinn gesuhlt. Rein zufällig war Thea angekommen, als er gerade wieder zurück ins Leben fand. Es war nur Zufall. Weiter nichts.

Sie konnten gewissermaßen Freunde werden, wie Bruder und Schwester, und würden einander dank ihrer schwierigen ersten Begegnung vermutlich immer ein wenig misstrauisch gegenüberstehen, sich immer Wortgefechte liefern. Doch Freundschaft war mit Sicherheit der einfachste Weg für sie, solange sie zusammen unterwegs waren.

An später würde er erst … später denken.

7. KAPITEL

S chau ihm nicht in die Augen. Schau nicht auf deine Füße, sonst denkt er, du hast zwei linke und weißt nicht, was du tust. Blicke über seine Schulter hinweg. Blicke aus dem Fenster. Aber schau ihm nicht in die Augen. Lass das! Du tust es schon wieder!

„Gibt es ein Problem, Miss Neville?“

Ach, hör dir nur diesen Tonfall an! Er weiß es. Vielleicht weiß er nicht, was genau er weiß, aber er weiß Bescheid . Ich kann mir nur wünschen, ich wüsste Bescheid …

„Nein“, antwortete sie schnell. Zu schnell? „Ich … ich habe an meine erste Begegnung mit dem Walzer gedacht, sonst nichts. Wir waren alle so schockiert, aber auch erstaunt. Meine Mutter ließ mich wissen, dass die Figuren ziemlich unanständig seien, aber binnen einer Stunde probierten sie und mein Stiefvater die Schritte aus und lachten über ihre Fehler.“

„Meine Tante muss während ihres Aufenthalts in Virginia doch an Bällen teilgenommen und dich tanzen gesehen haben. Ich wüsste gern, warum sie darauf besteht, dass ich dich auf Herz und Nieren prüfe.“ Er zog ein recht komisches, verlegenes Gesicht. „Verzeih, du bist kein Fohlen, das auf ein Rennen vorbereitet werden soll.“

Der arme Mann. Ich bezweifle, dass er sich sonst auch so unklar ausdrückt. Vermutlich haben wir immer noch Probleme damit, wir selbst zu sein, und das ist dumm, denn ich bin seit jeher ich selbst. Wer sonst sollte ich denn sein?

„Nicht? Wenn mich niemand nimmt , ist dies mein einziger Aufenthalt in England, und das heißt, ich habe nur diese komische ,Kleine Saison‘, um durchs Ziel zu gehen. Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet und wenn Ihre Gnaden und du als meine Begleiter fungieren – Ihre Gnaden fühlt sich nun mal schrecklich verantwortlich für mich –, dann rechne ich fest damit, dass ich, wie du es ausdrückst, auf Herz und Nieren geprüft werde. Auf keinen Fall möchte ich euch beiden Schande machen, ebenso wenig wie dem Duke. Den ich noch nicht kennengelernt habe.“ Sie hob den Blick zur stuckverzierten Decke. „Und er liegt wirklich dort oben?“

Gabriel hatte sich unentwegt anmutig mit ihr im Kreis gedreht, seine warme Hand fest an ihrer Taille, ihre Hand in seiner, während er sie geschickt führte, ohne an ihr zu ziehen und zu zerren.

Sie bewies ihm hiermit ein weiteres Talent: Sie konnte ein Gespräch führen und gleichzeitig die Schrittfolge beachten, und das sogar ohne Musikbegleitung. Sie war wirklich ziemlich klug. Er hätte beeindruckt sein sollen. Sie hatte wirklich die einzige akzeptable Option gefunden, ihm nicht in die Augen zu schauen, ohne dabei unhöflich oder unbeholfen zu erscheinen.

„Mein Onkel verlässt seine Räumlichkeiten nicht und wird sie trotz der Beteuerungen meiner Tante auch jetzt nicht verlassen.“ Gabriel verlangsamte seine Schritte, bis sie mitten im ansonsten leeren Ballsaal einfach zusammen da standen. Er hielt immer noch Theas rechte Hand und schlug vor, nach draußen zu gehen, hinaus in den Garten. Er führte sie zu der Reihe von Fenstertüren, die sich zum rückwärtig gelegenen Teil des riesigen Geländes öffneten.

Draußen, wo Thea im grellen Sonnenlicht blinzeln musste – blinzelnde Frauen waren höchst selten attraktiv, ein weiterer Punkt auf der endlosen Liste der Ermahnungen, die ihre Mutter ihr gegeben hatte, bevor das Schiff barmherzigerweise auslief –, brachte er das Gespräch wieder auf seinen Onkel, den Duke.

„Jahrzehntelang haben er und meine Tante die Welt bereist, wohlgemerkt, beinahe wie kleine Kinder, die nie erwachsen wurden, die kaum eine Ahnung von der Bedeutung dessen hatten, was sie sahen, aber trotzdem entzückt davon waren. Was hätte er als fünfter Sohn mit einer großzügigen Apanage und keinerlei Verlangen nach einer militärischen oder kirchlichen Laufbahn sonst auch tun sollen?“

Thea verspürte den merkwürdigen Drang, etwas zur Entschuldigung der beiden vorzubringen. „Sie haben aber offensichtlich eine Vorliebe dafür entwickelt, ähm, Vögel zu sammeln.“

„Kann man wohl sagen. Um der Eingangshalle willen ist es schade, dass sie sich nicht für Schnupftabakdosen entschieden haben“, scherzte Gabriel, dem Theas Blinzeln offenbar aufgefallen war, denn er führte sie zu einer steinernen Bank im Schatten. „Aber Gott sei Dank, dass sie nicht auf Elefanten verfallen sind.“

„Elefanten leben nicht überall“, gab Thea zu bedenken, ordnete ihre Röcke und zog sich die Stola, die sie beim Tanzen um die Ellenbogen drapiert hatte, über die Schultern. Sie hatte zur Tanzstunde kein Ballkleid angezogen, war aber auch nicht für einen Spaziergang im Freien gekleidet. „In Amerika oder hier in England gibt es keine Elefanten. Ich bezweifle, dass sich auf einer Rundreise durch die Wildnis von Afrika und Südamerika viele Schnupftabakdosen auftreiben lassen. Aber Vögel gibt es überall. Sie sind wohl auf der ganzen Welt verbreitet, oder?“

„Du nimmst sie in Schutz. Nicht die Vögel, ich meine den Duke und die Duchess.“

„Aber nein. Ich weise nur darauf hin, dass … Ja, schon gut, ich nehme sie in Schutz. Im vergangenen Jahrhundert ist ein Mann aus Virginia aufgestanden und zu einigem Ruhm gekommen, als er sagte, er würde dem, was jemand sagte, vielleicht nicht zustimmen, aber dennoch das Recht des Mannes, es zu sagen, mit seinem Leben verteidigen.“

„Patrick Henry. Wir Engländer lernen in der Schule, dass er ein Aufrührer und eine der Ursachen für diese leidige Angelegenheit war, die die Amerikaner als gerechte Revolution bezeichnen, während wir sie als undankbaren Aufstand verstehen. Wie stehst du dazu, Thea?“

Ah, jetzt nannte er sie wieder Thea?

Sie hatte das unbehagliche Gefühl, dass ihre Antwort ihm wichtig war und womöglich zur Folge hätte, dass er sie von oben herab ansah und wieder steif mit Miss Neville anredete, wenn sie die politische Situation nicht genau richtig einschätzte.

„Ist es mir gestattet, keine Meinung dazu zu haben, Gabe?“

„Nein, ich glaube nicht. Du bist entschieden zu intelligent, um keine Meinung zu haben. Du bist in England geboren, hast viele deiner prägenden Jahre in Amerika verbracht und bist jetzt zurückgekommen, um zu heiraten und vermutlich hier zu leben. Und, ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, du warst in Virginia, als englische Truppen Präsident Madisons Kapitol niederbrannten.“

Das war eine schreckliche Zeit gewesen. Theas Stiefvater hatte sie alle zu der schwarzen Ruine geführt, die die englische Armee hinterlassen hatte. Alle waren gekommen, um sie anzusehen, die Fäuste zu schütteln und zu weinen, um dann aber wieder von vorn anzufangen. Plötzlich schoss Thea ein Gedanke durch den Kopf, der ihr nicht sonderlich zusagte. „Warst du dort?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich befand mich jenseits des Kanals und machte Jagd auf Bonaparte, bis er dann mich gefangen nahm. Die letzten paar Monate vor seiner ersten Abdankung durfte ich die Gastfreundlichkeit eines französischen Gefängnisses genießen. Besonders das Essen war ausgezeichnet.“

Sie sah ihn flüchtig an und senkte den Blick dann genauso schnell wieder auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Sein Ton hatte unbeschwert geklungen, doch sie hörte aus seinen Worten auch die Bitterkeit heraus. Und weil sie sehr wohl Interesse, aber kein Recht dazu hatte, fuhr sie einfach fort, als hätte sie nichts bemerkt.

„Eine traurige Lage, auf beiden Seiten des Atlantiks. Ist irgendjemandem in London je in den Sinn gekommen, dass es vielleicht nicht sonderlich klug ist, an zwei Fronten gleichzeitig Krieg zu führen, eine davon auf der anderen Seite eines riesigen Ozeans?“

Autor

Kasey Michaels
Als Kasey Michaels ihren ersten Roman geschrieben hatte, ahnte sie noch nicht, dass sie einmal New York Times Bestseller-Autorin werden würde. Und es hätte sie auch nicht interessiert, denn damals befand sie sich in der schwierigsten Phase ihres Lebens: Ihr geliebter achtjähriger Sohn benötigte dringend eine Nieren-Transplantation. Monatelang wachte sie...
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