Happy End unter griechischer Sonne

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Heiße Genugtuung erfasst den Milliardär Orion Delikaris, als er die schöne Adlige Libby in Athen wiedersieht. Nie hat er vergessen, dass sie ihn verließ, als er noch ein Niemand war. Nun soll sie dafür büßen! Das schwört er sich – nur sein Herz hält dagegen.


  • Erscheinungstag 09.07.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515184
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Selena schloss die Haustür auf und entdeckte sofort den hellblauen Luftpostbrief auf der braunen Fußmatte. Beim Anblick der griechischen Briefmarke tauchten vor Selenas innerem Auge automatisch hohe, von der Sonne gebleichte Säulen auf, die sich zum azurblauen Himmel emporreckten. Auf dem saftigen Grün der Wiese, die um die Zeugen der ehemaligen Hochkultur herumgewachsen waren, flüsterte ein Mann zärtliche Worte, während er den nackten Körper streichelte.

Die Bilder waren so plastisch, dass Selena vor Schreck die Plastiktüte aus der Hand glitt. Im nächsten Moment rollten Zitronen Richtung Treppe.

Als Selena Millies krakelige Handschrift erkannte, wurde aus dem Schrecken Verärgerung.

Nach dem lautstarken Streit am Telefon vor einem Jahr hatte Funkstille geherrscht. Was wollte ihre Schwester jetzt?

„Du bist schuld“, hatte Millie ihr hysterisch vorgeworfen. „Du wolltest die Sache doch in Ordnung bringen. Stattdessen hast du alles noch viel schlimmer gemacht. Das verzeihe ich dir nie. Ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben.“

Mit lautem Knall hatte Millie den Hörer auf die Gabel geworfen. Man hätte meinen können, sie hätte vom Nebenraum aus telefoniert statt in der Taverne auf einer kleinen griechischen Insel in der Ägäis.

Besonders klug hatte Selena sich tatsächlich nicht verhalten. Leider machte ihr diese Dummheit noch immer das Leben schwer. Doch das konnte Millie ja nicht einmal ahnen. Oder sie zog es vor, die Lage ihrer Schwester zu ignorieren.

Wieso schreibt sie mir plötzlich einen Brief? Eigentlich wollte Selena es gar nicht wissen. Am liebsten hätte sie den Brief einfach auf der Fußmatte liegen lassen.

Es wurde endlich Zeit für ein neues Leben. Auf der Heimfahrt im Bus hatte sie sich alles so schön ausgemalt.

Nachdenklich betrachtete Selena den Brief. Irgendwann würde sie ihn öffnen müssen. Dann konnte sie es auch gleich tun. Also bückte sie sich, hob ihn auf, durchquerte das Wohnzimmer, legte den Umschlag in der Küche auf die Arbeitsplatte und setzte erst mal Wasser auf. Eigentlich hatte sie Appetit auf frische Zitronenlimonade gehabt, die sie zur Feier des unerwarteten Neustarts auf der kleinen Terrasse genießen wollte, doch jetzt brauchte sie erst mal einen Koffeinschub.

Sie stellte die Kaffeedose und einen Becher auf der Arbeitsplatte bereit und kehrte zur Diele zurück, um die Zitronen aufzuheben und sie dann in der Küche in den Obstkorb zu legen.

Hatte sie wirklich einen Moment lang gedacht …? Offensichtlich, sonst hätte sie sich nicht so erschrocken.

Nein! Entschlossen ballte sie die Hände zu Fäusten. Das war endgültig vorbei!

Inzwischen hatte das Wasser gekocht. Sie machte sich einen starken Kaffee und suchte sich auf der Terrasse ein schattiges Plätzchen. Dort ließ sie die positiven Ereignisse des Morgens noch einmal Revue passieren.

Sie war allein im Klassenzimmer gewesen und hatte für ihre Kollegin Mrs. Forbes die Plakate von den Wänden genommen und in einem großen Kartenhalter verstaut. Verzweifelt überlegte sie hin und her, wie sie die sechswöchigen Sommerferien überbrücken sollte, für die sie kein Gehalt bezog. Plötzlich ging die Tür auf, und Mrs. Smithson, die Rektorin, eilte herein.

„Stellen Sie sich vor, Megan Greig kommt nicht aus der Elternzeit zurück. Das heißt, ihre Stelle wird jetzt zur Vollzeitstelle. Kollegium, Schulrat und Elternbeirat sind sich einig, Ihnen die Stelle anzubieten.“ Sie lächelte Selena freundlich zu. „Sie haben sehr gute Arbeit geleistet und sich schnell ins Kollegium von Barstock Grange eingefügt. Wir schätzen Sie sehr und möchten, dass Sie weiterhin hier arbeiten.“

„Oh.“ Damit hatte Selena überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte befürchtet, mal wieder arbeitslos zu werden. Und sogar das Dach über ihrem Kopf zu verlieren. „Das … das ist ja wunderbar“, stieß sie schließlich überwältigt hervor.

Die Rektorin lächelte erleichtert. „Prima, dann wäre das ja geklärt. Wir schicken Ihnen den Vertrag in den nächsten Tagen zu. Dann sehen wir uns im neuen Schuljahr.“

Überglücklich und sehr, sehr erleichtert war Selena mit dem Bus nach Hause gefahren. Beim Anblick des Briefes auf der Fußmatte hatten die Glücksgefühle sich allerdings in Luft aufgelöst.

Ich habe keine Lust, mir erneut Vorwürfe machen zu lassen, dachte Selena. Und Geld werde ich Millie auch nicht mehr leihen. Wie denn? Ich bin ja praktisch pleite und muss sehen, wie ich klarkomme. Außerdem brauche ich eine Wohnung, in der auch Kinder und Tierhaltung erlaubt sind.

Millie und sie hatten sich immer ein Haustier gewünscht. Aber Tante Nora war natürlich strikt dagegen gewesen. Sie trug die Verantwortung für ihre beiden verwaisten Nichten. Das reichte ihr vollauf. Im Nachhinein betrachtet, war es so wohl besser gewesen. Nora Conway hatte die Töchter ihrer verstorbenen Schwester wohl nur aufgenommen, weil sie sich dazu gezwungen sah, und nicht zuletzt, weil sie sich davon einen Vorteil erhoffte.

Tante Nora gehörte zum Establishment von Haylesford. Vermutlich hätte es ihrem guten Ruf geschadet, wenn sie ihre Nichten in ein Heim gesteckt hätte, statt die Waisen bei sich aufzunehmen. Mit der Nächstenliebe sollte man immer zu Hause anfangen, war die vorherrschende Meinung. Ob man bei den Beweggründen ihrer Tante von Nächstenliebe sprechen konnte, wagte Selena allerdings zu bezweifeln.

Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Selena gerade einmal elf Jahre alt gewesen war. Der Schock war entsetzlich für sie und Millie gewesen. Den Schwestern war gleichgültig, wo sie untergebracht wurden, solange man sie nicht auseinanderriss. Weder im Aussehen noch charakterlich waren sie einander ähnlich. Millie war zwei Jahre jünger, hatte goldblondes lockiges Haar, blaue Augen und war hübsch und zierlich. Selena dagegen war eine Bohnenstange, hatte graue Augen und einen sehr hellen Teint. Und da war dann noch ihre Haarfarbe: ein ungewöhnliches Silberblond. Das Haar reichte fast bis zur Taille, wenn es nicht zum strengen Zopf geflochten war, worauf Tante Nora bestand. Haar wie Mondschein …

Unwillkürlich tauchten neue Bilder vor Selenas innerem Auge auf. Bilder, die sie verschüttet geglaubt hatte. Verzweifelt ballte sie die Hände zu Fäusten und versuchte, die Erinnerung zu verbannen. Nie wieder würde jemand ihr Haar so bezeichnen. Dafür hatte sie gesorgt, als sie im Friseursalon von Haylesford auf einem Kurzhaarschnitt bestanden hatte.

Die neue Frisur betonte die hohen Wangenknochen. Ich sehe Dad ähnlich, Millie hat mehr Ähnlichkeit mit Mum, dachte Selena verträumt. Ihr Vater hatte behauptet, von den Wikingern abzustammen. Seltsam, er hatte sich eher durchs Leben gewurschtelt – genau wie Millie. Mum dagegen stand mit beiden Beinen auf dem Boden – wie ich. Jedenfalls hatte sie das immer gedacht.

Bis heute wunderte Selena sich, warum Tante Nora Millie und sie nur widerstrebend bei sich aufgenommen hatte. Jedenfalls konnte es nicht an mangelnder Kinderliebe liegen. Immerhin leitete sie sehr erfolgreich eine Privatgrundschule für Mädchen, die mit extra Unterstützung durch Nachhilfelehrerinnen den Zugangstest für die exklusiven weiterführenden Schulen bestanden.

Millie und sie hatten Meade House School nie besucht. Tante Nora hatte sie auf eine staatliche Schule geschickt. Über ihren Langzeitplan hat sie uns ja lange im Dunkeln gelassen, dachte Selena trocken und nippte an ihrem Kaffee. Warum beschäftigte sie dieses Thema eigentlich immer noch? Langsam wurde es Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen und an die Zukunft zu denken. Vermutlich will ich mich davor drücken, Millies Brief zu lesen, dachte Selena selbstkritisch.

Also gut. Sie trank den Kaffee aus, stand auf, schlenderte in die Küche und riss den Briefumschlag auf. Er enthielt eine offenbar aus einem Schreibblock herausgerissene Seite.

„Lena, wir müssen reden“, las Selena. „Es ist ein Notfall. Bitte ruf mich an.“

Millie hatte die Telefonnummer hinzugefügt und nur mit M. unterschrieben.

Kurz und knapp und kein Wort zu viel, dachte Selena. Natürlich will sie wieder Geld. Auch an Rhymnos war die Wirtschaftskrise wohl kaum vorbeigegangen. Vielleicht hatte Millie aber auch genug vom Leben auf der kleinen Insel und brauchte Geld für ein Flugticket nach Hause. Aber was wollte Millie in England anfangen? In dieser winzigen Wohnung kann ich sie definitiv nicht aufnehmen. Sie muss selbst sehen, wo sie bleibt. Einen Beruf hatte sie nach dem Abitur nicht gelernt, sich aber immer mit Jobs als Kellnerin oder Barkeeper durchgeschlagen. Von Tante Nora kann sie auch keine Hilfe erwarten, dachte Selena. Die will nichts mehr mit uns zu tun haben.

Nachdenklich sah Selena vor sich hin. Wenn Millie tatsächlich in Not wäre, hätte sie mich ja anrufen können. Schließlich hat sie meine Adresse und Telefonnummer.

Unbewusst hatte sie den Brief zerknüllt. Nun glättete sie ihn schnell wieder auf der Arbeitsfläche und versuchte, die Nummer zu entziffern. Sie kam ihr bekannt vor. Offensichtlich arbeitete Millie noch immer in Kostas’ Taverne. Die hatte er Amelia genannt, um Millie eine Freude zu machen.

Natürlich hätte Selena vorgeben können, den Brief nie erhalten zu haben. Aber Millie war nun mal ihre Schwester und brauchte Hilfe.

Selena atmete tief durch und wählte die von Millie angegebene Nummer. Eine Männerstimme meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

„Kostas? Hier ist Selena“, sagte sie kühl.

„Ach, wie gut, dass du anrufst, Schwester.“

Seine Erleichterung war deutlich spürbar.

„Ich wusste, dass du dich melden würdest. Das habe ich meiner Amelia auch gesagt.“

„Offenbar habt ihr es alle nicht leicht.“

Kostas lachte sarkastisch. „Es kann nur besser werden.“

„Ja. Sag mal, Kostas, kann ich mit Millie sprechen?“

„Nein, sie schläft jetzt. Der Arzt hat gesagt, sie soll sich schonen.“

„Aha. Ist sie denn krank?“, fragte Selena besorgt.

„So genau weiß ich das nicht. Es ist eine Frauengeschichte. Millie hat Angst und fühlt sich sehr allein. Meine Mutter ist zwar da, aber du weißt ja, wie sie ist.“

Ja, das wusste Selena nur zu genau. Anna Papoulis trauerte noch immer demonstrativ um ihren verstorbenen Ehemann und trug zur Leichenbittermiene von Kopf bis Fuß nur Schwarz. Die Verbitterung über die unpassende Brautwahl ihres Sohnes stand ihr zudem ins Gesicht geschrieben.

„Sie weint die ganze Zeit und sehnt sich nach dir, Schwester. Kannst du herkommen? Wenn du bei ihr bist, wird es ihr sicher bald besser gehen. Ich habe schon ein Zimmer für dich hergerichtet“, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

Selena konnte es kaum fassen. Der glaubt doch nicht wirklich, dass ich je wieder einen Fuß auf Rhymnos setzen werde, oder? Kostas muss verrückt sein.

„Das ist vollkommen unmöglich, Kostas“, entgegnete sie schließlich. „Ich werde hier gebraucht.“

„Aber die Zeiten haben sich geändert, Schwester. Du hast nichts zu befürchten. Die Leute sind nicht mehr hier. Die Insel hat sich verändert. Du bist ganz sicher hier bei uns.“

„Ich habe schon einmal geglaubt, sicher zu sein, und dachte, Millie wäre in Gefahr. Aber ich wurde hintergangen und leide noch immer darunter.“

„Meine Amelia sehnt sich so sehr nach dir“, wiederholte Kostas eindringlich. „Ich könnte ihre Enttäuschung nicht ertragen.“

Nein! Genauso hatte alles angefangen. Auch damals durfte Millie nicht enttäuscht werden. Zwei Klassenkameradinnen hatten sie eingeladen, mit ihnen in Griechenland Urlaub zu machen. Natürlich hatte Tante Nora es verboten. „Du bist erst siebzehn, Millie!“

Millie war in Tränen aufgelöst gewesen. Das allein hätte die gestrenge Tante sicher nicht erweicht. Doch als Daisys Mutter Mrs. Raymond auftauchte, um ein gutes Wort einzulegen, hatte Tante Nora ihre Meinung geändert. Auch Mrs. Raymond war eine Stütze der Gesellschaft, und wenn die befürwortete, dass die Mädchen allein in Urlaub fuhren, um selbstständig zu werden, dann ließ sich nichts dagegen sagen.

„Wir müssen ihnen zeigen, dass wir ihnen vertrauen“, sagte Mrs. Raymond. „Nächstes Jahr sollen die Mädchen ja studieren.“

Ja, Daisy und Fiona würden die Universität besuchen, aber Millie?, hatte Selena damals gedacht.

„Rhymnos ist eine kleine ruhige Insel. Dort gibt es keine Nachtklubs. Die Mädchen kommen also nicht in Versuchung, über die Stränge zu schlagen“, hatte Mrs. Raymond im Brustton der Überzeugung erklärt. „Das Familienhotel hat einen guten Ruf. Die Mädchen würden sich sehr freuen, wenn Millie mitkommen dürfte. Die arme Millie wird sicher sehr enttäuscht sein, wenn sie zu Hause bleiben muss.“

Zu schön, um wahr zu sein, hatte Selena misstrauisch gedacht und gehofft, Tante Nora ließe sich nicht umstimmen. Doch die hatte schließlich widerstrebend ihr Einverständnis gegeben. Auch gut, hatte Selena gedacht. Mich geht das ja nichts an.

Doch das war ein gewaltiger Irrtum gewesen. Es ging sie sogar sehr viel an. Und ihr ganzes Leben war durch Tante Noras Entscheidung auf den Kopf gestellt worden.

„Bist du noch da, Selena?“

Erschrocken riss sie sich zusammen. „Ja.“

„Ich bin auch bereit, dir das Flugticket nach Mykonos zu bezahlen“, sagte Kostas. „Bitte komm her – Amelia zuliebe. Sie kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.“

„Den Eindruck hatte ich bei unserem letzten Telefonat aber nicht“, widersprach Selena kühl.

„Sie hat es nicht so gemeint, Schwester. Manchmal sagt man etwas im Zorn, was man später bereut. Das kommt in den besten Familien vor.“ Kostas lachte gewinnend. „Bitte hab doch etwas Mitgefühl mit deiner kranken Schwester.“

Selena biss sich auf die Lippe. Eigentlich konnte man Kostas’ Bitte kaum abschlagen. Aber wohl war ihr dabei nicht. Das Leben auf der Insel mag sich verändert haben, ich habe mich aber nicht verändert, dachte Selena. Das wird erst geschehen, wenn ich den Mut aufbringe, mich meinen Dämonen zu stellen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Vielleicht ist das ja jetzt der richtige Zeitpunkt. Sie fasste einen Entschluss. „Okay, Kostas, ich komme. Danke für dein Angebot, aber das Ticket bezahle ich selbst. Ich melde mich, wenn ich weiß, wann ich auf Mykonos lande. Richte bitte Millie schöne Grüße aus. Bis dann, Kostas.“

Nach dem Telefonat stürzte Selena sich auf die Hausarbeit, um nicht darüber nachzudenken, dass sie möglicherweise erneut einen folgenschweren Fehler machte. Andererseits war Millie vielleicht wirklich schwerkrank. Ich würde mir nie verzeihen, den Hilferuf meiner Schwester ignoriert zu haben, dachte sie. Nein, ich muss zu ihr. Möglicherweise braucht sie medizinische Hilfe, die auf Rhymnos nicht zu haben ist. Dann nehme ich Millie mit nach England. Allerdings brauche ich dann erst recht eine größere Wohnung.

Erschöpft fiel Selena schließlich ins Bett und hoffte, Schlaf zu finden. Zunächst überlegte sie allerdings, was sie in den Koffer packen sollte. Leichte Sommerkleidung, denn im Hochsommer kletterte das Thermometer auf Rhymnos schon mal über vierzig Grad Celsius. Schnell stand sie wieder auf und musterte sich im Spiegel. Ihre Figur war noch immer makellos, der Körper schien unberührt. Schluchzend warf sie sich wieder ins Bett.

Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht stand sie übermüdet auf, machte sich für den Tag fertig und ging zuerst zum Immobilienmakler. Sie brauchte eine größere Wohnung. Als Nächstes erstand sie in einer kleinen Boutique preiswerte Shorts, T-Shirts und einen Badeanzug. Anschließend buchte sie den Flug und besorgte sich Euros von der Bank. Damit muss ich auskommen, dachte Selena entschlossen. Mehr konnte sie sich nicht leisten.

Sie atmete tief durch und begab sich dann auf den schwersten Weg. Wenigstens habe ich dieses Mal etwas Positives zu berichten, dachte sie. Nach den Ferien werde ich fest angestellt.

„Selena!“

Erstaunt wandte sie sich um. Janet Forbes eilte auf sie zu.

„Wie schön, dich zu treffen! Ich wollte sowieso mit dir reden. Hast du Zeit für einen Eiskaffee?“

„Ja, gern.“

Sie fanden ein am Fluss gelegenes Café und setzten sich auf die Terrasse. Am Flussufer sonnten sich einige Familien, ließen sich Eiskugeln schmecken oder fütterten Enten.

„Ich freue mich so sehr, im nächsten Schuljahr wieder mit dir zusammenzuarbeiten“, sagte Janet Forbes und nippte am Eiskaffee. „Megan war ja sehr nett, aber ich hatte den Eindruck, sie war nicht richtig bei der Sache. Du dagegen … Weißt du, Selena, ich überlege, ob du nicht Pädagogik studieren und eine richtige Lehrkraft werden solltest. Du bist ein wahres Naturtalent. Natürlich möchte ich dich nicht als Assistentin verlieren, aber denk mal drüber nach!“

„Ich habe bereits zwei Jahre Pädagogik studiert, musste dann aber abbrechen.“ Selena rang sich ein Lächeln ab. „Es gab familiäre Probleme.“

„Wie schade. Aber du solltest das Studium abschließen. Es ist nie zu spät.“ Janet Forbes schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Das rede ich mir auch immer ein, dachte Selena. „Ja, eines Tages werde ich das tun. Momentan geht es leider noch nicht.“

Mrs. Forbes trank ihren Eiskaffee aus und stand auf. „Das ist die richtige Einstellung, Selena. Dann hoffe ich, dass deine Probleme bald gelöst sind.“

Selena sah ihr nach. Wenn das so einfach wäre, dachte sie. Niemand weiß, was mir vor zwei Jahren passiert ist und wie sehr ich noch daran zu knabbern habe.

2. KAPITEL

Geistesabwesend trank Selena noch einen Eiskaffee – zur Feier des Tages. Janet Forbes’ Worte hatten sie sehr nachdenklich gestimmt. Die Festanstellung nach der Sommerpause machte ihr neue Hoffnung auf ein besseres Leben.

Es war lustig, dass Janet und sie sich gegenseitig im Unterricht beobachtet hatten. Amüsiert lächelte Selena vor sich hin. Während sie versuchte, sich von der erfahrenen Pädagogin etwas abzugucken, war Janet offensichtlich zu dem Schluss gelangt, ihre junge Kollegin hätte das Zeug zu einer guten Lehrerin. Nun hatte sie ihr Mut gemacht, das Pädagogikstudium abzuschließen. Freiwillig wohlgemerkt. Sie hatte nicht mit Erpressung gearbeitet, so wie Tante Nora.

Kurz nachdem sie mit sechzehn Jahren eine ausgezeichnete mittlere Reifeprüfung gemacht hatte, nahm Tante Nora sie sich zur Brust und erklärte Selena, ihr und später auch Millie die weiterführende Schule und das Studium zu finanzieren, vorausgesetzt, sie würden nach dem Examen als Lehrerinnen an der Meade House Privatschule arbeiten. Sollte Selena andere Pläne haben, müsste sie sich umgehend einen Job suchen.

„Ich musste für die Schulden eurer verstorbenen Eltern aufkommen und natürlich für euren Lebensunterhalt“, führte Tante Nora kühl aus. „Ich erwarte dafür eine Entschädigung von dir und Amelia.“ Nora musterte ihre Nichte. „Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, als wäre gerade die Welt untergegangen! Wenn ihr in meiner Privatschule arbeitet, habt ihr nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch einen sicheren Job. Du könntest ruhig etwas dankbarer sein, dass ich dir und deiner Schwester so ein großzügiges Angebot mache“, fügte sie beleidigt hinzu.

Großzügiges Angebot? Eher nicht, dachte Selena. Sie konnte es kaum erwarten, Haylesford den Rücken zu kehren und endlich ihr eigenes Leben zu führen. Und nun das. Wäre es nur um sie allein gegangen, hätte sie Tante Nora eine lange Nase gezeigt. Aber sie musste natürlich auch an Millies Zukunft denken. Daher ging sie widerstrebend auf Tante Noras Forderung ein.

Erstaunlicherweise stimmte diese Entscheidung Nora bedeutend milder. Sonst hätte Millie wohl nie die Erlaubnis erhalten, mit ihren Freundinnen in Griechenland Urlaub zu machen.

Selena hatte währenddessen einen Ferienjob in einem Café angenommen. Den musste sie allerdings bald wieder aufgeben, nachdem Nora an einem verregneten Julitag im Garten ausgerutscht war und sich ein Bein gebrochen hatte.

„Ich darf erst nach Hause, wenn ich mit diesen Krücken umgehen kann“, begrüßte sie ihre Nichte missmutig und zeigte auf die Unterarmstützen, die an der Wand lehnten. „Selbst dann bin ich auf Hilfe angewiesen“, fügte sie ärgerlich hinzu. „Amelia ist ja schon so gut wie weg.“

Die Glückliche, dachte Selena, die ahnte, was nun auf sie zukommen würde.

Tatsächlich entpuppte Nora sich als sehr unbequeme, fordernde Patientin, die Selena rund um die Uhr beanspruchte.

Millie war auch nicht viel besser. Sie brauchte eine halbe Ewigkeit, ihre Sachen zu waschen, zu bügeln und im Koffer zu verstauen.

Daher atmete Selena erleichtert auf, als Mrs. Raymond mit ihren Töchtern Daisy und Fiona vorfuhr, um Millie abzuholen. Ein Problem weniger, dachte sie, als sich der Wagen Richtung Flughafen in Bewegung setzte.

„Wenn der Gips ab ist, brauche ich Krankengymnastik“, verkündete Nora eine Woche später. „Das habe ich gerade von Dr. Bishop erfahren. Er hat mir eine Liste von Physiotherapeuten mitgegeben, die Hausbesuche bei Privatpatienten machen.“

„Ich dachte, das übernimmt die Krankenkasse.“ Selena sah erstaunt auf.

„Nein, nicht in dem Umfang, den ich benötige“, erklärte Nora kühl. „Der Bruch ist sehr kompliziert. Dr. Bishop meint, ich müsste wohl wieder lernen zu gehen“, fügte sie dramatisch hinzu.

Millie hat recht, dachte Selena. Er redet ihr nach dem Mund. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Hoffentlich ist der Physiotherapeut nicht auch so nachgiebig.

Von Millie war bisher nur eine kurze SMS eingegangen. „Rhymnos ist super.“ Das war alles. Wahrscheinlich haben Daisy und Fiona ihren Eltern auch nur kurz geschrieben, dachte Selena.

Am Nachmittag der erwarteten Rückkehr der Mädchen aus dem Griechenlandurlaub hatte Selena in der Stadt zu tun. Tante Nora wollte neue Bücher aus der städtischen Bücherei ausleihen. Millie ist jetzt bestimmt schon zu Hause, dachte Selena nach einem kurzen Blick auf die Armbanduhr, bevor sie die Tür aufschloss. Seltsam, kein Gepäck in der Diele. Wahrscheinlich hatte der Flieger Verspätung.

„Selena?“

Oje, die Stimme ihrer Tante klang sehr aufgebracht.

Selena eilte in Noras Zimmer. Die saß aufrecht im Bett. Die sonst so blassen Wangen waren heftig gerötet.

Entsetzt blieb Selena an der Tür stehen. Millie war doch wohl nichts passiert, oder? Hatte sie nun nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihre kleine Schwester verloren? Panik stieg in ihr auf. „Was … was ist los, Tante Nora?“, stammelte sie ängstlich.

„Das will ich dir sagen!“, stieß Nora wütend hervor. „Offenbar hat deine Schwester sich mit einem dahergelaufenen Griechen von der Insel eingelassen und will mit ihm zusammenziehen. Heute Morgen ist sie aus dem Hotel direkt zu ihm gezogen. Die anderen Mädchen sind ohne sie nach Hause geflogen. Natürlich werde ich ihr das nicht durchgehen lassen. Sie ist viel zu jung. Was sollen denn die Leute hier von mir denken, wenn ich das gestatten würde? Allerdings bin ich ja körperlich nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Also musst du sie zurückholen, Selena. Und zwar sofort, bevor noch Schlimmeres passiert.“

Verstört suchte Selena Halt und setzte sich schnell auf einen Stuhl. Das ist ja wieder mal typisch, dachte sie verbittert. Tante Nora nimmt alles gleich persönlich. Sie sollte lieber daran denken, dass Millie sich vermutlich die Zukunft verbaut.

Selena sah auf. „Wer ist der Mann? Haben Daisy und Fiona ihn kennengelernt?“

„Er ist wohl der Barmann im Hotel Olympia, wo sie abgestiegen waren. Ein gewisser Kostas“, fügte Tante Nora abfällig hinzu und reichte Selena einen zerknüllten Zettel. „Der ist von Millie. Mrs. Raymond war das alles schrecklich peinlich. Wie konnte sie den Mädchen nur erlauben, allein Urlaub zu machen? Sie ist schuld an dieser Misere“, behauptete Nora. „Sie hat mich überredet, Millie mit nach Griechenland zu lassen. Jetzt wird sie natürlich überall herumerzählen, was geschehen ist. Und wie stehe ich dann da?“

Selena stand auf, griff nach dem Zettel und versuchte, Millies Gekritzel zu entziffern. Millie schrieb, sie würde nicht nach England zurückkehren, weil sie bei Kostas bleiben wollte, den sie liebte.

„Du siehst ja selbst, dass wir keine Zeit verlieren dürfen“, sagte Nora, die sich vom ersten Schock erholt zu haben schien. „Du nimmst also den nächsten Flieger und bringst sie zurück! Keine Widerrede! Ich setze doch wegen eines verknallten Teenagers nicht meinen guten Ruf aufs Spiel. Männer wie dieser Barmann sollten eingesperrt werden.“

„Vielleicht sieht Millie ja selbst ein, dass sie einen Fehler gemacht hat, und kommt freiwillig zurück“, warf Selena ein. Außerdem konnte sie hier gar nicht weg. Wie sollte Tante Nora denn allein zurechtkommen?

Autor

Sara Craven

Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis.

In ihren Romanen entführt sie...

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