Heißes Verlangen in den Highlands

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Highlands, 1870: Ein Gärtnerjunge wie Gordon McDonnell ist für die Tochter eines Earls tabu. Das weiß Lady Jennifer natürlich. Dennoch hat sie seinen feurigen Kuss am Seeufer nie vergessen. Die brennende Leidenschaft flammt erneut zwischen ihnen auf, als Gordon nach fünf Jahren plötzlich wieder vor ihr steht. In London hat er ein Vermögen gemacht und muss sich nicht mehr für seine einfache Herkunft schämen. Und noch immer begehrt er sie heiß! Das gemeinsame Glück scheint zum Greifen nahe – doch dann erfährt Jennifer etwas über Gordon, das jeden weiteren Kontakt mit ihm unmöglich macht …


  • Erscheinungstag 14.09.2021
  • Bandnummer 370
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500920
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Adaire Hall, Schottland

Juni 1865

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wieso die Countess of Burfield dich in ihrem Testament bedacht hat.“

Gordon McDonnell wandte sich vom Fenster ab und sah den Mann verblüfft an.

Richard McBain, Rechtsanwalt der Familie Adaire, war seit Jahren auch der Vormund des minderjährigen Earl of Burfield, der den Titel im zarten Alter von fünf Jahren geerbt hatte.

Gordon hatte in der Vergangenheit bereits einige Begegnungen mit McBain gehabt. Keine dieser Begegnungen in dessen Arbeitszimmer war angenehm für ihn verlaufen.

Im ersten Moment dachte er, McBain habe von seiner Beziehung zu Jennifer Adaire erfahren.

Lady Jennifer war die Tochter des Earl und der Countess of Burfield; Gordon nur der Gärtnerjunge, wie man ihn seit jeher nannte. Eine Bezeichnung, die ihm gründlich zuwider war.

Er hatte andere Pläne für sein Leben, wollte nicht Gärtner werden wie sein Vater, interessierte sich nicht dafür, ob Pflanzen unter seiner Pflege wuchsen und gediehen. Er zog die freie Natur in der Umgebung von Adaire Hall den gepflegten Gartenanlagen vor.

Sein Verstand registrierte McBains Worte, ohne ihren Sinn zu begreifen. „Was soll das heißen, sie hat mich in ihrem Testament bedacht?“

„Offenbar sah die Countess etwas in dir, das ich nicht erkennen kann.“

McBain redete stets in diesem herablassenden Ton mit ihm, und er hatte gelernt, nicht darauf zu achten.

„Das habe ich nicht erwartet“, antwortete Gordon, immer noch verdutzt.

Allerdings war die Countess, die er sehr geschätzt hatte, immer gut zu ihm gewesen. Ihre ungewöhnliche Beziehung hatte begonnen, als er grade mal sieben Jahre alt war.

Eines Tages hatte er beobachtet, wie ihre Pflegerin sie im Rollstuhl auf die sonnige Terrasse gebracht hatte. Gordon hatte sich dem Verbot seines Vaters widersetzt, ein paar Blumen gepflückt, war die Stufen der Terrasse hinaufgeklettert und hatte sie ihr hingehalten.

„Ein Blumenstrauß für Sie, Ma’am, damit Sie lächeln.“

„Die korrekte Anrede lautet Eure Ladyschaft, Junge“, wies ihn die Pflegerin zurecht.

Gordon hatte sich nicht korrigiert, die Countess nur fasziniert angesehen.

Eine Feuersbrunst hatte ihrem Augenlicht sehr geschadet. Sie sah nur schemenhafte Umrisse und matte Farben. Bei dieser Begegnung hatte sie die Arme ausgestreckt, sein Gesicht betastet und ihre Hände an seine Wangen gelegt.

„Wie heißt du?“

„Gordon, Ma’am. Gordon McDonnell. Eure Ladyschaft.“

„Sean McDonnells Junge.“

„Ja, der bin ich.“

„Und du hast die Blumen deines Vaters für mich gepflückt.“

„Ich denke, es sind Ihre Blumen, Ma’am. Eure Ladyschaft. Ich habe sie mir nur geborgt.“

Die Countess hatte den mageren Strauß an ihr Gesicht gehalten und gesagt, sie rieche den Frühling.

Von dem Tag an suchte Gordon die Nähe der Countess, wenn sie im Garten saß. Ihre Beziehung glich weniger der einer Countness zu einem Gärtnerjungen und mehr einer seltsamen Freundschaft. Er erzählte ihr von seinen Träumen, und sie ließ ihn an ihren Gedanken teilhaben. Außerdem brachte sie ihm Dinge bei, die er sonst nie gelernt hätte, beispielsweise, wie man seinen Zorn beherrschte und wie man richtig sprach.

Nun wandte er sich wieder dem Fenster zu, denn er wollte McBain nicht zeigen, was in ihm vorging.

Ihr Sterben war nicht weniger qualvoll gewesen als ihr Leben. Nach ihrem Tod hatte er von mehreren Leuten gehört, es sei ein Segen, dass sie endlich von ihrem Leiden erlöst war; Bemerkungen, die ihn zunächst wütend gemacht hatten. Für ihn war die Welt ohne sie weniger interessant und mit Sicherheit freudloser geworden.

„Ich habe versucht, es ihr auszureden“, fuhr der Rechtsanwalt fort. „Ich habe keine Ahnung, was du mit dem Geld anstellst, befürchte allerdings, dass du es nicht sinnvoll zu nutzen weißt.“

Dann nannte McBain eine Summe, bei der Gordon augenblicklich herumwirbelte.

„Wie viel?“, fragte er ungläubig.

McBain wiederholte die Summe.

„Und das alles soll mir gehören?“

„Es gehört dir.“

Er hatte ein Vermögen geschenkt bekommen.

„Ich denke, dies ist der richtige Zeitpunkt“, fuhr McBain fort, „dich davon zu unterrichten, dass du auf Adaire Hall nicht länger willkommen bist.“ Das hämische Grinsen des Anwalts erinnerte Gordon an eine Katze, die soeben eine fette Maus verspeist hatte.

„Wie mir zu Ohren gekommen ist, McDonnell, hast du dich in Ideen verstiegen, die deinem Stand nicht zukommen. Man hat mich gebeten, dich davon zu unterrichten, dass deine Annäherungsversuche Lady Jennifer betreffend unzulässig und unerwünscht sind. Deshalb ist es für alle Beteiligten das Beste, wenn du Adaire Hall unverzüglich verlässt.“

Gordon starrte McBain fassungslos an.

„Es ist kein Geheimnis, dass du Lady Jennifer gegenüber zudringlich geworden bist. Deine Aufmerksamkeiten sind ihr lästig.“

„Ich verstehe nicht.“ Jennifer hätte so etwas niemals gesagt.

„Es ist ganz einfach“, erklärte der Anwalt knapp und erhob sich. „Diese Beziehung ist beendet.“

„Ich glaube Ihnen nicht.“

„Verschone Lady Jennifer mit Peinlichkeiten, McDonnell, und verhalte dich wie ein Gentleman. Sie ist nach Edinburgh gereist und hat mich ausdrücklich darum gebeten, dir klarzumachen, dass du vor ihrer Rückkehr verschwunden sein sollst. Sie ist nicht die Einzige, die dich nicht mehr zu sehen wünscht. Der Earl of Burfield schließt sich ihrem Wunsch an.“

Der Earl of Burfield. Welch ein Hohn! Jennifers Bruder Harrison war schon immer ein Dummkopf gewesen. Und offensichtlich auch ein sturer Esel.

„Ich darf hinzufügen, dass sich dein Vater diesem Beschluss anschließt.“

Darüber wunderte Gordon sich nicht. Als Halbwüchsiger war er bereits mit Sean aneinandergeraten. „Anscheinend wollen mein Vater und Harrison mich loswerden“, entgegnete er, „aber gewiss nicht Jennifer.“

Erst gestern Abend hatten sie sich am See getroffen, bis spät in die Nacht hinein geplaudert und sich mit einem Kuss verabschiedet. Sie konnte ihre Meinung unmöglich in wenigen Stunden so gründlich geändert haben. Nicht Jennifer.

„Sie kehrt erst aus Edinburgh zurück, wenn du gegangen bist. Dein Vater hat deine Sachen bereits gepackt, McDonnell. Je eher du verschwindest, desto besser für alle. Du warst lang genug ein Störfaktor hier. Zu meinem Bedauern hat die Countess mein Urteil über dich nicht geteilt.“

Augenscheinlich hatte Gordon einen weiteren Grund, der Countess dankbar zu sein.

„Deine Eltern haben nicht den Wunsch, dich vor deiner Abreise zu sehen. Ebenso wenig der Earl. Vor dem Haus wartet eine Kutsche, die dich nach Inverness bringt.

„Ich reise nicht ab, bevor ich mit Jennifer gesprochen habe.“

Drohend trat McBain näher. „Begreif endlich, McDonnell: Lady Jennifer will nichts mit dir zu tun haben, nicht jetzt und nicht in Zukunft.“

Gordon, einen Kopf größer und breitschultriger als der Advokat, ließ sich nicht einschüchtern und rührte sich nicht von der Stelle.

Als er nichts sagte, fuhr McBain fort: „Sie bereut, dass sie sich mit dir am See getroffen und dir gestattet hat, sie zu küssen. Ist dir das endlich klar? Finde dich damit ab, Mann! Sie hat sich mit dir amüsiert, und nun hat sie dich satt.“

McBains Tonfall war weich geworden, in seiner Stimme schwang beinahe so etwas wie Mitleid.

Hatte er sich geirrt? War es möglich, dass Jennifer so über ihn dachte? Nein. McBain lag falsch.

Der Anwalt trat wieder an den Schreibtisch und holte ein Bündel zerknitterter Zettel aus der Schublade, die Gordon sogleich erkannte. Jennifer und er hatten sich jahrelang Briefchen geschrieben und an geheimen Orten versteckt, wenn Gordon sie nach getaner Arbeit nicht treffen konnte oder Jennifer andere Verpflichtungen hatte. Im Hühnerstall, in der Astgabel eines Baums hinter dem Haus, unter einem lockeren Stein im Kamin eines Raums neben dem Klassenzimmer – überall auf dem Anwesen.

Erst kürzlich hatte Jennifer ihm erzählt, dass sie alle seine Briefe aufbewahrte, weil sie ihr eine kostbare Erinnerung waren.

Offenbar nicht mehr.

McBain gab den Inhalt einiger Zettel zum Besten. Gordons kindisch schwärmerische Gedichte klangen aus seinem spöttischen Mund noch törichter.

Das war der schlimmste denkbare Verrat.

McBain blickte ihm nach, als Gordon ohne ein weiteres Wort das Arbeitszimmer verließ. Eine knappe Stunde später saß er in der Kutsche auf der Straße nach Inverness, mit einer Bankanweisung über die ihm zustehende Summe in der Tasche. Zum ersten Mal in seinem Leben verfügte er über einen gewissen Wohlstand. Doch diese Genugtuung vermochte die die dumpfe Leere in seiner Brust nicht auszufüllen.

Mai 1867

Adaire Hall, Schottland

Es hatte fast drei Monate gedauert, bis Jennifer die nötigen Informationen in Händen hielt, doch jetzt saß sie an ihrem Sekretär und starrte auf ein leeres Blatt Papier.

Wie sollte sie diesen Brief schreiben?

Wie könnte sie es nicht tun?

Seit Gordons Verschwinden war sie von Zorn, Verzweiflung und tiefer Enttäuschung erfüllt gewesen. Zwei Jahre waren vergangen, ohne ein Wort von ihm. Sie hatte keine Ahnung, ob Gordon überhaupt noch lebte. Sie wusste nicht, ob sie ihm Tod und Verderben wünschen oder um sein Seelenheil beten sollte.

Vor ein paar Monaten war ihrem Bruder versehentlich eine Bemerkung entschlüpft, die erste Zweifel in ihr weckte, dass Gordon Adaire Hall eventuell nicht aus eigenem Antrieb verlassen hatte.

Harrison hatte gesagt: „McBain ist den Mistkerl losgeworden.“

Auf ihre Frage hatte er gemurmelt: „McDonnell kommt nicht wieder. Nie wieder.“

„Was meinst du damit, er kommt nie wieder?“

Harrison war ihr die Antwort schuldig geblieben. Und Sean McDonnell, Gordons Vater, war auch nicht mitteilsamer. „Der Junge wollte mehr im Leben und hatte Flausen im Kopf“, hatte er gebrummt. „Selbst schuld.“

Daraufhin hatte sie McBain in einem Schreiben gebeten, ihr mitzuteilen, aus welchem Grund Gordon sich entschlossen hatte, Adaire Hall zu verlassen. Eine Antwort hatte sie nicht erhalten. Damit bestätigten sich ihre Mutmaßungen. Es war etwas vorgefallen. Etwas, das Gordon zu dieser überstürzten Abreise gezwungen hatte.

Hatte man ihn eines Vergehens beschuldigt? Hatte man ihm gedroht?

Schließlich kam sie zu der Überzeugung, dass Gordons Verbannung ein Akt der Gehässigkeit von Harrison und McBain gewesen war. Vor Jahren schon hatte Harrison sich darüber geärgert, dass die Countess ihren Willen durchgesetzt hatte, Gordon gemeinsam mit den Geschwistern unterrichten zu lassen. Obwohl der Hauslehrer Gordon ständig links liegen ließ, erwies er sich als besserer Schüler, besonders in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern. Außerdem war er allseits beliebt, hatte viele Freunde und wurde im Dorf freundlich gegrüßt. Harrison jedoch brachte man wenig Sympathie entgegen. Wenn überhaupt, wurde ihr Bruder toleriert, mehr aber nicht.

Sie nahm den Federhalter zur Hand. Was sollte sie schreiben? Lieber Gordon. Mein liebster Gordon. Mein Liebster.

Nein, so durfte sie ihn nicht anreden. Ihr verletzter Stolz gebot ihr, zurückhaltend zu sein. Er hatte sie ohne ein Wort der Erklärung, ohne Abschied verlassen. Plötzlich war er verschwunden, als hätte er nie existiert.

Gleich nach ihrer Rückkehr aus Edinburgh wollte sie Gordon sehen, von ihm in die Arme genommen werden, sich geborgen fühlen – nur um zu erfahren, dass er eines Tages abgereist war und niemand wusste, wohin.

Sie setzte die Feder an und schrieb: Lieber Gordon.

Gut, endlich ein Anfang. Jennifers Herzschlag flatterte, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, als habe sie etwas Verdorbenes gegessen. Da sie nun seine Adresse kannte, durfte sie nicht länger zögern. Sie musste ihm die Nachricht überbringen, das gebot allein schon die Höflichkeit.

Ihre Mutter hatte ihr das so vorgelebt.

Sie suchte nach einer taktvollen Formulierung für die Nachricht. Mit Gordon verband sie ihre frühesten Kindheitserinnerungen. Gordon war ihr Freund, ihr Kamerad, ihr Spielgefährte und später so viel mehr.

Sie knabberte an ihrer Unterlippe, fasste Mut und begann:

In tiefer Trauer schreibe ich Dir. Deine Mutter ist an einem schweren Fieber erkrankt und erlag letzte Woche ihrem Leiden.

Die Umstände unterschieden sich kaum vom Tod ihrer Mutter, wobei Mary einen ganzen Monat tapfer gekämpft hatte, ehe sie von einer Lungenentzündung dahingerafft wurde.

Deine Adresse habe ich von der Bank erhalten, die mir dankenswerterweise Auskunft gab. Ich wünschte, ich könnte Dir in dieser schweren Zeit beistehen, zumal Du mir nach dem Tod meiner Mutter ein großer Trost gewesen bist.

Ich bedaure zutiefst, Dir diese traurige Nachricht überbringen zu müssen.

In stiller Trauer

Jennifer

London, England

Gordon starrte auf den Brief in seiner Hand. Jennifer. Ihre Handschrift hätte er unter hunderten erkannt.

Er las die Zeilen ein zweites und ein drittes Mal, faltete den Brief und steckte ihn ein im Wissen, dass er ihn später noch einmal lesen würde.

Seine Trauer um Betty hielt sich in Grenzen. Seine Mutter hatte ihm wenig Zuwendung oder gar Liebe gezeigt. Als wäre ihr Sohn ein Wesen, mit dem sie nicht wirklich umzugehen wusste. Ein Fremdkörper? Eine Belastung?

Ja, genau so hatte sie ihn behandelt.

Er würde ein Gebet für sie sprechen, nicht weil Betty ihn zum Beten angehalten hätte, sondern weil die Countess ihm einmal einen guten Rat gegeben hatte. Wir erweisen uns einen schlechten Dienst, herzlose Menschen gleichfalls herzlos zu behandeln. Stattdessen wollen wir ihnen Liebe entgegenbringen, wie uns die Bibel lehrt.

Er zog den Brief aus der Tasche und las ihn erneut.

Zwei Jahre. Zwei Jahre waren vergangen, seit er Jennifer zum letzten Mal gesehen hatte. Zwei Jahre, in denen er sich wieder und wieder gefragt hatte, wieso sie McBain seine Briefchen ausgehändigt hatte. Wieso hatte sie ihn so schändlich verraten?

Allerdings las er in ihren Zeilen keine Verachtung für den Freund aus ihrer Jugend, den sie aus ihrem Leben verbannt und in dem sie einen lästigen Eindringling gesehen hatte.

Vielleicht war in den letzten zwei Jahren eine Veränderung in ihr vorgegangen.

Trotzdem sah er nach eingehender Überlegung keinen Grund, jetzt nach Schottland zurückzukehren.

Auch zu keinem späteren Zeitpunkt.

1. KAPITEL

Herbst 1870

London, England

Ein Brief für dich“, sagte Maggie, die an der Türschwelle seines Büros stand.

Er hob den Kopf.

„Ein Brief?“

Sie trat ein und reichte ihm das Schreiben.

„Ich habe ihn versehentlich geöffnet“, sagte sie. „Tut mir leid, Gordon. Schlechte Nachrichten.“

Sie stellte sich neben seinen Stuhl und legte ihm die Hand auf die Schulter, während er las.

„Kann ich etwas für dich tun?“

Ihre Aussprache, an der sie in den letzten fünf Jahren fleißig geübt hatte, war perfekt, alle Spuren ihrer Vergangenheit im East Ende waren getilgt. Auch was ihren Modegeschmack und ihre Körperpflege anging, hatte sie wahre Wunder vollbracht.

Maggie war Gordons erste Begegnung mit der Großstadt London gewesen. Kaum aus dem Zug gestiegen, hatte man ihn schon bestohlen.

Ohne Zweifel war ihm die Naivität und Einfalt eines Landeis deutlich anzusehen gewesen. London war natürlich überwältigend für einen jungen Mann, der sein bisheriges Leben in den schottischen Highlands verbracht hatte. Allerdings war er dank Bettys strenger Zucht nie wirklich naiv gewesen, und seine Einfalt verlor er mit jeder Minute.

Er hatte sofort gewusst, wer ihn bestohlen hatte, hatte die Diebin eingeholt, am Handgelenk gepackt und sie herumgerissen.

Sie war nicht mehr jung, etwa so alt wie seine Mutter, wenn er richtig schätzte, was unter ihrem schmutzverkrusteten, hohlwangigen Gesicht nur schwer zu erkennen war. Sie hatte sich vermutlich seit Tagen nicht gewaschen und kaum gegessen.

„Ich will mein Geld wieder.“

Sie versuchte, sich loszureißen, doch sein Griff war wie eine Eisenklammer.

„Mein Geld.“

Sie antwortete etwas kaum Verständliches. Nicht, dass er nicht hören konnte, was sie sagte, er konnte lediglich ihr Kauderwelsch nicht verstehen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sie den Diebstahl leugnete. Also löste er das Problem, griff in ihren zerschlissenen Umhang, fand die versteckte Tasche und holte sich das Diebesgut wieder.

Als er sie freigab, dachte er, sie würde schleunigst in der Menge untertauchen. Sie aber starrte ihn finster an. „Wie kann einer nur so blöd sein, sein ganzes Geld in eine Tasche zu tun? Verteil den Zaster, dann verlierst du nicht alles auf einen Schlag.“

„Werde ich mir merken“, sagte er. „Wann hast du das letzte Mal gegessen?“

Sie stemmte die schmutzigen Hände in die Hüften und knurrte etwas, was mit Sicherheit eine Beleidigung war.

„Na dann komm, ich kaufe dir eine warme Mahlzeit.“

Den Fluch, den sie ihm ins Gesicht schleuderte, verstand er mühelos. Ähnliche Nettigkeiten hatte er mit den Stallburschen in Adaire Hall getauscht.

Gordon verkniff sich ein Grinsen und ging. Auf dem Weg zum Ausgang warf er einen Blick über die Schulter. „Wenn du willst, komm mit. Aber spar dir deine Beleidigungen, wenn ich bitten darf. Davon habe ich mein Leben lang genug gehört.“

Wahrscheinlich folgte Maggie ihm aus Neugierde. Allerdings zeigte ihm die Menge an Irish Stew, mit der sie sich den Bauch vollschlug, dass sie wirklich halb am Verhungern war.

Vermutlich schlug Maggie sich als Straßendirne durch, er fragte jedoch nie danach, und sie erzählte nichts davon. Er wollte ihr nur helfen. Manchmal fragte er sich, ob das am Einfluss der Countess lag. Es gab Zeiten, da glaubte er beinahe, ihre Stimme zu hören, die ihm half, ein besserer Mensch zu werden.

Zu seiner Überraschung wurde Maggie ihm zur Freundin. Maggie verhalf ihm zu einer billigen Unterkunft. Maggie führte ihn zum ersten Mal ins Alhambra-Theater, dessen Architektur im maurischen Stil er bewunderte und wo er den Darbietungen fasziniert folgte. Varietétheater waren in London seit Kurzem groß in Mode, und das Publikum strömte in Scharen in diese Vergnügungsstätten.

Sechs Monate lang besuchte er jedes Varieté in der Stadt, studierte Räumlichkeiten und Ausstattung, notierte sich die künstlerischen Darbietungen, die jeweiligen Eintrittspreise und welche Getränke an den kleinen Theken im Foyer ausgeschenkt wurden. Als Gordon sich schließlich entschloss, ein eigenes Varieté zu eröffnen, hatte er sich wichtige Kenntnisse angeeignet und wollte das Programm des Alhambra kopieren, freilich in bescheidenerer Form.

Sein neu eröffnetes Midlothian verfügte über ein kleines Orchester und eine Drehbühne, die rasche Kulissenwechsel ermöglichte. Von der Decke hingen mehrere Trapeze, an denen nicht nur Männer, sondern auch weibliche Artisten ihre Kunststücke vorführten. Diese Artistinnen bildeten auch die Tanzgruppe im letzten Akt. Sie traten in Rüschenröcken auf und warfen aufreizend die Beine hoch in einem Tanz, der aus Frankreich kam und ziemlich frivol war.

Gordon duldete keine Prostitution, das machte er den Frauen von Anfang an klar. Was sie nach der Vorstellung außerhalb des Theaters machten, war ihre Sache, aber im Haus gestattete er solches Treiben nicht. Wenn das Theater die Pforten schloss, was häufig erst im Morgengrauen geschah, stellte er ihnen eine Kutsche zur Heimfahrt zur Verfügung. Ihre Sicherheit lag ihm am Herzen, nachdem in manchen Stadtvierteln grausame Frauenmorde geschehen waren.

Im letzten Jahr war das Midlothian erweitert worden und bot nun Platz für achthundert Gäste. Ursprünglich war nur männliches Publikum zugelassen, doch seit zwei Jahren waren auch Frauen willkommen. Jeden Freitag gab es ein spezielles Damenprogramm, das sich großer Beliebtheit erfreute. Mit staunenden Blicken verfolgte das mehrheitlich weibliche Publikum die waghalsigen Künste der Trapezakrobatinnen und erfreute sich an den Darbietungen der Sängerinnen vor glitzernden Kulissen.

Das Dundee, sein zweites Varietétheater, das er nach dem Erfolg des Midlothian eröffnete, ließ er von einem schottischen Architekten gestalten, der berühmt war für seinen extravaganten Geschmack. Das von Säulen getragene Deckengewölbe zierte ein Landschaftsgemälde, auf dem ein von blühendem Heidekraut überwuchertes Gebirgstal dargestellt war. Ein Dutzend Privatlogen ragten zu beiden Seiten der Bühne in den Zuschauerraum. Die gesamte Ausstattung des Theaters war in den Farben Rot und Gold gehalten und zog ein Publikum aus allen Gesellschaftsschichten an, Handwerker und Arbeiter mit ihren Ehefrauen ebenso wie Dandys und feine Herrschaften, die zunächst über derartige Volksbelustigungen die Nase rümpften, sich dann aber doch köstlich amüsierten.

Das Juwel seines Imperiums war allerdings der Mayfair Club, wohlhabenden Gentlemen vorbehalten. Es herrschten strikte Aufnahmebedingungen – jeder Bewerber hatte zehn Mitglieder als Bürgen vorzuweisen. Genau diese strikten Bedingungen brachten Gordon die erwünschte Klientel. Mittlerweile war der Mayfair Club das erfolgreichste und gewinnträchtigste seiner Unternehmen. Zahlreiche Vertreter der Hocharistokratie, sogar ein Angehöriger des Königshauses, zählten zu den Mitgliedern.

Darunter auch der sechste Earl of Burfield. Allerdings wusste Harrison nicht, dass Gordon der Besitzer des Clubs war. Und Gordon hatte keineswegs die Absicht, ihn davon zu unterrichten, dass jeder Shilling, den Harrison an den Spieltischen verlor, in seine Taschen floss.

Bei all seinen Erfolgen vergaß Gordon nicht, Maggie daran teilhaben zu lassen. Er hatte festgestellt, dass sie großes Geschick im Umgang mit Zahlen bewies, und verschaffte ihr eine gehobene Position in der Buchhaltung. Darüber hinaus erwies sich ihre Ortskenntnis als unbezahlbar. Sie war seine erste Mitarbeiterin und suchte die Frauen aus, die sich um eine Anstellung bei ihm bewarben.

In jenem ersten Jahr hatte sich ihr Aussehen drastisch verändert. Sie war nicht mehr so erbarmungswürdig mager. Ihre Gesichtsfarbe sah rosig und gesund aus, ihr Haar glänzte. Eines Tages stellte er fest, dass Maggie zu einer schönen Frau erblüht war. Ihre erbärmlichen Lebensumstände waren der Grund ihrer Verwahrlosung gewesen, und noch etwas: ihre Hoffnungslosigkeit.

Die Zeiten ihrer Obdachlosigkeit und Hungersnot waren längst vorüber, aber der gehetzte Blick in ihren Augen war derselbe geblieben. Als fürchte sie eine unsichtbare Bedrohung.

„Wirst du nach Schottland zurückgehen?“, fragte sie jetzt.

Der Brief enthielt tatsächlich schlechte Nachrichten. Sein Vater war schwer krank. Jennifer hatte ihm geschrieben. Ein zweites Mal.

Gordon schob den Stuhl zurück und stand auf, bevor Maggie ihn umarmen konnte. Sie tendierte zu überschwänglichen Gesten der Zuneigung.

Er sah sie an. „Ja, es ist Zeit für eine Reise in die Heimat.“

Adaire Hall, Schottland

„Sind Sie sicher, dass die Wiege nicht neu ist, Lady Jennifer?“

Jennifer wies den Diener an, die Wiege in eine Ecke des Zimmers zu stellen. Seufzend wandte sie sich an die Hebamme.

„Ja, Mrs. Farmer. Es ist die Wiege der Adaires, in der ich schon gelegen bin.“

Sie hoffte, Mrs. Farmer würde keine weiteren Fragen über die Wiege stellen. Die Hebamme musste nichts von der tragischen Geschichte von Adaire Hall wissen.

Kurz nach der Geburt ihres Bruders hatte ein Feuer den Nordflügel zerstört, in dem das Kinderzimmer lag. Ein Kindermädchen kam in den Flammen um, und ihre Mutter erlitt beim Versuch, ihren kleinen Sohn zu retten, schwere Brandverletzungen, die sie fast erblinden ließen. Die Narben jener Unglücksnacht trug sie ihr ganzes Leben in ihrem einst schönen Antlitz.

„Ich meine ja nur. Es bringt Unglück, ein Neugeborenes in eine neue Wiege zu legen.“

Das wusste Jennifer. Allerdings hatte man sie in eine neue Wiege gelegt, und es hatte ihr nicht geschadet.

Die Hebamme hing allerlei sonderbarem Aberglauben an. So wollte sie unbedingt eine lebende Henne in die leere Wiege legen, um die Geburt eines Sohnes zu garantieren. Jennifer weigerte sich, eine Henne in Laurens Suite gackern zu lassen. Die Spitzenbehänge der Wiege waren gewaschen und gestärkt worden, und Jennifer hatte nach altem Adaire-Brauch eine Silbermünze unter das Kopfkissen gelegt.

Sie hatte auch einen runden Käselaib kommen lassen, den Mrs. Farmer nach der Geburt des Babys anschneiden sollte. Außerdem hatte sie das Küchenpersonal angewiesen, mehrere Johannisbrote zu backen. Jeder, der in dem Monat nach der Geburt des Babys zu Besuch kam, erhielt eine Flasche Adaire-Whisky und ein Johannisbrot.

Diese und eine Reihe weiterer uralter Bräuche begleiteten die Geburt eines Babys.

Allerdings sollte Mrs. Farmer als renommierte Hebamme weniger abergläubischem Unsinn anhängen und sich mehr auf ihre medizinischen Fachkenntnisse besinnen. Ein Hinweis, den Jennifer sich ihr gegenüber versagte. Mrs. Farmer hatte nämlich ein aufbrausendes Temperament.

Die Frau zog sich zurück, um dem Küchenpersonal und der Haushälterin Mrs. Thompson auf die Nerven zu gehen.

Lauren war wieder eingedöst. Sie schlief viel, laut Mrs. Farmer ein gutes Zeichen für einen günstigen Verlauf der Entbindung. Auch Jennifer wollte das Zimmer leise verlassen, ohne ihre Schwägerin zu stören. An der Tür hörte sie Laurens Stimme.

„Willst du mich Mrs. Farmers Willkür überlassen?“

Jennifer warf ihr einen Blick über die Schulter zu.

Bereits vor Wochen war Mrs. Farmer angereist und hatte verkündet, Laurens Vater, Hamish Campbell, habe sie angewiesen, sich um das Wohl seiner Tochter zu kümmern. Jennifer, die glaubte, Mr. Campbell halte sich in Amerika auf, zeigte sich verblüfft, bis sie mit Lauren gesprochen hatte.

„Mein Vater plant alles bis aufs kleinste Detail“, erklärte sie. „Er überlässt nichts dem Zufall.“ Lächelnd streichelte sie ihren runden Bauch. „Natürlich auch nicht sein Enkelkind.“

So kam es, dass Mrs. Farmer das Regiment übernahm und das ganze Haus herumkommandierte. Jennifer und Lauren fühlten sich von ihr eingeschüchtert, da sie die Bedeutung des Wortes Nein nicht verstehen wollte. Und sie duldete keine Widerrede, egal zu welchem Thema. Also fand Jennifer es einfacher, der Frau tunlichst aus dem Weg zu gehen.

Die werdende Mutter konnte ihr natürlich nicht entfliehen.

Jennifer trat an ihr Bett. Die zierliche Lauren wirkte verloren in dem massiven Himmelbett. Schwerfällig rutschte sie an den Bettrand, um sich aufzusetzen. Ihr schimmerndes schwarzes Haar hatte in den letzten Wochen seinen Glanz verloren, und ihre blauen Augen lachten nicht mehr wie früher.

Jennifer vermutete, dass Harrisons Abwesenheit sie bedrückte. Lauren vergötterte ihren Gemahl, der seine junge Frau sträflich vernachlässigte.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Jennifer

Lauren lächelte matt. „Wie ein aufgeblähter Brotteig.“

„Mrs. Farmer meint, die Niederkunft steht kurz bevor.“

Lauren seufzte. „Hoffentlich. Schon, um sie nicht zu enttäuschen.“ Sie richtete sich mühsam zum Sitzen auf und schwang die Beine aus dem Bett. „Sie gibt mir das Gefühl, alles falsch zu machen.“

„Unsinn, du machst alles richtig. Ich bin es doch, die sich ständig ihr Jammern anhören muss. Adaire Hall ist zu groß, zu kalt, zu zugig, zu einsam, voller seltsamer Geräusche. Es gibt Mäuse und Ratten. Vor ihrem Fenster huschen nachts Tiere vorbei.“

„Ihr Schlafzimmer liegt neben meinem“, sagte Lauren mit gefurchter Stirn.

„Genau. Wie kann ein Tier an ihrem Fenster im zweiten Stock vorbeikriechen?“

Endlich lächelte Lauren. „Vielleicht sind es ja Fledermäuse.“

„Oder eine Eule. Oder ein geflügeltes Highland-Monsterfrettchen.“

„Jedenfalls kann sie den Highlands nicht viel abgewinnen“, meinte Lauren.

„Adaire Hall auch nicht.“

„Törichte Person. Es ist wunderschön.“

Jennifer war völlig ihrer Meinung. Sie liebte ihr Elternhaus, und auch Lauren fühlte sich in Adaire Hall wohl.

Zur Überraschung aller hatte Harrison vor zwei Jahren verkündet, er werde heiraten. Später hatte Jennifer erfahren, dass Harrison seine Braut Lauren durch ihre Patentante Ellen kennengelernt hatte, die ein großes Haus in Edinburgh und einen riesigen Bekanntenkreis hatte. Dank Ellens gesellschaftlichen Verbindungen hatte Harrison eine Erbin geheiratet, die einzige Tochter eines schwerreichen schottischen Industriellen.

Die beiden jungen Frauen fanden sich sympathisch und wurden rasch enge Freundinnen. Im Stillen fand Jennifer, Lauren hätte einen besseren Ehemann verdient als ihren Bruder. Den besten Beweis dafür lieferte Harrison selbst, der seit acht Monaten durch Abwesenheit glänzte.

Jennifer half Lauren, ihre Schuhe anzuziehen. Mrs. Farmer hätte ihr zwar gerne strikte Bettruhe bis zur Niederkunft verordnet und danach noch mindestens vierzehn Tage im Wochenbett, doch dagegen lehnte sich Lauren auf. Jeden Morgen schleppte sie sich mühsam die breite Freitreppe nach unten und abends wieder hinauf, wobei ihr diese Ausflüge mit jedem Tag schwerer fielen. Aber Laurens Eigensinn konnte sich mit dem von Mrs. Farmer messen.

„Wie lange wird sie wohl bleiben, denkst du?“

„Nach der Geburt?“, fragte Jennifer. Und als Lauren nickte, fügte sie hinzu: „Vermutlich länger, als uns lieb ist.“

In diesem Moment trat Mrs. Farmer ein.

„Ich soll Ihnen ausrichten, Lady Jennifer, dass sich eine Kutsche dem Anwesen nähert.“

Sie tauschte einen Blick mit Lauren, die mit leuchtenden Augen nach der Haarbürste auf ihrem Nachttisch griff.

Es war zu hoffen, dass Harrison sich endlich auf seine bevorstehende Vaterrolle besann.

2. KAPITEL

Gordon hatte sich ausgemalt, wie Cäsar nach siegreicher Schlacht im Triumphzug nach Adaire Hall zurückzukehren. In seiner Fantasie standen alle vor dem Portal versammelt: Vater, Mutter, McBain und Harrison und natürlich die gesamte Dienerschaft, vom Butler bis zur einfachen Küchenmagd. Und mitten unter ihnen Jennifer mit ihrem strahlenden Lächeln.

Er würde in seiner neuen Karosse vorfahren, schwarz lackiert mit königsblauer Samtpolsterung und vier Messinglampen, gezogen von vier prachtvollen Pferden, der Kutscher in glänzender Livree. Mit staunender Ehrerbietung würde man ihn empfangen.

Das Einzige, was seiner Fantasie entsprach, war die Karosse.

An der Hügelkuppe verlangsamte Peter die Fahrt, als habe Gordon ihn dazu angewiesen.

Vor fünf Jahren hatte die Kutsche, die ihn nach Inverness brachte, beinahe an derselben Stelle angehalten. Gordon hatte lange zurückgeblickt, und der Abschiedsschmerz hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Weniger der Abschied vom Haus und seinen Bewohnern als der Abschied von Jennifer.

Das stattliche Anwesen im Tal hatte für ihn das ganze Unglück der Welt bedeutet.

Er klopfte gegen das Wagendach und wartete, bis Peter die Luke zum Kutschbock öffnete.

„Ich vertrete mir kurz die Beine“, sagte er.

Peter als perfekt geschulter Diener stellte keine Fragen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sein Herr, dem er seit drei Jahren diente, seltsame Anwandlungen hatte.

Der Mittelbau, das älteste und größte Bauwerk, war in späteren Jahrhunderten um Flügelbauten erweitert worden, die dem Anwesen eine klassische U-Form gaben. Der Nordflügel war vor Jahren einem Brand zum Opfer gefallen und nie erneuert worden. Das Zentrum bildete eine weitläufige Gartenanlage, die er gut kannte. Hinter dem Anwesen floss der Bach vorbei, und dahinter lag Loch Adaire, der Zufluchtsort seiner Kindheit.

Zwei Dutzend Kamine spuckten Rauchwolken in den klaren Himmel über den Highlands. Hunderte Fenster blickten im Licht des Nachmittags zu ihm herüber und schienen ihm in goldenen Reflexen der Herbstsonne zuzuzwinkern.

Hier hätte es keine Zukunft für ihn gegeben, aber als er seinem Vater eines Tages eine diesbezügliche Bemerkung machte, war Sean wütend geworden.

„Und was hast du mit deinem Leben vor, Junge?“

„Ich werde reich“, hatte er geantwortet.

Seans Hohngelächter klang ihm noch heute in den Ohren.

Nun war er nicht länger Gordon McDonnell, der Gärtnerjunge. Er war Mr. McDonnell, wohlhabend, erfolgreich und in den Augen mancher Konkurrenten rücksichtslos. Ein vermögender Geschäftsmann aus den schottischen Highlands, einer, dessen Ehrgeiz keine Grenzen kannte.

Dass er zurückkehrte, hatte mehrere Gründe. Er wollte seinem Vater am Sterbebett das geben, was er sich wünschte, sei es Vergebung oder Mitgefühl. Nach fünfjähriger Abwesenheit brachte Gordon seinem Vater etwas mehr Verständnis entgegen. Manche Menschen waren nicht fähig, andere zu lieben. Sean hatte sich nicht um seine Gärtnergehilfen gekümmert, genauso wenig wie um seine Frau oder seinen Sohn. Wenn er überhaupt Gefühle hatte, so galten sie seinen Blumen und exotischen Pflanzen, die er züchtete, und den Gemüsesorten, die unter seiner Pflege gediehen.

Seine Gefühlskälte machte Sean nicht zu einem schlechten Menschen, auch nicht zu jemandem, der zu bedauern war. Gordons Vater war durchaus zufrieden mit sich selbst, und sollte er zum Ende seines Lebens Reue empfinden, so hatte sie vermutlich nichts mit anderen Menschen zu tun.

Gordon wollte nicht sein wie sein Vater, was er in den vergangenen Jahren bewiesen hatte. Er pflegte Freundschaften mit Männern und Frauen. Das Wohl seiner Angestellten und Arbeiter lag ihm am Herzen, er sorgte für ihre Ehefrauen und Kinder. Sean hatte sich ausschließlich für Pflanzen interessiert, während Gordon andere Menschen am Herzen lagen.

Er stieg wieder in die Kutsche und nickte Peter zu, bevor der den Wagenschlag zuklappte.

Und dann rollte der Wagen den Hügel hinunter.

Jennifer wandte sich an Mrs. Farmer. „Können Sie mich ein paar Minuten entbehren?“

„Aber natürlich, nicht wahr, Eure Ladyschaft?“ Der frostige Ton der Hebamme war nicht zu überhören.

Jennifer hätte sich die Frage besser gespart. Sie wurde nicht gebraucht. Mrs. Farmer sah in ihrer Frage höchstens einen Affront.

Wie sollte sie die Gegenwart dieser Frau noch wochenlang ertragen? Seufzend eilte Jennifer die geschwungene Freitreppe nach unten. Als Kinder waren sie zu dritt gerne das Holzgeländer hinuntergerutscht. Ein Wunder, dass keiner gestürzt war und sich verletzt hatte. Gordon war der Mutigste, dann kam Harrison, wobei sie, die Jüngste, das waghalsige Rennen meist gewonnen hatte.

Seither hatte sich so viel verändert. Gordon hatte Adaire Hall den Rücken gekehrt. Harrison führte ein lasterhaftes Leben in London. Nur Jennifer hatte sich nicht geändert, abgesehen davon, dass sie älter geworden war.

Sie betrat die Eingangshalle, als Michaels gerade das Portal öffnete. Die Karosse vor den Steinstufen war keine hauseigene Kutsche. Sie hatte Harrison erwartet, nachdem sie ihn in einem scharfen Brief an seine Pflichten gemahnt hatte. Beim Anblick des glänzend schwarz lackierten, eleganten Wagens dachte sie im ersten Moment an ihre Patentante, aber Ellen hätte ihre Ankunft schriftlich angekündigt.

Ein Mann stieg aus, und plötzlich schien die Zeit rückwärts zu laufen. Es waren keine fünf Jahre vergangen. Sie war wieder die junge, bis über beide Ohren verliebte Frau von damals.

Bei seinem Anblick bekam sie kaum Luft. Er war älter geworden, seine Schultern breiter, sein Brustkorb kräftiger. Er schien auch größer zu sein. Er war schon immer größer als sie, aber nun kam sie sich geradezu winzig vor.

Gordon.

Vermutlich hatte sie etwas zum Butler gesagt. Irgendeine Bemerkung musste sie gemacht haben, sie wusste nur nicht, was genau.

Er kam die Stufen herauf, zögerte kurz am Portal, bevor er eintrat und seinen Hut zog. Sein leicht zerzaustes Haar erinnerte sie daran, wie oft sie mit den Fingern durch seine Locken gefahren war. Er trug einen Mantel aus feinem Tuch, glänzend polierte Schuhe und ein strahlend weißes Hemd. Sie war versucht, ihn zu fragen, wer seine Wäsche machte.

Wie grässlich unschicklich.

„Gordon.“

Er wandte sich ihr zu und sah sie an. Die Welt schien stehen zu bleiben.

Plötzlich tauchte Mrs. Thompson mit zwei Stubenmädchen im Foyer auf. Nein, mit dreien. Du meine Güte, plötzlich hatte die gesamte Dienerschaft sich im Foyer versammelt, und alle begrüßten Gordon wie einen verlorenen Sohn! Und wieso auch nicht? Er war zu allen stets freundlich gewesen, hatte sich nie um hierarchische Normen gekümmert, die in einem Herrenhaus mit großer Dienerschaft zwangsläufig herrschten. Er schien nichts von seiner alten Beliebtheit eingebüßt zu haben.

Aus den Augenwinkeln nahm sie das Lächeln der Hauswirtschafterin wahr. Mrs. Thompson hatte schon immer eine Schwäche für Gordon gehabt.

Er streifte die Handschuhe ab, die der Butler entgegennahm und sie neben seinem Hut ablegte. Vor fünf Jahren hätte er dem Gärtnerjungen diesen Respekt nicht gezollt.

Aber den Jungen gab es nicht mehr, seinen Platz hatte ein Mann eingenommen, der Achtung gebietend wirkte. Gordon war ein Fremder geworden. War sein Blick immer schon so direkt gewesen? So selbstbewusst?

Auch damals war er ein gut aussehender junger Mann gewesen, aber nun strahlte er etwas aus, das die Stubenmädchen seufzen und kichern ließ. Sogar Mrs. Thompson, die sich der Fünfzig näherte, bekam rosige Wangen.

Jennifer hätte gerne alle weggeschickt, um Gordon allein zu begrüßen, doch selbstverständlich tat sie das nicht. Sie hielt sich im Hintergrund und beobachtete stumm den Sturm der Begrüßung.

Er blickte flüchtig in ihre Richtung, beinahe als erkenne er sie nicht.

In den fünf Jahren hatte sie sich nicht so sehr verändert. Fünf sehr lange Jahre.

Ebenso gut könnte ein Fremder vor ihr stehen. Nicht der Gordon, den sie am Seeufer geküsst hatte. Sie erinnerte sich noch immer an seine Lippen auf den ihren und daran, wie sein Gesicht sich unter ihren Fingern angefühlt hatte. Dieser Mann hatte jahrelang ihre Träume beherrscht. Als junges Mädchen hatte sie davon geträumt, ihn zu lieben, ihm ihre Unschuld zu schenken. Das hatte sie sich zum Ziel gesetzt, doch dann war er verschwunden, hatte sie verwirrt und mit gebrochenem Herzen alleine zurückgelassen.

Und plötzlich stand er vor ihr, ein wohlhabender, erfolgreicher Mann. Hatte er geheiratet? Jennifer wünschte sich, sie könnte einen Ehemann vorweisen. Einen, der sie liebte und vergötterte, für den sie die Erfüllung all seiner Sehnsüchte war.

Diesen imaginären Gemahl gab es nicht. Es gab keinen, der stolz auf sie war und ihr sein zärtliches Lächeln schenkte. Alles, was man über sie sagen konnte, war, dass sie eine gute Verwalterin für Adaire Hall abgab.

Nichts, was die Eifersucht eines Mannes wecken könnte.

Fünf Jahre lang hatte sie jeden Tag sehnsüchtig an Gordon gedacht, aber er hatte sie offenbar in dem Moment vergessen, als er Adaire Hall den Rücken kehrte.

Seit drei Jahren hatte sie ihm zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten geschrieben, vom Leben und den Leuten auf Adaire Hall berichtet. Dadurch hatte sie sich mit ihm verbunden gefühlt, obwohl er nie geantwortet hatte. Sie hätte die Korrespondenz einstellen müssen. Aber dann würde er jetzt nicht leibhaftig vor ihr stehen.

Doch Jennifer wollte ihn nicht länger angaffen wie ein liebeskrankes Mondkalb. Sie hatte ihren Stolz, in den sie sich hüllen wollte wie in einen Seidenschal, bevor sie etwas Dummes tun oder sagen konnte und sich zur kompletten Närrin machte.

Jennifer wandte sich an Mrs. Thompson. „Ist die blaue Suite vorbereitet?“ Eine unnötige Frage, da alle Gästezimmer stets in Ordnung gehalten wurden, falls Harrison mit Freunden anreiste.

Während Laurens Schwangerschaft, die der Ärmsten zu schaffen machte und sie häufig zur Bettruhe zwang, hatte Jennifer die Rolle der Hausherrin übernommen. In Wahrheit hatten die Dienstboten sich bereits vor Jahren, seitdem ihre Mutter krank wurde, nach ihren Anweisungen gerichtet. Auf Harrison, wenn er gelegentlich einen kurzen Besuch abstattete, war kein Verlass. Außerdem wollte niemand sich seinen Launen und Wutanfällen aussetzen.

Die Haushälterin nickte. „Ja, Miss Jennifer.“

Für diese formlose Ansprache hätte Harrison Mrs. Thompson und alle Dienstboten scharf zurechtgewiesen. Sie ist Lady Jennifer hätte er brüllend erklärt, sodass man es im ganzen Haus hörte. Jennifer zog einen ungezwungenen Umgangston mit den Dienstboten vor, in denen sie beinahe so etwas wie ihre Familie sah.

Mit der Geburt von Laurens Baby bekam die Familie endlich wieder Zuwachs. Auch wenn der Vater des Kindes durch Abwesenheit glänzen würde.

Niemand verlor ein Wort darüber, dass Gordon McDonnell die eleganteste Gästesuite bewohnen sollte. Er sah ja auch nicht aus wie der Gärtnerjunge von damals. Es lag vielleicht an seiner Körpergröße und seinen breiten Schultern. Möglicherweise hatte es aber auch nichts mit seinem Aussehen zu tun, sondern mit seiner persönlichen Ausstrahlung.

Noch immer hatte Jennifer kein Wort an ihn gerichtet. Und er hatte sie nicht angesprochen.

Das junge verliebte Mädchen von damals wollte alle aus dem Foyer schicken, sich in seine Arme werfen und ihn küssen. Er lächelte, und in ihr keimte etwas auf. Vielleicht eine Erinnerung oder ein Wunsch. Sie wollte die Nächte am See wiederaufleben lassen, in denen sie einander in den Armen lagen.

Jennifer wünschte sich verzweifelt, ihn zu berühren, zu prüfen, ob ihr Traum sich nach fünf Jahren schmerzlicher Sehnsucht tatsächlich erfüllen konnte.

Gordon stand nur wenige Schritte von ihr entfernt.

Wären sie alleine, wäre sie auf ihn zugegangen, hätte die Arme um ihn geschlungen und ihre Wange an seine Brust gelegt. Und all ihr Kummer hätte sich in Nichts aufgelöst.

Wäre ihm das recht gewesen? Sie hatte nicht den Eindruck, dass er sich freute, sie zu sehen.

Ihr höflich zur Schau gestelltes Lächeln begann zu schmerzen. Ihre Augen brannten.

Waren seine Augen auch damals so blau gewesen? Sie konnte die jungenhaften Züge im markanten Gesicht des gereiften Mannes erkennen.

Ihr war, als befinde sie sich im Auge des Sturms, als sehe sie die grellen Blitze, die sturmgepeitschte schwarze Wolken durchzuckten. Aber die Naturgewalten konnten ihr nichts anhaben in ihrem verzauberten Kreis, in dem eine unheimliche Stille und Ruhe herrschte.

„Mrs. Thompson wird dir deine Zimmer zeigen.“ Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, die dünn und kläglich klang. Als sei sie erkältet – darauf würde sie sich hinausreden, wenn er sie danach fragen würde.

Der Butler sah sie forschend an, bevor er den Dienern Anweisungen gab.

„Ich kenne mich aus, Jennifer“, sagte Gordon. „In fünf Jahren habe ich Adaire Hall nicht vergessen.“

Bei trübem Wetter hatten sie im Haus gespielt, waren beim Versteckspiel durch alle Räume gestromert – möglichst leise, um ihre Mutter nicht zu stören. Sie hatten hinter vorgehaltener Hand gekichert und sich in Schränken versteckt. Eines Tages hatte Gordon sie umarmt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.

Tagelang hatte Jennifer an diesen Kuss gedacht. Als sie das nächste Mal allein in einem dunklen Winkel waren, hatte sie sich auf Zehenspitzen gestellt, ihm ihre Hände an die Schultern gelegt und ihren Mund auf seine Lippen.

Er hatte den Atem scharf eingezogen, und sie war erschrocken zurückgewichen.

Adaire Hall hatte er zwar nicht vergessen, aber sie offenbar schon.

„Ja, natürlich“, sagte sie jetzt tonlos, ohne recht bei der Sache zu sein.

Sie trat einen Schritt zurück.

Gordon bedankte sich bei allen für den freundlichen Empfang, auch bei Mrs. Thompson und dem Butler, der ihm versicherte, sein Gepäck werde in die blaue Suite gebracht. Dann machte er kehrt und verließ das Haus.

Jennifer blickte ihm nach, wie er die Stufen hinabstieg und den Weg nach links zum Gärtnerhaus einschlug.

Mrs. Thompson war verschwunden, vermutlich wollte sie prüfen, ob die Gästezimmer in Ordnung waren.

Jennifer machte kehrt und eilte aus dem Foyer.

Gordon hatte sein Kommen nicht angekündigt, aber eigentlich sollte sie darauf vorbereitet sein, nachdem sie ihm Seans schlechten Zustand mitgeteilt hatte. Sie durfte nicht vergessen, dass er ihr in fünf Jahren keine Zeile geschrieben hatte. Fünf Jahre Schweigen, wobei ein einziges Wort von ihm ihr wundes Herz geheilt hätte.

Nun war er wieder zu Hause, aber er sprach noch immer nicht mit ihr.

3. KAPITEL

Jennifer begab sich in ihre Zimmer. Vor ein paar Jahren war sie aus dem von der Familie bewohnten Flügel in einen älteren Teil des Hauses umgezogen. Neben einigen Veränderungen im Schlafgemach hatte sie einen Durchbruch ins angrenzende Zimmer vornehmen lassen, das ihr als Wohnzimmer diente.

Harrison hatte keine Einwände erhoben. Da er sich so selten zu Hause aufhielt, war sie nicht einmal sicher, ob er von den Umbauten wusste, hatte er sich doch nie um die Instandhaltung des Hauses, der Gärten, der Ländereien oder um das Wohl des Gesindes und der Landarbeiter gekümmert.

Adaire Hall diente ihm nur als kurze Bleibe, um irgendeinem Drama in London zu entfliehen. Jennifer, die befürchtete, er könnte Hypotheken auf den Landsitz aufgenommen haben, war es nie gelungen, ihm ein Geständnis zu entlocken. Zweimal in den letzten Jahren hatten Besucher aus Edinburgh und London vorgesprochen. Es hatte sich um Beauftragte einer Bank gehandelt, die das gesamte Anwesen mit einer Sorgfalt inspizierten, als seien sie am Kauf interessiert. Wenn sie Harrison über die Finanzlage von Adaire Hall befragte, reagierte er mit einem Wutausbruch.

Und Harrison war für seine Wutanfälle berüchtigt.

Ihr Bruder präsentierte verschiedene Fassaden, je nach einer gegebenen Situation. Manchmal fragte sie sich, ob er irgendeinem Menschen sein wahres Gesicht zeigte.

Harrison sonnte sich in der Rolle des Earls, scheute jede Verantwortung und führte ein ausschweifendes Leben in London. Alle drei Monate verbrachte er ein paar Tage zu Hause, und das auch nur wegen seiner Mutter. Nach ihrem Tod gab er nicht einmal mehr vor, sich für irgendetwas verantwortlich zu fühlen.

Nicht einmal die Tatsache, dass seine Gemahlin kurz vor der Niederkunft ihres ersten Kindes stand, konnte Harrison bewegen, ihr zur Seite zu stehen. Jennifer hoffte im Stillen, Gordons plötzliches Auftauchen könnte ein Wunder bewirken.

Die beiden Männer hatten sich noch nie verstanden.

Gordon hatte schon als Kind große Pläne. Er wollte mehr sein als der Sohn des Gärtners. Er war groß für sein Alter, hatte einen sehnsüchtigen Blick und immer Zeit für sie. Er war gutmütig und hatte sie stets verteidigt, wenn Harrison gemein zu ihr war.

Seit dem verheerenden Feuer lebte ihre Mutter zurückgezogen, wollte niemand sehen, nur ihre Familie und Ellen, ihre beste Freundin. Nach dem Tod von Jennifers Vater war Gordon der Einzige, der Marys Isolation zu durchbrechen vermochte. Sean hatte versucht, Gordon davon abzuhalten, sich ihr zu nähern, aber meist war Mary Adaire diejenige, die den Gärtnerjungen zu sich rief.

Als Gordon eines Tages im Klassenzimmer erschien und dem Hauslehrer erklärte, er werde von nun an am Unterreicht teilnehmen, wusste Jennifer, dass er nach dem Wunsch ihrer Mutter handelte. Jennifer war begeistert, aber Harrison rannte schreiend aus dem Zimmer, und sein Vormund musste ein Machtwort sprechen, damit er wieder am Unterricht teilnahm.

So kam es, dass die drei Kinder jahrelang im zweiten Stock des Ostflügels gemeinsam die Schulbank drückten, nicht weit entfernt von den Räumen, die Jennifer jetzt bewohnte.

Gordon und sie erbrachten stets bessere schulische Leistungen als Harrison, der andauernd Streit mit Gordon suchte. Wenn Gordon sich wehrte, schrie Sean seinen Sohn an. Der Gärtner vergaß nie, dass Harrison der Earl war, dem absoluter Respekt zu zollen war.

Gordon war von Kindheit an Jennifers Spielkamerad, Freund und Vertrauter, bis die beiden begannen, mehr als Freundschaft füreinander zu empfinden. Und eines Tages war er aus ihrem Leben verschwunden. Als habe er nie existiert.

Nun war Gordon zurückgekehrt, aber der junge Mann, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, war nicht derselbe, der vor wenigen Minuten das Haus betreten hatte. Dieser Mann lächelte nicht, und seine schönen blauen Augen strahlten keine Wärme aus.

War sie all die Jahre in einen Mann verliebt gewesen, den es nicht mehr gab?

Ellen Thornton bedachte ihre Zofe mit einem strafenden Blick, der keinerlei Wirkung auf Abigails Gezeter zeigte. Abigail jammerte ständig auf ihre eigene, wohlerzogene Art. Wenn sie den Eindruck hatte, Ellen habe nicht zugehört, wiederholte sie ihre Klagen.

Eigentlich sollte sie die Frau entlassen, aber Abigail stand seit Jahren in ihren Diensten. Außerdem würde sie kaum eine neue Stellung finden. Nein, sie konnte die Zofe nicht einfach auf die Straße setzen, nur weil sie an allem herumnörgelte. Auch Ellen konnte gelegentlich launisch sein. Wenigstens wagte Abigail es nicht, sich über die gelegentlich schlechte Laune ihrer Herrin zu beschweren.

Heute übertrieb Abigail es allerdings mit ihren Nörgeleien. Das Wetter war zu kühl und windig, das Mittagessen war ihr nicht bekommen, und im Übrigen war sie der Meinung, dieses ganze Unternehmen stehe unter keinem guten Stern. Ellen hingegen war der Ansicht, Abigail könnte von Glück sprechen, wenn ihr nicht demnächst der Geduldsfaden endgültig riss.

Allerdings teilte sie die Meinung ihrer Zofe im Hinblick auf besagtes Unternehmen. Aber es gab Momente im Leben, wo man in den sauren Apfel beißen musste, und dies war ein solcher Moment. Ellen Thornton war im Begriff, ihren guten Ruf als Witwe eines sehr wohlhabenden Mannes aufs Spiel zu setzen, um Mary Adaires Sohn zur Vernunft zu bringen.

Vor einer Woche hatte sie einen Brief von ihrer Patentochter Jennifer erhalten, der sie davon unterrichtete, dass Harrisons Gemahlin in etwa einem Monat ihr erstes Kind zur Welt bringen würde. Man sollte meinen, dieses Ereignis würde den sechsten Earl of Burfield zur Vernunft bringen. Jennifer befürchtete jedoch, Harrison könnte sich weiterhin in London seinem Lotterleben hingeben und das Adaire-Vermögen mit seiner Spielsucht verschleudern.

Autor

Karen Ranney
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