Historical Exklusiv Band 54

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DIE GELIEBTE DES REBELLEN von LANGAN, RUTH
Die Nacht, in der man AnnaClaire den schwer verletzten irischen Rebellen Rory O'Neil ins Haus bringt, verändert ihr Leben! Hingebungsvoll pflegt sie den attraktiven Iren gesund und gibt sich ihm voller Leidenschaft hin. Doch dann wird Rory von englischen Häschern aufgespürt und nach London gebracht. Um ihre große Liebe zu retten, hat AnnaClaire noch eine einzige Chance: Sie muss die englische Königin um Gnade anflehen!

MISS SYLVIES UNSCHICKLICHES GEHEIMNIS von BRENDAN, MARY
England, 1816: Ihr untadeliger Ruf ist in Gefahr! Sylvies Schicksal und ihre Zukunft liegen ausgerechnet in den Händen von Adam Townsend, dem berüchtigten Marquess of Rockingham. Denn nur er weiß, in welch unschickliche Lage sich die rebellische Sylvie gebracht hat. Wird es ihr gelingen, den adligen Frauenschwarm zum Schweigen zu bringen - indem sie seine verführerischen Lippen mit federleichten Küssen versiegelt?


  • Erscheinungstag 11.08.2015
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760762
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ruth Langan, Mary Brendan

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 54

PROLOG

Irland, 1560

Vor der Kapelle von Ballinarin, seit Menschengedenken der Stammsitz der O’Neils, erklang leises Stimmengewirr der vielen Menschen, sowohl Familienangehörigen als auch Freunden, die teilweise von so weit her wie Castle Malahide in Dublin und Castle Bunratty in Clare angereist waren. Es herrschte eine festliche, erwartungsvolle Atmosphäre, denn sie alle waren gekommen, um Zeugen zu sein, wie sich Rory O’Neil, der Erstgeborene von Gavin und Moira, und seine geliebte Caitlin Maguire das Jawort gaben.

In einem kleinen Nebenraum im hinteren Teil der Kapelle ging Rory unruhig hin und her. Sein Bruder Conor stand inzwischen an der Tür und beobachtete die Ankunft weiterer Gäste.

„Wo bleibt sie nur?“ Rory hielt inne. Die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster drangen, verliehen seinem dunklen Haar einen blauschwarzen Schimmer. Der Bräutigam sah in seiner schwarzen Gewandung prächtig aus. Dieser Eindruck wurde von dem kunstvoll über eine Schulter geworfenen Umhang, in den das O’Neil-Wappen eingestickt war, vervollkommnet.

„Es steht nicht zu befürchten, dass sie ihre Meinung geändert hat“, sagte Conor. „Das Mädchen liebt dich schon, seit es eine eigene Meinung formulieren kann. Hab einfach noch etwas Geduld.“

„Hör mir doch damit auf“, stieß Rory unbeherrscht hervor, und sein Bruder schmunzelte vergnügt.

„Wie recht du hast“, erwiderte Conor. „Geduld zählte noch nie zu deinen Tugenden. Aber in diesem Fall solltest du etwas mehr Verständnis aufbringen. Gib Caitlin Gelegenheit, sich so schön wie möglich für ihren Gatten herzurichten.“

„Sie kann gar nicht schöner werden, als sie bereits ist. Und warum sollte ich mich noch gedulden? Mein Leben lang habe ich bereits auf diesen Tag gewartet.“

„Wie wahr! Es scheint, als ob du schon immer in sie verliebt warst.“

„Seit ich ein Junge von gerade zwölf Jahren war“, bestätigte Rory lächelnd. Mit diesem Lächeln hatte er von jeher jedes Mädchen zwischen Cork und Derry in seinen Bann gezogen. Es gab wohl keine junge Frau, die nicht von einer gemeinsamen Zukunft mit dem ältesten O’Neil-Sohn geträumt hätte.

Doch Rory hatte stets ausschließlich Augen für Caitlin gehabt. „Nur für sie bin ich geboren worden“, erklärte er im Brustton der Überzeugung. „Conor, mit dem heutigen Tage wird meine Existenz vollkommen sein.“ In gedämpftem Tonfall fügte er hinzu: „Habe ich dir erzählt, dass ich mich gestern Abend zu ihr geschlichen und ihr gesagt habe, dass ich nicht mehr bis heute warten könne? Ich wollte, dass sie sich auf der Stelle zu mir legt.“

Conor warf den Kopf zurück und lachte lauthals. „Pass bloß auf, dass Pater Malone nichts von deinen verwerflichen Absichten erfährt.“

„Das wäre nicht weiter schlimm, denn Caitlin verweigerte sich meinem Wunsch. Sie sagte, erst in der Hochzeitsnacht würde sie sich mit mir vereinen. Ihre Unschuld soll ein besonderes Geschenk für ihren Gatten sein.“

„In Anbetracht all der vielen aufgestauten liebevollen Gefühle wird deine Hochzeitsnacht ein unvergessliches Erlebnis werden.“

In diesem Moment wurde die Tür ungestüm aufgerissen, und die Brüder wandten sich um. Ein junges Mädchen, das ein Gewand aus rosafarbener Seide trug, stürmte herein.

„Ich hatte schon Angst, ich würde zu spät kommen!“

„Zu spät für was, Briana?“ Liebevoll lächelte Rory beim Anblick seiner kleinen Schwester. Ihr hüftlanges flammend rotes Haar war vom Wind zerzaust, ihre Wangen schienen zu glühen. Sie atmete stoßweise, und Rory vermutete, dass sie den ganzen Weg vom Hauptturm der Burganlagen bis zur Kapelle gerannt war, wie sie überhaupt in ihrem jungen Leben stets laufen musste, um mit ihren Brüdern Schritt halten zu können.

„Zu spät, meinem Bruder einen Kuss zu geben, bevor er mich für immer verlässt“, gab Briana atemlos zur Antwort.

„Du tust ja gerade so, als ob ich fortgehen würde. Dabei werden Caitlin und ich doch hier auf Ballinarin wohnen.“

„Ja, aber du wirst ein Ehemann sein.“ Briana lachte, wobei die Grübchen in ihren Wangen sichtbar wurden, und ihre Brüder wussten, dass sie zumindest einiges von ihrer Unterhaltung gehört hatte. Doch gleichzeitig konnten sie sich darauf verlassen, dass Briana ihr Wissen für sich behalten würde. Jetzt fügte sie hinzu: „Und so, wie ihr beide auch anseht, vermute ich, dass du sehr schnell auch Vater sein wirst. Und dann wirst du keine Zeit mehr für deine Schwester haben.“

Rory zog das junge Mädchen an sich und küsste es zärtlich auf die Stirn. „Ich werde immer Zeit für dich haben, Briana“, versicherte er. „Außerdem kannst du jeden Tag zu uns kommen und Caitlin mit den Kleinen helfen.“

„Wie viele Kinder wünschst du dir?“, erkundigte sie sich.

„Mindestens ein Dutzend. Die Jungen werden ihrem Vater ähneln, und die Mädchen werden wie ihre Mutter dunkles Haar haben und eine Haut so klar wie das Wasser des Shannon. Außerdem werden sie so wunderschön sein, dass ich sie werde einsperren müssen, um sie vor den jungen Männern dieser Gegend zu schützen.“

Briana und Conor lachten über diese schwärmerischen Worte fröhlich und unbeschwert, und Conor meinte: „Siehst du, Bruderherz, das ist es, was ich an dir sosehr mag. Wenn du von der Zukunft träumst, sind diese Träume immer so überwältigend und großartig. Ich hoffe für dich, dass es nicht umgekehrt kommt und deine Söhne klein und zierlich wie ihre Mutter werden und deine Töchter solche Riesen, wie du einer bist.“

„Ganz gewiss nicht“, entgegnete Rory bestimmt. „Sie werden …“ Er hielt inne, denn draußen vor der Kapelle vernahmen sie Geräusche, die auf einen Tumult hinwiesen. Erleichtert lächelte er. „Na endlich. Ich dachte schon …“ Abermals brach Rory mitten im Satz ab. Das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. Alarmiert lauschte er auf die plötzlichen lauten Rufe, in die immer mehr Gäste einfielen, und eilte durch die Kapelle nach draußen.

In der Nähe des Eingangs stand ein Junge von sechs oder sieben Jahren, der wild gestikulierte und unzusammenhängende Worte hervorstieß. Seine Kleider waren schmutzig und zerrissen und wiesen Blutspuren auf.

Rory bahnte sich einen Weg durch die Menge, ging vor dem Kind in die Hocke und umfasste dessen Schultern. In einem Anflug von Panik erkannte er in dem Jungen einen Sohn von Caitlins ältestem Bruder.

„Was ist passiert, Innis? Wo sind die anderen?“

„Neben der Straße … In der Biegung … Englische Soldaten … Mehr als ein Dutzend!“

Rory verdrängte mit aller Kraft das Gefühl aufsteigenden Entsetzens. Stattdessen verlangte er: „Innis, erzähl endlich, was geschehen ist!“

Offenkundig hatte der kleine Junge Entsetzliches gesehen. Er zitterte am ganzen Körper, als er hervorstieß: „Mein Vater fiel auf mich. Ich konnte mich nicht rühren. Ich musste alles mit ansehen. Oh Rory, sie sind alle tot!“

„Nein!“ Rory ließ das Kind los, richtete sich auf und stürmte zu einem Pferd, das an einem Baum festgebunden war. Er griff nach den Zügeln, machte es los und schwang sich auf den Rücken des Tieres. Dann preschte er davon. Er hörte noch, wie andere Reiter ihm folgten, sah aber nicht zurück.

Noch bevor er die Wegbiegung erreichte, hatte Rory bereits die gespenstische Stille wahrgenommen. Kein Vogelgezwitscher, keine raschelnden Bewegungen irgendwelcher anderer Tiere. Es schien, als hielte das Land den Atem an.

Und dann sah er sie, die vielen leblosen Körper – sowohl von Menschen als auch von Tieren. Die Pferde, in deren Hälsen noch die Lanzen steckten. Die wagemutigen Männer, die augenscheinlich bis zu ihrem letzten Atemzug erbittert gekämpft hatten. Manche hielten noch im Tod den Griff ihrer Schwerter umklammert. Doch am schlimmsten hatten die Angreifer unter den Frauen gewütet.

Rory sah etwas Weißes im Wind flattern. Nur an ihrem Brautkleid, das von rohen Händen zerrissen worden war, konnte er Caitlin erkennen. Erschüttert kniete er neben seiner toten Liebsten. Ihr teilweise entblößter Körper wies Spuren auf, die Zeugnis ablegten von der Gewalt, die man ihr angetan hatte, bevor sie brutal ermordet worden war.

Mit einem markerschütternden Aufschrei riss Rory die leblose Gestalt an sich und barg das Gesicht in ihrem von Blut verklebten Haar. Er wurde von unkontrollierbaren Schluchzern geschüttelt. Ihm war, als würde ihm das Herz in Stücke gerissen.

„Rory, um Himmels willen!“ Voller Entsetzen stand Conor neben seinem Bruder. Hilflos musste er mit ansehen, wie Rory in unartikulierter Raserei seinem unendlichen Schmerz Luft machte. Er schämte sich seiner Tränen nicht.

Nach und nach trafen immer mehr Menschen an der Stätte des Grauens ein. Gavin O’Neil ging zu seinem ältesten Sohn. Seine Stimme bebte, als er sagte: „Rory, wir wissen, wer für dieses Massaker verantwortlich ist. Innis hat gehört, wie der Anführer der Horde ‚Tilden‘ genannt wurde. Er beschrieb ihn als groß und muskulös, mit gelblichem Haar und einem von einer Narbe, die vom linken Auge bis zum Kinn reicht, entstellten Gesicht.“

„Ich werde ihn finden.“ Rory nahm seinen Umhang ab und bedeckte Caitlins geschändeten Körper damit. Dann stand er auf, wobei er die junge Frau, die er heute hätte heiraten sollen, fest an sich gepresst hochhob. Heute Nacht hätte sie in seinen Armen, in seinem Bett liegen sollen. Stattdessen würde sie nun für alle Zeit in kalter Erde liegen.

Rory schaute in die Runde. Er war umringt von seiner Familie, Freunden und entfernten Verwandten, die alle fassungslos vor sich hin weinten. Seine eigenen Tränen waren versiegt. In seine Augen war ein harter, kalter Ausdruck getreten. Starr blickte Rory auf die Verwüstung um sich herum. „Ich gebe euch mein Wort, dass ich nicht eher ruhen werde, als bis ich den englischen Bastard gefunden habe, der uns das hier angetan hat.“

Gavin legte seinem Erstgeborenen eine Hand auf die Schulter. „Wir holen einen Wagen, um sie und die anderen von hier fortzubringen.“

Schroff schüttelte Rory die Hand seines Vaters ab. „Niemand wird Caitlin anrühren. Ich werde sie tragen. Das ist alles, was ich jetzt noch für sie tun kann.“

Es war eine traurige, schweigsame Prozession, die sich auf den Weg zurück zur Kapelle machte. An ihrer Spitze schritt Rory in blut- und schmutzverkrusteter Kleidung. Caitlin auf seinen Armen war vollständig von seinem Umhang verhüllt – bis auf eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars.

An der Kapelle angelangt, blieb Rory stehen. Er hielt Caitlin solange auf den Armen, bis ihr Grab fertig war und Pater Malone die Worte sprach, mit denen der leblose Körper der heiligen Erde übergeben wurde.

Stundenlang verharrte Rory schweigend in kniender Haltung an dem Erdhügel, unter dem seine Liebste nun ruhte, während auch all die anderen Opfer des brutalen Überfalls beerdigt wurden.

Rory sah auf die vielen frischen Gräber und richtete schließlich den Blick in die Ferne. Still scharten sich seine Angehörigen um ihn. Endlich wandte er sich an seine Eltern, umarmte erst seine Mutter und seinen Vater, um dann seine Schwester sacht auf die Wange zu küssen.

Brianas leises Weinen ging in lautes Schluchzen über. „Du darfst nicht fortgehen, Rory“, schrie sie verzweifelt. „Bitte, bleib hier. Wenn du gehst, werde ich dich niemals wieder sehen!“

„Pscht, meine Kleine.“ Rory umarmte das Mädchen, wobei er ihm zuflüsterte: „Ich werde zurückkehren. Vertrau mir!“

Conor umfasste den Ellbogen seines Bruders. „Darf ich dich begleiten?“

Entschieden schüttelte Rory den Kopf. „Nein, das ist eine Mission, die ich allein bewältigen muss. Du wirst hier gebraucht.“ Er wandte sich an seine Mutter, die hinter dem kleinen Innis stand und dessen schmale Schultern umfasst hielt. „Mutter, werdet Ihr Euch um den Knaben kümmern?“

Moira O’Neil nickte. „Ich werde ihn als meinen Sohn ansehen, bis mein eigener heimkehrt.“

Rory schnallte sich sein Schwert um und steckte je einen Dolch in einen Stiefelschaft und seinen Taillengurt.

Sein Vater streifte sich den Umhang mit dem O’Neil-Wappen ab und legte ihn seinem Sohn um die Schultern. Dann hob er eine Hand in segnender Gebärde. „Möge Gott dich begleiten, Rory, und dich wohlbehalten zu denen zurückbringen, die dich lieben.“

Ohne ein weiteres Wort schwang sich Rory auf sein Pferd. Er warf noch einen letzten Blick zurück auf Ballinarin.

In der Ferne erhob sich majestätisch der Croagh Patrick. Der Berg, der über das Land zu wachen schien, wechselte je nach Tageszeit die Farbe. Im Moment wirkte er weich im zartrosa Licht der untergehenden Sonne. Die Hänge waren bedeckt von Sträuchern, Gestrüpp und Büschen, und am Fuße des Croagh Patrick gab es hohe Koniferen und uralte, große Rhododendren, deren Blüten weithin leuchteten.

Rory liebte dieses Land trotz oder gerade wegen der gelegentlich unwirtlich anmutenden Landschaft. Hier war der einzige Ort auf Erden, wo er je hatte sein wollen. Doch die Idylle seiner Heimat hatte sich als trügerisch erwiesen. Wegen der grauenvollen Dinge, die an diesem Ort geschehen waren, musste er Irland verlassen.

Seine Reise würde ihn weit fortführen von allem, was ihm lieb und teuer war, und zwar für Jahre, wenn nicht gar für den Rest seines Lebens. Denn es gab keine Rückkehr für ihn, solange er seinen Schwur nicht erfüllt hatte.

1. KAPITEL

County Dublin, 1562

So viele von ihnen, Rory.“ Die Stimme war kaum lauter als das Rascheln der Blätter im Wind. Ein halbes Dutzend Gestalten hielt sich im Schilf am Ufer der Liffey verborgen und beobachtete die englischen Soldaten, die ausgelassen in dem Fluss badeten.

„In der Tat“, entgegnete Rory und sah den Bauern, der neben ihm kniete, an. „Ich hatte gehofft, sie wären in einer kleineren Gruppe unterwegs. Aber es sieht so aus, als seien beinahe fünfzig der Bastarde hier zu einem fröhlichen Bad versammelt.“

„Seit die Engländer die heilsamen Kräfte der heißen Quellen entdeckt haben, ist der Fluss zu einem ihrer liebsten Treffpunkte geworden“, erklärte der Bauer und rümpfte ob des starken Schwefelgeruchs in der Luft die Nase. Dann setzte er verbittert hinzu: „Hier können sie sich entspannen, wenn sie sich mal wieder einen Spaß daraus gemacht haben, einige von uns zu töten.“

Rory beobachtete unverwandt das Treiben am Fluss. „Bist du sicher, dass der mit der Narbe unter ihnen ist?“

Angestrengt spähte der Bauer in die Ferne. „Ich habe ihn noch nicht entdeckt. Aber er war auf jeden Fall gestern dabei, als einige dieser Bastarde meine Tochter in den Feldern entdeckten und Grauenvolles mit ihr taten.“ Sein Tonfall verriet die Qual, die er empfand. „Sie ist erst elf, Rory …“ Dem Bauern versagte die Stimme. Erst nach einer Weile fuhr er fort: „Der mit der Narbe bestand darauf, meinem Kind als Erster Gewalt anzutun. Von meiner Tochter erfuhren wir, dass er jeden, der nicht mitmachen wollte, verhöhnte und verspottete.“

Rory legte dem Bauern mitfühlend eine Hand auf den Arm, als dieser hasserfüllt zischte: „Ich will derjenige sein, der diesen Schweinehund tötet.“

„Ich weiß, wie dir zumute ist, Seamus“, versicherte Rory. „Aber du hast schon genug getan. Geh jetzt nach Hause zu deiner Familie.“

„Ich finde erst Ruhe, wenn ich seine Leiche sehe.“ Seamus berührte die einzige Waffe, die er besaß, ein kleines Messer mit einer gebogenen Klinge.

„Aber deine Familie braucht dich“, wandte Rory ein. „Wer sonst soll für sie sorgen und sie beschützen? Also, geh jetzt und vertrau uns, dass wir es den Engländern heimzahlen werden.“

„Du wirst ihn töten, Rory? Für meine kleine Fiona und für mich?“

„Ja.“ Für Caitlin, dachte Rory, ganz besonders für Caitlin.

Seamus bemerkte den Ausdruck mörderischen Hasses in seinen Augen und hatte keinen Zweifel daran, dass er fürchterliche Rache üben würde für das Leid und die Schande, die die Engländer über seine Familie gebracht hatten.

Rory O’Neils Ruf als furchtloser Krieger, der einen erbarmungslosen Rachefeldzug gegen die Engländer führte, hatte sich in den vergangenen zwei Jahren bis in den letzten Winkel Irlands verbreitet. Wo auch immer es zu einem Kampf zwischen Iren und den Soldaten Ihrer Majestät kam, war Rory an vorderster Front anzutreffen.

Er hatte mittlerweile so viele Engländer getötet, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt worden war. Landauf, landab wurde er der „Blackhearted O’Neil“, genannt. Diesen Namen verdankte er der Erbarmungslosigkeit, mit der er von seinem Schwert Gebrauch machte.

Doch obwohl sogar jedes Kind in Irland seine genaue Personenbeschreibung kannte, wurde Rory von seinem Volk dermaßen geliebt, dass er darauf vertrauen konnte, in jeder Stadt und jedem Dorf sicheren Unterschlupf vor seinen Häschern zu finden. Wo er auch auftauchte, fand er Kämpfer, die sich ihm anschlossen.

„Wie lange müssen wir noch warten?“, flüsterte einer der jungen Männer, nachdem der Bauer verschwunden war.

„Geduld, Colin“, mahnte Rory. „Bald ist es so weit.“ Er beobachtete, wie auch die letzten der Soldaten, abgesehen von wenigen, die Wache halten mussten, ihre Sachen ablegten und ins Wasser wateten. Unbekümmert schwammen sie herum und bespritzten sich gegenseitig unter lautem Lachen mit Wasser.

„Seid ihr bereit?“ Rory erhob sich und zog sein Schwert aus der Scheide. Seine Männer taten es ihm gleich, und plötzlich schien die Luft erfüllt von erregter Vorfreude. Niemand sprach, alle warteten gespannt auf das Signal ihres Anführers.

„Jetzt“, flüsterte Rory grimmig.

Unter ohrenbetäubendem Gebrüll stürmten die Angreifer die Uferböschung hinunter. Bevor die englischen Wachen auch nur ihre Schwerter zücken konnten, waren sie von den Iren bereits überrannt worden. Die Soldaten, die wenige Augenblicke zuvor noch sorglos ihr Bad genossen hatten, versuchten entsetzt, zu ihren Waffen zu kommen. Zwar waren sie ihren Angreifern zahlenmäßig weit überlegen, befanden sich jedoch durch den Überraschungseffekt der Attacke erheblich im Nachteil.

Mit geschmeidigen Bewegungen glitt Rory durch das Wasser, wobei er unablässig sein Schwert schwang. Jedes Mal, wenn er dabei einen Soldaten traf, blickte er diesem angespannt ins Gesicht. Er hielt Ausschau nach dem Mann mit dem von einer Narbe entstellten Gesicht und war stets zutiefst enttäuscht, wenn sich seine Hoffnung erneut nicht erfüllte.

Für die Söldner, die durch sein Schwert ums Leben kamen, empfand er schon lange nichts mehr. Auch für das Stöhnen und die spitzen Schmerzensschreie der von ihm tödlich verwundeten Gegner war Rory im Laufe der Zeit taub geworden. Lediglich das Gesicht seiner geliebten Caitlin konnte er niemals aus seiner Vorstellung verbannen, noch war es ihm möglich, das Bild seiner von den Engländern furchtbar zugerichteten toten Braut aus der Erinnerung zu löschen.

Diese Erinnerung trieb ihn dazu, rastlos und von erbitterter Rachsucht geleitet, mit der unbarmherzigen Verfolgung fortzufahren.

Als er jetzt über einen der im Wasser treibenden leblosen Körper stieg, entdeckte er plötzlich einen gelblichen Haarschopf.

Endlich, dachte er, wobei plötzliche Euphorie wie eine Flamme in ihm hochschoss, erfüllt sich meine Bestimmung.

Mit einem kaum noch als menschlich zu erkennenden Schrei stürzte er sich auf den jungen Soldaten, der ihn vor Schreck wie gelähmt ansah. Rorys Blick war getrübt von grenzenloser Rachsucht und dem Glücksgefühl seines unausweichlichen Sieges. „Jetzt, Tilden“, rief er, „wirst du die Rache von Rory O’Neil kosten!“

Er holte zu einem gewaltigen Schlag mit seinem Schwert aus. Nichts und niemand konnte jetzt noch die fürchterliche Wucht aufhalten, mit der der Mann getroffen wurde. Zu spät erkannte Rory seinen Fehler. Sein Gegner hatte keine Narbe im Gesicht! Vielmehr sah Rory die Züge eines Jünglings vor sich, der die Augen vor Entsetzen aufgerissen und den Mund zu einem Schrei geöffnet hatte.

Doch bevor er auch nur einen Laut von sich geben konnte, war der Soldat bereits tot. Mit einem Male war Rory von Grauen und Abscheu erfüllt. Erst jetzt nahm er die Szenerie um sich herum wahr. Kein einziger englischer Soldat hatte den Angriff überlebt. Wie lange hatte das Gemetzel gedauert? Rory wusste es nicht.

Zeit hatte für ihn keinerlei Bedeutung. War er wirklich schon zwei Jahre auf seinem Rachefeldzug unterwegs? Manchmal fühlte er sich völlig erschöpft und ausgebrannt. Die Vorstellung, nach Ballinarin zurückzukehren, war an manchen Tagen so verlockend, dass Rory kurz davor war, der Versuchung nachzugeben.

Doch dann sah er in Gedanken wieder seine geliebte Caitlin vor sich und wusste, dass er seinen Schwur halten würde, egal, was das Schicksal noch für ihn bereithielt und wie unvorstellbar müde er oft war.

Erst wenn er den Engländer getötet hatte, der für Caitlins Schicksal und das ihrer ganzen Familie verantwortlich war, würde er Frieden finden.

Noch ein wenig benommen schaute sich Rory um. Seine Männer hatten sich am Ufer versammelt und warteten auf neue Anweisungen.

„Kommt, Leute, wir ziehen weiter“, forderte er sie auf. Entschlossen verdrängte er das Gefühl der Erschöpfung. „Wenn wir uns beeilen, können wir heute Nacht in Dublin schlafen.“

„Es tut mir leid, dass ich dich verlassen muss, AnnaClaire.“ Lord Thompson griff nach der Hand seiner Tochter.

„Ich verstehe Euch, Vater“, versicherte sie. „Ihr habt Pflichten, denen Ihr nachgehen müsst.“

„Aber so bald nach Margarets Tod …“

AnnaClaire berührte mit dem Finger sacht seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Jeden Tag meines Lebens werde ich Mutter vermissen“, erklärte sie. „Und ich weiß, dass sie Euch ebenfalls fehlt. Aber ich kann nicht von Euch verlangen, dass Ihr alles aufgebt und Eure Tage damit zubringt, meine Hand zu halten.“

„Der Schmerz ist noch so frisch.“

„Ja, ich glaube, dass ich auch in einem Jahr noch immer um sie trauere. Doch ich werde Möglichkeiten finden, mich abzulenken. Das verspreche ich Euch.“

„Ich wünschte, du würdest deine Meinung ändern und mich begleiten.“

„Vater, wir haben schon so oft darüber gesprochen. Ich bin einfach noch nicht bereit, Mutters Zuhause zu verlassen … und ihr Grab.“

Lord Thompson seufzte. „Ich weiß, und ich verstehe, meine Liebe. Deshalb habe ich Lord Davis gebeten, sich um dich zu kümmern. Und Lady Alice Thornly plant ein glanzvolles Festmahl, zu dem sie dich einladen wird. Wie ich hörte, werden einige interessante Männer anwesend sein, die erst kürzlich aus England eingetroffen sind. Vielleicht ist ja einer darunter, der deine Aufmerksamkeit erregt.“

AnnaClaire rang sich ein Lächeln ab. „Ach, Vater, Ihr könnt einfach nicht aus Eurer Haut heraus.“

„Aber ist das nicht verständlich?“, wandte James Thompson ein. „Du brauchst einen Gatten und eine Familie. Du lebst weit entfernt von deinem Zuhause und hast nicht einmal mehr die Möglichkeit, auf den Schutz und die Unterstützung durch deine Mutter zu bauen. Und nun lässt dich dein Vater auch noch im Stich.“

„Das stimmt doch gar nicht, Vater“, widersprach AnnaClaire. „Schließlich habt Ihr selbst versprochen, zu meinem Geburtstag wieder hier zu sein.“

„Und zu meinem Wort stehe ich“, bekräftigte Lord Thompson. „Mir wäre einfach wohler zumute, wenn ich dich während meiner Abwesenheit in der Obhut eines jungen Mannes wüsste.“

„Nun, stattdessen passt eben ein alter Mann auf mich auf. Lord Davis ist ein Schatz.“

„Ja, aber leider nicht das, was ich mir vorstelle.“ Lord Thompson wandte sich um und beobachtete, wie seine Reisetruhen verladen wurden. „Ich möchte nicht, dass du wartest, bis mein Schiff ablegt. Es gefällt mir überhaupt nicht, wenn du dich unter die Einheimischen mischst. Die Zeiten sind unruhig.“ Besorgt schaute er sich um. Wie üblich herrschte am Hafen reges Treiben.

Gleich darauf sah er, dass seine Tochter zu einem Widerspruch ansetzte, und fügte schnell hinzu: „Geh jetzt, mein Kind. Tavis wartet an der Kutsche auf dich. Gehab dich wohl, und sitze nicht untätig herum. Pass immer gut auf dich auf.“

„Gott beschütze Euch, Vater.“ AnnaClaire wandte sich um und war schon bald in der Menge verschwunden.

Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Seewasser, Erde und Menschen. Eine bunte Mischung von wohlhabenden Grundbesitzern, Armen und Ärmsten tummelte sich am heutigen Markttag im Hafen von Dublin. Straßenhändler boten lautstark ihre Waren feil, kleine Jungen von höchstens neun oder zehn Jahren schoben Karren, die schwer mit Muscheln und Krebsen beladen waren. Ältere Fischer mit von Wind und Sonne wie Leder gegerbter Haut flickten in aller Ruhe ihre Netze, ohne sich im Geringsten von dem lauten Treiben ringsum stören zu lassen.

AnnaClaire verspürte einen winzigen Stich in der Herzgegend. Seit frühester Kindheit liebte sie das Leben, die Gerüche und Geräusche von Dublin.

Nun sah sie, wie eine Gruppe englischer Soldaten von Bord der „Greenley“, einem Schiff Ihrer Majestät, der Königin Elizabeth, ging. Sie waren offenkundig erst vor Kurzem nach der langen Kanalüberfahrt in Irland eingetroffen und bahnten sich jetzt rücksichtslos ihren Weg durch die Menschenmenge.

AnnaClaire erkannte, dass sie mindestens ein halbes Dutzend Abgesandter der englischen Königin eskortierten. Elizabeth entsandte jeden Monat mehr hochrangige Engländer nach Irland, die das so genannte „irische Problem“, lösen sollten.

„Aus dem Wege, ihr Lumpenpack!“ Einer der Soldaten hob drohend sein Schwert, und die Menschen wichen zurück.

AnnaClaire fühlte, wie sich Abscheu und Widerstand in ihr regten. Jedes Mal, wenn weitere englischer Soldaten an irischen Küsten an Land gingen, wuchsen Unzufriedenheit und Ablehnung unter der einheimischen Bevölkerung, und das nicht ohne Grund. So manche der rauen Gesellen, die daheim in England als Abschaum galten, spielten sich in Irland auf, als wollten sie den Iren beweisen, dass sie ihnen in jeder Hinsicht überlegen waren.

AnnaClaires Aufmerksamkeit wurde auf eine junge Frau gelenkt, die ein kleines Mädchen, gewiss nur wenig älter als zwei Jahre, an der Hand hielt und versuchte, es mit sich zu ziehen, während die Soldaten geradewegs auf sie zu marschierten. Plötzlich riss sich die Kleine los und lief auf die Engländer zu.

„Oh nein! Bitte, jemand muss sie aufhalten!“, rief die junge Frau.

AnnaClaire traute kaum ihren Augen, denn die Soldaten schritten ungerührt weiter geradeaus, von einer dichten Menschenmenge flankiert. Das Kind würde totgetrampelt werden!

Ohne zu überlegen oder einen Gedanken an ihre eigene Sicherheit zu verschwenden, hastete AnnaClaire nach vorn und riss das Mädchen hoch. Im nächsten Moment marschierten die Soldaten an ihr vorbei.

„Danke, Mistress.“ In den Augen der jungen Frau schimmerten Tränen der Erleichterung und Dankbarkeit. Sie küsste AnnaClaires Hände und schloss dann ihre kleine Tochter in die Arme.

„Das war doch selbstverständlich“, versicherte AnnaClaire und fuhr fort: „Ich kann nicht glauben, dass die Männer nicht gesehen haben, was vor sich ging.“

„Die haben alles gesehen.“ Die Frau machte eine verächtliche Handbewegung. „Aber es kümmert sie nicht. Unser Leben bedeutet ihnen nichts.“ Mit gedämpfter Stimme fügte sie hinzu: „Doch schon sehr bald werden sie den Stachel des Blackhearted O’Neil zu spüren bekommen.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Er ist hier“, wisperte die junge Mutter kaum hörbar. „Es wird gesagt, er sei in diesem Augenblick irgendwo in der Menge.“

„Wer ist hier?“ AnnaClaire sprach jetzt ebenfalls sehr leise, obwohl sie keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging.

„Rory O’Neil, dem Himmel sei Dank! Er ist gekommen, um der Ungerechtigkeit ein Ende zu machen.“ Plötzlich riss sie ungläubig die Augen auf. „Da ist er. Kommt, Mistress. Wir dürfen hier nicht länger herumstehen. Es hat schon angefangen.“

AnnaClaire nahm ein allgemeines Raunen wahr, verstand aber nicht mehr als zuvor, was hier in Dublin vor sich ging.

„Wir haben keine Zeit mehr. Schnell, folgt mir!“ Die junge Frau zog AnnaClaire mit sich, bevor diese dagegen protestieren konnte. Im nächsten Moment tauchte eine Gruppe zerlumpter Gesellen auf, von denen jeder ein Schwert schwang und wild entschlossen einen Angriff gegen die englischen Soldaten startete.

Kurz darauf sah AnnaClaire von ihrem Beobachtungsposten hinter einem mit Fisch beladenen Karren aus, wie im Handumdrehen ein erbitterter Kampf zwischen den Engländern und ihren Angreifern entbrannte.

Der Anführer der irischen Kämpfer erregte ihre besondere Aufmerksamkeit, als er sich zwischen einen seiner Männer, der eine stark blutende Wunde hatte, und einen Soldaten warf, der den Verletzten soeben mit seinem Schwert niederstrecken wollte.

„Das ist Rory O’Neil“, flüsterte die junge Frau neben AnnaClaire beinahe ehrfürchtig. „Unser tapferer O’Neil mit dem Herzen aus Stein.“

AnnaClaire konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Dieser O’Neil kämpfte mit übernatürlich anmutenden Kräften und schien überall gleichzeitig zu sein. Er steckte Hiebe ein, die seinen Männern galten, benutzte sein Schwert kraftvoll und elegant, bewegte sich schnell und geschmeidig.

Als nach einer Weile nur noch drei der Soldaten auf den Beinen waren und sich die englischen Gesandten anschickten, die Flucht zu ergreifen, rief Rory laut und vernehmlich: „Wir sind nicht gekommen, um Euch ein Leid anzutun. Der Mann, den wir suchen, ist nicht hier. Wir wollen, dass Ihr Eurer Königin eine Nachricht von uns überbringt: Unser Wunsch ist es, in Frieden zu leben. Aber seid gewiss: Wir werden unsere Waffen nicht eher niederlegen, bis jene Barbaren, die unsere unschuldigen Frauen und Kinder bestialisch umgebracht haben, dafür gebüßt haben. Als Erster auf unserer Liste steht Tilden. Er bringt Schande über seine Königin und sein Land. Habt Ihr das verstanden?“

Die hochrangigen Gesandten Ihrer Majestät wechselten ängstlich einige Blicke, bevor sie zustimmend nickten.

„Gut.“ Rory senkte sein Schwert. „Und nun sagt Euren Soldaten, sie mögen ihre Waffen niederlegen. Wir werden sodann diesen Ort verlassen.“

„Feiglinge!“, erklang eine Stimme. „Ihr werdet vor diesen Barbaren nicht davonrennen.“ Ein stämmiger, kräftiger Mann trat vor. Das gelbliche Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Eine breite Narbe vom linken Auge bis zum Unterkiefer verunstaltete sein Gesicht. Bei seinem Anblick stieß die Menge einen Entsetzenslaut aus. Daraufhin herrschte gespenstisches Schweigen.

AnnaClaire wandte sich an die junge Frau. „Was hat das alles zu bedeuten? Wer ist dieser Mann?“, erkundigte sie sich kaum hörbar.

„Das ist der Soldat, den unsere Leute suchten. Er heißt Tilden, aber die meisten Leute nennen ihn Luzifer, besonders die, die seine Grausamkeit zu spüren bekamen.“

„Was für eine Art von Grausamkeit?“

„Sie übersteigt alles, was man sich darunter vorstellen kann. Es macht ihm Spaß, Männer zu foltern, bevor er sie schließlich umbringt. Er tut unseren Frauen und Kindern Gewalt an, wobei er oftmals die Ehemänner und Väter zwingt, ihm dabei zuzusehen, bevor er sie ebenfalls tötet. Und er hat geschworen, dass er unseren Blackhearted O’Neil zur Strecke bringen wird.“

Bewegt registrierte AnnaClaire, dass die Lippen der Frau bebten, und tätschelte ihr beruhigend eine Hand. „Aber wenn es einen Gott gibt“, fuhr die Unbekannte fort, „wird er Rory zum Sieg führen. Wenn nicht, sind alle Menschen in unserem Land verloren.“

AnnaClaire behielt ihre Gedanken für sich. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein erschöpfter, aus mehreren Wunden blutender irischer Kämpfer auch nur die geringste Chance gegen einen ausgeruhten, frischen Soldaten haben sollte.

„Er gehört mir!“, rief Rory und machte einen Schritt auf Tilden zu. Aber bevor er ihn attackieren konnte, tauchten mehrere Söldner auf, die sich bislang verborgen gehalten hatten.

O’Neil und seine Männer kämpften um ihr Leben. Trotz ihrer grenzenlosen Erschöpfung gaben sie keinen Augenblick lang auf und ließen sich nicht zurückdrängen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie es schafften, alle englischen Soldaten zu besiegen.

Rory schaute sich nach Tilden um. Er war schwer verwundet, doch noch immer glitzerten seine Augen vor mörderischer Kampfeslust. „Du kannst dich nicht verstecken!“, rief er. „Tilden, du Feigling, zeig dich.“

Einer seiner Gefährten legte Rory einen Arm um die Schultern. „Komm, Rory, wir müssen uns in Sicherheit bringen. An Bord des englischen Schiffs sind noch mehr Soldaten. Ein Mann wie Tilden würde sich niemals einem Zweikampf stellen. Gewiss holt er sich bereits Verstärkung.“

„Ich will ihn haben. Viel zu lange habe ich ihn schon gesucht, als dass ich jetzt, so kurz vor dem Ziel, aufgebe.“

„Nein, mein Freund. Du hast viel Blut verloren und wirst immer schwächer. Lass uns fliehen, solange wir noch laufen können. Wir müssen erst wieder zu Kräften kommen, bevor wir uns den Schurken schnappen.“

Rorys Widerstand war gebrochen. Er ließ sich fortführen, wobei er mehrmals stolperte.

AnnaClaire beobachtete, wie die Leute nach vorn drängten, wobei sie mit ihren Körpern eine schützende Wand bildeten, hinter der Rory und seine tapferen Männer verschwinden konnten.

„Nun, das war ja ein unglaubliches Spektakel“, erklärte sie und strich sich die Röcke glatt. „Jetzt verstehe ich, warum Rory O’Neil der Blackhearted O’Neil genannt wird. Aber ich …“ Sie drehte sich zu der Stelle um, an der die junge Frau neben ihr gestanden hatte. Doch die Unbekannte war verschwunden, zusammen mit ihrem Kind.

AnnaClaire runzelte die Stirn. Es schien, als hätten diese Leute die Angewohnheit, sich nach Belieben einfach in Luft aufzulösen.

„Danke, Tavis.“ AnnaClaire ließ sich in die offene Kutsche helfen und nahm aufatmend in dem gepolsterten Sitz Platz. Mehr als eine Stunde war vergangen, seit sie den Schauplatz des Kampfes zwischen den Engländern und den Iren um Rory O’Neil verlassen hatte.

Eine weitere Verzögerung war dadurch entstanden, dass ihr Kutscher erst noch ein Brathuhn besorgen musste, was sich schwierig gestaltete, da die Händler beim Auftauchen der Soldaten hastig ihre Stände verlassen und sowohl sich als auch ihre Waren in Sicherheit gebracht hatten.

„Ich hoffe, Bridget wird es zu würdigen wissen, welche Mühen wir auf uns genommen haben, um etwas zum Abendessen mitzubringen“, bemerkte AnnaClaire.

„Jawohl, Mylady. Aber wenn Ihr seht, was für ein delikates Mahl meine Bridget aus einem kleinen Huhn zaubern kann, wird die Dankbarkeit bei Euch liegen.“

AnnaClaire lachte und zupfte ihre Röcke zurecht, während die Kutsche mit einem Ruck anrollte. „Tavis, wo ist mein Umhang? Ich glaube, ich habe ihn verloren.“ Suchend schaute sie sich um.

„Nein, Mylady. Er ist Euch von den Schultern geglitten, aber ich habe ihn aufgehoben.“ Nach kurzer Überlegung setzte der Kutscher hinzu: „Wir werden wohl nur langsam vorankommen. Es sind viele Fuhrwerke unterwegs.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte AnnaClaire. „Nach allem, was ich heute erlebt habe, ist es mir lieb, wenn ich mich ein wenig ausruhen kann.“

„Ihr habt den Kampf gesehen?“

„Er fand direkt vor meinen Augen statt.“

Tavis warf ihr über die Schulter einen Blick zu. „Dann habt Ihr wohl auch unseren Blackhearted O’Neil gesehen? Er soll, wie ich höre, ein prächtiger Bursche sein.“

AnnaClaire nickte. „Ja, manche mögen ihn so empfinden. Ich würde ihn eher als gefährlich und gewalttätig beschreiben.“

„Ja, er ist ein gewalttätiger Mann mit einer tiefen Leidenschaft. Und es wird erzählt, dass er dazu allen Grund hat. Seine Braut wurde an ihrem Hochzeitstag von den Engländern geschändet und ermordet.“

AnnaClaire fühlte sich eigentümlich betroffen, verdrängte diese Empfindung aber sogleich. „Nach allem, was ich soeben gesehen habe, glaube ich, dass er den Tod einer Frau bereits vielfach gerächt hat. Kannst du dir vorstellen, wie viele englische Frauen allein heute den Verlust ihrer Männer und Söhne zu beklagen haben?“

Tavis gab keine Antwort. Er schien ganz und gar damit beschäftigt zu sein, den Einspänner durch das Gewirr von Karren, Wagen und Menschen zu lenken. AnnaClaire deutete sein Schweigen als stummen Widerspruch gegen ihre Meinung. Obwohl er und seine Frau für ihre Dienste gut entlohnt wurden, gab sie sich keinerlei Illusionen darüber hin, wem die Treue und Unterstützung ihrer Bediensteten galt.

Irland war Bridgets und Tavis’ Heimat, und sie fühlten sich dem irischen Volk zugehörig. Obwohl AnnaClaires Mutter in Dublin geboren und aufgewachsen war, galt ihre Tochter dennoch als Außenseiterin. Margaret Doyle hatte einen englischen Herrn von hohem Stand geheiratet und darauf bestanden, dass ihre Tochter in London erzogen wurde.

„So, da sind wir.“ Tavis brachte die Kutsche zum Stehen. AnnaClaire, tief in Gedanken versunken, hatte nicht gemerkt, dass sie zu Hause angekommen waren. Der Kutscher half ihr beim Aussteigen und sagte: „Ich kümmere mich darum, dass Bridget das Huhn sofort bekommt.“

Im Gehen wandte sich AnnaClaire noch einmal zu ihm um. „Oh, jetzt hätte ich beinahe meinen Umhang vergessen.“

Die Kutsche rollte bereits in Richtung der Stallungen, und Tavis rief nur: „Ich bringe ihn ins Haus, sobald ich das Pferd versorgt und den Wagen sauber gemacht habe.“

Bevor AnnaClaire noch etwas erwidern konnte, verschwand der Einspänner bereits hinter der Hausecke.

AnnaClaire gab sich zufrieden und betrat das prachtvolle Herrenhaus Clay Court, das sich bereits seit sechs Generationen im Besitz der Familie ihrer Mutter befand, und beschloss, sich frisch zu machen und sich für den Besuch des ältesten Freundes ihres Vaters umzukleiden.

„Bridget, das Essen war köstlich.“ AnnaClaire bedachte ihre Haushälterin mit einem freundlichen Lächeln.

„Vielen Dank, Mylady.“ Bridget knickste. „Darf ich Euch noch Tee nachschenken?“

„Nein, vielen Dank. Aber vielleicht Lord Davis? Oder wollt Ihr lieber noch ein Glas Wein?“

Der alte Herr hob abwehrend die Hände. „Auf gar keinen Fall. Ich kann wirklich gar nichts mehr zu mir nehmen.“

„Es war sehr freundlich von Euch, mir heute Abend Gesellschaft zu leisten“, versicherte AnnaClaire.

„Ich habe mir gedacht, dass du dich ohne deinen Vater einsam fühlen würdest“, erwiderte Lord Davis, der AnnaClaire seit ihrer Geburt kannte. „Und außerdem war ich natürlich auch beunruhigt, als ich von den Geschehnissen am Hafen hörte. Hätte ich gewusst, dass du dich in der Nähe dieser Barbaren aufhieltest, hätte ich dich persönlich nach Hause gebracht.“

„Für mich bestand zu keiner Zeit irgendeine Gefahr“, beteuerte AnnaClaire. „Es ging den Angreifern ausschließlich um einen Mann namens Tilden.“

„Niemand kann sich unter solchen zu allem entschlossenen Männern sicher fühlen. Ein unschuldiges Wesen wie du macht sich keine Vorstellung davon, wozu diese Schurken fähig sind. Angeblich tun sie unbescholtenen englischen Mädchen Dinge an, die selbst hart gesottenen Männern die Tränen in die Augen treiben.“

Die Teller in Bridgets Händen klapperten, und AnnaClaire sah ihre Haushälterin besorgt an. „Du siehst blass aus“, sagte sie zu ihr. „Geht es dir nicht gut?“

„Doch, Mylady. Ich bin nur ein wenig müde.“ Bridget drehte sich um und verließ beinahe fluchtartig das Speisezimmer.

„Wie wäre es mit einer Partie Schach, meine Liebe?“, erkundigte sich Lord Davis.

Ablehnend schüttelte AnnaClaire den Kopf. „Ich bin ebenfalls sehr müde und würde Euch kaum Paroli bieten können.“

Der alte Herr gab sich mit dieser Antwort zufrieden und erhob sich. „Vielleicht ein anderes Mal.“

„Ja, herzlich gern.“ AnnaClaire geleitete ihren Gast durch den Flur zu dem Eingangsportal. „Werdet Ihr Lady Thornlys Abendgesellschaft besuchen?“, wollte sie wissen.

„Gewiss. Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, obwohl ich vermute, dass das Essen dort nicht annähernd so gut sein wird wie das Mahl, das wir heute Abend genossen haben.“

Draußen stand schon Lord Davis’ Bediensteter neben dessen Kutsche und half seinem Herrn beim Einsteigen. Der alte Mann beugte sich aus dem Fenster. „Gute Nacht, AnnaClaire. Ich hoffe, du kannst nach diesem aufregenden Tag gut schlafen.“

„Danke, Lord Davis. Das Gleiche wünsche ich Euch auch.“ AnnaClaire winkte noch hinter der abfahrenden Kutsche her und begab sich dann zurück ins Haus, wo sie die breite Treppe hinauf zu ihren Gemächern im zweiten Stock ging. Innerhalb weniger Minuten hatte ihre Zofe sie entkleidet.

„Habt Ihr noch irgendwelche Wünsche?“ Bridget stand an der Tür zu AnnaClaires Schlafgemach, während Glinna, die junge Zofe, die Bettdecken zurückschlug und die Sachen einsammelte, die bis zum nächsten Tag gewaschen und geplättet sein mussten.

„Nein, danke, Bridget. Wie du ja sicherlich gehört hast, war es ein recht anstrengender Tag.“

„Ja, Mylady.“

AnnaClaire musterte ihre Haushälterin eingehend, die immer noch unnatürlich blass wirkte. „Bridget, bist du sicher, dass dir nichts fehlt?“

„Ja, Mylady. Ich brauche nur einige Stunden Schlaf. Wenn Ihr mich also nicht mehr benötigt, werde ich mich jetzt zurückziehen.“

AnnaClaire wartete noch, bis sowohl Glinna als auch Bridget ihr Gemach verlassen hatten, löschte dann die Kerze und ging zu Bett. Doch obwohl sie müde war, fand sie keinen Schlaf.

Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie in ihrer Vorstellung den wagemutigen schwarzhaarigen Iren. Nie zuvor war ihr ein Mann wie Rory O’Neil begegnet. Über welch eine Ausstrahlung er verfügte, und wie furchtlos er im Angesicht des sicher scheinenden Todes gewirkt hatte! Entweder war er der mutigste Mensch, den sie je getroffen hatte, oder der törichste.

Und diese Stimme! Schon bei dem Gedanken an die Wut und Leidenschaft, mit der Rory O’Neil gesprochen hatte, verspürte AnnaClaire ein leichtes Beben, und rasch setzte sie sich auf. Sie war einfach zu aufgewühlt, um schlafen zu können.

Also beschloss sie, sich einen Tee aus den Kräutern aufzubrühen, die Bridget in der Küche aufbewahrte, und einen Brief an ihren Vater zu schreiben.

2. KAPITEL

AnnaClaire ging, einen Schal um die Schultern geschlungen, auf nackten Füßen die von einigen brennenden Kerzen in Wandhaltern nur spärlich erleuchtete Treppe hinunter und durch die Halle in die Küche.

Dort gab sie Wasser in einen Kessel und hängte ihn über das Kohlenfeuer. Während sie wartete, dass es zu kochen begann, ließ sie den Blick umherschweifen und bemerkte ihren Umhang, der über eine Bank geworfen worden war.

Seltsam! Es sah Tavis gar nicht ähnlich, so achtlos mit ihren Sachen umzugehen. Nachdenklich hob AnnaClaire das Kleidungsstück auf, das sich stellenweise eigenartig feucht und klebrig anfühlte.

Sie hielt es näher an den Feuerschein heran und runzelte die Stirn. Ihr Umhang wies an mehreren Stellen eine rötliche Färbung auf. Wie Blut, dachte sie. Dieser Eindruck musste von den glühenden Kohlen herrühren.

Rasch entzündete AnnaClaire eine Kerze an dem Herdfeuer und betrachtete den Umhang genauer. Um Himmels willen! Das war ja wirklich Blut, und zwar nicht nur hier und da ein Tropfen, sondern große Flecken und Spuren, die sich über das gesamte Kleidungsstück zogen. Als hätte sie sich verbrannt, ließ sie den Umhang fallen.

Bei dem Geräusch von Schritten hinter ihr wirbelte sie herum und blieb dann wie erstarrt stehen.

Rory O’Neil war schwankend aus dem Schatten der Wand getreten und lehnte sich schwer atmend an den Tisch. „Es tut mir leid wegen des feinen Stoffes. Ich glaube, ich habe ihn ruiniert.“

Er blutete noch immer aus mehreren Wunden. In der rechten Hand hielt er sein Schwert.

Nun kniff er die Augen zusammen, als könnte er dadurch die Gestalt vor sich besser erkennen. Wie eine leuchtende Vision erschien sie ihm, von dem Feuerschein in warmes Licht getaucht.

Langsam ließ er die Hand mit dem Schwert sinken. „So, das war’s dann also. Ich sterbe.“ Seine Stimme, noch immer tief und wohltönend, nahm einen warmen Klang an, als er der Frau vor sich zulächelte.

In diesem Moment fiel die Waffe zu Boden, und Rory griff mit beiden Händen nach der Tischkante. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Langsam sank er auf die Knie und fiel dann kraftlos zu Boden.

Erschrocken neigte sich AnnaClaire über ihn und hörte, wie er undeutlich murmelte: „Ich hatte befürchtet, für den Weg, den ich eingeschlagen habe, in der Hölle schmoren zu müssen. Nun bin ich glücklich darüber, zu sterben, denn ein Engel ist vom Himmel zu mir gekommen, um mich nach Hause zu geleiten.“

„Mylady!“ Bridget, die eine Schüssel mit Wasser vom Brunnen draußen brachte, blieb wie angewurzelt stehen. „Ich wähnte Euch im Bett.“

Tavis, der eine brennende Kerze in der Hand hatte, hielt ebenfalls unvermittelt inne. Die Eheleute blickten äußerst schuldbewusst drein.

„Ich weiß, was ihr beide gedacht habt.“ AnnaClaires Wangen waren gerötet, nicht vor Scham, sondern vor Ärger. „Ihr hattet vor, diesen Mörder hier in meinem Haus zu verstecken. Und das hinter meinem Rücken.“

Sie deutete auf die leblose Gestalt auf dem Fußboden, woraufhin Bridget die Schüssel so hastig abstellte, dass Wasser über den Rand auf den Fußboden schwappte, mit wenigen Schritten bei dem Mann war und sich neben ihn kniete. Tavis folgte ihrem Beispiel. Gemeinsam berührten sie ihn vorsichtig und tasteten nach seinem Puls.

Trotz ihres Zorns war AnnaClaire eigentümlich berührt von dem Verhalten der beiden älteren Leute.

„Ist er tot?“, wollte Tavis wissen.

Nach einer Weile richtete sich Bridget auf. „Nein, er lebt. Dem Himmel sei Dank.“ Sie bekreuzigte sich.

AnnaClaire sah auf die immer größer werdende Blutlache auf dem Fußboden. „Warum hat sich noch keiner von euch um seine Verletzungen gekümmert, wenn ihr euch sosehr um ihn sorgt?“

Tavis schaute zu ihr auf. „Er hat es nicht erlaubt. Erst sollten alle seine Männer in Sicherheit und versorgt sein. Ich habe die ganze Stadt nach sicheren Unterkünften durchgekämmt.“

„Das stelle ich mir nicht so schwierig vor“, meinte AnnaClaire, „nachdem ich gehört habe, welch hohes Ansehen dieser …“, sie verzog das Gesicht, „… Blackhearted O’Neil genießt.“

„Das ist wohl wahr, Mylady. Aber nach der heutigen Konfrontation unten am Hafen haben die Gesandten der Königin per Dekret verfügt, dass jeder, der Rory O’Neil oder seinen Männern Unterschlupf gewährt, als Feind der Krone gilt und gehenkt wird.“

„Gehenkt?“, wiederholte AnnaClaire fassungslos. „Und mit diesem Wissen habt ihr ihn in mein Haus gebracht?“ Ihre Stimme klang vor Empörung ein wenig schrill.

„Er liegt im Sterben“, erklärte Tavis. „Es gab für uns keinen anderen Ort, an den wir ihn hätten bringen können. Nur dank Eurer Kutsche und Eures Umhangs war es überhaupt möglich, ihn aus dem Hafengelände zu schaffen.“

Tavis’ Miene hellte sich auf, als er hinzufügte: „Mylady, Ihr könnt doch jederzeit behaupten, von all dem hier nichts gewusst zu haben.“

Nachdenklich betrachtete AnnaClaire die beiden Bediensteten. Zwar kannte sie sie seit ihrer frühesten Kindheit, da sie häufig mit ihren Eltern die Sommermonate in Irland verbracht hatte, um wenigstens zeitweise dem Lärm und Trubel Londons zu entkommen. Doch bis zu diesem Augenblick war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass Bridget und Tavis, einfache, ruhige Leute, besonders mutig sein könnten.

„Für euch selbst würde das natürlich nicht zutreffen“, sagte sie aus dieser Überlegung heraus. „Ihr würdet also bedenkenlos euer Leben für diesen Mann riskieren?“

Tavis nickte mit Nachdruck. „Jeden Tag setzt Rory O’Neil sein Leben für unser Volk aufs Spiel. Wir können doch nicht weniger für ihn tun, als er für uns tut. Mit Eurer Erlaubnis, Mylady, würden wir jetzt gern seine Wunden verbinden.“

„Und dann?“ AnnaClaire verschränkte die Arme vor der Brust. „Er ist lebensgefährlich verletzt. Selbst wenn er überlebt, bleibt immer noch die Frage, wie ihr ihn aus Dublin herausschmuggeln wollt.“

Ratlos kratzte Tavis sich am Kopf. „Darüber haben wir noch nicht nachgedacht“, antwortete er. „Zunächst müssen wir alles daransetzen, ihn am Leben zu erhalten.“

„Und wo wollt ihr ihn heute Nacht verstecken?“

Tavis richtete sich auf. „Irgendwo in den Ställen, mit Eurer gnädigen Erlaubnis.“

Entschieden schüttelte AnnaClaire den Kopf. „Das wäre zu gefährlich, weil ihn zu viele Leute entdecken könnten, zum Beispiel der Stallmeister oder die Burschen, die die Ställe ausmisten. Je weniger Menschen von dieser Sache wissen, desto größer ist eure Chance, das Geheimnis zu wahren.“

Sie merkte überhaupt nicht, dass sie bereits auf dem besten Wege war, bei diesem lebensgefährlichen Spiel mitzuwirken. Vielmehr überlegte sie angestrengt, wie sie ihre eigene Klugheit dazu nutzen konnte, den beiden alten Leuten zu helfen, die sie schon solange kannte.

„Am besten wäre es“, fasste AnnaClaire ihre Überlegungen in Worte, „wenn ihr ihn an einem Ort verstecken würdet, den niemand entdecken kann.“ Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ich habe eine Idee. Der kleine Verschlag auf dem Dachboden, direkt über meinen Gemächern.“

Überrascht wechselten Tavis und Bridget einen bedeutungsvollen Blick. Wusste ihre Herrin, was sie da sagte?

„Niemand kann den Verschlag erreichen, ohne zuvor durch Eure Schlafkammer zu gehen.“

„Richtig. Nicht einmal Glinna wird auch nur den geringsten Hinweis auf unseren Gast bekommen.“

„Aber wie können wir ihn dort oben versorgen?“, wollte Bridget wissen.

AnnaClaire zuckte die Schultern. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Wahrscheinlich werde ich mich um ihn kümmern müssen. Wenn ich bedenke, wie lange ich meine kranke Mutter gepflegt habe, dürfte mir das nicht besonders schwer fallen.“

Bevor seine Herrin womöglich ihre Meinung änderte, beugte sich Tavis zu dem bewusstlosen Rory und versuchte, ihn hochzuheben. „Ein großartiger Plan, Mylady“, erklärte Tavis. „Allerdings befürchte ich, dass es uns auch zu dritt nicht gelingen wird, ihn die Treppe hinauf zum Dachboden zu tragen.“

„Er muss mit unserer Unterstützung laufen.“ AnnaClaire hob ihr Nachtgewand ein wenig an, ehe sie sich neben Rory auf den Fußboden kniete. „Rory! Rory O’Neil!“, rief sie ihn an.

Beim Klang ihres energischen Tonfalls öffnete Rory die Augen und blickte starr ins Leere.

„Wir werden Euch jetzt nach oben bringen. Aber Ihr müsst uns dabei helfen.“ AnnaClaire sah ihn beinahe beschwörend an.

„Mich nach oben bringen …“ Rory lächelte weich. „Ja, werde ich dann endlich meine Caitlin sehen?“

„Wovon redet er?“, fragte AnnaClaire ihre Haushälterin.

„Er glaubt, er wäre gestorben“, erklärte Bridget.

„Ach so.“ AnnaClaire neigte sich dicht zu Rory hinunter. „O’Neil, nehmt meine Hand.“

„Mit Vergnügen.“ Trotz der schweren Verletzungen war Rorys Griff überraschend fest und kräftig. Bei der Berührung wurde AnnaClaire seltsam warm.

„Hier, Tavis, nimm seine andere Hand.“ Sie versuchte, das unerklärliche Kribbeln auf ihrer Haut zu ignorieren.

Tavis und AnnaClaire gelang es mit großer Anstrengung, Rory so weit hochzuziehen, dass er, wenn auch sehr wackelig, auf den Füßen stand. Dann legten sie sich jeweils einen seiner Arme um die Schultern und bewegten sich langsam durch die Halle zu der breiten Treppe, die zu AnnaClaires Gemächern im zweiten Stockwerk führte.

Unter Aufbietung aller Kräfte schafften es der alte Mann und seine Herrin, den Verletzten Stufe um Stufe nach oben zu bringen. Rory war so schwach, dass er so gut wie keinen Schritt selber gehen konnte, sondern von Tavis und AnnaClaire mühevoll geschleppt werden musste, wobei seine Füße beinahe ununterbrochen über den Boden schleiften.

In AnnaClaires Schlafgemach gab es eine Tür, hinter der eine schmale Stiege auf den Dachboden führte. Rorys Wunden bluteten wieder heftig, als seine Retter ihn dort schwer atmend auf eine schmale Liegestatt sinken ließen.

AnnaClaire trat einen Schritt zurück und sah dabei zu, wie Bridget und ihr Mann begannen, Rorys Sachen aufzuschneiden. Immer deutlicher wurde jetzt das Ausmaß der Verletzungen. Rory hatte glücklicherweise wieder das Bewusstsein verloren, sodass er die zweifelsohne grauenhaften Schmerzen momentan nicht spürte.

„Vielleicht solltet Ihr jetzt besser gehen, Mylady“, schlug Bridget behutsam vor. „Was wir hier zu tun haben, ist gewiss kein schöner Anblick.“

Unwillkürlich straffte AnnaClaire die Schultern. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, hatte sie bereits das Kommando in dieser Angelegenheit übernommen. „Ich erwarte bestimmt nicht, dass die Versorgung dieses Mannes einfacher ist als die meiner Mutter. Wenn ich jene Aufgabe über viele Monate hinweg gemeistert habe, werde ich jetzt wohl helfen können, Rory O’Neils Wunden zu verbinden.“

„Sehr wohl, Mylady.“ Die alte Frau nickte ihrem Mann zu. „Tavis, wir brauchen heißes Wasser.“

„Und saubere Leintücher, Bridget, sowie Opiate“, fügte AnnaClaire hinzu.

Nachdem die beiden alten Leute gegangen waren, schaute sie auf die reglose Gestalt hinunter. Bis zu diesem Moment hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, worauf sie sich da eingelassen hatte.

Doch jetzt stellte sie sich die Frage, ob sie wohl den Verstand verloren hatte. Wie hatte sie erlauben können, dass ein Mörder unter ihrem Dach Zuflucht fand? Er war ein Feind der Krone, und würde man ihn hier in Clay Court aufspüren, könnte das für sie alle den Tod durch den Strang bedeuten.

Und was mochte ihr Vater wohl sagen, wenn er jemals von den Vorgängen erfuhr?

Entschlossen verdrängte AnnaClaire die beunruhigenden Gedanken und machte sich daran, Rorys Wunden zu behandeln. Sie musste einfach nur dafür sorgen, dass ihr Vater niemals zu hören bekam, woran sich seine Tochter beteiligt hatte.

Morgen um diese Zeit würde Rory O’Neil aller Wahrscheinlichkeit nach tot sein. Sollte er durch eine wundersame Fügung des Schicksals doch überleben, würde AnnaClaire dafür sorgen, dass er Clay Court so schnell wie möglich verließ.

„So, jetzt haben wir alles getan, was überhaupt möglich ist. Der Rest liegt in Gottes Hand.“ Bridget strich über die Decke, unter der Rory O’Neil völlig reglos lag, und sagte zu AnnaClaire: „Mylady, Ihr solltet jetzt versuchen, ein wenig zur Ruhe zu kommen.“

„Ja, du hast recht“, stimmte diese zu. „Aber denkt daran: Ihr dürft niemandem trauen, nicht mal Glinna.“

„Sehr wohl“, bestätigte Tavis und hielt seiner Herrin sowie seiner Frau die Tür auf. Hinter den beiden Frauen stieg er die schmale Treppe hinunter, wobei er bemerkte: „Die Zofe könnte ein solches Geheimnis niemals für sich behalten. Sie würde sich ihren Freunden gegenüber damit brüsten, dass sie den Aufenthaltsort des Blackhearted O’Neil kenne. Und innerhalb von Stunden wüsste ganz Dublin ebenfalls Bescheid.“

Als sie in AnnaClaires Schlafgemach standen, griff Bridget plötzlich nach der Hand ihrer Herrin und küsste sie. „Gesegnet sollt Ihr sein für Euer Mitgefühl. Ich werde nicht vergessen, was Ihr heute Nacht getan habt.“

„Ich auch nicht“, bekräftigte Tavis und verneigte sich ehrerbietig. „Ihr seid ein Engel der Barmherzigkeit.“

Oder eine Närrin, dachte AnnaClaire, während sie die Tür hinter den beiden verriegelte. Bald darauf legte sie sich ins Bett, doch sie war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Sie blickte in die Dunkelheit und dachte an den Mann, der in der Dachkammer über ihrem Gemach mit dem Tode rang.

Sollten die Engländer gewahr werden, dass sie diesem Rebellen in ihrem Hause Unterschlupf bot, konnte AnnaClaire nicht einmal Unwissenheit vortäuschen. Sie war sich völlig im Klaren über das, was sie tat. Und wenn sie ganz und gar ehrlich mit sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie auch die Beweggründe für ihr Verhalten erkannt hatte.

Auf den ersten Blick schon hatte sie ihr Herz an Rory O’Neil verloren. Noch niemals zuvor war ihr ein Mann wie dieser furchtlose irische Kämpfer begegnet. Die hochgeborenen Gentlemen, die sie am Hofe in London kennengelernt hatte, erschienen ihr im Vergleich zu Rory ausgesprochen nichtssagend.

Beim Aufschneiden seines Wamses war ihr aufgefallen, wie ungewöhnlich kräftig und muskulös seine Arme und Brust waren. Gleichzeitig hatte sie erschrocken und berührt zugleich die vielen Narben auf seinem Körper registriert und dachte nun immer wieder an das, was Tavis ihr über Rory erzählt hatte. Eine Liebe, wie er sie für seine Braut empfunden haben musste und wohl immer noch empfand, war in der Tat äußerst selten und ungewöhnlich.

AnnaClaire hatte gerade die Augen geschlossen, als vom Dachboden her plötzlich ein lautes Poltern zu hören war.

Sie sprang aus dem Bett, zündete rasch eine Kerze an und hastete damit die Stufen zur Kammer hinauf. Dort fand sie Rory auf dem Fußboden, wild um sich schlagend, vor.

AnnaClaire steckte die Kerze in eine Halterung, kniete sich neben ihn und hielt seine Hände fest. „Rory O’Neil, könnt Ihr mich hören?“

Sofort wurde er ruhiger und öffnete die Augen. „Mein Schwert … Ich brauche … eine Waffe.“

„Habt keine Angst. Hier ist niemand, der Euch etwas antun will.“

„Mein … Schwert“, wiederholte Rory mit großer Anstrengung, und AnnaClaire seufzte.

„Nun gut, ich werde es holen. Aber zunächst müsst Ihr zurück ins Bett.“ Er stützte sich schwer auf sie, als AnnaClaire ihm aufhalf, und schließlich hatte er sich wieder auf seinem Lager ausgestreckt. Mit erstaunlicher Kraft umklammerte er AnnaClaires Hände und flüsterte: „Wo bin ich?“

„In meinem Haus, in Clay Court in Dublin.“

„Dublin.“ Rory schloss die Augen. „Also nicht im Himmel.“ Sekunden später sah er AnnaClaire wieder an. „Und wer seid Ihr?“

„Mein Name ist AnnaClaire.“

Für einen Moment schien er seine Schmerzen zu vergessen, denn ein Lächeln erhellte seine Züge. „Ach ja, mein … Engel.“ Doch schon überwältigten ihn die körperlichen Qualen wieder, und er ließ den Kopf kraftlos in die Kissen sinken. Mit äußerster Anstrengung stieß er eindringlich hervor: „Waffen … werden gebraucht …“

AnnaClaire durchquerte den Raum und holte das Schwert, das in einer Ecke lag. „Hier ist Euer Schwert“, erklärte sie und legte es neben Rory auf das Bett. Dabei fiel ihr der kunstvoll gearbeitete, mit Edelsteinen besetzte Griff auf.

Doch Rory war noch nicht zufrieden. „Mehr … mehr Waffen.“

AnnaClaire durchsuchte seine Sachen und fand tatsächlich noch zwei Messer. Erschüttert sah sie, wie er je eines so zu seinen Seiten platzierte, dass er sie gleichzeitig mit den Händen ergreifen konnte. Erst jetzt gab er seiner Erschöpfung nach und schloss aufatmend die Augen.

Danach also hatte er gesucht und war dabei zu Boden gestürzt. AnnaClaire vermutete, dass er bis zu seinem Tod ein Kämpfer bleiben würde.

„Ich verlasse Euch jetzt“, flüsterte sie.

„Nein, bleibt.“

AnnaClaire hockte sich hin, um mit ihm auf einer Höhe zu sein. „Warum? Habt Ihr Angst?“

„Vor dem Tod? Nein, ich heiße ihn sogar willkommen. Aber, bitte, bleibt als mein Engel bei mir, wenn ich diese Welt verlasse.“

„Ihr werdet nicht sterben, Rory O’Neil“, widersprach sie heftig. Gleichzeitig überfiel sie kaltes Entsetzen bei dem Gedanken daran, dass Rory die Nacht womöglich nicht überleben würde.

„Warum seid Ihr dann hier?“

Sacht berührte AnnaClaire seine Lippen mit den Fingern, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Keine weiteren Fragen mehr. Ihr müsst schlafen, um wieder gesund zu werden.“

Ehe sie die Hand fortziehen konnte, hatte Rory sie an den Mund gepresst. Das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut rief in AnnaClaire einen solchen Gefühlssturm hervor, dass sie Rory wortlos und mit klopfendem Herzen ansah.

„Bleibt … nur noch eine kleine Weile.“

Sie hätte Rory jede Bitte erfüllt, solange er sie nur weiterhin berührte.

„Einverstanden“, stimmte AnnaClaire zu, entzog ihm widerstrebend die Hand und strich die Decken glatt, wie sie es bei Bridget gesehen hatte. Dann setzte sie sich in einen Korbstuhl neben dem Bett. „Aber nur noch ein Weilchen.“

Sie beobachtete, wie sich Rorys Brustkorb unter den unregelmäßigen Atemzügen hob und senkte. Im Stillen sprach sie inständige Gebete, Rory möge am Leben bleiben, und schlief darüber ein.

Das Opium hatte in seiner Wirkung nachgelassen, und Rory fühlte einen brennenden Schmerz, der von seiner Schulter ausging, sich über den Rücken ausbreitete und bis in Zehen- und Fingerspitzen reichte.

Da sogar die geringste Bewegung die Qual steigerte, zwang er sich, völlig still zu liegen. Er spürte unangenehmen kalten Schweiß auf Stirn und Oberlippe, war aber zu schwach, um auch nur eine Hand zu heben.

Ihm war so, als könnte er über seinem eigenen stoßweisen Atem ein weiteres Geräusch erkennen. Es war sanft und rhythmisch, wie das Flüstern eines Engels.

Unvermittelt riss er die Augen auf, und seinem verschwommenen Blick offenbarte sich ein wunderbares Bild. Vor ihm saß auf einem geflochtenen Stuhl eine schlafende Frau. Sie hatte die Füße hochgezogen und das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt. Das goldblonde Haar fiel ihr in Locken bis auf die Schultern.

Rory hatte geglaubt, von ihrer Existenz nur geträumt zu haben. Um sich zu vergewissern, dass sie keine Fantasiegestalt war, streckte er eine Hand aus und berührte eine Strähne ihres Haars. Den scharfen Schmerz in seiner Schulter ignorierte er.

Im Schlaf bewegte sie sich ein wenig, hob dann den Kopf und öffnete die Augen. Einen Moment schaute sie verwirrt um sich, dann setzte die Erinnerung ein, und hastig sprang AnnaClaire auf. „Rory O’Neil, Ihr lebt! Wie fühlt Ihr Euch?“

„Als ob ich von mehreren englischen Schwertern durchbohrt worden wäre.“

Sie ging zu einem kleinen Tisch an der Wand. „Ich kann Euch etwas gegen die Schmerzen geben.“

„Ja, gern. Aber einen Moment möchte ich mir noch einen klaren Kopf bewahren. Ich muss wissen, wo ich überhaupt bin.“ Er ließ den Blick durch die Kammer mit den Deckenbalken gleiten, sah den gemauerten Schornstein und die brennende Kerze in einer Halterung. Durch eine winzige Öffnung in der Wand drang etwas Licht von draußen herein. Anscheinend dämmerte der Morgen bereits.

„Ihr seid auf dem Dachboden von Clay Court, meinem Zuhause in Dublin. Es befindet sich seit mehreren Generationen im Besitz der Familie meiner Mutter.“

„Und wie ist der Name Eurer Mutter?“

„Sie hieß Margaret Doyle.“

Rory fiel auf, dass AnnaClaire mit traurigem Unterton in der Stimme in der Vergangenheitsform von ihrer Mutter sprach. Schnell wechselte er das Thema und erkundigte sich: „Und wie ist Euer werter Name?“

„Ich heiße AnnaClaire.“

„Nun denn, AnnaClaire, wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich jetzt gern etwas von Eurer Medizin einnehmen.“ Der Schmerz drohte ihn zu überwältigen, und sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen.

AnnaClaire löste etwas Pulver in einem Becher mit Wasser auf und setzte sich damit zu Rory auf die Bettkante. Behutsam hob sie seinen Kopf ein wenig an und hielt ihm den Becher an die Lippen.

„Hat Euch schon einmal jemand gesagt, dass Eure Berührung sehr sanft ist, AnnaClaire?“

„Versucht Ihr etwa, mich mit Eurem Charme zu betören?“

„Habe ich Erfolg damit?“

„Ich glaube, Ihr bewahrt Euch Euren Charme für einen späteren Zeitpunkt. Jetzt trinkt.“

Gehorsam nahm Rory einige Schlucke des bitteren Gebräus zu sich und fragte sich dabei, ob irgendeine Medizin die brennende Qual in seinem Inneren jemals würde lindern können.

„Nun muss ich Euch für eine Weile verlassen“, erklärte AnnaClaire und bettete Rorys Kopf sacht zurück auf das Kissen. Von dem kleinen Tisch nahm sie ein sauberes Tuch und tupfte Rory damit das Gesicht ab.

Er griff nach ihrer Hand. „Oh, was für eine wohltuende, sanfte Berührung.“

AnnaClaire verspürte Freude über seine Worte in sich aufsteigen, versuchte jedoch, diese Gefühle zu verdrängen.

„Meine Gemächer befinden sich direkt unter dieser Kammer“, erklärte sie. „Ich werde so bald wie möglich wieder zu Euch kommen, aber Ihr dürft nicht nach mir rufen oder irgendwelche Geräusche machen.“

„Warum nicht?“

„Niemand darf von Eurer Anwesenheit erfahren, Rory O’Neil. Seit dem gestrigen Kampf im Hafen besagt ein Dekret, dass jeder, der Euch oder Euren Männern Unterschlupf gewährt, gehenkt wird.“

„Diese verdammten Engländer“, murmelte Rory vor sich hin. Daraufhin meinte er: „Ihr braucht keine Angst zu haben, bezaubernde AnnaClaire. Ich habe verstanden.“

„Das freut mich.“ Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, blies sie die Kerze aus und verließ den Raum.

Rory spürte dankbar, wie das Schmerzmittel seine Wirkung zu entfalten begann. Im Einschlafen überlegte er, ob AnnaClaire nicht vielleicht doch ein Trugbild gewesen sei, das ihm sein Verstand vorgegaukelt hatte.

Sie war das schönste Wesen, das ihm je begegnet war. In seinem Dämmerzustand sah er sie vor sich: zierlich, mit goldblondem Haar, die Haut so weich wie Samt und der Mund, der jeden Mann um den Verstand bringen konnte, herzförmig geschwungen.

Sein Leben lang hatte Rory O’Neil seine geliebte Caitlin als Maßstab aller weiblichen Schönheit angesehen. Und keine andere Frau hatte jemals dem Vergleich zu ihr mit ihrem rabenschwarzen Haar und den blauen Augen standhalten können.

Doch nun schien ihm die Erinnerung an Caitlins Schönheit zu entgleiten. Sosehr sich Rory auch bemühte, er schaffte es nicht, sich ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. Mit dem Namen seiner toten Geliebten auf den Lippen fiel er in einen unruhigen Schlaf.

3. KAPITEL

Guten Morgen, Mylady.“ Nach kurzem Anklopfen stand Glinna bereits im Raum, auf den Armen einen Stapel sauberer Wäsche.

AnnaClaire konnte gerade noch ihre Bettdecke bis zum Kinn hochziehen, sonst hätte die kleine Magd gewiss die verräterischen Blutflecken auf dem Nachtgewand ihrer Herrin entdeckt.

„Ihr seid heute besonders früh auf“, plapperte Glinna drauflos. „Ich hörte Euch und dachte, dass Ihr diese hier braucht.“ Sie deutete auf die Unterröcke, die ordentlich zusammengelegt auf einem Tischchen lagen, und hängte ein Kleid in den Wandschrank. „Was soll ich Euch zum Anziehen herauslegen?“

„Im Moment noch gar nichts“, erwiderte AnnaClaire schnell. „Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile im Bett liegen.“

„Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“

„Nun, vielleicht habe ich mich erkältet.“

Es klopfte an der Tür, und Bridget trat ein. Sie trug ein Tablett, das von einem Leinentuch bedeckt war. „Guten Morgen, Mylady.“ Sie warf AnnaClaire einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ich hoffe, Ihr hattet eine geruhsame Nacht.“

AnnaClaire nickte. „Ja, danke. Sie war recht gut.“

Die alte Wirtschafterin stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Ich habe hier einen kräftigen Haferbrei für Euch und auch etwas Zwieback.“

„Meine Herrin braucht all das nicht“, mischte sich Glinna wichtigtuerisch ein. „Sie fühlt sich nicht wohl und beabsichtigt, im Bett zu bleiben.“

Bridget stellte das Tablett auf der Nachtkonsole ab. „Dann lasse ich alles hier in der Hoffnung, dass Ihr später vielleicht Appetit bekommt.“

AnnaClaire dankte ihr und wandte sich anschließend an Glinna. „Da ich deine Hilfe heute nicht mehr benötige, kannst du Bridget unten helfen.“

„Sehr wohl, Mylady.“ Glinna knickste und verließ den Raum. Sie machte einen unglücklichen Eindruck, denn ein Tag unter Bridgets Kommando bedeutete, dass sie Fußböden schrubben und später Tavis zu den Docks begleiten musste, wo er beinahe täglich Fisch für den Haushalt einkaufte.

Sobald sie allein waren, glitt AnnaClaire aus dem Bett. „Bridget, ich hoffe, du weißt, wie du Glinna diese Blutflecken in meinem Nachtgewand erklären kannst, ohne ihr Misstrauen zu wecken.“

„Keine Sorge, Mylady, mir fällt schon noch etwas ein.“ Bridget sprach mit gleichermaßen gedämpfter Stimme wie ihre Herrin, als sie fortfuhr: „Was ist mit unserem … Gast? Hat er die Nacht überlebt?“

„Ja.“

Bridget bekreuzigte sich und flüsterte ein kurzes Dankgebet vor sich hin. „Ich hatte befürchtet … Nun, vielleicht sollten wir jetzt nach ihm sehen.“

„Ich habe ihn erst in den frühen Morgenstunden verlassen.“ AnnaClaire errötete leicht, als die alte Frau sie überrascht anblickte, und erklärte hastig: „Während der Nacht hörte ich Geräusche vom Dachboden. Also ging ich nach oben, um nach ihm zu sehen. Er bat mich zu bleiben, und dann bin ich auf dem Stuhl eingeschlafen.“

„Das ist mehr als verständlich nach allem, was Ihr durchgemacht habt“, bemerkte Bridget verständnisvoll. „Dem Himmel sei Dank, dass O’Neil am Leben ist. Leidet er sehr unter Schmerzen?“

„Ja, allerdings.“ Zur Bekräftigung nickte AnnaClaire mehrmals. „Doch nach den Narben auf seinem Körper zu urteilen, würde ich sagen, dass er Schmerzen gewöhnt ist. Trotzdem habe ich ihm etwas Opiumpulver in Wasser aufgelöst und zu trinken gegeben, damit er einige Stunden Ruhe findet.“

„Dann glaubt Ihr also, dass er überleben wird?“

„Das ist schwer zu sagen“, erwiderte AnnaClaire. „Aber er hat sicherlich eine Chance, denn er ist stark und von Natur aus ein Kämpfer. Außerdem hat er die ersten kritischen Stunden bereits überstanden.“

Bridget deutete auf das Tablett. „Ich dachte mir, dass Ihr wohl nicht zum Frühstück nach unten kommen würdet, sondern Euch lieber um seine Bedürfnisse kümmern wollt.“

„Ganz richtig“, bestätigte AnnaClaire. „Bitte, sorge du dafür, dass die Dienstboten mich nicht mit ihrer Fürsorglichkeit überhäufen.“

„Sehr wohl, Mylady. Ich werde Euch die anderen vom Leibe halten. Und wenn der Blackhearted O’Neil kräftig genug ist, um zu essen, habe ich für ihn dort auf dem Tablett ebenfalls etwas bereitgestellt.“

AnnaClaire wartete, bis Bridget die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann streifte sie ihr Nachtgewand ab, ging zu dem mit Wasser gefüllten Waschgeschirr und wusch sich von Kopf bis Fuß. Schließlich schlüpfte sie in ein mit zarten Spitzen eingefasstes Leibchen sowie einen gestärkten Unterrock und zog als Letztes ein Kleid in zartem Rosa an.

Nachdem sie das Haar mit juwelenbesetzten Kämmen zurückgesteckt hatte und in weiche Lederstiefeletten geschlüpft war, nahm AnnaClaire das Tablett mit den Speisen und ging die schmale Stiege zum Dachboden hinauf.

Rory lag so still, dass sie zunächst glaubte, er schliefe tief und fest. Doch beim Näherkommen erkannte sie, dass er die Augen weit geöffnet hatte und offenbar große Schmerzen litt. Die Betttücher waren klamm von seinem Schweiß. Doch der Verletzte ließ weder durch wilde Bewegungen noch irgendeinen Laut erkennen, dass es ihm schlecht ging.

AnnaClaire setzte das Tablett ab und beugte sich zu ihm hinunter. Behutsam berührte sie seine Stirn und erschrak. Seine Haut schien zu brennen, so heiß fühlte sie sich an.

„Ah, mein Engel ist zu mir zurückgekehrt“, sagte Rory und seufzte leise. Dann fügte er hinzu: „Ich habe getan, was Ihr wolltet. Keinen einzigen Laut habe ich von mir gegeben.“

AnnaClaire war tief berührt von seiner Tapferkeit. „Es tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte.“ Sie tauchte ein Tuch in die Schüssel mit Wasser, die auf dem Boden stand, und wusch ihm vorsichtig Gesicht und Hals sowie Arme und Schultern. „Hat die Medizin nicht gewirkt?“, erkundigte sie sich.

„Doch, aber nur für eine kurze Weile. Ich hatte die Vision, dem Himmel einen Besuch abzustatten, bevor ich wieder in der Hölle landete.“

AnnaClaire löste ein wenig Pulver in einem Becher mit Wasser auf und hielt ihn Rory an die Lippen. „Hier, trinkt das. Vielleicht sind Eure Schmerzen dann leichter zu ertragen.“

„Es geht mir schon viel besser“, versicherte er und fügte hinzu: „Jetzt, wo Ihr hier seid.“ Folgsam leerte er den Becher, ließ den Kopf erschöpft zurück auf das Kissen sinken und atmete tief den Duft von Rosen ein, der AnnaClaire stets zu umgeben schien.

„Ihr seid ein sehr charmanter Lügner, Rory O’Neil.“ AnnaClaire setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und tauchte einen Löffel in die Schale auf dem Tablett.

„Was ist das denn?“, wollte Rory wissen und deutete schwach auf die dampfende Speise.

„Haferbrei.“

Er schüttelte den Kopf. „Meine Mutter bestand immer darauf, dass wir so etwas essen. Aber ich fand das Zeug abscheulich.“

„Morgen werde ich Euch etwas anderes bringen“, erwiderte AnnaClaire. „Doch heute müsst Ihr Euren Haferbrei essen. Bridget Murphy, sie ist die Haushälterin, hat diesen Brei eigens für Euch gekocht, damit Ihr schneller wieder zu Kräften kommt.“

„Gütiger Himmel, Ihr klingt gerade so wie meine Mutter.“ Widerwillig öffnete Rory den Mund und ließ sich einen Löffel voll einflößen. Überrascht sah er AnnaClaire an. „Bridget Murphy muss eine Zauberin sein. Das schmeckt ganz anders als irgendein Haferbrei, von dem ich je gekostet habe.“

„Ich werde ihr erzählen, dass Ihr Euch so wohlwollend geäußert habt.“ Abermals hielt sie ihm einen Löffel voll hin, und Rory schluckte ohne Widerrede den zähflüssigen Brei.

In AnnaClaire stiegen seltsame Gefühle hoch. Jedes Mal, wenn er den Mund öffnete, musste sie gegen das seltsame Verlangen ankämpfen, Rorys Lippen schmecken zu wollen.

Noch niemals zuvor war ihr jemand wie er begegnet. Rory schien es nichts auszumachen, dass er unter den Decken völlig nackt war. Doch AnnaClaire beunruhigte diese Vorstellung mehr, als sie sich eingestehen mochte. Sie konnte den Gedanken einfach nicht aus ihrem Kopf vertreiben.

Er nahm mehr als die Hälfte des Haferbreis zu sich, bevor er abwehrend eine Hand hob. „Genug. Das Essen strengt mich zu sehr an.“

AnnaClaire stellte das Gefäß auf dem Tablett ab. „Könnt Ihr einige Schlucke Tee hinunterbringen?“

„Nein, nicht mal einen einzigen.“

„Dann bleibe ich einfach noch ein Weilchen hier sitzen, und wir warten gemeinsam darauf, dass das Opium zu wirken beginnt.“ Sie schenkte sich selbst einen Becher Tee ein.

Rory schaffte es, sie anzulächeln. „Euch nur anschauen zu können lindert meine Schmerzen mehr als jede Medizin.“

Sie spürte, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg. „Ihr seid gefährlich charmant, Rory O’Neil.“

Er strich sich mit einer Hand kurz über die Augen. „Ihr solltet meinen Bruder Conor kennenlernen. Er ist der wirkliche Charmeur in unserer Familie.“

„Tatsächlich? Und was seid Ihr?“

„Der Kämpfer. Ich war schon immer der Kämpfer.“

Sie nippte an ihrem heißen Tee. „Erzählt mir mehr von Eurer Familie“, forderte sie ihn auf.

„Conor ist einundzwanzig Jahre alt, also zwei Jahre jünger als ich. Er wurde im Ausland erzogen und unterrichtet. Unsere Mutter hoffte, es würde ein Priester aus ihm werden. Aber unser Vater hat andere Pläne für ihn.“

„Was für Pläne?“

„Vater hofft, dass Conor, mit seinem guten Aussehen und seiner Intelligenz, seine Verbindungen in England dazu nutzen kann, unserem Volk am Hofe von Königin Elizabeth Gehör zu verschaffen.“

„Das scheint mir ein viel besser geeignetes Vorgehen für die erwünschten Veränderungen zu sein als Euer gewalttätiger Einsatz von Waffen.“ AnnaClaire lächelte.

„Ah, höre ich da so etwas wie Missbilligung aus dem Munde meines Engels?“

„Ich halte nichts vom Kämpfen.“

Rory schaute sie so viel sagend an, dass AnnaClaire in höchster Verlegenheit das Thema wechselte. „Habt Ihr noch weitere Brüder?“

„Nein.“ Rory schüttelte den Kopf. „Wir haben nur noch eine kleine Schwester. Ihr Name ist Briana.“

„Ähnelt sie Conor, oder hält sie es lieber mit ihrem ältesten Bruder?“

„Das Mädchen verfolgt mich seit seiner Geburt wie ein Schatten.“ In seinem Tonfall lagen Wärme und Stolz. „Sie versteht es schon sehr gut, ein Schwert zu schwingen. Und ich kenne niemanden, der ein Messer besser zu handhaben weiß als sie.“

Unwillkürlich lachte AnnaClaire. „Der Himmel bewahre uns vor einem weiteren kampfeslustigen Mitglied der Familie O’Neil.“

„Ja, Briana hat alle Anlagen, eine großartige Kämpferin zu werden, worüber unsere Eltern einigermaßen verzweifelt sind.“

„Erzählt mir mehr von Euren Eltern.“

„Mein Vater Gavin ist von adeliger Herkunft. Er stammt in direkter Linie von König Brian ab. Meine Mutter, sie wird Moira genannt, kann ihre Abstammung bis zu den Kelten zurückverfolgen. Obwohl die beiden schon so viele Jahre verheiratet sind, brennt ihre Liebe füreinander noch immer lichterloh.“

AnnaClaire dachte an ihre eigenen Eltern und deren Liebe zueinander. Ihr Vater hatte während der langen Krankheit seiner Frau furchtbar gelitten. Keine andere Frau würde je den Platz seiner über alles geliebten Margaret einnehmen können. Aus diesen Überlegungen heraus bemerkte sie: „Eure Eltern können sich glücklich schätzen, einander zu haben.“

„Ja, eine solche Liebe ist in der Tat sehr selten und umso wunderbarer, wenn man bedenkt, wie lange die beiden einander schon verbunden sind.“ Rory verfiel in brütendes Schweigen. Ob er wohl an die Frau dachte, die er hatte heiraten wollen? Wie unbeschreiblich bitter musste es für ihn sein, dass ihm seine Geliebte auf so grausame Weise entrissen worden war, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hatte, all die Dinge zu sagen und zu tun, von denen ihm das Herz überquoll.

AnnaClaire setzte ihren Becher ab. „Ich glaube, Ihr solltet jetzt versuchen, etwas Schlaf zu finden.“

„Ja, ich denke, dass es mir gelingen wird.“ Als er hörte, wie sie aufstand, umklammerte er plötzlich ihr Handgelenk. „Danke, bezaubernde AnnaClaire.“

„Wofür?“

„Dafür, dass Ihr es mir ermöglicht habt, meine Qualen für einige Minuten zu vergessen.“

„Das hat nichts mit mir zu tun“, wehrte sie ab. „Bedankt Euch bei dem Schmerzmittel.“

„Und richtet auch Bridget Murphy meinen Dank für den Haferbrei aus.“

„Ich werde es ihr sagen“, versprach AnnaClaire. Sie betrachtete ihn noch eine Weile, ehe sie leise hinausschlüpfte. Rory schlief bereits tief und fest.

Gegen Mittag betrat Bridget erneut das Gemach ihrer Herrin. Sie trug wieder ein mit Speisen beladenes Tablett.

„Wie lange wollt Ihr noch vorgeben, krank zu sein, Mylady?“, erkundigte sie sich bei AnnaClaire.

Diese zuckte kurz die Schultern. „Ich nehme an, dass ich irgendwann am späten Nachmittag eine wundersame Genesung werde erfahren müssen. Denn ich beabsichtige, an Lady Thornlys Abendgesellschaft teilzunehmen.“

„Fein. Ich komme dann später noch einmal zu Euch, bevor ich Glinna heraufschicke, damit sie Euch beim Ankleiden behilflich ist.“

„Vielen Dank, Bridget.“ AnnaClaire nahm der Haushälterin das Tablett ab und schickte sich an, die schmale Stiege hinaufzusteigen. Im Gehen drehte sie sich um und sagte: „Ach, Bridget, Rory O’Neil bat mich, dir ein Kompliment für den Haferbrei auszusprechen. Er meinte, er schmecke sehr viel besser als der, den seine Mutter immer zubereitet habe.“

Die alte Frau strahlte über das ganze Gesicht und eilte geschäftig davon. AnnaClaire dachte verwundert: Wie kommt es nur, dass ein so einfaches Lob von einem harten Kämpfer derart starke Gefühle in Bridget auslösen kann?

In der Dachkammer fand sie Rory schweißgebadet vor. Er versuchte gerade, sein Schwert, das zu Boden gefallen war, aufzuheben. Er brauchte dazu beide Hände und ließ sich erschöpft in die Kissen fallen, nachdem es ihm gelungen war, die Waffe wieder neben sich auf dem schmalen Bett unterzubringen.

AnnaClaire sah sofort, dass die Wunde an seiner Schulter wieder aufgeplatzt war und stark blutete.

„Nun seht nur, was Ihr angerichtet habt“, schalt sie, während sie das Tablett absetzte und sich besorgt über ihn beugte. Mit einem Stück sauberen Leinentuchs tupfte sie behutsam die Wundränder ab. „Und das nur wegen einer dummen Waffe.“

„Dumme Waffe?“, wiederholte Rory scharf und umfasste mit hartem Griff ihr Handgelenk. Erschrocken sah sie ihm in die Augen. „AnnaClaire, Ihr habt ja keine Ahnung, wovon Ihr redet“, stieß er hervor. „Was wisst Ihr schon davon, wie es ist, wenn man einer Meute englischer Soldaten gegenübersteht, von denen jeder Einzelne sein Schwert mit mörderischer Kraft schwingt. Dann wäre Euch kein Preis zu hoch für eine Waffe, mit der Ihr Euch verteidigen könntet.“

„Aber hier sind weit und breit keine Soldaten, Rory. Dieses Versteck ist ganz und gar sicher.“

Nachdenklich sah er sie an. „Wie kann ich dessen eigentlich sicher sein?“

„Ihr habt mein Wort. Reicht das nicht?“

Nach kurzem Überlegen nickte er. „Ja, wenn Ihr es sagt, ist mir das tatsächlich genug.“

„Ihr solltet Eure Kräfte schonen und Euren Verletzungen die Möglichkeit zum Heilen geben“, ermahnte AnnaClaire ihn.

„Ja, das sollte ich wirklich tun.“ Rory lockerte seinen Griff, gab aber ihr Handgelenk nicht vollends frei, während sie sich um die Wunde kümmerte. Sie spürte seinen Blick, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Zu allem Überfluss kam hinzu, dass Rory ihren jagenden Puls am Handgelenk fühlen konnte.

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Ruth Langan
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