Historical Exklusiv Band 87

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VERBOTENE NÄCHTE MIT DEM LORD von SOPHIA JAMES

"Mein Lohn soll ein Kuss sein!" Viele junge Damen würden ihre Seele geben, um diese Worte aus dem Mund des verwegenen Lord Hawkhurst zu hören! Der schönen, leidgeprüften Aurelia steht der Sinn zwar gar nicht nach Frivolitäten, doch Stephen ist der Einzige, der ihr jetzt helfen kann! Errötend öffnet sie ihre Lippen - nicht ahnend, dass der Mann, unter dessen kundigen Liebkosungen sie erbebt, ein dunkles Geheimnis hat ...

EINE SKANDALÖSE LIAISON von JULIA JUSTISS

Evan Mansfield, Earl of Cheverly, gilt gemeinhin als äußerst besonnen. Doch dann tritt die junge, schöne Hutmacherin Madame Emilie in sein Leben. Ihr skandalöses Angebot, seine Geliebte zu werden, ist für ihn eine aufregende Versuchung, der er sofort erliegt. Immer drängender wird sein Wunsch, Emilie ganz zu der Seinen zu machen. Ein Ansinnen, das aus Gründen des Standesunterschieds jedoch völlig ausgeschlossen ist!


  • Erscheinungstag 02.02.2021
  • Bandnummer 87
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502252
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sophia James, Julia Justiss

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 87

1. KAPITEL

England, Juni 1855

Stephen Hawkhurst, Lord of Atherton, spürte, wie der salzige Wind Taylor’s Gap die Klippe zum Meer emporwehte. Er runzelte die Stirn, als er die Brise einatmete. Nur ein hölzernes Geländer trennte ihn vom Jenseits.

Es wäre so einfach, es zu beenden, einfach loszulassen und sich ins Nichts fallen zu lassen. Er drückte fester und spürte, wie das Geländer nachgab und ein paar Steine den Abhang hinab in die Tiefe stürzten.

„Wenn Sie springen, sollten Sie nach Möglichkeit genau zwischen dem Felsen und der Klippe landen“, ertönte eine Stimme hinter ihm und eine kleine, behandschuhte Hand deutete nach unten. „Wenn Sie zu weit nach links driften, werden Sie von den Büschen dort abgebremst und ein solcher Aufprall würde sie nur verkrüppeln. Nach rechts wäre die bessere Lösung, denn der Felsen wird Sie abfangen, bevor Sie dort ins Meer fallen. Wenn Sie allerdings ein guter Schwimmer sind …“ Sie hielt inne.

Hawk erstarrte und drehte sich zur Seite. Neben ihm stand eine Frau, deren gesamtes Gesicht von einem schwarzen Schleier verdeckt wurde. Ihre Kleidung war schwer und praktisch. Eine Geschäftsfrau womöglich? Oder die Tochter eines Händlers? Bei Gott, was war das für ein Zufall? Sie waren meilenweit von allem Leben entfernt und hier stand sie: die Stimme der Vernunft.

„Wie kommen Sie darauf, ich würde nicht nur die Aussicht genießen.“ Der Ärger in seiner Stimme war unangebracht und er verhielt sich Damen gegenüber sonst nur selten unhöflich. Doch diese Dame war alles andere als eingeschüchtert.

„Dann sieht man für gewöhnlich zum Horizont, Sir. Die Sonne geht gerade unter und Sie hätten ihr Augenmerk auf diesen Anblick gerichtet.“

„Dann bin ich vielleicht müde?“

„Wären sie erschöpft, würden sie schwerfällig gehen und Ihre Schuhe wären nach einer großen Anstrengung mit Staub bedeckt.“ Sie senkte den Kopf, um hinunterzusehen. Stephen stellte sich ihre Zufriedenheit angesichts seiner neuen, schwarz glänzenden Reitstiefel vor. Er wünschte, sie würde sich umdrehen und gehen, aber sie stand schweigend und abwartend da und atmete ruhig und gleichmäßig.

Er betrachtete die umliegenden Wege und sah niemanden. Sie war also allein. Wie ungewöhnlich für eine Dame, ohne Begleitung unterwegs zu sein. Er fragte sich, wie sie hierhergekommen war und wohin sie sich wenden würde.

Im Daumen ihres rechten Handschuhs war ein Loch und ein nicht polierter Nagel war bis auf das Nagelbett angebissen. Der Hut, den sie trug, verbarg ihr Haar völlig, obwohl eine Locke leuchtend roten Haars sich gelöst hatte und über ihrer dunklen Kleidung lag wie Rubine über einer Kohleschicht. Unter einem schweren Parfum ahnte er den leichten, frischen Duft von Veilchen.

„Als kleines Mädchen bin ich oft mit meiner Mutter hier gewesen und sie stand einfach nur hier, wo ich jetzt stehe, und sprach davon, was in den verschiedenen Richtungen, auf die ich deutete, hinter dem Meer lag.“ Sie sagte dies, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Es gefiel ihm, dass sie nicht jeden Augenblick mit Geplapper zu füllen versuchte. „In dieser Richtung liegt Frankreich, dort Dänemark. Und tausend Meilen nord-östlich würde ein Boot an der felsigen Küste des norwegischen Königreichs zerschellen.“

Sie sprach mit einem leichten Akzent, obwohl Hawk den Tonfall nicht genau einordnen konnte. Der Gedanke überraschte ihn, denn er war ein Meister darin, das zu erkennen, was die Leute zu verbergen suchten. Schließlich war das sein Beruf.

„Wo ist Ihre Mutter jetzt?“

„Oh, sie hat England vor vielen Jahren verlassen. Sie ist Französin, verstehen Sie, und mein Vater hatte nicht das Bedürfnis, ihr das Reisen zu verbieten.“

Sein Interesse war sofort geweckt und er trat einen Schritt zurück. „Er hat sie also nicht begleitet?“

„Papa liebt Bücher und Poesie. Im Gegensatz zu ihr lag seine Vorstellung von einem glücklicen Leben im Häuslichen und er behauptete, ein größeres Abenteuer als eine Bibliothek voller Bücher könne er sich nicht vorstellen.“

„Die Abenteurerin und der Gelehrte? Eine interessante Verbindung. Welcher Elternteil ist Ihnen lieber?“ Die Frage kam aus dem Nichts, denn Stephen hatte sie ganz sicher nicht stellen wollen, aber die Dame hatte einen Charme, der … ungewöhnlich war. Es war lange her, dass er sich mit jemandem so lebendig gefühlt hatte.

Mit einer Hand fuhr sie sich übers Gesicht und zog den Schleier dichter an ihre Wange. Im schrägen Licht des Sonnenuntergangs konnte er eine fein geschnittene Nase erkennen. „Keiner“, erwiderte sie. „Um genau das zu tun, was man tun möchte, braucht man eine gewisse Menge an Freizeit, die ich nicht habe.“

„Weil Sie den ganzen Tag damit beschäftigt sind, die umfangreiche Bibliothek Ihres Vaters neu zu ordnen?“ Er musste lächeln.

„Wir alle haben eine Geschichte, Sir, obwohl Ihre Vermutungen ebenso an der Wahrheit vorbeigehen wie jegliche Geschichte, die ich mir über Sie ausdenken könnte.“

„Was würden Sie über mich sagen?“

„Ich würde sagen, dass Sie ein Mann sind, der andere anführt, obwohl nur wenige Sie wirklich kennen.“

Diese Aussage traf ihn bis ins Mark, denn sie hatte recht. Er zeigte anderen Menschen nur selten, wer er wirklich war.

Aber sie war noch nicht fertig. Sie nahm seine Hand, drehte die Handfläche nach oben und fuhr die Linien mit dem Finger nach. Stephen wollte sie zurückziehen, fort von all den Dingen, die sie sehen oder auch nicht sehen mochte.

„Sie haben eine hohe Falsettstimme, wenn Sie singen, trinken selten hochprozentigen Alkohol und wetten niemals bei den Neujahrsrennen in Newmarket.“

Ihre Stimme klang amüsiert und er atmete erleichtert auf. „Sie haben recht. Sie sollten einen Stand auf dem Leadenhall Market eröffnen.“

„Es ist eine Gabe, Sir“, erwiderte sie und neigte den Kopf, als schätzte sie ihn genau ab. Wie ein Naturforscher ein Insekt beobachtete, bevor er es mit der Nadel aufspießte. Etwas an ihrer Ruhe machte ihn nervös. Er bemühte sich, den Rest ihres Gesichts hinter dem Schleier zu erkennen.

„Wie heißen Sie?“ Plötzlich wollte er genau wissen, wer sie war und woher sie kam. Zufälle gab es nur selten. Zumindest das hatte ihn sein Beruf gelehrt.

„Aurelia, Mylord“, antwortete sie und sprach seinen Titel mit einem neuen Tonfall aus, einem Tonfall, den er nur zu gut kannte. Sie nannte keinen Nachnamen.

„Also wissen Sie, wer ich bin?“

„Viele Menschen haben mir von Ihnen erzählt.“

„Und das Gerede von Fremden birgt natürlich immer nur die Wahrheit.“

„Meiner Erfahrung nach verbirgt sich unter dem ausgeschmückten Geschwätz meist ein Körnchen Wahrheit. Es heißt, Sie verbringen viel Zeit außerhalb Englands und seiner feinen Gesellschaft?“

„Ich langweile mich schnell.“

„Oh, das bezweifle ich sehr.“

„Und ich bin rasch enttäuscht.“

„Das würde erklären, warum Sie hier bei Taylor’s Gap sind.“

Er atmete heftig aus. Plötzlich kroch der Gedanke an Erpressung in ihm hoch.

Sie blickte ihn direkt an und hob ihren Schleier. Das erste, was er sah, waren Sommersprossen, die auf ihrem Nasenrücken verteilt waren. Dann bemerkte er, dass ein Auge blau und das andere dunkelbraun war. Ein Engel mit einem Makel!

„Es war ein Unfall. Eine Blutung. Ich bin vom Pferd gefallen, als ich noch ein Kind war, und habe mir den Kopf angestoßen.“ Sie erklärte dies in einem Ton, als habe sie es schon oft gesagt.

Sie war so blass, dass man das Blut in ihren Adern durch die Haut hindurch sehen konnte. Zart wie die Flügel eines Schmetterlings. Er wollte sich nach vorne beugen und sie berühren, aber etwas in ihren Augen hielt ihn davon ab. Er kannte diesen bittenden Blick, denn er war so reich, dass nur wenige der Versuchung widerstanden, an seine Großzügigkeit zu appelieren.

Aber von ihr hatte er das nicht erwartet. Die Enttäuschung durchbohrte ihn, als sie nun wieder zu sprechen begann.

„Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Lord Hawkhurst.“

„So, tatsächlich.“

„Ich habe eine Schwester, Leonora Beauchamp, die sowohl jung als auch schön ist, und ich möchte, dass sie einen Mann heiratet, der gut für sie sorgt.“

Als er begriff, was sie gesagt hatte, wurde er wütend. „Ich bin nicht auf der Suche nach einer Gemahlin, Ma’am, gleichgültig, was Sie über diese Begegnung erzählen werden.“

Ihre Stimme zitterte, als sie weitersprach. „Ich bitte Sie nicht, sie zu heiraten. Ich bitte Sie nur, Leonora zu dem Ball einzuladen, den Sie nächste Woche in ihrem Stadthaus geben. Ich werde sie begleiten. Ein Tanz sollte genügen, vielleicht auch zwei, wenn es Ihnen recht wäre. Danach, das verspreche ich Ihnen, werden sich unsere Wege nie wieder kreuzen.“

Sein Ärger ließ etwas nach. „Wohin soll ich die Einladung schicken?“

„Braeburn House in der Upper Brook Street. Jeder Lieferjunge kennt die Adresse.“

„Wie alt ist Ihre Schwester?“

„Achtzehn.“

„Und Sie?“

Sie antwortet nicht und ihm wurde das Herz schwer, als er auf sie hinabblickte. „Also sind Sie Aurelia Beauchamp?“

Ihr Kopfschütteln überraschte ihn. „Nein, das ist Leonoras Nachname. Falls Sie sich in der Lage sehen, meine Schwester trotz einiger … Bedenken willkommen zu heißen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ Sie zog einen Handschuh aus, griff in ihre Tasche und zog einen Anhänger mit einem Diamanten, der in Weißgold gefasst war, hervor. „Ich bitte Sie nicht, es umsonst zu tun, Lord Hawkhurst, aber wenn Sie der Abmachung zustimmen, dann erwarte ich, dass sie ihren Teil ohne Wenn und Aber erfüllen. Können Sie mir das versprechen?“

Neugier vertrieb seinen Zorn. Die geröteten Wangen standen ihr besser als jeder anderen Frau, die er je gesehen hatte. Sie war eine Schönheit! Unter dem Stoff an ihrer anderen Hand sah er die Umrisse eines Rings.

War sie verheiratet? Wenn sie seine Frau gewesen wäre, hätte er sie nicht so unbeschützt durchs Land ziehen lassen.

Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Unbeschützt? Gott, entwickelte er doch noch ein Gewissen? Einunddreißig Jahre alt und voller Ecken und Kanten. Seine Finger gruben sich in seine Schenkel und er zwang sich einzuatmen. Die Seelen derer, die er ins Jenseits befördert hatte, riefen nach ihm.

Für Königin und Vaterland. Oder für die zweifelhaften Interessen der Männer, die zuständig für eine Außenpolitik waren, die Jahrzehnte hinterherhinkte. Ja, England hatte ihm nicht gedankt und er wollte auch keinen Dank. Aber manchmal, wenn er sich in einer ruhigen Ecke der Welt befand, in der Gesellschaft einer Frau, die so schön und so betörend war, wünschte er sich … etwas anderes.

Er konnte es nicht genau benennen. Es lag zu weit ab von den Pfaden, denen er in seinem Leben gefolgt war, erst aus Abenteuerlust, dann aus Gewohnheit.

Mord war falsch, selbst wenn es um die nationale Sicherheit ging. Seine Eltern hätten ihm das vorgehalten, wenn sie noch lebten. Aber sie waren lange tot und das einzige Familienmitglied, das ihm noch raten konnte, war Alfred. Der verwirrte Verstand seines Onkels kreiste meist um die Erinnerungen an Wellingtons Feldzug gegen Napoleon auf der Iberischen Halbinsel, die Gegenwart war jedoch größtenteils in den vernarbten Überresten seiner linken Schläfe verloren gegangen.

Das Licht des Sonnenuntergangs zog über ihr Gesicht und tauchte die makellose Haut in das Rosa der Abenddämmerung. Allein sie anzusehen raubte ihm den Atem. Wie ein Engel, der einem Sünder Erlösung bringt, wärmte ihre zarte Erscheinung ein Herz, das seit langem unter einer Eisschicht verborgen war.

„Behalten Sie ihren Anhänger, Ma’am, denn ich möchte eine andere Bezahlung, hier an der frischen Luft und weitab von den Menschen.“ Sein neckendes Gerede verbarg das Pulsieren seines anwachsenden Verlangens. Ein Teil von ihm wusste, er sollte eine Bitte, die ebenso unangemessen wie banal war, nicht aussprechen, aber er ignorierte diese Warnung. Er hatte zu lange unter Menschen von zweifelhaftem Ruf gelebt. Aber manchmal, so wie jetzt, wand sich die Sehnsucht nach dem guten Leben, das er hätte haben können, wie ein Wurm durch sein Innerstes. Er sollte sich umdrehen und gehen und das kleine bisschen Anstand, das ihm geblieben war, beschützen.

Aber er tat es nicht.

Stattdessen fasste er in Worte, was sich seit dem Moment, in dem er sie gesehen hatte, in ihm aufgebaut hatte. „Ich möchte als Belohnung nur einen Kuss, gegeben aus freien Stücken und ohne Zorn.“

Sie winkte ab, den Diamanten immer noch in der Hand. „Ihr versteht nicht, Mylord. Ich muss meine Schwester der guten Gesellschaft vorstellen. Ich suche kein Liebesverhältnis für mich.“

„Dann lehne ich Ihre Abmachung ab.“

Sie stand still und reglos da, lange schlanke Finger kneteten die Falten ihres dunklen Rocks: Ein Stück entfernt versammelten sich die Vögel für ein letztes Lied, bevor sie schliefen.

„Nur ein Kuss, sagen Sie?“, flüsterte sie ungläubig.

Dunkles Rot legte sich über ihre blassen Wangen.

Bald würde er ihren Namen erfahren und dann würde er sie ebenso verachten wie alle anderen es taten, es war zu spät, um daran etwas zu ändern. Aber sie durfte Leonoras Chance nicht verspielen, Teil der hochrangigsten Londoner Gesellschaft zu werden.

Die einzige Chance.

Manchmal warf das Schicksal einem einen Rettungsring zu und wer war sie, ihn abzulehnen? Hätte er um mehr gebeten, hätte sie nicht nein sagen können. Für Leonora und die Zwillinge. Es stand mehr auf dem Spiel, seit ihre Vermögensverhältnisse sich verschlechtert hatten und Papa … Sie schüttelte den Kopf. Sie würde jetzt nicht an ihn denken.

Liebe Güte, warum nahm er nicht einfach den Anhänger? Er war so viel mehr wert als dieser Unsinn, den er verlangte. Und wie sollte der Kuss aussehen? Trat sie ihm entgegen und wartete oder erwartete er Koketterie?

Eine Weigerung würde einen Mann wie ihn nur anspornen. Sie wusste das. Es war besser, vernünftig zu sein und ihm diesen kleinen Gefallen zu gestatten. Ihre Lippen an seine zu drücken und die Augen fest zu schließen, bis es vorbei war.

Als sie seine Finger an ihrem Hals spürte, konnte sie nicht mehr klar denken, so unerwartet traf sie die sanfte, sinnliche, spielerische Berührung. Wäre sie stärker gewesen, wäre sie vielleicht einen Schritt zurückgetreten und gegangen. Aber zu spüren, wie ein Mann, dessen Name Hysterie und Ekstase unter den meisten Frauen Englands hervorrief, sie liebkoste, war überwältigend. Sie konnte sich weder bewegen noch sich dagegen wehren. Die Schnürung, die ihr Kleid zusammenhielt, war dick und fest, eine widerstandsfähige Barriere gegen vertraulichere Berührungen. Sie war froh über diesen Schutz.

Aber es überraschte sie, dass er mit seiner freien Hand einfach ihren Hut vom Kopf zog.

„Die Farbe des Feuers“, beschrieb er ihr Haar.

Oder der Schande, dachte sie. Die Sonne ging in einem dunklen Bernsteinton am Horizont unter. In seinem Gesicht sah sie das, was sie so oft in den Gesichtern der anderen gesehen hatte.

Unsicherheit.

All die Schwierigkeiten ihres Lebens stiegen aus ihrem Inneren empor, durchstreiften ihren Kopf und sie schloss die Augen.

„Nein. Ich will, dass sie mich ansehen.“ Er wartete, bis sie gehorchte.

Er kam näher und atmete an ihrer Haut. Das dunkle Grün seiner Pupillen war umgeben von Goldbraun. Sie hätte in diese Augen hineinfallen mögen. Verwirrt spürte sie, wie er sie mit seinem muskulösen Arm an sich zog. An diesen Augenblick würde sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern! Eine hitzige Vorfreude pulsierte in ihr.

Das Blut durchströmte ihren Körper und riss die Angst mit sich fort, wie ein Fluss, der seine Ufer überflutete, der ungebremst über das Land hineinbrach und alles veränderte. Eine neue Wahrheit.

Seine Hitze überraschte sie. Ihre Haut schien in Flammen zu stehen, als seine Lippen ihre für sich beanspruchten. Sie vergaß, dass sie ihm nur ein kleines Pfand hatte geben wollen, und gewährte stattdessen seiner Zunge Einlass.

Er schmeckte sie, drängte tiefer und süße Qual wand sich aus den Tiefen ihrer Seele hervor. Wie von selbst fanden ihre Finger seinen Nacken, fuhren durch die dunklen Strähnen, und ihr Körper drängte sich an seinen. Nichts trennte sie. Sie spürte, wie er sie fester in die Arme nahm, die Qual des Verlangens überwältigte ihre Sinne, und sie öffnete sich ihm weiter. Ihr ganzer Körper, ihre Mitte an seine Männlichkeit gepresst, war voller Lust. Er stöhnte ebenso wie sie, unkontrolliert, und in der weiten Natur um sie herum schien es nichts zu geben als seine Berührung.

Er gehörte ihr. Sie wollte mehr. Sie wollte das, wovon sie spät abends in ihrem Bett gelesen und geträumt hatte, als das ganze Haus geschlafen hatte und die Feuer in den Kaminen langsam erloschen.

Sie spürte seine Männlichkeit durch den Wollstoff ihres Rocks, als er seinen Kopf zurücklegte und den Kuss unterbrach.

„Himmel.“ Er klang weder sanft noch erfreut. Eher barsch, verärgert und unsicher. Sein Mund liebkoste ihren Hals, biss sanft hinein, forderte alles. Als sein Daumen über ihre harte Brustknospe unter dem Baumwollstoff glitt, verging sie einfach. Die Kontrolle, die sie so verzweifelt zu behalten versucht hatte, löste sich in Chaos auf.

Er hielt sie fest, während die Stille der Landschaft und ihre Verzückung sie erzittern ließen. Kein Verstand, nur Gefühl. Als er ihr Kinn anhob, erkannte sie, wie sehr er es genoss, sie anzusehen. Wellen der Leidenschaft ließen sie stumm nach Luft schnappen. Sie war verloren und errettet zugleich, das Gold in seinen Augen zeigte ihr eine andere Realität, ohne dass sie es bemerkte, fuhren ihre Fingernägel über die Haut an seinem Nacken. Waren es tausend Stunden oder nur ein Augenblick? Dann materialisierte die Welt sich wieder, und sie standen oben auf Taylor’s Gap.

Aurelia war erst verlegen, dann schämte sie sich. Wenn er sie losließ, würde sie fallen, als habe sie keine Knochen im Leib. Sie konnte nicht mehr aufrecht stehen. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag. Der starke, gleichmäßige Rhythmus brachte sie zurück.

„Danke.“ Mehr konnte sie nicht sagen und weniger zu sagen wäre unangemessen gewesen.

Oh Gott. Wie nah er ihren Körper an seinem gespürt hatte. Wie sie ihn voller Verwunderung in den Augen ansah. Es war wie Magie, wie flüssiges Silber. Wie all seine Träume in einer Person, als ihre langen roten Haare sich an seiner Haut lockten wie die die Schlangen auf Medusas Kopf.

Er wusste nichts über sie, außer, dass er diese fleischliche Verbindung zu ihr hatte.

Aber er wollte sie. Er wollte sie unter den Büschen hinlegen und ihr das schwarze, unansehnliche Kleid ausziehen. Er wollte ihre schlanken, blassen Glieder im Licht des aufgehenden Mondes sehen, während er seine Hände über ihren Körper wandern ließ und schließlich in die feuchte Wärme ihres Inneren eindrang. Er wollte sie immer wieder nehmen, bis nichts mehr von ihm übrig war und er mit der Ewigkeit verschmolz.

Seine Männlichkeit wuchs angesichts dieses Bewusstseins, und er konnte die Schwellung nicht aufhalten.

Sie spürte es auch. Er sah, wie in ihren Augen das Bewusstsein der Gefahr aufflackerte, als sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr. Er hörte, wie ihr Atem schneller wurde, sah eine Ader an ihrer Schläfe pulsieren.

Diese Frau gehörte ihm. Er wollte sie. Gefährlich und doch verlockend stieg ihm ihr Duft in die Nase und alle Regeln ritterlichen Verhaltens waren vergessen.

„Gehen Sie.“ Mehr brachte er nicht heraus, denn er traute es sich nicht zu, dieses Verlangen zu unterdrücken. „Ich werde Ihnen die Einladungen schicken.“

Sie musste den Zorn in seiner Stimme bemerkt haben, denn sie wich zurück, ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Ihr Haar wehte im Wind, als sie sich umdrehte. Dann hörte er Schritte, bevor es still wurde und nichts außer aufgewirbeltem Staub zurückblieb.

Vor dem Geländer kniend hielt Stephen sich am Holz fest. Er spürte nur noch Verzweiflung. Gott, es wurde schlimmer, seine Niedergeschlagenheit, die ihn in den frühen Abendstunden wie auch mitten in der Nacht heimsuchte. Die Dämonen seiner Vergangenheit, Armeen verlorener Seelen und sein Scheitern versammelten sich und vernichteten alles, wofür er auf der Suche nach Gerechtigkeit gestanden hatte. War alles umsonst gewesen?

Er zerdrückte den schwarzen Hut, den sie in seiner Faust zurückgelassen hatte, dann suchte er nach dem Flachmann mit Brandy in seiner Jackentasche und löste die silberne Kette. Er trank einen großen Schluck und wusste genau, dass das einzige, das ihn noch bei Verstand hielt, der Trost war, den ihm der Alkohol spendete.

Die gemietete Kutsche wartete dort, wo sie sie verlassen hatte. Sie stieg hinein und befahl dem Kutscher loszufahren, bevor sie sich richtig hingesetzt hatte.

Fort. Nur fort von hier. Das war alles, was sie wollte.

Sie hätte niemals hierherkommen dürfen, aber die Erinnerung an ihre Mutter war hier stark. Und heute, als sie von den Spinnereien nach London gefahren war, hatte sie anhalten und sich erinnern wollen.

Sylvienne hatte sie oft hierher mitgenommen, weil dieser Ort sie an die Provence erinnert hatte. Hier stand sie für einige Augenblicke nicht mehr in England, sondern in Frankreich, spürte wie der Mistral über ihr Gesicht wehte und glaubte die Gebirgsstöcke der Alpillen im Rücken.

Aurelia hatte hier mit ihrer Mutter gestanden, die Finger mit den ihren verschlungen, während Sylvienne der Stille gelauscht hatte. Sie erinnerte sich immer noch genau an diese besondere Melancholie. Danach waren sie in eines der nahe gelegenen Dörfer gefahren, um zu essen, und Mama hatte von ihrer Kindheit erzählt. Von der heißen Sonne, von den Bäumen, die den Straßen Schatten spendeten, und von Feldern voller Blumen.

Und nun gab es eine neue Erinnerung. Aurelia hatte Lord Hawkhurst gleich erkannt, als sie ihn auf der Klippe im Wind hatte stehen sehen, sein schwarzer Mantel gebauscht und seine Erscheinung trotz aller Befürchtungen anziehend. Hatte sie dank ihrer lächerlichen Reaktion auf seinen Kuss seine Gunst erlangt oder verloren? Vor Scham atmete sie heftig aus und schalt sich für ihr unangemessenes Treffen mit Lord Stephen Hawkhurst.

Sie hätte darauf bestehen müssen, dass er den Anhänger als Bezahlung annahm, aber einen Moment lang hatte sie sich eine andere Realität gewünscht, hatte etwas über die unerwartete Leidenschaft und das Verschmelzen der Seelen wissen wollen.

Sie lächelte trocken. Nun, das hatte sie jedenfalls herausgefunden. Sie legte die Hand an ihre Lippen, berührte mit den Fingern die Stelle, an der sie verbunden gewesen waren, und versuchte, erneut die Euphorie und Lust zu verspüren.

Unerwartet und süchtig machend.

Die Art von Gefühl, die ihre Mutter in all den Jahren voller Liebhaber zu einer Kunstform erhoben hatte, immer auf der Suche nach diesem schwer fassbaren und schnell vergänglichen Augenblick der Hingabe und des Vergessens.

Aurelia runzelte die Stirn.

So durfte sie nicht sein, sie durfte nicht zulassen, dass Gefühle, die sie vor langer Zeit tief in sich begraben hatte, sich nun wieder rührten.

Welcher Elternteil ist Ihnen lieber?

Vor einer halben Stunde hätte sie ohne zu zögern mit „Papa“ geantwortet, aber nun …?

Nein. Sie musste damit aufhören, bevor noch weitere Gefühle aufzubrechen drohten. Sie hatte bereits erfahren, wie hoch der Preis für unbesonnene Entscheidungen war, und nun gab es andere, die sie brauchten, die von ihr abhängig waren …

Tief Luft holend glättete sie ihre Röcke und zog ihre Handschuhe an. Sie war sehr geschickt darin, den Anschein von Kontrolle zu vermitteln. Das Lächeln beiläufiger Gleichgültigkeit, das sie perfektioniert hatte, kehrte zurück und ihr rasender Herzschlag beruhigte sich.

Sie musste Lord Stephen Hawkhurst um jeden Preis aus dem Weg gehen. Zumindest das hatte sein Cousin sie gelehrt.

2. KAPITEL

London

Sie ist eine bezaubernde junge Dame aus guter Familie, Hawk. Hübsch. Behütet aufgewachsen.“

Etwas an der Art, wie Lucas Clairmont die Vorzüge von Lady Elizabeth Berkeley auflistete, machte ihn nervös.

„Du hast schließlich selbst gesagt, du wollest sesshaft werden und tausend Meilen von den Intrigen Europas und seiner Politik entfernt sein. Als einzige Tochter einer respektablen und adeligen Familie ist sie wohl die Richtige für dich.“

Hawk trank sein Glas aus und goss sich ein weiteres ein, bevor er die Frage stellte, die ihm Sorgen machte.

„Luc, als du Lillian getroffen hast, welche Gefühle hat sie in dir geweckt?“

„Meine Frau hat mir beim ersten Blick den Boden unter den Füßen weggezogen und ich habe sie dafür gehasst, während ich sie gleichzeitig so sehr begehrt habe wie noch nie eine Frau zuvor.“

„Ich verstehe. Elizabeth ist eher wie eine sanfte Brise oder eine spürbare Ruhe. Sie fühlt sich an wie eine Porzellanpuppe, die in tausend Teile zerbrechen würde, würde ich mehr als ihre Hand küssen.“

Auf dieses Geständnis folgte Schweigen. Verdammt, dachte Stephen, er hätte nichts sagen sollen, hätte den Mund halten und diese angenehme und vorteilhafte Verbindung nicht infrage stellen sollen. Er war nicht mehr jung und Elizabeth Berkeley kam dem am nächsten, was er in einer Frau suchte.

„Es gibt verschiedene Arten von Anziehungskraft, vermute ich“, erwiderte Luc schließlich. „Letzte Woche schienst du mit dem Arrangement recht zufrieden zu sein. Was hat sich geändert?“

„Nichts.“ Die Wände des Zimmers schienen auf ihn zuzukommen, als Hawk an das feuerrote, seidige Haar dachte, das lebendig wie eine züngelnde Flamme durch seine Finger geglitten war.

Elizabeth hinterfragte ihn nicht. Sie sah nur das Gute in den Menschen, war ein Muster an Sanftmut und Charme.

Ihm wurde von seinem Unbehagen schwindelig, ein Gefühl dumpfer Leere machte sich in ihm breit. Was würde eine solche Frau in ihm sehen, wenn er ihr sein Inneres offenbarte? Nein, das würde er niemals zulassen.

„Ihre Familie erwartet, dass du um ihre Hand anhältst. Falls du also Zweifel hast …?“

„Nein.“

Verdammt, er mochte Elizabeth. Er mochte ihre Ruhe und ihre Genügsamkeit. Ihm gefielen ihre Grübchen, ihr sonniges Gemüt und ihre hellblauen Augen, die immer freundlich waren. Er brauchte Frieden und Heiterkeit, und das würde sie ihm geben, Sie würde ihn beruhigen und das Chaos, das ihn verzehrte, besänftigen. Er goss sich ein drittes Glas ein.

„Du trinkst mehr als je zuvor, Hawk. Nat macht sich auch Sorgen um dich.“

Er lächelte ein Lächeln, das beruhigend wirken sollte. Lucas Clairmont, Nathaniel Lindsay und er waren seit ihrer Kindheit die besten Freunde, und sie hatten alle ihre Dämonen.

„Ich erinnere mich daran, dass ich dir dasselbe vor nicht allzu langer Zeit gesagt habe.“

„Wenn du darüber reden möchtest …“

„Es gibt nichts zu sagen. Ich werde mich mit einer Frau verloben, die ebenso schön wie gutherzig ist. Sie wird mir Erben schenken und im Gegenzug werde ich ihr die Sicherheit des Atherton-Titels und meines Wohlstands geben.“

„Das klingt nach einem gewinnbringenden Arrangement für beide Seiten. Eine Vernunftehe.“ Der dumpfe, verurteilende Klang dieser Worte besorgte ihn.

„Ich bin es leid, Luc, ich bin all das, was ich gewesen bin, leid. ‚Ein gewinnbringendes Arrangement‘, wie du es nennst, ist vielleicht keine schlechte Sache. Umgeben von Häuslichkeit werde ich glücklich sein.“

„Alexander Shavvon meinte, du tust mehr, als nur Codes für das Innenministerium zu entschlüsseln?“

„Shavvon konnte noch nie seinen Mund halten.“

„Zehn Jahre im Geheimdienst sind zu viel. Nat hat fünf Jahre gedient und beinahe seine Seele verloren. Er schwört, dass der Tod am Ende auf jeden abfärbt.“ Das Urteil in den Worten seines Freundes war nicht sanft, aber Hawk wusste, dass die Warnung mit den besten Absichten ausgesprochen wurde.

Ich töte Menschen, dachte Stephen, als er seine Hand im Licht öffnete. Sie zitterte nun immer, das Zittern der Erinnerung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ich bin von der Macht korrumpiert. Die dunkle Nacht, die Stichflamme des Schießpulvers und das herabrinnende rote Blut. Das sind nun meine Farben.

Er wollte Luc davon erzählen, entweder um sich zu reinigen oder um Abbitte zu leisten, aber er war die Geheimniskrämerei zu sehr gewohnt und brachte die Worte nicht über die Lippen. Das war es wohl, was ein Leben in Tarnung mit sich brachte.

Er konnte sich in dem Mann, der er geworden war, kaum wiedererkennen. Natürlich verteidigte er das Königreich längst nicht mehr unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit – die vielen unschuldigen Leben, die diesem Ideal zum Opfer gefallen waren, hatten dafür gesorgt.

Ja, er brauchte die frische, unkomplizierte Unschuld von Elizabeth Berkeley wie ein Mann in der Wüste Wasser brauchte.

„Es geht mir gut, Luc. In weniger als einer Stunde werde ich einen Ball geben und mich in der Gesellschaft von Menschen befinden, die ich mag.“

„Also bist du ein glücklicher Mann?“

„Ja.“

Lucas nickte und beugte sich vor, während er sein Glas auf dem Knie balancierte. „Lilly hofft, dass du zu Hopes zwölftem Geburtstag nach Fairley kommst. Ich soll dir von ihr ausrichten, dass sie selbst herkommen würde, um deine Suche nach einer Ehefrau zu beaufsichtigen, wäre sie nicht guter Hoffnung.“

Lucs Worte lösten die Spannung merklich, beide lachten. Und als die Uhr acht schlug, standen sie auf.

„Lass die Ballnacht beginnen“, rief Lucas, als Stephen seinen Brandy austrank und sein Kammerdiener an der Tür klopfte, um ihnen Bescheid zu sagen, dass die ersten Gäste des Abends sogleich eintreffen würden.

Elizabeth Berkeley und ihre Eltern kamen mit der zweiten Welle der Gäste. Lady Berkeley sah wie eine ältere Version ihrer Tochter aus, und einen Augenblick lang konnte Stephen genau sehen, wie Elizabeth altern würde: Die feinen Linien um den Mund, die erschlaffende Haut über ihren Augen und die Leichtigkeit, mit der sie sich jedem Ereignis anpasste.

Er sah zu Elizabeth, die in zitronengelbe Seide und Spitze gekleidet war. „Es ist so schön, hier zu sein, Mylord“, wisperte sie fröhlich und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihre Fingernägel waren lang und glänzend poliert.

Plötzlich sah er vor seinem inneren Auge andere Finger, deren Nägel bis zum Nagelbett abgebissen waren. Der Gedanke erschreckte ihn, denn gut verborgen unter den Falten seines Kragens und des Krawattentuchs befanden sich immer noch die Spuren dieser Nägel.

Er schüttelte die Erinnerung ab und kehrte in die Gegenwart zurück. Die Berkeleys gingen weiter und die nächsten Gäste traten vor, um begrüßt zu werden.

Plötzlich stand sie neben ihm, als letzte der Gäste, das Haar wenig vorteilhaft hochgesteckt, das schwarze Baumwollkleid schlicht und sittsam.

„Mrs. Aurelia St. Harlow und ihre Schwester Miss Leonora Beauchamp.“

Eine Welle des Schweigens glitt durch den Raum, als ihr Name genannt wurde, und alle Augen richteten sich auf die Treppe. Aurelia war die Witwe von Charles St. Harlow? Bei Gott, sie war mutig.

„Wie kann sie es wagen, sich immer noch in der Gesellschaft blicken zu lassen?“

„Natürlich hat sie ihn umgebracht.“

„Hat diese Frau gar kein Schamgefühl?“

Hawk hörte die Gesprächsfetzen, als sie ihm ihre Hand gab.

„Ich danke Ihnen für die freundliche Einladung, Mylord“, sagte sie, obwohl sie ihn nicht ansah, „und möchte Sie meiner Schwester, Miss Leonora Beauchamp vorstellen.“

Das Mädchen war charmant, jung und wohlerzogen, aber Hawk lächelte nur flüchtig, bevor er sich wieder Aurelia zuwandte.

„St. Harlow war mein Cousin.“

Zum ersten Mal an diesem Abend sah sie ihn direkt an. Ihre Augen waren rot gerändert, aber ob es am Schlafmangel oder an schlecht aufgetragener Kosmetik lag, konnte er nicht sagen. Sie trug eine Brille mit so dicken Gläsern, dass sie die Form ihres Gesichts verzerrten.

„Dann sind wir ja beinahe verwandt.“ Das Lächeln, das diese Äußerung begleitete, war bitter.

Er dachte, Leonora hätte sich vielleicht abgewandt, aber Aurelia zog sie nun vor ihn und hielt sie dort fest, ihre Willenskraft stärker als die Abneigung im Saal, wie eine kleine Insel aus Herausforderung und Trotz.

Schließlich neigte sie sich vor und flüsterte: „Ich habe Ihnen die verlangte Bezahlung für diesen Abend gegeben, Mylord, und Leonora trifft keine Schuld. Zwei Tänze, und wir werden gehen.“

„Ich weiß nicht, Lia. Vielleicht sollten wir jetzt gehen.“ Tränen glitzerten in den verängstigten Augen des jungen Mädchens.

„Weine nicht, Leonora. Sie verachten mich. Sie werden dich mögen, wenn du es zulässt.“ Stephen sah, dass Aurelias Hand zitterte. Dennoch wich sie keinen Zoll zurück. Er konnte nicht anders als ihre Entschlossenheit zu bewundern.

„Wer sich in die Höhle des Löwen wagt, muss tapfer sein.“ Hawk sagte dies zu Miss Leonora Beauchamp und war froh, als das Mädchen lächelte, denn die Erleichterung in Aurelia St. Harlows Augen war grenzenlos. Die beiden verschiedenfarbigen Augen sahen ihn an.

Jahre der Täuschung fielen ihm ein. Verbarg man sich hinter einer Fassade der Schamlosigkeit, unterhöhlte das die Sicherheit der anderen. Wenn Aurelia St. Harlow es für eine Stunde oder länger hier ertrug, dann würden die Gerüchte nicht mehr ganz so verurteilend sein.

Himmel. Das Versprechen, mit ihrer Schwester zu tanzen, brachte ihn ebenfalls in eine schwierige Lage. Charles war außer seinem Onkel sein nächster noch lebender Verwandter gewesen, aber er hatte ihn kaum gekannt.

Er sah, wie die Berkeleys herübersahen. Elizabeth’ Lippen waren auf diese besondere Weise geschürzt, die Sorge ausdrückte. Er sah auch, wie Luc ihn beobachtete. Seine Stirn war ebenso ärgerlich gerunzelt wie die vieler anderer. Dennoch konnte Stephen sein Versprechen nicht brechen und die beiden hinauswerfen lassen.

Sein Onkel, der neben ihm stand, rettete die Situation, als er die Hand der Frau nahm, die nicht hätte hier sein dürfen.

„Ich erinnere mich an Sie, Mrs. St. Harlow. Sie sind Charles’ Gemahlin.“ Dass er das Präsens benutzte, ließ diejenigen in Hörweite aufhorchen. Hawks Erfahrung nach genoss niemand einen Skandal, der sich in der Öffentlichkeit zutrug, so sehr wie die feine Gesellschaft. „Wissen Sie, ich mochte sie von Anfang an, aber sie wurden immer trauriger. Sie muss mehr lächeln, Stephen. Bitte sie um einen Tanz.“

Die Mitglieder des Orchesters, das nur ein paar Yard entfernt war, sahen Hawk erwartungsvoll an, als sie den lauten Befehl seines Onkels hörten, und in den Gesichtern der Menge spiegelte sich eine Mischung aus Empörung und Betroffenheit.

Er konnte nichts tun, außer Leonora Beauchamp in der Obhut der freundlichen und fähigen Cassandra Lindsay zu lassen und Aurelia St. Harlow um einen Walzer zu bitten.

Der Tanz der Liebe, dachte er, als er sie auf die Tanzfläche führte, und fragte sich, warum der Gedanke ihm nicht so lächerlich erschien, wie er sollte. Er hoffte, dass sein rechtes Bein die Anstrengung ertragen würde, denn in letzter Zeit bereitete ihm die alte Wunde wieder Probleme.

Als er ihr die Hand auf die Taille legte, spürte er, wie sie erstarrte. „Ich würde es vorziehen, wenn meine Schwester hier stehen würde, Mylord, denn wenn Sie an den versprochenen zwei Tänzen festhalten, verschwende ich gerade die Hälfte davon.“

Angesichts dieses Kommentars musste er einfach lächeln. Als Antwort hielt er sie fester. Er spürte ihre üppigen Brüste. Als er herabsah, bemerkte er, dass sie hinter den dicken Brillengläsern blinzelte.

„Brillen sollen schlechtes Sehvermögen heilen, nicht verursachen, Mrs. St. Harlow“, sagte er leise.

„Aber Dinge, hinter denen man sich verstecken kann, sind recht nützlich, Mylord.“ Sie versuchte, sich ein wenig von ihm zu lösen, und er gab ihr den Freiraum, da sein Blut bereits heftig pulsierte. Auf der anderen Seite des Saals beobachteten Elizabeth Berkeley und ihre Familie sie eingehend. „Sehen Sie, bei einer Abendgesellschaft wie dieser ist es besser, nahezu unsichtbar für diejenigen zu sein, die mir nur Schlechtes wünschen.“

„Sie wünschen Ihnen Schlechtes, weil der Tod Ihres Gemahls keinen Sinn ergab. Die Tatsache, dass sie der einzige Mensch sind, der dabei war, als es passierte, ließ sie … schuldig aussehen.“

„Ein Gericht hat bewiesen, dass ich damit nichts zu tun hatte, Mylord. Es ist nicht mein Problem, dass die Gesellschaft sich weigert, diese durch Urkunden belegten Tatsachen zu glauben.“

„Charles war ein hervorragender Reiter.“

„Der beim Sprung über eine Hecke vom Pferd fiel.“

„Nach einem solchen Unfall endet man für gewöhnlich nicht mit einem Pfahl durch das Herz.“

„Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über den unglücklichen und frühen Tod meines Ehemanns zu sprechen.“

Der Mangel an Gefühl in ihren Worten brachte Hawk zum Schweigen, obwohl sein Zorn ein wenig gemildert wurde, als er spürte, wie heftig ihr Herz schlug. Sie war gut darin, Dinge zu verbergen, dachte er. Das war eine typische Eigenschaft für einen Spion.

„Warum sind Sie dann hier?“

„Ich habe drei jüngere Schwestern, die nur eine geringe Chance haben, vorteilhafte Verbindungen einzugehen, es sei denn, sie bewegen sich in der gehobenen Gesellschaft. Wie Sie sich vorstellen können, nachdem Sie gesehen haben, wie man mich hier empfangen hat, werden wir nur selten eingeladen. Ich versuche, Abhilfe zu schaffen.“

„Also verfolgen Sie Adelige in der Hoffnung, sie in kompromittierenden Lagen zu finden, und verleiten sie dazu, sie zu ihren gesellschaftlichen Ereignissen einzuladen?“

Überraschenderweise lachte sie auf. Der Laut drang durch ihn hindurch bis in die dunkle Leere seines Herzens und der Saal um sie herum schien sich in die windige Einsamkeit von Taylors Gap zu verwandeln.

War sie eine Hexe, mit ihren leuchtend roten Haaren und ihren unterschiedlichen Augen? Hatte sie seinen Cousin auf dieselbe Weise verhext? Er wünschte, die Musik würde enden und ihm die Flucht ermöglichen, aber das Orchester war mitten im Stück.

Aurelia St. Harlow fuhr fort, als hätte er sie nicht beleidigt. „Ich wusste nicht, dass Sie bei Taylor’s Gap sein würden, Lord Hawkhurst. Ich bin nur aus einer Laune heraus dort gewesen, um den Ausblick zu bewundern, und durch Zufall fand ich Sie.“

„Es war also Zufall?“

„Sie meinen unseren Kuss?“

Er konnte kaum glauben, dass sie so etwas mitten in einem überfüllten Ballsaal sagte, und sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand sie gehört hatte.

„Bei einer Abendgesellschaft wie dieser haben sogar die Wände Ohren, Mrs. St. Harlow, und es wäre klug, den guten Ruf zu wahren.“

„Oh, meiner ist schon vollkommen ruiniert, Mylord. Ich bezweifle, dass es irgendetwas gibt, das ihn noch mehr ruinieren könnte.“

Er musste erneut lächeln. Die Freiheit, die dieser Gedanke ausdrückte, war belebend. „Wie alt sind Sie?“ Er hatte die Frage aus reinem Interesse gestellt, bevor er darüber nachgedacht hatte.

„Sechsundzwanzig. Eine alte Jungfer. Eine Frau, abgestellt auf dem Regal des Lebens, und glücklich darüber.“ Sie ließ den Blick zu einer Gruppe Frauen im selben Alter wandern, die an der Wand saßen. „Ich hatte Mitleid mit ihnen, bis ich erkannte, wie frei sie eigentlich sind.“

Seine Finger schlossen sich enger um ihre, die heute von Handschuhen in einem Grauton bedeckt wurden. Er wünschte, er könnte ihre warme, weiche Haut darunter berühren.

„Mein Onkel scheint sehr von Ihnen angetan zu sein, und das will etwas heißen.“

Zum ersten Mal an diesem Abend sah er echte Wärme in ihrem Blick. „Ich habe ihn auch immer gemocht. Einmal zeigte er mir die Gärten des Atherton Landsitzes und ich half ihm, die Eier in den Hühnerställen einzusammeln.“

„Die meisten Menschen machen sich über ihn lustig.“

„Die meisten Menschen verabscheuen mich, also vielleicht verbindet uns diese Gemeinsamkeit.“

„Ich verabscheue Sie nicht, Aurelia.“

Sie stolperte, als er das sagte, und fiel gegen ihn. Sie errötete heftig und da die Musik in diesem Augenblick verklang, geleitete er sie zurück zu ihrer Schwester.

3. KAPITEL

Aurelias Wangen brannten und sie ärgerte sich. Lieber Himmel, sie tat genau das, was sie nicht hatte tun wollen. Sie fühlte wieder und der Schmerz in ihrem Herzen verwirrte sie.

Nicht hier, schalt sie sich, nicht hier, inmitten der Wölfe und Schakale die nichts lieber tun würden, als sie in Stücke zu reißen. Ein einfaches Mädchen ohne Titel kam nicht damit davon, einen der ihrigen so zu behandeln, wie sie ihren Ehemann behandelt hatte.

Sie biss die Zähne zusammen und schluckte. Die dicken Gläser ihrer Brille ließen den Raum verschwimmen und ihr wurde übel. Zumindest sah Leonora glücklich aus und der junge Mann neben ihr war sympathisch und ihr anständig vorgestellt worden. Vielleicht war dieser Abend doch kein Reinfall.

Lord Hawkhurst stand neben einer schönen Frau, deren Gesicht sehr freundlich war.

„Lady Cassandra Lindsay, darf ich Ihnen Mrs. Aurelia St. Harlow vorstellen.“

Lady Cassandra zögerte nicht, ihre Hand zur Begrüßung auszustrecken. Ihr Griff war warm und fest. Eine solch unerwartete Freundlichkeit war überraschend, denn normalerweise schlug Aurelia nur tadelnde Missachtung entgegen.

„Es ist lange her, dass Stephen sich so angeregt mit einer Tanzpartnerin unterhalten hat.“

„Ich befürchte, die Musik hat ihm nicht gestattet, sich von mir zu verabschieden, Mylady“, erwiderte sie. „Und ich bin sicher, er war sehr erleichtert, als er entkommen konnte, obwohl er meiner Schwester einen Tanz versprochen hat.“ Sie erwähnte das, weil Lord Hawkhurst, der auf der anderen Seite der Gruppe stand, alles andere als glücklich aussah.

„Oh, ich glaube, die Tanzkarte Ihrer Schwester ist bereits voll, Mrs. St. Harlow. Mein Bruder Rodney hat sich für mindestens zwei Walzer eingeschrieben.“

Leonora sah bezaubernd aufgeregt aus, als Lady Lindsay Aurelia ihren Bruder vorstellte, und ein Hauch von Hoffnung lag in der Luft.

Konnte es wirklich so einfach sein? Als Aurelia zu Lord Hawkhurst hinübersah, wurde das Goldene in seinen Augen kühl. Er war der größte Mann im Saal und auch der anziehendste. Kein Wunder, dass die Frauen über ihre eigenen Füße stolperten, um ihm nahe zu sein. Aber da war etwas unter der Fassade, die er dieser Gesellschaft zeigte, das … dunkler war.

Sie sah weg und nestelte umständlich ein Spitzentaschentuch aus ihrem Retikül. Charles hatte dieselbe Art Dunkelheit gehabt, und wohin hatte es sie gebracht?

Ihre Schwester hingegen lächelte glücklich. Aurelia hatte sie noch nie so lebhaft gesehen und hoffte, es war nichts Schlechtes. Wollten Männer, dass eine junge Dame so viel sprach? War es nicht zu kühn, einem Mann so auf den Arm zu tippen, wie sie es tat? Lady Lindsays Bruder sah jedoch nicht im Geringsten verärgert aus, also wurde ein solches Verhalten vielleicht erwartet. Der Kopfschmerz, der sich bereits den ganzen Tag über angekündigt hatte, hämmerte an ihren Schläfen. Sie bezweifelte, dass sich ihnen jemals wieder eine solch großartige Gelegenheit bieten würde. Der Gedanke, den Ball ohne Verbindungen verlassen zu müssen, war entmutigend.

„Mr. Northrup reitet gerne aus, Lia. Ich habe gesagt, er sollte uns bei einem Ausritt im Park Gesellschaft leisten.“ Die Augen ihrer Schwester waren groß vor Hoffnung. Sie waren von demselben Blau wie ihr Kleid.

„Vielleicht sollte er dann darauf achten, nicht über Hecken zu springen“, erwiderte Hawkhurst gedehnt, obwohl Cassandra Lindsay mit dem Fächer auf seinen Arm schlug.

„Beachten Sie Hawk nicht, Mrs. St. Harlow. Charles ist immer große Risiken eingegangen, wenn es darum ging, mit seinen reiterischen Fähigkeiten zu prahlen. Ich kann kaum glauben, dass er sich noch nicht den Hals gebrochen hatte, bevor er …“ Ihre Stimme verlor sich, sie runzelte die Stirn, und der Mann neben ihr, den Lia noch nicht kannte, vollendete den Satz.

„Bevor er so gestorben ist, wie man es aus den transsilvanischen Legenden kennt?“

Vampire? Davon sprach er? Das Gespräch in dieser Gruppe schien frech und schlagfertig zu sein. Es gab keine Tabus. Man schlich nicht um den heißen Brei herum und nach Charles’ Mangel an Humor war dieser Esprit erfrischend. Sie lachten auch viel, dachte sie, obwohl Lord Hawkhursts Lächeln seine Augen nicht erreichte.

„Beachten Sie Hawk und meinen Mann Nathaniel gar nicht, Mrs. St. Harlow. Ich weiß, wie schwer Charles’ Tod für Sie gewesen sein muss, und ich bin sicher, dass Rodney Ihrer bezaubernden Schwester gerne bei einem Ausritt am Nachmittag Gesellschaft leisten würde. Wo hier in London wohnen Sie?“

„Braeburn House in Mayfair, Mylady.“ Leonora beschrieb rasch den Weg, und Aurelia musste dem Scharfsinn ihrer Schwester Beifall zollen, weil sie die Gunst der Stunde genutzt hatte. Aber der Gedanke, dass Hawkhurst Ihnen einen Besuch abstatten könnte, war besorgniserregend.

Würde er bemerken, was sie zu verbergen suchte? Würde er erwarten, Papa kennenzulernen? Bestand die Möglichkeit, dass er mit Leuten aus der Gegend sprechen würde und begriff, was sie bisher so erfolgreich vor allen verborgen hatte?

Sie war so erschöpft von dem Versuch, alle Fäden ihres Lebens in der Hand zu behalten, dass sie kaum noch atmen konnte.

Als eine junge, blonde Dame und eine ältere Dame sich zur Gruppe gesellten, veränderte sich der Ton und man wurde einander vorgestellt.

„Sie sehen so schön aus wie immer, Lady Berkeley“, meinte Cassandras Ehemann, als er ihr die Hand küsste.

„Sie waren schon immer ein Schmeichler, Lord Lindsay.“

Die Menschen, die ihr gesamtes Leben in der behüteten Welt der gehobenen Gesellschaft verbracht hatten, plauderten heiter. Waren Stephen Hawkhurst und Elizabeth Berkeley einander versprochen? Bei dem Gedanken wurden Aurelias Kopfschmerzen noch schlimmer und sie wusste, dass sie nicht hierher gehörte. Sie sah, wie die jüngere der Berkeley-Damen schüchtern ihre behandschuhten Finger auf Lord Hawkhursts Arm legte und ihn flüsternd etwas fragte.

Er antwortete ebenso leise und sie errötete, während ihre Augen aufgeregt glänzten. Elizabeth war in der Blüte ihrer Jugend: Sie war ganz Verheißung, Liebreiz und Hoffnung. Aurelia konnte sich nicht daran erinnern, dass sie je so gewesen war.

Als sie fünf Jahre alt war, hatte sie dabei zugesehen, wie ihre Mutter ihre Sachen gepackt hatte und verschwunden war. Mit sechs war sie die unerwünschte Stieftochter der zweiten Frau ihres Vaters gewesen und als sie siebzehn war, war Charles St. Harlow in ihr Leben getreten wie eine hell leuchtende Sternschnuppe.

Es wurde ein weiterer Walzer gespielt und Lord Hawkhurst und Elizabeth Berkeley entschuldigten sich, um zu tanzen. Er hatte seinen Arm vorsichtig, aber besitzergreifend um ihre Taille gelegt. Sie passten perfekt zusammen.

„Kannten Sie Hawk gut, als sie mit seinem Cousin verheiratet waren, Mrs. St. Harlow?“ Die Frage kam von Cassandra Lindsay, deren Augen sie neugierig anblickten.

„Nein, wir haben uns nie getroffen. Aber sein Onkel war ein Freund.“

Ein Lächeln erhellte Lady Lindsays Gesicht. „Alfred ist sehr wählerisch, wenn es darum geht, Freundschaft zu schließen. Nehmen Sie zum Beispiel Elizabeth Berkeley. Ich bezweifle, dass er sie überhaupt wahrgenommen hat.“

„Sie ist sehr schön.“

„Und auch sehr nett, was eine unglaubliche Erleichterung ist, sollte sich Stephen entschließen, um ihre Hand anzuhalten.“

„Und das wird er?“ Aurelia hatte nicht fragen wollen und als sie das plötzliche Interesse in den grünen Augen sah, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war froh über die schützenden dicken Brillengläser.

„Lord Hawkhurst hat nie geheiratet und er ist sehr wohlhabend, also sollte er Erben haben. Wie lange waren Sie mit Charles verheiratet?“

„Drei Jahre, Mylady.“ Ihre Stimme klang ausdrucksloser als sie sollte, aber an diesem Abend, an dem Leonoras Gesicht vor Hoffnung leuchtete, fiel es Aurelia schwer, sich wie sonst zu verstellen.

Daher überraschten sie Cassandra Lindsays nächste Worte. „Wir geben Anfang September eine Hausgesellschaft auf unserem Landsitz in Kent. Würden Sie und Ihre Schwester uns an diesem Wochenende Gesellschaft leisten?“

Aurelias Herz schlug etwas schneller, und in dem Rhythmus schwang eine ungewohnte Freude mit. Es war so lange her, dass eine Fremde ihr freundschaftlich die Hand gereicht hatte. Dennoch konnte sie das Geschenk nicht annehmen, ohne ehrlich zu sein.

„Vielleicht könnte Leonora mit einer Anstandsdame teilnehmen, Lady Lindsay. Meine Anwesenheit könnte dem Erfolg Ihrer Feier abträglich sein, denn es gibt viele Geschichten über mich –“

Cassandra Lindsay unterbrach sie. „Es gibt immer Gerüchte, Mrs. St. Harlow. Aber jemandem, den Onkel Alfred ins Herz schließt, würde ich mein Leben anvertrauen.“

„Danke.“ Sie sah sich um und das Stirnrunzeln der anderen schien nach diesem Gespräch nicht mehr so einschüchternd.

Als die Musik verklang, formierte sich die Gruppe neu. Elizabeth Berkeley war zu ihrer Mutter am anderen Ende des Saals hinübergegangen und plauderte mit einer Gruppe anderer junger Damen, die alle in unterschiedliche Gelbtöne gekleidet waren. Stephen Hawkhurst trat wieder neben Aurelia.

„Sind Sie für diesen Tanz vergeben, Mrs. St. Harlow?“

Er fragte leise und Aurelia zeigte ihm als Antwort ihre Tanzkarte, auf der nichts stand. „Ich gewinne selten Tanzpartner, Mylord“, erwiderte sie, „und ganz sicher nicht denselben Mann zweimal.“

Er schürzte die Lippen, als er die leere Seite betrachtete und Aurelia war verwirrt. Währenddessen erfüllte das Orchester den Raum mit den Melodien von Strauss.

Es lauerte noch etwas anderes hier, aber sie wollte ihre Gefühle nicht genauer untersuchen, als er die Brille von ihrer Nase zog.

„Ist das besser?“

Die Gesichter um sie herum wurden scharf. „Abneigung ist leichter zu ertragen, wenn man sie kaum sehen kann, Mylord.“

„Viele hier haben ihre eigenen Leichen im Keller, Mrs. St. Harlow. Trösten Sie sich, denn Sie sind nicht der einzige Mensch hier mit einer Vergangenheit.“

Aurelia sah zur Seite, als er ihr die Brille wieder aufsetzte. Redete er von sich selbst?

Sein Haar fiel lang über den Nacken eines gestärkten schneeweißen Kragens, mitternachtsschwarze Strähnen, die beinahe blau glänzten. Er wirkte gefährlich, bedrohlich.

Charles war ein Mann gewesen, der alles versprochen und nichts gehalten hatte, ein Lügner und Betrüger, der diejenigen, die weniger Macht hatten als er, rücksichtslos missbrauchte. Stephen Hawkhurst schien das genaue Gegenteil zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemanden betrog oder ein Versprechen brach.

Als sein Onkel zu ihnen trat, griff der alte Mann in seine Tasche und zog ein großes Taschentuch heraus, um seine glänzende Stirn abzuwischen. Alfred Hawkhursts Augen waren trüber als in ihrer Erinnerung, und er keuchte besorgniserregend.

„Sie wollen mich hier nicht, Stephen. Das tun sie nie. Ich spüre es, wenn ich mit den Leuten rede.“ Seine dünne Stimme zitterte – er war ein Mann, der genug von der hochmütigen Welt um ihn herum hatte.

„Ich spüre dasselbe, Lord Alfred“, fing Aurelia an, als sein Neffe nicht antwortete. „Obwohl ich finde, dass Wein hilft.“ Sie nahm zwei Gläser vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners und reichte ihm eines. Alfred lächelte und kippte den Inhalt hinunter, bevor er sich verschwörerisch nach vorne lehnte.

„Ich hatte Sie immer gern, meine Liebe, und ich bin froh, dass Sie jetzt nicht mehr so melancholisch sind. Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, wenn Charles in der Nähe war.“

Verlegenheit durchflutete Aurelias gesamten Körper. Tausende von Lügen – und dennoch hatte ein alter Mann, der angeblich verrückt war, direkt hindurchgesehen. Wie ihr Vater. Als der goldene Blick von Lord Hawkhurst sie traf, blickte sie beiseite.

Sie hatte sich verändert. Sie war erwachsen geworden. Niemand würde sie je wieder so traurig machen können. Die Seide von Leonoras Kleid wirbelte kornblumenblau über die Tanzfläche und das eingewebte Silber darin reflektierte das Licht.

Macclesfield Seide. Ihr Herzblut.

„Ich bin zufrieden, Lord Alfred.“ Und auch recht kompetent, dachte sie. Tanzen, sticken, Einladungen zum Mittagessen und Musik – die leichten Beschäftigungen einer wohlerzogenen jungen Dame waren schon lange kein Teil ihres Lebens mehr. Sie versuchte zu lächeln. Nun passte sie nirgendwo mehr hin.

Ihre Finger wanderten zu dem Anhänger um ihren Hals und sie klammerte sich an den Diamanten, bis sie sah, dass Lord Hawkhurst das Schmuckstück betrachtete. Warum hatte sie ihn getragen? Der Kuss bei Taylor’s Gap hing zwischen ihnen wie etwas Unvollendetes. Sie konnte es in seinen Augen sehen und in der Art wie er dastand, so angespannt.

„Ich mochte Schmuck schon immer.“ Alfreds Ausruf kam gelegen, denn er löste die unbehagliche Stimmung. Er streckte die Hand aus und berührte das Schmuckstück. „Wie viel möchten Sie dafür haben, meine Liebe? Steht er zum Verkauf?“

Hawkhurst zog ihn sanft zurück. „Mrs. St. Harlow schätzt den Anhänger sehr und würde sich nur im äußersten Notfall davon trennen, Alfred.“

„Hat sie dir das gesagt?“

„Ja, das hat sie.“ Ein Schatten fiel über sein Gesicht, seine Wangen wirkten nun weicher und ihr Körper erinnerte sich daran, wie Lord Hawkhursts Haut sich unter ihren Fingern angefühlt hatte, warm und fest, Lippen die sich auf ihre drückten und Sicherheit verspachen.

Aurelia schüttelte den Kopf. Solche Träume waren keine, die für sie in Betracht kamen. Außerdem: Hatte Cassandra Lindsay nicht betont, wie wichtig eine passende Braut für Atherton war?

Der schwarze Stoff, der sie von Kopf bis Fuß bedeckte, war wie das Leben, das sie führte. Verschlossen. Vorsichtig. Einsam. Sie ging nach Mitternacht ins Bett und stand vor Sonnenaufgang auf.

Als Elizabeth Berkeley zur Gruppe zurückkam, entschuldigte sich Aurelia und bahnte sich ihren Weg zum Ruheraum der Damen, wo sie für eine gute Dreiviertelstunde auf einem Sessel in dem kleinen Salon saß, völlig gleichgültig den anderen gegenüber, die das Zimmer ebenfalls benutzten.

Noch zwanzig Minuten und sie konnten aufbrechen.

Hawk spürte, wie Elizabeth ihre Finger im Stoff seines Ärmels vergrub. Er wünschte, er hätte sie abschütteln und Aurelia St. Harlow dorthin folgen können, wohin auch immer sie vor einer halben Stunde geflüchtet war. Aber man musste den Schein wahren, diesbezüglich war er immer vorsichtig.

Cassie Lindsay beobachtete ihn ebenfalls wachsam, wie sie es nun schon seit Monaten tat. Ihr Blick war fragend. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihre Einladung an Mrs. St. Harlow und ihre Schwester auf ihren Landsitz St. Auburn in ein paar Wochen bekannt wurde, und auch, dass die Einladung angenommen worden war.

Der Abend verlief genauso, wie Mrs. St. Harlow es sich gewünscht hatte, und dennoch war sie in der Menge, die sie verachtete, verschwunden und nirgends zu sehen.

Alfred war sie suchen gegangen. Allein das erstaunte Stephen, denn sein Onkel blieb selten länger als ein paar Augenblicke auf diesen öffentlichen Veranstaltungen und interessierte sich nicht für die Menschen, die er hier traf. Und was hatte er verdammt noch mal damit gemeint, dass sie melancholisch gewesen war?

„Mir gefallen die Farben der Kleider und die Musik, Ihnen auch, Mylord? Alle meinen, dass Gelb die Farbe der Saison ist.“

„Dann sind Sie auf der Höhe der Mode“, antwortete er. Ihr Kleid hatte die Farbe von Sonnenstrahlen und schimmerte im Licht. Er musste an den schwarzen Wollstoff von Mrs. St. Harlows Kleid denken. Sein Cousin war bereits seit Jahren tot und es wäre schon lange an der Zeit gewesen, die Trauerkleidung abzulegen.

Er fragte sich, wie ihr Haar wohl im Kontrast zu Smaragdgrün oder einem tief leuchtenden Gold aussehen würde.

Nein. Er brauchte Unschuld, keine Komplikationen, dass durfte er nicht vergessen. Er brauchte die arglose Reinheit, die die drohende Dunkelheit vertrieb. Aurelia St. Harlow trug vermutlich ebenso viele Dämonen in sich wie er.

„Ich war heute mit Mama in der Stadt und habe einen Juwelier entdeckt, den ich noch nicht kannte.“

Stephen lächelte und stellte sich vor, wie Elizabeth sich an den Waren erfreute.

„Mama sagte, ich hätte ein blaues Saphirhalsband wählen sollen, weil es die Farbe meiner Augen hervorhebt, aber mir gefiel das Rubinhalsband besser, weil es das Licht so schön reflektiert. Glauben Sie, ich habe eine kluge Entscheidung getroffen, Mylord?“

Sein Blick glitt über das verschnörkelte goldene Schmuckstück um ihren Hals.

„Es passt hervorragend zu Ihnen.“

„Es gab auch ein passendes Armband.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, war beinahe flehend. Hawk wusste, dass er nach dem Namen des Juweliers und der genauen Adresse fragen sollte, wenn man die unausgesprochenen Versprechungen zwischen ihnen bedachte, aber er konnte die Worte einfach nicht aussprechen.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mrs. St. Harlow sich ihren Weg zurück in den Saal bahnte. Frauen wie Männer wandten sich bewusst von ihr ab. Aber sie blickte weder nach rechts noch nach links und reckte das Kinn empor. Hätte er nicht von ihrem Unbehagen in der guten Gesellschaft gewusst, hätte er geglaubt, sie schere sich nicht um die Meinung anderer. Er war froh, dass sie die Brille trug, um sich dahinter zu verbergen.

„Denken Sie nicht auch, Mylord?“

Elizabeth sah ihn mit ihren schönen hellen Augen an.

„Ja.“ Er hatte keine Ahnung, wozu er ihr beigepflichtet hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer Gruppe von Männern erregt, an der Aurelia gerade vorbeigehen wollte.

Lord Frederick Delsarte ergriff ihren Arm und hielt ihn fest. Stephen sah, wie die anderen sich um sie versammelten und ihr jeglichen Fluchtweg abschnitten.

„Würden Sie mich kurz entschuldigen, Miss Berkeley?“

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern ging mit großen Schritten zu der Säulenreihe, die die Gruppe etwas von den Blicken abschirmte, und mitten in die Auseinandersetzung hinein.

„Da sind Sie ja, Mrs. St. Harlow“, sagte er und legte Aurelias Hand auf seinen Ärmel, während er sie an seine Seite zog. „Lady Lindsay sucht Sie dringend.“

Leider hatte Delsarte zu viel getrunken und war nicht in der Stimmung, sich um gesellschaftliche Gepflogenheiten zu kümmern. „Wir sind hier noch nicht fertig“, lallte er mühsam. „Die Witwe Ihres Cousins und ich haben einiges zu besprechen.“

„Das bezweifle ich sehr, Delsarte.“ Hawks freie Hand glitt zum Oberarm Delsartes und er drückte zu. Der Schmerzenslaut war schrill.

„Um Himmels willen, es ist Hawkhurst, Freddy“, flüsterte ein großer Mann in dem Tonfall, den die Leute um Stephen herum immer benutzten.

„Ich würde es begrüßen, wenn Sie Mrs. St. Harlow nicht mehr belästigen, verstanden?“

Endlich glomm Demut in den blutunterlaufenen Augen auf. „Ich wusste nicht, dass Sie sie so gut kennen, Lord Hawkhurst.“

„Aber nun wissen Sie es.“ Hawk ließ ihn los und trat zurück. Dann führte er Aurelia vor sich her.

Wut überkam ihn, als er sah, wie sich die helle Haut dort, wo der Stoff beim Kampf über ihr Handgelenk gerutscht war, bereits verfärbte. Er bemerkte auch, dass sie oft schluckte, als versuchte sie, die Tränen zurückzudrängen, aber er konnte nicht freundlich sein. „Warum zum Teufel gehen sie alleine und schutzlos davon, wenn Sie wissen, dass die allgemeine Stimmung hier gegen sie ist? Sie verstehen doch sicher, welche Gefahren gesellschaftliche Ächtung mit sich bringt?“

Sie holte tief Luft. „Gehässigkeit ist normalerweise weniger handgreiflich“, entgegnete sie und besaß den Mut zu lächeln.

Hawkhurst sah aus, als wolle er sie umbringen, hier, im Ballsaal, zwanzig Yard entfernt von der Frau, die er angeblich heiraten würde. Der Schmerz in ihrem Arm, dort, wo Freddy Delsarte sie gepackt hatte, begann zu pochen.

Sie fragte sich, was geschehen wäre, hätte Hawk nicht eingegriffen. Hätten sie sie schreiend und tretend aus dem Saal gezerrt und niemand wäre ihr zu Hilfe gekommen?

Niemand, außer ihm.

Sie hätte nicht herkommen dürfen. Es war zu gefährlich und zu unsicher, und in dem anzüglichen Blick Delsartes hatte sie Charles’ fleischliche Begierden wiedererkannt. Sie wusste, dass auch Hawk es gesehen hatte.

„Sie erregen heftige Gefühle in den Menschen um sich, Mrs. St. Harlow, sogar im Kleid einer Witwe.“

„Männer sehen, was sie sehen wollen, Mylord.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie oft in Begleitung meines Cousins gesehen zu haben. Es scheint, Sie waren nie in London.“

Atme, befahl Aurelia sich selbst. Ihr Herz hämmerte.

„Es gab auf Medlands immer viel zu tun. Ich habe besonders gerne im Garten gearbeitet.“ Sie versuchte die Freude nachzuahmen, die eine feine Dame für ein solches Hobby empfinden mochte, und versuchte, sich an die Namen weit verbreiteter Pflanzen zu erinnern, falls er nachhakte.

„Dann müssen Sie sehr traurig gewesen sein, als das Haus nach seinem Tod verkauft wurde?“

Ihre Besorgnis ließ ein wenig nach. Er war Charles’ Cousin und wusste es nicht? Sie konnte es kaum glauben. Andererseits hieß es, er sei lange Zeit kaum in England gewesen. Vielleicht wusste niemand außer ihren Anwälten von dem finanziellen Desaster, das Charles hinterlassen hatte.

Auf Medlands lebte nun eine andere Familie, und Aurelia hatte es nicht bedauert, die paar Habseligkeiten, die ihr gehörten, zusammenzupacken und den Ort für immer zu verlassen.

„Ich habe viele Erinnerungen, Lord Hawkhurst.“ Scham. Ärger. Enttäuschung.

Aber mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich vollkommen sicher. Die Blicke der Menschen um sie herum schmerzten weniger, wenn sie sich in seiner Gesellschaft befand. Sie wünschte sich, er würde sie noch einmal zum Tanzen auffordern, aber natürlich tat er es nicht, denn sie erreichten nun die Gruppe, die sie vor gut fünfzig Minuten verlassen hatte. Die junge und schöne Elizabeth Berkeley nahm rasch wieder seinen Arm. Aurelia dachte, dass sie gerne dasselbe getan hätte: einfach ihre Hand auf diesen Arm legen, der Sicherheit versprach, und sich daran festhalten.

Sie erinnerte sich an Freddy Delsartes Besuche zu den Weihnachtsfesten auf Medlands. Mädchen aus London waren geholt worden, um die Bedürfnisse der verheirateten Männer zu befriedigen, die schon lange von ihren Ehefrauen gelangweilt waren.

So wie Charles von ihr.

Sie schloss die Augen und ein Schwindel, der in letzter Zeit öfter auftrat, ließ die Welt um sie herumwirbeln.

„Geht es Ihnen nicht gut, Mrs. St. Harlow? Sie sehen plötzlich sehr blass aus.“ Cassandra klang besorgt.

„Ich bin nur müde“, erwiderte Aurelia. Sie sah wie Leonora und Cassandras Bruder sich auf der Tanzfläche amüsierten.

„Ich könnte Ihre Schwester nach Hause begleiten, wenn Sie möchten, und Stephen könnte eine Kutsche bereitstellen, die sie sofort nach Hause bringt. Wir werden selbst nicht lange bleiben und ich verspreche Ihnen, dass ich auf Leonora aufpassen werde, als sei sie meine Tochter.“

Das Angebot war verlockend, da Charles Freunde sie aus der einen Ecke des Saals verärgert anstarrten und der Rest der Gesellschaft sie aus den übrigen Winkeln beobachtete.

„Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht …?“

Cassandra Lindsay lächelte strahlend, als sie Aurelia eine gute Nacht wünschte. Dann lenkte sie Elizabeth Berkeley von Lord Hawkhurst ab, indem sie sich mit ihr über die Farben und Schnitte der Kleider, die ihr heute Abend besonders gut gefielen, unterhielt.

Aurelia hatte den Eindruck, dass sie es tat, um ihr zu helfen.

4. KAPITEL

Ich habe ganz sicher nicht von Ihnen erwartet, dass Sie mich nach Hause begleiten, Lord Hawkhurst.“

Er lächelte. Seine Zähne leuchteten weiß in der Dunkelheit der Kutsche und seine Schenkel waren nur einen Zoll von den ihren entfernt. „Aber ich wollte es, Mrs. St. Harlow, weil wir uns nun darüber unterhalten können, woher Sie Lord Frederick Delsarte und seine Spießgesellen kennen.“

„Sie waren Bekannte meines Mannes.“

„Aber nicht Ihre Bekannten?“ Seine Stimme war nun nicht mehr freundlich, sondern kalt und schneidend.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, es war mehr als offensichtlich, dass ich ihre Eskapaden missbilligt habe.“

„Hat Charles Sie je verletzt?“

Die Frage war so vertraulich, dass sie sich abwenden musste. „Nein. Er war ein wunderbarer Ehemann.“ Es waren dieselben Worte, die sie vor Gericht ausgesagt hatte, als man ihr die Schuld am Tod ihres Gemahls geben wollte.

„Warum glaube ich dann, dass Sie lügen?“

Sie wandte sich ihm wieder zu. „Das weiß ich nicht, Mylord.“

In der Luft lag etwas, das sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Das reine und heillose Verlangen nach einem Mann, nach diesem Mann. Ihr Kuss von letzter Woche hatte eine Lust geweckt, die ihr so fremd war, dass ihr schwindelig wurde.

„Charles hatte eine recht weit gefasste Auslegung des Wortes ‚Anstand‘, und als er starb, gab es vermutlich eine Reihe von Menschen in London und auch weiter entfernt, die erleichtert aufseufzten. Als seine Ehefrau müssen Sie davon gewusst haben.“

Diese Worte hingen in der Dunkelheit wie ein lebendiges und atmendes Wesen. Da das, was er gesagt hatte, im Großen und Ganzen die Wahrheit war, fiel es Aurelia schwer, zu widersprechen. „Es gab auch einige, die um ihn getrauert haben.“ Sie erklärte es mit so viel Überzeugung, wie sie vortäuschen konnte. Die, die an den Festen auf Medlands teilgenommen und nichts für strenge Moralvorstellungen übrig hatten, betrauerten seinen Tod, aber sie bezweifelte, dass es noch viele andere gab. Die Bediensteten hatten ihn allesamt mit einem Lächeln zu Grabe getragen, denn ihr Herr und Meister war ein Mann gewesen, der keinerlei Rücksicht auf die Gefühle derer nahm, die von geringerer Geburt waren als er.

Als Lord Hawkhurst ihre Hand nahm und sie festhielt, konnte sie das Zittern unter seiner Stärke spüren – überraschend angesichts seines lässigen Selbstvertrauens. Die Londoner Nacht war schwarz und endlos, die Mondsichel verbarg sich hinter Wolken und abgesehen von ihnen beiden und dem Kutscher schienen die dunklen Straßen leer.

Aber die Wärme seiner Haut tröstete sie, und sie spürte, wie ihre Finger sich um seine schlangen. Er wehrte sich nicht.

„Ich hätte sie noch um einen weiteren Tanz gebeten, wäre ich sicher gewesen, dass es keinen Skandal verursachen würde.“

Sie konnte nicht glauben, dass er das ihr, einer Fremden, gestand. „Lady Elizabeth Berkeley wäre darüber nicht erfreut gewesen“, antwortete sie und hasste es, dass sie diesen Köder nach ihm auswarf. Es war unter ihrer Würde, eine solch unschuldige junge Schönheit als Mittel zum Zweck zu benutzen. Aber sie hatte es gesagt und nahm es nicht zurück. Stattdessen wartete sie.

„Ein Titel wie der meinige und die Besitztümer, die damit einhergehen, wecken Interesse. Das ist eine bekannte Tatsache.“

„Das bequeme Leben, das mit dem Reichtum einhergeht, auch.“

„Charles war ebenfalls reich. Vielleicht sind Sie Elizabeth Berkeley ähnlicher, als Sie glauben.“

Darüber musste sie lachen, wenn ihrem Lachen auch jegliche Freude fehlte. „Mir fällt nichts ein, das wir gemeinsam haben könnten, Mylord.“

„Was ist mit Schönheit?“, entgegnete er.

Machte er sich über sie lustig? „Ich bin wohl kaum schön, Mylord.“

„Eine Frau, die ihren wahren Wert nicht kennt, ist etwas Seltenes und Wertvolles.“ In seiner Stimme lag keine Falschheit und als sie sich zu ihm wandte, raubte es ihr den Atem. Sein Gesicht sah genauso aus wie bei Taylor’s Gap: Es spiegelten sich Lust und Verlangen darin, die nur von purer Willenskraft in Zaum gehalten wurden.

Er ließ sie los, ballte seine Faust und presste sie gegen seine Schenkel, sodass die Fingerknöchel weiß wurden. Die Narben auf seinen Knöcheln stachen hervor.

Er fluchte laut. Offenbar war er ebenso frustriert wie sie selbst. Eigentlich sollte sie ihre Handschuhe mit einer strengen Rüge wieder anziehen und ihn bitten, die Kutsche zu verlassen. Aber sie konnte es nicht. Das Schweigen wuchs an wie ein Schmerz, ihre Hände lagen bloß und kalt in ihrem Schoß und ihr Kopf lehnte schwer an dem gepolsterten Plüsch des Sitzes. Jahrelang hatte sie sich genau das vorgestellt: einen Mann, der sie aus den Zwängen ihres Lebens befreien könnte und sie in Versuchung führte.

Seine Augen glitzerten in der Dunkelheit, als sie es wagte, zu ihm hinüberzuspähen, und die Trostlosigkeit schimmerte durch das Grün hindurch.

„Ihr Ehemann hatte zwielichtige Freunde, Aurelia. Passen Sie auf, dass sie nicht die Ihren werden.“

Sie war ihm dankbar dafür, dass er diese Warnung trotz der öffentlichen Meinung über sie ausgesprochen hatte.

„Ich lebe ein einfaches Leben mit meinem Vater und meinen Schwestern. Es gibt wenig an mir, das jemanden interessieren könnte.“

Sein Lachen war gefährlich. „Das bezweifle ich sehr.“ Das Gefühl, das seit ihrem Kuss zwischen ihnen hing, wurde stärker. Was geschah nur mit ihr? Hoffnung wurde zu einer versteckten Wut.

Er würde niemals ihr gehören. Vorsichtig rückte sie ein Stück von ihm ab. Als sie sah, dass sie bereits in der Upper Brook Street waren, war ihre Erleichterung unbeschreiblich.

Braeburn House. Die Pferde wurden langsamer und hielten. Aurelia dehnte den Stoff ihrer ungetragenen Handschuhe, während sie sich genau überlegte, was sie sagen würde. Es gab so viele Dinge, die sie ihm erzählen könnte, aber schließlich wählte sie das, was ihrer Familie Sicherheit brachte.

„Ich entbinde Sie von jeglicher Vereinbarung, die zwischen uns steht, Mylord. Ich habe erkannt, dass es dreist und töricht war, auf einer Einladung zu Ihrem Ball zu bestehen.“

„Ihre Schwester und Rodney Northrup sind da sicher anderer Meinung, Mrs. St. Harlow.“

Die Worte waren kalt und gestelzt, kein Funke der Freude dieses Abends lag darin. Und als wolle er seinen Wunsch, sie loszuwerden, untermauern, lehnte er sich einfach zur Tür hinüber und betätigte den Griff. Dann bedeutete er einem seiner Diener, ihr beim Aussteigen zu helfen.

Er hätte nicht mit ihr alleine sein dürfen, eingepfercht auf diesem engen Raum, wo die Wärme ihrer Haut und ihr heftiger Herzschlag all seine guten Absichten zunichte machten. Aurelia St. Harlow war die Witwe seines Cousins und er war so gut wie mit Elizabeth Berkeley verlobt.

Sein Ärger wuchs, zusammen mit einer ungekannten Enttäuschung, als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. Er hasste es, dass er sie nie still halten konnte. Er war heute Nacht bereits ausgelaugt und müde von dem Auf und Ab der Emotionen und er musste noch einiges über sich ergehen lassen, bevor alle gingen. Er wünschte sich, es wäre bereits später und die Menschenmenge, die im Hawkhurst-Stadthaus tanzte und lachte, wäre aufgebrochen, ganz besonders die Berkeleys. Er hatte nicht die Kraft, sich im Licht seiner unzüchtigen Gedanken mit Elizabeths unerbittlicher Unschuld oder der hoffnungsvollen Ermutigung ihrer Mutter zu befassen. Er wusste auch, dass er als Gastgeber seinen Ball nicht hätte verlassen sollen – aber die Gelegenheit, Zeit alleine mit Aurelia St. Harlow zu verbringen, war zu verlockend gewesen.

Cassandra Lindsay begrüßte ihn, als er eine Weile später in seinen Salon im Erdgeschoss zurückkehrte.

„Lady Elizabeth hat nach dir gefragt, Hawk. Ich sagte, du hättest dich mit Lord Calthorp unterhalten und seist dann in Richtung Bibliothek gegangen.“

Manchmal hatte Hawk das Gefühl, dass Cassie wesentlich mehr wusste, als sie sich anmerken ließ.

„Geschäfte“, erwiderte er und nahm einen Drink vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners, als Nat und Lucas sich zu ihnen gesellten.

„St. Harlows Witwe ist also fort?“, fragte Luc. „Ich fand, sie sah nicht so aus wie die Art von Frau, die Charles geheiratet hätte.“

„Was hattest du dir denn vorgestellt?“ Nathaniel stellte die Frage, die er in Gedanken gestellt hatte, und Stephen war dankbar dafür.

„Jemanden mit weniger Substanz, vielleicht.“

„Leonora Beauchamp lobte ihre Schwester auch in höchsten Tönen“, warf Cassie ein. „Ihr zufolge gibt es noch zwei weitere jüngere Schwestern, die in den nächsten Jahren in die Gesellschaft eingeführt werden.“

„Und der Vater?“ Stephen wollte die Frage nicht stellen, ertappte sich aber dabei, dass er es tat.

„Sir Richard Beauchamp. Er bleibt für sich und geht nur selten in die Stadt. Es ist bekannt, dass er eine Art exzentrischer Gelehrter ist, kein Mann vieler Worte. Mrs. St. Harlow fährt an Montagnachmittagen direkt nach dem Mittagessen mit ihm durch den Park, aber sie bleiben nur selten stehen, um sich mit jemandem zu unterhalten.“

„Ich habe langsam das Gefühl, dass sie nicht ganz dem Bild der Frau entspricht, das die Gesellschaft von ihr malt.“ Lucas lächelte verwirrt.

„In einem Kleid, das ihre gute Figur betont und das leuchtende Rot ihres Haars hervorhebt, wäre sie außergewöhnlich. Wo um Himmels willen hat sie dieses schwarze Kleid her? Es sah aus wie etwas, das eine Witwe in den Tagen der Regency getragen hätte.“ Cassandra richtete die Frage an Hawkhurst. Der zuckte die Achseln und sah zu, wie sein Onkel sich seinen Weg durch den Raum bahnte, um ihnen Gesellschaft zu leisten.

„Ich kann sie nirgends finden, Stephen. Mrs. St. Harlow ist verschwunden.“

„Ich habe eine Kutsche geordert, um sie nach Hause zu fahren, Alfred.“

„Dein Diener sagte, du seist ebenfalls damit gefahren.“ Die trüben Augen glitzerten mit der listigen Klugheit, die sein Onkel sich erhalten hatte, auch wenn nur wenige das verstanden. Stephen war froh, dass Elizabeth sich ein Stückchen entfernt mit ihrer Mutter unterhielt. Das Aufblitzen in Cassies Augen zeigte ihm, dass sie viel aus dieser Offenbahrung machen würde, wenn es ihr möglich war. Weder Nat noch Luc zeigten Anzeichen dafür, dass sie etwas gehört hatten.

Höfliche Zurückhaltung, vermutete er, und wandte seine Aufmerksamkeit Elizabeth Berkeley zu, die nun zu ihnen trat.

„Ihr Ball wird zum Ereignis der Saison, Mylord. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Mitglieder der gehobenen Gesellschaft an einem Ort versammelt und tanzen sehen.“

Stephen lächelte. Elizabeths heiterer Kommentar ließ ihn sich entspannen. „Lady Lindsay und Mrs. Clairmont hatten einen großen Einfluss auf die Organisation. Jeglicher Erfolg ist ihren Mühen geschuldet, nicht meinen.“

„Mama meint, es muss ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein, der so viele ehrenwerte Menschen um sich versammelt. Manche hier habe ich die ganze Saison noch auf keiner anderen Soiree gesehen.“

„Man darf die Macht eines Vermögens nicht unterschätzen, Lady Elizabeth“, meinte Nat lakonisch.

„Ich habe genau dasselbe zu meinen Freundinnen gesagt, Lord Lindsay, und sie haben alle zugestimmt.“

„Beweisführung abgeschlossen.“

Hawk wollte angesichts Elizabeths Verwirrung lachen, da ihre Unschuld dem Zynismus seines Freundes nicht gewachsen war, aber er tat es nicht. Ihre Naivität brachte ihn ungewollt in Verlegenheit. Könnte er wirklich für immer neben solch unantastbarem Vertrauen leben, ohne sich nach mehr zu sehnen? Nach einem kleinen Risiko, dem belebenden Rausch eines Wagnisses?

In genau diesem Moment wirbelte Leonora Beauchamp in den Armen von Rodney Northrup an ihnen vorbei, ganz fliegende blonde Locken und jugendliche Ausgelassenheit. Der Walzer gab den beiden eine Entschuldigung, einander nahe zu sein, wie kein anderer Tanz es konnte.

„Sie ist so schön“, Elizabeths Mutter schlug sich mit dem geschlossenen Fächer auf den Arm. „Wirklich schade, dass sie vom Ruf ihrer ältesten Schwester befleckt wird. Mein Gemahl sagt, wenn sie Verstand besäße, würde Mrs. St. Harlow die Gesellschaft hinter sich lassen und nie zurückkehren.“

Aurelia hatte alles für das Wohlergehen ihrer Schwester riskiert und niemand würde je davon erfahren. Er lächelte, denn „die Gesellschaft hinter sich zu lassen“, war vielleicht ihr sehnlichster Wunsch.

Einige von Elizabeths Freundinnen standen nun neben ihr. Er wusste, dass sie die Worte über die Witwe seines Cousins gehört hatten, denn Zustimmung und Klatschsucht waren ihren Gesichtern abzulesen. Er entschuldigte sich kurz und machte sich auf die Suche nach einem Drink.

Aurelia saß im unteren Salon in der Nähe des Gangs auf einem Stuhl und wartete darauf, dass Leonora nach Hause kam. Es war später, als Lady Lindsay versprochen hatte, und sie spürte eine Erschöpfung in sich aufsteigen, die sie todmüde machte. Die Uhr am anderen Ende des Zimmers zeigte ein Uhr morgens an. Sie wusste, dass John, ihr Diener, wartete. Sobald Leonora zurückkehrte, konnte auch er sich ausruhen.

Auf ihre Bitte hin hatte er an diesem Abend die Lichter brennen lassen, ein teurer Luxus. Beide betrachteten sie die Schatten am Fenster und lauschten auf ein Geräusch. Schließlich hörten sie es.

„Sie sind hier, Ma’am.“

Nickend sah sie zu, wie er die Lampe nahm und hinaustrat, um die Kutsche zu empfangen. Das Lachen und die Stimmen waren fröhlich, besonders Leonoras, als sie ihren Begleitern gute Nacht wünschte.

Ein paar Augenblicke später befand sich ihre Schwester wieder im Inneren des Hauses und die große Vordertür wurde geschlossen.

„Noch nie im Leben habe ich einen so wunderbaren Abend verbracht“, jubilierte sie und drehte sich herum, als tanzte sie immer noch mit einem unsichtbaren Rodney. „Mr. Northrup wird uns morgen besuchen, da bin ich mir sicher. Oh, Lia, du bist die fürsorglichste Schwester auf der ganzen Welt, weil Du so eine Einladung für mich bekommen hast.“

Ihre unverhohlene Begeisterung ließ Aurelia sich noch älter und müder fühlen und sie war froh, als Leonora ihnen eine gute Nacht wünschte und zu den Zwillingen, die schon im Bett waren, ging. Um ihnen alles zu erzählen, vermutete Aurelia und hoffte, dass sie in ihrer Begeisterung Papa nicht wecken würde.

John löschte die Flammen der Lampen. Er hatte die Stirn besorgt in Falten gezogen.

„Der junge Gentleman hat darauf bestanden, Miss Leonora hineinzugeleiten, bis ich ihm sagte, dass Ihr Vater die Grippe hat, Miss Aurelia, aber er wollte unbedingt zu Besuch kommen.“

„Dann sollten wir hoffen, dass er nicht zu lange bleibt.“

„Oft denke ich, dass es meine Familie war, die für Sie alles unmöglich gemacht hat, und dass es besser gewesen wäre, wenn wir einfach verschwunden wä…“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Dir Richter sind zu dem Schluss gekommen, dass außer Charles selbst niemand Schuld an seinem Tod trägt, John. Meiner Meinung nach hatten sie recht.“

„Ohne ihre Hilfe wären sie vielleicht zu einem anderen Schluss gekommen.“ In seinem Gesicht spiegelte sich das Leid, das sie dort zu sehen gewohnt war – ein alter Mann mit dem Gewicht der Geheimnisse auf seinen Schultern. Sie erkannte, dass seine Qual dieselbe war, die in ihr kauerte.

„Und jede andere Entscheidung wäre eine falsche gewesen, wenn man die Tatsachen betrachtet.“

Der alte Diener neigte den Kopf und nickte, bevor er überprüfte, ob die Türen verschlossen waren. Er war seit Charles’ Tod merklich gealtert, aber das war sie auch. Charles’ Einfluss klang noch lange nach seinem Tod nach.

Plötzlich war ihr schwindelig und sie fühlte sich benommen. Sie hatte auf dem Ball nichts gegessen und war zu sehr damit beschäftigt gewesen, dabei zu helfen, Leonoras Kleid fertig zu nähen, um zur Mittagszeit etwas zu sich zu nehmen. Und nun würde ein Fremder in wenigen Stunden an die Tür von Braeburn House klopfen.

War es ein großer Fehler gewesen, Lord Hawkhurst um die Einladung zu bitten? Nein, sie hätte nichts anderes tun können und wenn sie vorsichtig vorgingen, konnte das Ganze sich doch noch zu ihrem Vorteil entwickeln, denn Leonora war mehr als angetan von Rodney Northrup.

Es hätte viel schlimmer kommen können. Cassandra Lindsays Bruder schien ein netter Mann zu sein und die Grippe, die John erwähnt hatte, war eine gute Idee gewesen. Für mindestens eine oder zwei Wochen würde niemand erwarten, dass Papa unten erschien.

Sie sah sich um und war froh, dass sie einen Teil des besseren Mobiliars behalten hatte, obwohl es Stellen gab, an denen einst teurere Gegenstände gestanden hatten. Die fehlenden Stücke waren größtenteils ihre eigenen Erbstücke gewesen, sie hatte sich Mühe gegeben, keine Dinge aus dem Haus zu entfernen, die Leonora, Harriet und Prudence lieb und teuer waren.

Endlich waren sie alle fort. Die letzten Gäste hatten sich erst gegen fünf Uhr morgens auf den Heimweg gemacht. Hawkhurst stellte sich die beginnende Morgenröte am östlichen Horizont vor, während er die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer ging.

Er hatte seinen Agenten getroffen und unauffällig mit ihm die Papiere ausgetauscht. Er hatte auch Delsarte und seine Gruppe beobachtet, denn es gab Gerüchte über eine Beteiligung an geheimen Aktivitäten, über die der britische Geheimdienst Informationen wollte. Ihm fiel Aurelias Meinungsverschiedenheit mit Delsarte ein, die seine Mission, den Lord zu beobachten, plötzlich gefährdet hatte. Das Private und das Berufliche begannen sich zu beeinflussen, und er wusste, dass er vorsichtiger sein musste. Zehn Jahre herausragender Dienste für sein Land durften nicht von einer … Laune geschmälert werden. Er streifte die Schuhe von den Füßen, legte sich hin und betrachtete das Spiel der Lichter und Schatten vor seinem unverhängten Fenster.

„Aurelia St. Harlow.“ Er flüsterte ihren Namen in die Dunkelheit und hörte, wie der Laut wie verbotene Musik zu ihm zurückkehrte.

Elizabeth Berkeley war weicher und vertrauter, aber es war nicht sie, sondern die Witwe seines Cousins, die sich in seiner Vorstellung in seinen Armen wand.

Er wollte Aurelia küssen und das fühlen, was er damals gefühlt hatte. Die heftige und unerwartete Lust überraschte ihn, denn es war viele Jahre her, seit er die Art von Lebendigkeit verspürt hatte, die sie in ihm weckte. Heftig setzte er sich auf.

Man sagte, sie habe seinen Cousin umgebracht und sei damit davongekommen. Der geflüsterte Klatsch der Gesellschaft folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sie würde für immer geächtet und ausgestoßen sein. Er atmete heftig aus, denn die Jahre des Umherziehens hatten ihn mürbe gemacht. Er brauchte die Sicherheit eines warmen und behaglichen Heims. Er brauchte Güte, Menschlichkeit und Nachsicht, um seine Dämonen zu bezwingen, die nun näher als je zuvor lauerten. Taylor’s Gap war eine Warnung gewesen und er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Nur ein kleiner Schubs und er verlor vielleicht den Verstand.

Er öffnete eine Schublade in der kleinen Kommode neben seinem Bett und nahm eine Kiste heraus. Darin lag eine goldene Uhr. Die Uhr seines Bruders. Stehen geblieben im Moment seines Todes. Der plötzliche Kummer ließ ihn aufstehen, und er ging zum Fenster, um den Himmel zu betrachten. Am Horizont ein entfernter Lichtschimmer, der im Osten die Dunkelheit vertrieb, als endlich der Morgen dämmerte.

Allein. Schon so lange. Seine Last wurde noch dadurch erschwert, dass er einen Erben brauchte. Er fluchte, als die ehrwürdigen Mitglieder der Familie Hawkhurst vor seinem geistigen Auge erschienen und die Qual sich so eng um seine Brust wickelte, dass er sich kaum bewegen konnte. Er glaubte, den Duft von Veilchen wahrzunehmen und sein Bein schmerzte in der Kälte des frühen Morgens.

5. Kapitel

Nein, Papa, du musst dein Frühstück essen.“

Aurelia hatte in der vergangenen Nacht nur drei Stunden geschlafen, aber sie schluckte ihren Ärger hinunter, als ihr Vater sich weigerte, seinen Mund zu öffnen. Ihre Augen wanderten zur Uhr auf dem Kaminsims. Bereits acht Uhr. Sie hoffte, Mr. Rodney Northrup würde erst spät am Nachmittag zu Besuch kommen, obwohl sie hören konnte, wie Leonora sich bereits auf seinen Besuch vorbereitete.

„Ich will lesen, Lia. Ich will mich hinsetzen und lesen.“ Er streckte die Hand aus und sie lächelte, als seine warmen Finger ihre umschlossen. Es war zwei Jahre her, dass der Vater, den sie gekannt hatte, größtenteils von einem Fremden verschlungen worden war. Aber manchmal, so wie jetzt, erhaschte man einen kurzen Blick auf sein altes Selbst.

„Iss das Ei, Papa, danach werde ich dich in die Bibliothek bringen.“

Als er ihr schließlich erlaubte, ihn zu füttern, atmete sie auf. „Ein Verehrer wird Leonora heute Nachmittag besuchen. Er heißt Rodney Northrup und er ist ein Freund von Lord Hawkhurst.“ Aurelia erzählte ihm jeden Morgen von den Neuigkeiten im Haus, nur für den Fall, dass er etwas davon aufnahm.

Prudence trat ein paar Augenblicke später zu ihr. Das Gesicht ihrer jüngsten Schwester leuchtete vor Vorfreude, ihre goldenen Locken waren hoch aufgetürmt.

„Leonora behauptet, dass Rodney Northrup der bestaussehende Mann ist, den sie je gesehen hat, Lia. Sie sagt, er hat die ganze Nacht mit ihr getanzt und saß auf dem Heimweg dicht neben ihr in der Kutsche. Sie hat auch erwähnt, dass du mit dem bedrohlichen Lord Hawkhurst einen Walzer getanzt hast. Hättest du nicht ablehnen können?“

„Hawkhurst?“ Ihr Vater stieß den Namen hervor. „Charles kannte Hawkhurst?“

„Ja Papa, das tat er.“

Prudence riss die Augen auf. „Hat Papa uns verstanden, Lia?“

Aurelia wartete ab, ob ihr Vater noch mehr sagen würde, aber er schien wieder in tiefes Schweigen versunken.

„Es gibt immer noch genug Momente, in denen er alles versteht, Pru, obwohl wir damit rechnen müssen, dass sie jeden Tag weniger werden und immer weiter auseinanderliegen. Aber jetzt genug davon. Erzähl, was hat Leonora heute an?“ Das Thema lenkte ihre Schwester vollkommen ab und während sie aufgeregt von einem Seidenkleid mit Spitzenbesatz sprach, dachte Aurelia über ihre eigenen Sorgen nach.

Würde Stephen Hawkhurst Rodney Northrup begleiten? Sie hoffte nicht. Bitte, Gott, lass ihn nicht herkommen, betete sie wieder und wieder und wurde erst aus ihren Gedanken gerissen, als ihre Schwester eine Frage stellte.

„Gilt die Einladung zu Lady Lindsays Fest auch für Harriet und mich?“

„Da ihr noch nicht in die Gesellschaft eingeführt worden seid, bezweifle ich das sehr!“

„Aber wir sind beinahe siebzehn, Lia. Wann werden wir euch endlich zu solchen Ereignissen begleiten dürfen?“

Der traurige Klang ihrer Stimme ließ Aurelia nach Luft schnappen. Wann würde es je einfach sein? Die Seidenstoffe begannen zwar, Gewinn zu machen, aber ihre Schulden waren immer noch hoch.

Sie sollte jetzt eigentlich im Warenhaus sein und Stoffe durchsehen, aber der Besuch von Cassandra Lindsays Bruder bedeutete, dass sie heute zu Hause bleiben musste, um als Anstandsdame zu fungieren.

Als sie die Augen schloss, war die Erschöpfung, die sie gestern Nacht verspürt hatte, wieder da. Deshalb goss sie sich ein Glas Milch ein, nachdem sie die Reste vom Frühstück ihres Vaters aufgegessen hatte. Ein Fehler und der Cousin zweiten Grades ihres Vaters würde Braeburn House für sich beanspruchen und sie obdachlos und ohne einen Penny zurücklassen.

Sie durfte gar nicht daran denken, dass etwas so Schreckliches geschehen könnte. Daher stand sie rasch auf, um ihrem Vater in die Bibliothek zu helfen. Er verstand nicht mehr, was er las, aber es gefiel ihm, die Bücher zu halten. Sie würde sein Dienstmädchen anweisen, ihn dort zu behalten, bis die Besucher gegangen waren. Die Grippe war eine gute Entschuldigung für seine Abwesenheit.

Rodney Northrup wurde von seiner Schwester begleitet und sie kamen recht spät am Nachmittag.

Sie befanden sich alle unten im Salon, als sie hörten, wie die Kutsche anhielt. Prudence lief ungeniert zum Fenster, und wurde deswegen von Leonora angeknurrt. Harriet verdrehte, an Aurelia gewandt, die Augen, während sie alle ihre Plätze wieder einnahmen und den sich nähernden Stimmen lauschten.

Er war nicht bei ihnen! Erleichterung durchflutete Aurelias gesamten Körper. Hawkhurst mit seinen goldenen Augen, dem nachtschwarzen Haar und der bedrohlichen Selbstsicherheit war nicht mitgekommen. Sie entspannte ihre geballten Fäuste, setzte die Brille ab und ertappte sich beim Lächeln, als Cassandra Lindsay und Rodney Northrup von John in den Salon geführt wurden.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht warten lassen.“

„Sie kommen gerade zur rechten Zeit, Lady Lindsay“, erwiderte Aurelia, deren Meinung sich nicht in den Gesichtern von Prudence und Harriet widerspiegelte.

„Oh, bitte, nennen Sie mich Cassie. Das tun alle meine Freunde.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie als nächstes Leonoras Hand. „Rodney wollte unbedingt heute herkommen, meine Liebe, und wenn ich sehe, wie hübsch sie heute in ihrem rosafarbenen Kleid sind, dann verstehe ich, warum. Und ihre beiden Schwestern sind Ihr Abbild.“ Sie wartete, während Aurelia die Zwillinge vorstellte, deren lockiges, blondes Haar im Licht des Fensters glänzte.

„Ich wusste nicht, dass Ihre Schwestern alle beinahe im selben Alter sind, Mrs. St. Harlow.“

„Prudence und Harriet sind beinahe siebzehn. Sie werden nächste Saison in die Gesellschaft eingeführt werden.“ Aurelia war nicht ganz wohl dabei, Lady Lindsay mit ihrem Vornamen anzusprechen, und fügte deshalb nichts hinzu.

„Und Ihr Vater?“

„Er ist unpässlich, da er die Grippe hat. Er liegt seit zwei Tagen im Bett.“

„Dann wollen wir hoffen, dass er sich gut erholt.“

Aurelia antwortete mit einem Lächeln. Die glatten Lügen standen zwischen ihnen. Es war so lange her, dass ein Fremder den Fuß in dieses Haus gesetzt hatte. Und dass sie lügen mussten, machte jede Äußerung gefährlich. Ihr Blick wanderte rasch zur Uhr. Wie lange dauerten diese Besuche für gewöhnlich? Sie hoffte, es war schnell vorbei.

„Ich habe zusammen mit Rodney gestern Mrs. St. Harlow und ihre Schwestern besucht, Hawk. Aurelia St. Harlow ist … ungewöhnlich.“

Beide Männer erhoben sich aus ihren Sesseln in der Bibliothek von St. Auburn, als Cassie diese Feststellung machte.

„Sie trug dasselbe Kleid, in dem wir sie auf deinem Ball gesehen haben, aber auf die Brille hat sie verzichtet. Ihre Augen haben unterschiedliche Farben“, fuhr sie fort, als weder ihr Mann noch Stephen etwas sagten. „Ich frage mich, warum sie sich hinter so vielen Lagen unförmigen schwarzen Wollstoffs versteckt.“

Nat lächelte. „Was versuchst du uns zu sagen, Cassie?“

Autor

Julia Justiss
Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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