Historical Lords & Ladies Band 64

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DEZEMBERNÄCHTE VOLLER ZÄRTLICHKEIT von ASHLEY, ANNE
Sir Philip auf Freiersfüßen: Einst war die Tochter seiner Nachbarn ein entzückender Wildfang - jetzt ist sie zu einer atemberaubenden Schönheit erblüht. Wenn er die Augen schließt, träumt er nur noch davon, Bethany in kalten Nächten mit heißen Küssen zu wärmen. Mit jedem Tag wächst Sir Philip Stavelys Verlangen nach seiner Angebeteten ins Unermessliche. Doch warum weist die betörende Bethany ihn so beharrlich ab?

DER GENTLEMAN AUS BOSTON von ANDREW, SYLVIA
Nur ein Amerikaner kann so direkt, so erfrischend und aufregend sein! Sofort ist die hübsche Eleanor Southeran von dem überaus attraktiven und eleganten Gentleman Jonas Guthrie fasziniert. In seiner Nähe wird ihr heiß und kalt. Das muss Liebe sein, dessen ist sich Eleanor sicher. Doch dann erfährt sie, dass Jonas eine Andere verführt haben soll! Wem wird sie nun trauen: Den Gerüchten - oder ihrem Herzen?


  • Erscheinungstag 03.11.2017
  • Bandnummer 0064
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768478
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Ashley, Sylvia Andrew

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 64

1. KAPITEL

September 1814

Seufzend wandte Miss Bethany Ashworth ihren Blick von der einst vertrauten Landschaft ab und sah ihre Reisegefährtin an. „Ich bin es so müde, Ann“, gestand sie leise. „Von diesem rastlosen Leben habe ich mehr als genug.“

„Kein Wunder.“ Ann Stride lächelte liebevoll und mitfühlend. „In den letzten fünf Jahren sind wir kreuz und quer durch Europa gezogen. Und was mich betrifft – die letzten Wochen in Paris erschienen mir besonders anstrengend.“

„Nicht nur das ewige Reisen zerrt an meinen Nerven“, erklärte Bethany und blickte wieder aus dem Kutschenfenster. „Was mich viel mehr ärgert, ist meine Unentschlossenheit.“ Voller Selbstironie begann sie zu lachen. „Viel zu oft bekunde ich den Wankelmut, den man unserem Geschlecht nachsagt. Diese Schwäche darf ich mir nicht länger gestatten. Nun muss ich mich endlich zusammennehmen und an die Zukunft denken.“

Besorgt runzelte Ann die Stirn. „Bereust du deinen Entschluss, nach Ashworth House zurückzukehren? Wie ich mich erinnere, warst du dir nach dem Tod deines lieben Papas nicht sicher.“

„Nein, diese Entscheidung bedaure ich keineswegs.“ Ein rätselhaftes Lächeln umspielte Beth’ Lippen, die in den letzten Jahren so mancher Gentleman reizvoll gefunden hatte. „Sie könnte sich als sehr sinnvoll erweisen … Aber ob ich für immer dort bleiben will – das steht auf einem anderen Blatt. Zum Glück werden wir nicht gezwungen sein, hier auf dem Lande auszuharren, wenn uns nach Abwechslung dürstet. Und wenn es so ist, sollte es uns nicht überraschen, angesichts unseres Lebensstils in dieser ganzen langen Zeit. Aber – nein, Ann, ich bereue es nicht, zu dem Haus zurückzukehren, in dem ich aufgewachsen bin“, bekräftigte sie, ehe sie sich auf praktischere Erwägungen konzentrierte. „Und vorausgesetzt, der unentbehrliche Rudge hat seine Pflicht erfüllt, erwartet uns ein angenehmer Aufenthalt – solange wir ihn genießen wollen.“

Die Reisegefährtin atmete erleichtert auf. „Nun, dann freue ich mich auf Ashworth House, und es würde mir gefallen, dort Wurzeln zu schlagen. Zumal uns in England gewiss ein kälterer Winter bevorsteht als auf der Iberischen Halbinsel. Da ich sieben Jahre älter bin als du, zehrt das Nomadenleben allmählich an meinen Kräften.“

„In diesem Fall, meine liebe Ann, werde ich unsere Reise abkürzen.“ Beth öffnete das Fenster und wies den Fahrer der Postkutsche an, bei der nächsten Einfahrt abzubiegen.

Wenig später zügelte der Kutscher das Gespann vor einem imposanten schmiedeeisernen Tor, und einer der Postreiter blies in sein Horn, um die Aufmerksamkeit des Pförtners zu erregen.

Sichtlich erbost über die Störung, trat ein kleiner, untersetzter Mann aus dem Pförtnerhaus. „Und was haben Sie auf Stavely Court zu schaffen, wenn ich fragen darf?“, stieß er hervor, von der Ankunft der Postkutsche mit den vier Reitern kein bisschen beeindruckt.

„Das ist einzig und allein meine Sache!“, rief Beth lächelnd und lenkte seinen Blick auf sich. „Sperren Sie das Tor auf, George Dodd, und lassen Sie mich passieren! Sonst beschwere ich mich bei Ihrem Herrn, wenn ich ihn nächstes Mal sehe.“

Wohl eine halbe Minute lang spähte der Pförtner zwischen den Gitterstäben hindurch und musterte die junge Dame, die aus dem Kutschenfenster schaute. Dann verzog sich sein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Gott sei meiner Seele gnädig! Wenn das nicht Sie sind, Miss Bethany! Nach all den Jahren!“ Ohne Zögern öffnete er die beiden Torflügel und eilte zu der Kutsche, so schnell ihn seine arthritischen O-Beine trugen. „Hätt’ ich nicht gedacht, dass ich Sie noch mal sehe.“ In seinen dunklen Augen glänzte es verdächtig.

„Wie geht es Ihnen, Dodd?“, fragte Beth sanft. „Ihre Gelenke scheinen Sie wieder zu plagen.“

„Ach, so schlimm ist es nicht. Und jetzt, wo Sie wieder daheim sind, fühle ich mich gleich viel besser. Da bin ich sicher nicht der Einzige. Vor ein paar Wochen ist der Master aus London zurückgekommen. Sie werden ihn oben im Haus antreffen, Miss.“

Sofort erlosch ihr Lächeln. „Um die Wahrheit zu gestehen, Dodd – ich bin nicht hier, um Ihren Herrn zu besuchen. Seit drei Wochen bin ich unterwegs, nun möchte ich die Abkürzung über Sir Philips Land benutzen. Aber ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Fahren Sie nur zu, Miss Beth, das wird dem Master ganz bestimmt nichts ausmachen.“

Stavely Court wirkte nicht so sehr durch seine Größe beeindruckend, sondern dank der grandiosen Architektur und des prächtigen Parks, auf den fast jedes der zahlreichen Fenster des Herrschaftshauses den Blick freigab. Daher fiel die Postkutsche, die die Ländereien ihres Bruders durchquerte, Lady Chalford unweigerlich ins Auge, als sie aus dem Westfenster der Bibliothek sah.

„Beim Lunch hast du gar nicht erwähnt, dass du Besuch erwartest, Philip. Wäre ich informiert gewesen, hätte ich auf meinen Mittagsschlaf verzichtet, denn solange ich hierbleibe, übernehme ich gern die Pflichten einer Gastgeberin. Zumindest sollte ich deine Besucher begrüßen.“

Nur kurz blickte Sir Philip Stavely von seinen Papieren auf, um seiner Schwester zu erklären, sein einziger Besucher, der Verwalter, sei bereits am Vormittag erschienen.

Missbilligend schüttelte Lady Chalford den Kopf. „Wenn das so ist, nutzt jemand wieder einmal deine Gutmütigkeit aus und fährt über dein Land. In mancher Hinsicht bist du viel zu großzügig. Was zu Beginn des Sommers passiert ist, weißt du doch – jemand hat auf dich geschossen! Wirklich, du dürftest fremden Leuten nicht gestatten, deinen Grundbesitz zu überqueren. Nicht einmal, wenn sie in einer Postkutsche mit vier Postillions reisen.“

Nicht im Mindesten beunruhigt, unterzeichnete Sir Philip ein Dokument mit seinem schwungvollen Namenszug, bevor er neben seine Schwester ans Fenster trat. „Es würde mich sehr überraschen, wenn jener Schuss kein Versehen gewesen wäre, Connie. Vermutlich wollte der übereifrige Sohn eines Nachbarn sein Jagdgewehr ausprobieren. Und in dieser Kutsche sitzen sicher keine Fremden. Sonst hätte Dodd das Osttor nicht geöffnet. Wenn mich nicht alles täuscht, hat dieses Gefährt eine lange Fahrt hinter sich. Wahrscheinlich ist es in London aufgebrochen.“

Lady Chalford starrte ihren Bruder verblüfft an. Bei dieser Gelegenheit hätte ein Beobachter die charakteristischen Stavely-Züge erkannt, die beide besaßen – die schmale aristokratische Nase, die klaren grauen Augen.

Aber im Gegensatz zu seiner Schwester hatte Sir Philip seinen Augen früher ein mutwilliges Funkeln erlaubt, zum Entzücken zahlreicher Damen. Sein Haar war etwas dunkler als das seiner älteren Schwester, er hatte es in weichen Wellen aus der hohen Stirn gekämmt. Auch das markante Kinn, die wohlgeformten, nicht zu vollen Lippen und die perfekt geschwungenen Brauen trugen zu seiner attraktiven äußeren Erscheinung bei.

So gut sah seine Schwester nicht aus. Ihre Jugendblüte begann zu welken, und ihre füllige Figur zeugte von den fünf Kindern, die sie ihrem Gemahl während der vierzehnjährigen Ehe geschenkt hatte. Trotzdem wurden die Spuren einstiger Schönheit immer noch von reiferen Gentlemen bewundert.

„Jetzt nimmst du mich auf den Arm, Philip“, tadelte sie ihren Bruder in mildem Ton. „Wie kannst du das wissen?“

„Indem ich meine Augen und meinen Verstand benutze, Constance. Erstens, nur wenige Menschen können sich den Luxus einer Postkutsche mit vier Reitern leisten. Die wohlhabenden Leute, die hier leben, verfügen genau wie ich über ihre eigenen Kutschen. Zweitens, die meisten größeren Häuser liegen nordöstlich von meinem Landgut. An der Westgrenze gibt es nur ein einziges Haus, dessen Besitzerin jahrelang abwesend war. Vielleicht kehrt sie jetzt in einer gemieteten Chaise heim.“

„Oh …“ Aufgeregt rang Connie nach Luft. „Also glaubst du, die junge Bethany Ashworth ist nach all den Jahren zurückgekommen?“

Solch lebhafte Emotionen wie seine Schwester zeigte Sir Philip nicht. „Natürlich kann ich es erst mit Sicherheit sagen, wenn ich mit Dodd gesprochen habe. Augustus Ashworth, die Mitglieder seiner Familie und seine Gäste gehörten zu den wenigen Privilegierten, die mit der Erlaubnis unseres Vaters die Abkürzung durch den Park benutzen durften, um das Dorf schneller zu erreichen.“ Während die Postkutsche hinter stattlichen Ulmen verschwand, trat Philip an einen Tisch, auf dem mehrere Karaffen standen. „Wie ich hörte, wurden vor zwei oder drei Wochen die Fensterläden von Ashworth House geöffnet. Außerdem hat man ein paar Dienstmädchen aus dem Dorf und Handwerker eingestellt, die das Haus in bewohnbaren Zustand bringen sollen. Und irgendjemand – keine Ahnung, wer – kaufte Vorräte in beträchtlichen Mengen.“

„Dann steht es fest, Bethany kommt nach Hause.“ Lady Chalford ergriff ein Glas Fruchtlikör, das Sir Philip ihr reichte. „Welche andere Erklärung könnte es geben?“ Sie arrangierte ihre Röcke und sank in einen Sessel.

Voller Zuneigung musterte Philip seine Schwester, nachdem er ihr gegenüber Platz genommen hatte. Ihren Verstand hatte er niemals überschätzt. Aber er wusste ihre Herzensgüte zu würdigen. „Sogar eine ganze Reihe Erklärungen, meine Liebe“, erwiderte er und nippte an seinem Brandy. „Zumindest einen Insassen der Kutsche muss Dodd erkannt haben. Gewiss, es könnte Beth gewesen sein – oder der Verwalter des verstorbenen Colonel Ashworth, der beauftragt wurde, das Haus für neue Bewohner herzurichten.“ Lächelnd beobachtete er, wie Connie verwirrt blinzelte. „Es wäre möglich, dass Beth das Haus verkauft hat. Da sie so lange verreist war, fühlt sie sich wohl kaum mit ihrem einstigen Heim verbunden. Und wie ich mich jetzt entsinne, teilte Lady Barfield mir bei unserer letzten Begegnung in London mit, ihre Nichte würde vorerst in Paris bleiben.“

Eine Zeit lang schwieg Constance nachdenklich. „Weißt du, Philip – ich fand ihr Verhalten schon immer ziemlich seltsam.“

„Meinst du Beth oder Lady Barfield?“

„Natürlich Beth!“, betonte Connie, sichtlich erstaunt über die Frage. „Warum sie zu der Verwandten ihrer Mutter nach Plymouth gezogen ist, habe ich nie verstanden. Lady Barfield war doch stets ihre Lieblingstante, nicht wahr?“

„Das würde ich nicht behaupten“, entgegnete Philip. „Sicher, nach dem Tod ihrer Mutter verbrachte Beth einige Monate bei der Schwester ihres Vaters. Lady Barfield spielte auch eine wesentliche Rolle bei Beth’ Erziehung und besuchte Ashworth House viel öfter als alle anderen Verwandten. Aber vergiss nicht – im Frühling 1808 wurde Colonel Ashworth dringend nach London berufen und segelte bald danach mit Wellesley nach Spanien. Deshalb hatte die arme Beth kaum Zeit, zu entscheiden, wo sie wohnen wollte. Wer weiß, vielleicht glaubte sie, Lady Barfield hätte sich lange genug in ihr Leben eingemischt. Oder vielleicht wollte sie die Familie nicht zusätzlich belasten, weil diese mit der Planung von Eugenies Zukunft beschäftigt war.“

Nachdem er seine verstorbene Braut erwähnt hatte, warf Lady Chalford ihm unter gesenkten Wimpern hervor einen besorgten Blick zu. Nur selten sprach er über jene Zeit seines Lebens, geschweige denn über seine Verlobung mit Lord Barfields geliebter ältester Tochter. Wann immer das Thema in den letzten Jahren angeschnitten worden war, hatte er sofort einen anderen Gesprächsstoff gesucht – ein Umstand, der Ihre Ladyschaft indes nicht an ihren nächsten Worten hinderte. „Das ist es ja, was mir so sonderbar vorkommt. Beth und Eugenie standen sich sehr nahe – eher wie Schwestern als wie Cousinen. Also müsste man annehmen, bei den Hochzeitsvorbereitungen, in so erfreulichen Zeiten, hätte sie sich lieber bei den Barfields aufgehalten.“

Über das Gesicht ihres Bruders schien ein Schatten zu gleiten, die halb geschlossenen Augen verbargen, was immer er empfinden mochte. „Sicher hatte Beth ihre Gründe, um bei der Tante ihrer verstorbenen Mutter zu leben“, erklärte er in entschiedenem Ton, der bekundete, dass er nicht beabsichtigte, sich weiter darüber zu äußern.

Wenn Sir Philip sich in Stavely Court aufhielt, passte er sich ländlichen Gepflogenheiten an. Auch der nächste Morgen bildete keine Ausnahme. Während seine Schwester in ihrem Schlafzimmer frühstückte, nahm er die Mahlzeit allein im Speisesalon ein. Danach ritt er zu einem Treffen mit seinem Verwalter.

Auf dem Rücken eines seiner edlen Pferde bot er um diese frühe Stunde einen gewohnten Anblick. Schon in jungen Jahren hatte er ein lebhaftes Interesse für die Landwirtschaft entwickelt, und seit er vor sieben Jahren den Titel geerbt hatte, war seine Liebe zu den Ländereien noch gewachsen.

Er befasste sich mit sämtlichen Aspekten der Gutsverwaltung, und das Wohl der Pächter, die seine ausgedehnten Ländereien im West Country bewirtschafteten, lag ihm am Herzen. Der Verwalter wusste, dass er sich mit allen Problemen an seinen Dienstherrn wenden konnte – ein Privileg, das er häufig nutzte. Aber da sie erst am Vortag eine Besprechung abgehalten hatten, waren die Geschäfte an diesem Morgen bald erledigt. Und so konnte Sir Philip den restlichen Vormittag so gestalten, wie es ihm gefiel, denn er musste erst zum Lunch nach Stavely Court zurückkehren.

Er ritt an der Ostgrenze des Wildparks entlang, als ihm plötzlich etwas einfiel. Umgehend lenkte er seinen Wallach zum Pförtnerhaus, wo er Dodd, einen seiner ältesten Angestellten, in seinem kleinen Gemüsegarten arbeiten sah.

„Guten Morgen, Sir. Soll ich den Jungs im Herbst wieder beim Abholzen helfen?“

„Nur wenn Sie sich gut genug fühlen, Dodd. Aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Gestern Nachmittag sah ich eine Postkutsche mit vier Reitern durch den Park fahren. Kam sie durch dieses Tor herein?“

„In der Tat, Sir! Kann man’s denn glauben – nach all den Jahren ist Miss Bethany wieder da.“ Grinsend nahm Dodd seinen Hut ab und strich über den kahlen Schädel. „So ein erfreulicher Anblick für meine alten Augen … Es stört Sie doch nicht, dass sie durch den Park gefahren ist?“ Unsicher schaute er zu der hochgewachsenen Gestalt im Sattel auf.

„Natürlich nicht. Aber bleiben Sie wachsam, Dodd. Nicht nur Miss Ashworth ist in letzter Zeit über den Kanal nach England zurückgekehrt“, fügte Sie Philip hinzu, denn er dachte an die – keineswegs grundlosen – Befürchtungen seiner Schwester. „In dieser Grafschaft weiten sich die Unruhen aus. Nach dem Ende des Krieges gegen Frankreich sind viele Heimkehrer verbittert, weil sie keine Arbeit finden …“ Er unterbrach sich und ließ den Blick über die malerische Landschaft schweifen. Seines Wissens hatte hier niemand mehr eine Waffe erhoben, seit seine Ahnen im siebzehnten Jahrhundert gegen die Anhänger Cromwells zu Felde gezogen und besiegt worden waren. Er konzentrierte sich wieder auf die Ankunft der jungen Dame, die er fast seit ihrer Geburt kannte. Und plötzlich erwachte seine Neugier, was nur mehr selten geschah. „Haben Sie Miss Ashworth auf Anhieb erkannt, Dodd? Dann hat sie sich anscheinend nicht allzu sehr verändert.“

„Ein bisschen schon, Sir. Richtig erkannt hab ich sie erst auf den zweiten Blick. Sie ist viel schlanker als damals, aber das strahlende Lächeln ist geblieben. Daran würde ich Miss Beth überall erkennen. Sogar den dunkelsten Tag würde es erhellen.“

„Da haben Sie recht, Dodd.“ Vor Philips innerem Auge erschienen Bilder aus der Vergangenheit, fast vergessene Erinnerungen an ein Mädchen, das in Breeches über das benachbarte Landgut galoppiert war. Damals hatte Bethany sich wie ein Junge aufgeführt, doch schließlich war Henrietta Stainton zu der längst überfälligen Einsicht gelangt, dass sie sich um die Erziehung ihrer Nichte kümmern musste. Die Verwandlung zu einer manierlichen jungen Dame glückte, bevor Bethany ihr Zuhause verließ – zu seinem Missvergnügen, wie er sich entsann. Und jetzt? War sie inzwischen verheiratet und Mutter geworden?

Aus unerklärlichen Gründen irritierte ihn der Gedanke. „Saß sie allein in der Kutsche, Dodd? Oder wurde sie von jemandem begleitet?“

„Kann ich nicht genau sagen, Sir. Die Kurzsichtigkeit, wissen Sie. Aber ich glaube, da war jemand bei ihr.“

Philip verabschiedete sich von dem alten Mann und machte sich auf den Rückweg nach Stavely Court. Aber auf halbem Weg wurde er zum zweiten Mal von ungewohnter Neugier erfasst – nicht zuletzt wegen der beunruhigenden Frage, ob Beth verheiratet war. Und so änderte er die Richtung und ritt durch den Park nach Westen.

Jenseits der Grenzmauer, in einem idyllischen Tal, lag das Dorf. Hier wohnten die meisten seiner Bediensteten. Weiß getünchte Cottages säumten die Hauptstraße, an deren Ende die kleine Kirche stand. Dahinter waren in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts mehrere Ziegelhäuser errichtet worden.

Ashworth House, das stattlichste der neueren Gebäude, erhob sich in einem großen Garten, von einer Eibenhecke gegen die Straße abgeschirmt.

Jahrelang hatte es für Philip keinen Grund mehr gegeben, hierher zu reiten. Als er in die Zufahrt bog, entdeckte er deutliche Spuren einer beklagenswerten Vernachlässigung. Der Garten wirkte verwildert, das Haus schien an einigen Stellen reparaturbedürftig.

Nachdem er abgestiegen war und sein Pferd an einem Pfosten festgebunden hatte, klopfte er an die Tür, die kurz darauf von der Haushälterin geöffnet wurde. Die Frau kannte ihn seit seiner Kindheit und machte keinen Versuch, ihre Freude über das Wiedersehen zu verbergen.

„Ah, Sir Philip! Wie lange ist es her, seit Sie zuletzt hier waren! Kommen Sie doch herein, Miss Beth wird sich freuen über Ihren Besuch. Im Moment ist sie mit diesem Mann unterwegs. Aber sie wollte zum Lunch wieder da zu sein.“

„Diesem Mann?“ In Philips Magengrube breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus.

„Ja, Sir. Mr. Rudge. Kümmert sich vorbildlich um sie, lässt sie kaum aus den Augen. Heute schauen sie sich Pferde drüben in Markham an, dort ist Markttag. Aber Mrs. Stride ist da, eine sehr nette Dame. Sicher wird sie Ihnen bis zu Miss Beth’ Rückkehr Gesellschaft leisten. Wenn Sie bitte mitkommen wollen, Sir – ich mache Sie mit ihr bekannt.“

Verwirrt von den spärlichen Informationen, folgte Philip der Haushälterin in den Salon, in dem alles ein wenig verblichen wirkte. Vor dem Kamin saß eine Frau, die sich so heimisch zu fühlen schien, dass man sie für die Hausherrin hätte halten können.

Sie legte ihre Näharbeit beiseite und erhob sich. Philip schätzte sie etwa so alt wie seine Schwester, doch man sah ihr die Jahre nicht so deutlich an. Als sie ihn begrüßte, Platz zu nehmen bat und ihm eine Erfrischung anbot, merkte er zudem, dass sie gebildet war. Offensichtlich entstammte sie besseren Kreisen, denn sie schien sich in seiner Gegenwart kein bisschen befangen zu fühlen.

Dies alles verwirrte Philip noch zusätzlich zu den Fragen, die ihm durch den Sinn gingen. „Vergeben Sie mir, dass ich Ihnen so kurz nach Ihrer Ankunft die Aufwartung mache, Ma’am. Ausnahmsweise habe ich meiner Neugier gestattet, die Regeln der Höflichkeit zu missachten. Früher kannten Miss Ashworth und ich uns sehr gut. Deshalb möchte ich die Freundschaft unverzüglich erneuern.“

„Sicher wird sie sich freuen, Sie wiederzusehen, Sir Philip. Als wir gestern durch Ihren Park fuhren, erwähnte sie, dass Sie ihr erlaubt haben, die Abkürzung zu benutzen, weil Sie einander schon so lange kennen.“

Er nippte an dem Wein, den sie ihm eingeschenkt hatte. „Wenn ich eine Frage stellen darf, Ma’am – sind Sie mit Beth verwandt?“

„Natürlich dürfen Sie fragen, Sir. Ich bin eine bezahlte Gesellschafterin. Allerdings würde Beth es niemals so bezeichnen. Mein Mann war Major in der Armee, und ich folgte ihm nach Spanien. Nachdem er bei Talavera gefallen war, suchte ich eine Möglichkeit, nach England zurückzureisen, und hatte das Glück, dass Colonel Ashworth mich engagierte – weil seine Tochter unerwartet in Spanien eintraf.“

Philip hob die Brauen. „Unerwartet?“

„Nun, zumindest gewann ich den Eindruck. Aber ihre Anwesenheit war dem Colonel keineswegs unangenehm, ganz im Gegenteil. Und er tat alles, um sie zu schützen.“ Lächelnd schüttelte Mrs. Stride den Kopf. „Nicht dass Beth viel Schutz brauchen würde … Wie Sie zweifellos wissen, Sir, kann sie so gut reiten und schießen wie die meisten Männer. Sie hat mir erzählt, das sei das Ergebnis ihrer etwas ungewöhnlichen Erziehung.“

„Oh ja, ihre Erziehung war sogar extrem ungewöhnlich. Von ihrem liebevollen Vater ermutigt, schockierte sie die ganze Grafschaft, weil sie sich wie ein Junge benahm.“

„Vermutlich waren Sie nicht schockiert, Sir“, bemerkte Mrs. Stride, nachdem sie Sir Philip aufmerksam gemustert hatte.

„Sie sind sehr scharfsinnig, Ma’am. Nein, ich hegte keine moralische Entrüstung, und ich fand den Entschluss des Colonels, Beth’ Erziehung seiner Schwester anzuvertrauen, sogar bedauerlich. In Lady Henrietta Barfields Obhut verlor Beth einen Teil ihres natürlichen Charmes.“

Mit diesen Worten schien er Ann Stride zu überraschen, doch ehe sie eine Frage stellen konnte, ging die Tür auf, und die junge Hausherrin stand auf der Schwelle.

Einige Momente lang sagte niemand etwas. Wie Ann erkannte, war ihre Freundin über die Anwesenheit des Besuchers in Kenntnis gesetzt worden, denn in ihren blauen Augen zeigte sich keine Verblüffung. Bethanys Miene wirkte völlig ausdruckslos, und so ließen sich ihre Gedanken nicht erraten. Als Sir Philip aufstand, musterte sie ihn ungeniert von Kopf bis Fuß.

Dagegen wirkte Sir Philip bei ihrem Anblick wenn nicht verblüfft, so doch erstaunt. Dann erinnerte er sich an seine Manieren, eilte zu ihr und ergriff ihre Hände. „Welch eine Freude, dich wiederzusehen …“ Die Stirn leicht gerunzelt, musterte er ihre ebenmäßigen Züge. Anscheinend wollte er sich vergewissern, dass der Wildfang, der ihn vor all den Jahren so schwärmerisch auf Schritt und Tritt verfolgt hatte, und diese selbstbewusste junge Dame ein und dieselbe Person waren.

Fast ein halbes Jahrzehnt hatte sie in Spanien verbracht und wegen des Krieges dort wohl so mancherlei Entbehrungen erlitten. Jene harten Zeiten hatten ihrem Gesicht eine reizvolle Reife verliehen. Ihre hellblauen Augen hielten seinem prüfenden Blick stand. Die gerade kleine Nase und die vollen Lippen hatten sich nicht verändert. Nur die Konturen ihres erhobenen Kinns erschienen ihm etwas prägnanter und deuteten auf eine neue Entschlusskraft hin.

„Wie gut du aussiehst, meine liebe Beth“, fügte er hinzu. Als er spürte, dass sie ihm ihre Hände entziehen wollte, ließ er sie sofort los.

„Du auch, Philip“, erwiderte sie und schenkte ihm ihr strahlendes Lächeln, bevor sie an ihm vorbei zu Mrs. Stride ging. „Sag, Ann, habe ich nicht oft genug beklagt, wie ungerecht die Zeit ist, weil sie die meisten Männer bevorzugt? Andererseits wirkt sich eine gewisse Unmäßigkeit auf beide Geschlechter ungünstig aus … Da wir gerade davon reden – darf ich dich zu einem längeren Besuch verleiten, indem ich dein Weinglas nachfülle, Philip?“

Bereitwillig stimmte er zu. Ann lehnte das Angebot ab und entschuldigte sich mit der Erklärung, sie müsse in ihrem Schlafzimmer ein Nähgarn suchen, das farblich besser zu ihrer Handarbeit passte.

Nachdem sie den Salon verlassen hatte, bekam Beth’ Lächeln einen ironischen Zug. „Also wirklich, ich werde die gute Ann ermahnen und auffordern müssen, die Pflichten einer Gesellschafterin etwas ernster zu nehmen. Warum lässt sie mich mit einem begehrenswerten Junggesellen allein? Was hat sie sich bloß dabei gedacht?“ In ihren Augen sah Philip ein vertrautes mutwilliges Funkeln, und so fand er ihre nächste Bemerkung nicht unerhört. „Aber sie glaubt sicher, bei dir bin ich nicht in Gefahr. Andererseits – ein Baronet wäre eine fabelhafte Partie, und wie unüberlegt ich mich manchmal verhalte, ist allgemein bekannt. Bedenke bloß, welchen Skandal ich heraufbeschwören könnte, wenn ich dich kompromittieren würde!“

Lachend warf er den Kopf in den Nacken. „Du hast dich kein bisschen geändert.“

„Das würde ich nicht sagen“, erwiderte sie und ergriff sein Glas. „Trinkst du einen Portwein mit mir?“ Angesichts seiner unverhohlenen Missbilligung seufzte sie. „Ja, ich weiß, dieses Getränk schickt sich nicht für Damen. Trotzdem habe ich es auf meinen Reisen schätzen gelernt und den guten Rudge beauftragt, ein paar Kisten zu kaufen.“

„Darf ich fragen, wer der ‚gute Rudge‘ ist?“

Sie füllte die Gläser, dann sank sie anmutig in den Sessel gegenüber von Philip. „Sozusagen mein Majordomus. Ein bisschen raubeinig. Der Himmel weiß, was meine Gäste von ihm halten werden … Wenn er jemanden nicht ausstehen kann, macht er daraus keinen Hehl. Er war Papas Offiziersbursche.“

Als sie den Colonel erwähnte, sprach er ihr sein aufrichtiges Beileid aus. Er hatte seinen Nachbarn nicht nur respektiert, sondern auch gemocht. „Wie ich hörte, ist er erst kurz vor dem Ende des Spanienfeldzugs gefallen.“

Die Wimpern halb gesenkt, blickte Beth auf ihr Glas, und Philip glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen. „Ja, als er für Wellington das Terrain sondierte, wurde er in den Rücken geschossen, kurz bevor die Armee in Frankreich einmarschierte. Ein paar Tage später starb er. Es war gut so“, fügte sie zu seiner Überraschung hinzu. „Denn wie mir einer der Militärärzte einige Monate zuvor mitgeteilt hatte, litt mein Vater an beginnender Auszehrung. Er starb im Dienst an seinem Vaterland. So wie er es gewünscht hätte … Er wurde in Spanien begraben, und ich blieb bei der Armee, bis wir Paris erreichten. Sicher war das in seinem Sinne.“ Sie trank einen Schluck und sah Philip über den Rand ihres Glases hinweg an. Schließlich fuhr sie fort: „In diesen letzten Jahren haben wir beide geliebte Menschen verloren. Die traurige Nachricht von Eugenies Tod erhielt ich erst nach mehreren Wochen. Papa schrieb dir auch in meinem Namen, um unser Beileid zu bekunden. Hoffentlich hast du seinen Brief bekommen?“

„Gewiss, vielen Dank.“

In seinen Augen hatte tiefes Mitgefühl gestanden, als vom Tod ihres Vaters die Rede gewesen war. Jetzt zeigte er erstaunlicherweise keinerlei Emotionen. Sie hatte erwartet, dass die Erwähnung seiner verstorbenen Verlobten ihn bekümmerte. Doch das schien nicht der Fall.

„Ich schrieb meiner Tante und meinem Onkel regelmäßig aus Spanien, um sie auf dem Laufenden zu halten“, berichtete Beth, als das Schweigen lastend wurde. „Was Tante Hetta betrifft – sie ist eine eingefleischte Pragmatikerin. Zweifellos wird sie stets um ihre älteste Tochter trauern, aber das hinderte sie nicht daran, für die anderen Mädchen zu sorgen. Inzwischen hat sie immerhin drei unter die Haube gebracht, eine bewundernswerte Leistung.“

„Ja, in der Tat“, stimmte Philip zu, und seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. „Wie man so schön sagt, das Leben geht weiter.“ Er trank sein Portweinglas leer und stand auf. „Da wir gerade davon reden, darf ich dich und Mrs. Stride einladen, am Freitagabend bei uns auf Stavely Court zu dinieren? Nach deiner Kleidung zu schließen, hast du die Trauerzeit beendet.“

„Bei uns?“, wiederholte Beth verwirrt.

„Connie wohnt für ein paar Wochen bei mir und spielt meine Gastgeberin.“

„Hat sie ihre Familie mitgebracht?“

„Großer Gott, nein!“ Allein schon bei diesem Gedanken erschauerte er. „Wenn ich auch ein liebevoller Bruder bin, die fünf Kinder würde ich nicht ertragen. Den ganzen Frühling waren sie der Reihe nach krank und trieben ihre Mutter an den Rand der Erschöpfung. Jetzt erholt sie sich bei mir und genießt eine wohlverdiente Ruhepause. Das behauptet sie zumindest. In Wirklichkeit hat sie beschlossen, meinen dreißigsten Geburtstag nicht ohne ein grandioses Fest verstreichen zu lassen.“

Lachend erhob sich nun auch Beth. „Wenn das so ist – besten Dank für die Einladung, die wir sehr gern annehmen.“

„Wunderbar! Es ist nur ein Dinner, nichts Besonderes, aber du wirst Gelegenheit finden, deine Bekanntschaft mit einigen Nachbarn zu erneuern und ein paar neue kennenzulernen.“ Höflich zog er ihre Hand an die Lippen und verabschiedete sich.

2. KAPITEL

Als die Salontür geöffnet wurde, wandte Beth sich vom Fenster ab. Von dort aus hatte sie ihrem Besucher nachgeschaut, bis er die Zufahrt hinabgeritten und aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Die Rückkehr ihrer Freundin überraschte sie ebenso wenig wie die fadenscheinige Ausrede, mit der sie sich vorhin entfernt hatte. Da Ann sehr scharfsinnig und eine gute Beobachterin war, konnte ihr die besondere Verbindung zwischen dem Herrn von Stavely Court und der Herrin von Ashworth House nicht entgangen sein. Obwohl Beth sich bemüht hatte, ihre Gefühle zu verbergen …

Das tat sie auch jetzt. Auf dem Weg zum Sideboard, auf dem die Karaffen standen, warf sie Ann einen spöttischen Blick zu. „Der Status einer bezahlten Gesellschafterin mag dir zustehen. Aber falls du auch die Rolle einer Anstandsdame übernehmen willst – vergiss es. Ich müsste dich wegen mangelnder Fähigkeiten sofort entlassen.“

Keineswegs gekränkt, lachte Ann. „Meine Liebe, ich wusste, dass dir keine Gefahr droht. Ohne jeden Zweifel ist Sir Philip Stavely ein respektabler Gentleman. Und so gut aussehend!“

Beth, die gerade ihr Glas nachfüllen wollte, hielt inne. „Du hältst ihn für gut aussehend?“

„Oh ja. Du etwa nicht?“

„Eigentlich nicht. Interessant, das durchaus. Jedenfalls fand ich ihn stets vertrauenswürdig, und ich werde ihn niemals anders beurteilen.“

„Du kennst ihn natürlich lange genug, um dir eine Meinung über seinen Charakter gebildet zu haben. Obwohl ich, als wir gestern durch seinen Park fuhren und du deine Beziehung zu ihm erwähntest, den Eindruck gewann, ihr wärt nur befreundete Nachbarn.“

„So ist es, liebe Ann. Gib mir dein Glas, ich schenke dir noch etwas von dem widerwärtigen Gebräu ein, das du bevorzugst.“

Nachdem sie Platz genommen hatten, beschloss Beth, etwas genauer zu erklären, was Philip ihr bedeutete. Zunächst erinnerte sie Ann an die Abende in Spanien, die sie in Gesellschaft Colonel Ashworths und anderer Offiziere verbracht hatten. „Wie du dich sicher entsinnst, genoss ich eine ungewöhnliche Erziehung.“

„Allerdings. Oft genug hat dein Vater betont, du seist ein richtiger Wildfang gewesen und schamlos in Breeches herumgelaufen.“

Beth lachte belustigt. „Oh ja. Erst später beschwerte er sich über mein unmögliches Benehmen. Aber zuvor ermutigte er mich sogar dazu, den Sohn zu ersetzen, der ihm nicht vergönnt war. Wäre er nicht der jüngste von drei Brüdern, sondern der Erbe des Titels gewesen, hätte er vermutlich noch einmal geheiratet, in der Hoffnung auf einen Stammhalter.“

In ihren Sessel zurückgelehnt, ließ Beth ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern.

„Wie du weißt, verlor ich meine Mutter sehr früh. Nur vage Erinnerungen sind mir geblieben – an den Duft ihres Parfüms, an sanfte Worte und Liebkosungen. Umso lebhafter erinnere ich mich an Papa. Er gab mir Reitunterricht und zwang mich nie, einen Damensattel zu benutzen. Den wollte er mir erst kaufen, als ich zehn Jahre alt war. Natürlich protestierte ich heftig. Und so bekam ich die Reitkleidung eines Jungen. Was er dir in Spanien erzählte, darf dich nicht täuschen, Ann. Er war unendlich stolz auf die Reitkünste seines kleinen Mädchens. Außerdem lernte ich genauso gut schießen wie er. Nur ganz selten tadelte er mich, wenn ich meiner leidgeprüften Gouvernante entwischte, um mit ihm auf die Jagd zu gehen oder zu angeln. Manchmal begleiteten uns Philip und sein Vater, und so lernten wir uns näher kennen. Jedes Jahr freute ich mich, wenn mein großer Freund in den Ferien nach Hause kam. Für mich war er gleichsam ein älterer Bruder, und ich folgte ihm auf Schritt und Tritt.“

Einige Sekunden lang starrte Beth in ihr Glas, um ihre Gedanken zu ordnen, dann lächelte sie und schüttelte den Kopf.

„Armer Junge! Wahrscheinlich fand er mich furchtbar lästig. Aber er war immer geduldig mit mir … Selbstverständlich konnte es nicht so weitergehen. Um Himmels willen, die Enkelin eines Earls rannte in Breeches herum!“ In gespieltem Entsetzen hob sie die Brauen. „Das durfte man nicht länger dulden. Tante Henrietta hielt ihrem Bruder sämtliche Fehler vor, die meine Erziehung betrafen, und ihm blieb keine andere Wahl, als ihren Rat zu befolgen und mich nach Bath in ein Internat für junge Damen zu schicken, das auch ihre älteste Tochter Eugenie besuchte. Anfangs ärgerte ich mich maßlos darüber, und ich war wütend, weil Tante Hetta sich in mein Leben einmischte. Aber wie ich letzten Endes zugeben musste, hatte sie recht. Wenn ich jemals auf eine gute Partie hoffen wollte, durfte ich mich nicht skandalös benehmen. Außerdem fand ich die Jahre im Internat gar nicht so schlimm. Ich teilte das Zimmer mit meiner Cousine. Wir freundeten uns an. Zumindest gewann ich den Eindruck …“

Verwundert bemerkte Ann eine gewisse Bitterkeit, die in Beth’ Stimme mitschwang. In den letzten fünf Jahren hatte die junge Dame ihre Cousine immer nur voller Zuneigung erwähnt und Eugenies verfrühten Tod aufrichtig bedauert. „Aber du bist stets in Verbindung mit ihr geblieben“, rief sie Beth in Erinnerung, auch weil sie mehr über jenen Lebensabschnitt ihrer Freundin erfahren wollte.

„Ja, wir schrieben uns regelmäßig. Mindestens einmal im Jahr besuchten Papa und ich Lord Barfields Anwesen in Surrey. Und plötzlich – kurz nach Eugenies erfolgreicher erster Saison in London – beschloss Tante Hetta, mit ihr hierherzukommen. Danach erschienen sie alle paar Monate bei uns. Dummerweise glaubte ich, Eugenie würde diese häufigen Reisen machen, um mich zu sehen.“ Beth’ Gelächter klang freudlos und hohl. „Welch ein Irrtum! In Wirklichkeit suchte sie die Nähe eines gewissen begehrenswerten Junggesellen, dessen Aufmerksamkeit sie in London erregt hatte.“

„Kein Wunder, dass du traurig warst, Liebes“, meinte Ann voller Mitgefühl.

„Oh ja, ich war verzweifelt. In meiner Naivität hatte ich mir eingebildet, Philip würde so oft in unserem Haus auftauchen, um mich, die Gefährtin seiner frühen Jugend, zu treffen – und nicht, um das schöne Mädchen anzuhimmeln, in das er sich Hals über Kopf verliebt hatte.“

Beth erhob sich und trat wieder ans Fenster. Ein längeres Schweigen senkte sich über den Raum. Nur das Knistern des Kaminfeuers war zu hören.

„Sicher tat ich Philip unrecht, als ich ihm sein Verhalten übel nahm“, fuhr sie irgendwann fort. „Dass er Eugenie so leidenschaftlich liebte, hätte ich verstehen müssen. Sie war unglaublich schön, mit goldblondem Haar und strahlenden blauen Augen. Und sie besaß ein so sanftes, gewinnendes Wesen …“ Sie seufzte. „Was ich damals nicht wusste – Waldo Stavely empfahl seinem Neffen, noch ein Jahr zu warten, ehe er die Verlobung bekannt gab, und Philip ging bereitwillig auf den Vorschlag seines Onkels ein. Unter den Umständen war das begreiflich. Er war noch sehr jung, knapp vierundzwanzig, und er musste sich an seine große Verantwortung gewöhnen. Erst wenige Monate zuvor hatte er den Titel geerbt. Aber gewisse Dinge kann man nicht lange geheim halten. Bald sprach sich herum, dass die Verlobung im nächsten Frühling verlautbart werden sollte. In der Zwischenzeit segelte Papa mit Wellington nach Portugal. Dort verbrachte er den Sommer 1808.“

Beth drehte sich wieder zu ihrer Freundin um.

„Ich konnte unmöglich hierbleiben. Töricht, wie ich damals war, fühlte ich mich zutiefst verletzt, grollte Eugenie und ihrer Mutter und konnte mir nicht vorstellen, die Gesellschaft der beiden jemals wieder zu ertragen. Deshalb zog ich zur unverheirateten Tante meiner Mutter nach Plymouth. Natürlich wusste ich, dass man von mir erwartete, im nächsten Jahr bei der Verlobungsfeier in Surrey dabei zu sein. Die Monate verstrichen, das gefürchtete Datum rückte immer näher. In meiner Verzweiflung buchte ich eine Passage auf einem Schiff nach Portugal, nur etwa eine Woche vor der offiziellen Verlobung. Meine arme Großtante Matilda schöpfte keinen Verdacht, bis sie den Brief fand, den ich vor meiner Flucht für sie hinterlegt hatte. Gewiss machte sie sich schreckliche Sorgen, obwohl ich ihr versicherte, dass ich eine Kabine mit der Witwe eines Militärarztes teilte, die als meine Anstandsdame fungieren sollte.“

„Trotzdem hast du ein gefährliches Wagnis auf dich genommen, Liebes“, betonte Ann. „Ein so junges Mädchen, eben erst zwanzig, auf einer so weiten Reise – ohne männlichen Schutz …“

„Ja, das stimmt“, gab Beth zu. „Aber damals erschien es mir als schlimmeres Schicksal, daheim zu bleiben.“ Sie zuckte die Achseln. „Inzwischen erhielt ich zahlreiche Briefe von Großtante Matilda, die alle bezeugen, dass sie mir den Kummer verzeiht, den ich ihr bereitet habe. Im Gegensatz zu Tante Henrietta … Den wenigen Briefen, die sie mir seither schrieb, entnahm ich nicht die geringste Herzenswärme.“

Nachdenklich musterte Ann die schlanke Gestalt am Fenster. „Bist du ihr immer noch böse?“

Beth sah wieder hinaus in den vernachlässigten Garten. „Meiner Tante nicht. Vielleicht Philip. Ein bisschen … Hoffentlich habe ich es ihm nicht gezeigt.“

„Nun, mir ist nichts dergleichen aufgefallen.“

„Sehr gut. Am Freitag sind wir nämlich zum Dinner in Stavely Court eingeladen. Und es wäre sehr unhöflich, würde ich dem Gastgeber mit einer feindseligen Miene begegnen, nicht wahr? Außerdem möchte ich meine kindischen Ressentiments endgültig begraben.“

Darauf antwortete Ann nicht. Stattdessen widmete sie sich wieder ihrer Handarbeit, die Stirn gedankenvoll gerunzelt.

Als Philip den Salon betrat, sah er seine Schwester vor dem Kamin sitzen, mit einer Stickerei beschäftigt.

„Ah, fleißig wie immer.“ Er ging zu dem Tisch, auf dem die frisch aufgefüllten Karaffen standen. „Kann ich dich vor dem Lunch zu einem Glas Madeira verleiten, Connie?“

„Oh ja, mein lieber Bruder. Nach dieser endlos langen Näherei fühle ich mich ziemlich ermattet und kann eine kleine Stärkung gebrauchen.“

Seine Schwester neigte keineswegs dazu, sich übermäßigen Anstrengungen auszusetzen. Aber um seinem Ruf eines untadeligen Gentlemans zu entsprechen, verzichtete Philip auf einen Kommentar und entschuldigte sich, weil er sie den ganzen Vormittag allein gelassen hatte.

Erleichtert legte sie die Stickerei beiseite und nahm das Glas Madeira, das er ihr reichte. „Nun?“, erkundigte sie sich, als er ihr gegenüber Platz nahm. „Hat Bethany sich sehr verändert?“

Eine Zeit lang schwieg er, betrachtete den Inhalt seines Glases und beschwor das Fantasiebild klarer blauer Augen in einem fein gezeichneten Gesicht herauf. „In gewisser Weise, und nicht nur äußerlich. Sie legt eine kühle Reserviertheit an den Tag, die man für Arroganz halten könnte.“

Obwohl Lady Chalford nicht gerade für ihre Einfühlungsgabe bekannt war, spürte sie, dass irgendetwas ihren Bruder beunruhigte. „Heißt das – sie hat sich nicht gefreut, dich wiederzusehen?“

„So weit würde ich nicht gehen.“ Philip schüttelte den Kopf. „Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Immerhin ist Beth jetzt eine erwachsene Frau, nicht mehr das lebhafte Mädchen, das für mich geschwärmt hat. Und nach allem, was in den letzten Jahren auf sie eingestürmt ist, musste sie sich natürlich verändern.“

Ihre Ladyschaft seufzte. „Falls sie Schwierigkeiten hatte, sollte sie ihrem verstorbenen Vater die Schuld geben. Was mag ihn bloß bewogen haben, Beth nach Spanien reisen zu lassen? In der Obhut seiner Schwester wäre sie besser aufgehoben gewesen. Nur zu gern hätte Lady Barfield während einer Londoner Saison ihre Nichte als Anstandsdame behütet, und für Bethanys Debüt wäre der Zeitpunkt ideal gewesen. Selbstverständlich erst nach deiner offiziellen Verlobung.“ Wie üblich, wenn dieses Thema zur Sprache kam, beobachtete sie ihren Bruder. Doch sie wartete vergeblich auf eine Reaktion. „Wäre sie in England geblieben, hätte sie längst heiraten können …“ Plötzlich ging ihr ein neuer Gedanke durch den Sinn. „Oder ist sie schon verheiratet?“

„Nein“, antwortete Philip nach einer längeren Pause. Seine Stirnfalten vertieften sich. „Und das überrascht mich, denn sie ist eine sehr hübsche junge Frau. Was mich allerdings noch mehr verwundert – warum ist sie ihrem Vater nach Spanien gefolgt? Wie ihre Gesellschafterin verriet, hat Augustus Ashworth seine Tochter nicht veranlasst, ihn aufzusuchen …“ Er zuckte die Achseln. „Nun, irgendwann werden wir die Wahrheit herausfinden – möglicherweise schon an diesem Freitag, denn ich habe Beth und ihre charmante Gesellschafterin zu unserer kleinen Dinnerparty eingeladen.“

Bei den nächsten Worten warf er seiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu.

„Nimm dich in Acht, Connie. Wenn mich nicht alles täuscht, sieht Beth in dieser Frau viel mehr als eine Gesellschafterin. Gewiss, du bist viel zu höflich, um einen Gast in Verlegenheit zu bringen. Aber leider kannst du deine Zunge nicht immer hüten.“

Obwohl sie pikiert die Augen verdrehte, beklagte seine Schwester sich nicht. „Da ich einen Mann von Bathursts Kaliber willkommen heißen muss, bin ich auch imstande, einer bezahlten Gesellschafterin freundlich zu begegnen“, versicherte sie stattdessen. In ihren grauen Augen erschien ein boshaftes Funkeln. „Vielleicht erweist sich die Gesellschafterin sogar als Segen. Ich habe mich schon gefragt, wen ich an unserer Tafel neben Mr. Charles Bathurst platzieren soll.“

„Was für eine ausgezeichnete Idee!“, ging Philip geschickt über den Versuch, ihn zu provozieren, hinweg. „Und du solltest Beth an die andere Seite unseres wohlhabenden neuen Nachbarn setzen. Sofern sich ihr Charakter inzwischen nicht geändert hat, ist es ihr völlig egal, dass ihr Tischnachbar in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens als Bastard betrachtet wurde.“

Auch wenn Philip bereits Gelegenheit gehabt hatte festzustellen, dass Bethany zu einer strahlenden Schönheit geworden war, stockte ihm der Atem, als sie am Freitagabend mit Mrs. Stride den Salon betrat.

In derlei Dingen erfahren, erkannte er, dass beide Damen elegant und nach der neuesten Mode gekleidet waren. Offensichtlich hatten sie ihre Abendroben in Paris erworben. Beth’ eisblaues Seidenkleid schmiegte sich in fließenden Falten an ihre schlanke Figur. Durch die kunstvoll frisierten dunkelbraunen Locken schlang sich ein Band in genau derselben Farbe wie das stilvolle Kleid. Zu der schlichten Perlenkette passten tropfenförmige Ohrgehänge. Auch die Erscheinung ihrer Begleiterin ließ nichts zu wünschen übrig.

Lächelnd verließ er seine ebenso verblüffte Schwester und stellte die Neuankömmlinge den anderen Gästen vor, die zumindest eine der beiden Damen kannten.

Zum Großteil hatte Philip es seiner kompetenten Schwester überlassen, die Dinnerparty zu organisieren, jedoch selbst entschieden, welche Dame neben ihm am Kopfende der Tafel sitzen sollte. Aus Gründen, die er nicht recht verstand, war seine Wahl nicht auf Beth gefallen. Trotzdem warf er während der Mahlzeit mehrmals verstohlene Blicke zu ihr hinüber, um ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten einzuschätzen.

In ihrer Kindheit war sie selbstbewusst und kein bisschen scheu gewesen. Aber nach ihrer Heimkehr aus dem Internat hatte er eine gewisse Unsicherheit an ihr bemerkt. Damals hatte sie sich auf dem Rücken eines Jagdpferdes immer noch wohler gefühlt als in eleganten Salons. Jetzt hingegen legte nichts in ihrem Verhalten den Verdacht nahe, dass ihr unbehaglich zumute war. Lebhaft plauderte sie mit ihren Tischnachbarn und schenkte ihre Aufmerksamkeit vor allem dem steinreichen Neuling im West Country.

Da ihn ihre Meinung über Charles Bathurst interessierte, ermutigte Philip die Gentlemen nicht, etwas länger bei ihrem Portwein zu verweilen. Zur Verblüffung der Damen kehrte er mit seinen Gästen in den Salon zurück, noch bevor die Lakaien das Teegeschirr abgeräumt hatten.

„Kann ich dich zu einem Spaziergang im Garten überreden, Beth?“, fragte er, ohne sich lange mit Vorreden aufzuhalten. „So schöne milde Abende werden wir nicht mehr lange genießen, ehe der Herbst beginnt.“

Falls sein Vorschlag sie erstaunte, ließ sie sich nichts anmerken. Bereitwillig folgte sie ihm auf die Terrasse und die Stufen zum Garten hinter dem Haus hinunter.

„Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist“, gab sie zu und sah sich bewundernd um. „Oder vielleicht wusste ich die Schönheit englischer Gärten nicht zu würdigen, bis mir der erholsame Aufenthalt in einer solchen Umgebung jahrelang verwehrt war. Im Sommer müssen die Rosen atemberaubend geduftet haben. Auch der Garten von Ashworth House wird bald in alter Pracht erblühen, so wie zu Mamas Lebzeiten. Davon hat Papa nach ihrem Tod oft geschwärmt.“

Wäre es eine andere junge Dame aus seinem Bekanntenkreis gewesen, mit der er diesen Spaziergang machte, hätte er diese Konversation nicht banal gefunden.

Aber weil Beth mit ihm plauderte, die in ihrer Kindheit einen so mutwilligen Charme bewiesen hatte, fand er die Worte klischeehaft und wunderte sich über seine Enttäuschung. Um Himmels willen, was hatte er erwartet? Sie war kein Kind mehr, das voller Verehrung zu ihm aufschaute und seinem Ersatzbruder kleine Geheimnisse anvertraute.

Wieder erinnerte er sich an ihre Heimkehr aus dem Internat in Bath. Er war bestürzt gewesen, weil Beth versucht hatte, das damenhafte Benehmen ihrer schönen Cousine nachzuahmen. Das affektierte Getue passte einfach nicht zu ihr. Oft genug hatte er sich darüber geärgert. Jetzt benahm sie sich anders. Inzwischen verfügte sie über eine große gesellschaftliche Souveränität, und ihr Verhalten wirkte nicht mehr gekünstelt. Zweifellos eine respektable Leistung, und er hätte ihre Fähigkeiten zu schätzen gewusst, wäre da nicht sein Verdacht gewesen, dass sie auf diese Weise Abstand zu ihm wahren wollte.

Wenig später verstärkte sich der Eindruck, als Beth versehentlich auf einen großen Kieselstein trat und beinahe umgeknickt wäre. Galant hielt er sie am Oberarm fest, doch sie befreite sich hastig – so blitzschnell, als hätte die Wärme seiner Finger durch den langen Abendhandschuh hindurch ihre Haut verbrannt.

Sie fasste sich sofort wieder. Aus ihren Augen verschwand der Ausdruck eines verwundeten Rehs. „Verzeih mir. Normalerweise bin ich nicht so ungeschickt.“

Ihre Distanziertheit irritierte ihn. Aber er bezwang seinen Ärger. „Ganz im Gegenteil. Wie ich mich entsinne, wurdest du als Kind förmlich vom Pech verfolgt. Meistens warst du selber schuld. Auf zahlreiche Bäume musste ich klettern, um dich herunterzuholen. Einmal sprang ich sogar in den Fluss und zog dich heraus. Erinnerst du dich? Dabei ruinierte ich mir ein Paar brandneue Stiefel.“

Endlich sah er einen Anflug des schelmischen Lächelns, das ihn früher so entzückt und das er in all den Jahren vermisst hatte. Erst jetzt wurde ihm das bewusst.

„Oh Gott, das hatte ich ganz vergessen“, gestand sie. Ihr fröhliches Gelächter war ein weiterer Beweis für den Übermut, der sich immer noch hinter der damenhaften Fassade verbarg. „Armer Philip! Wie schrecklich muss ich dir manchmal zur Last gefallen sein!“

„Oh nein“, beteuerte er und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Erst nach deiner Rückkehr aus dem Internat fand ich deine Gesellschaft wenig erfreulich.“

„Warum?“, fragte sie sichtlich erstaunt.

„Weil du dich so unnatürlich und affektiert benahmst. Du wolltest Eugenie nacheifern. Und dieses gezierte Gehabe passte nicht zu dir.“

Beth hob die Brauen. „Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, hast du Eugenies Verhalten stets bewundert.“ In ihrer Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit.

„Gewiss, denn an ihr wirkte es nie gekünstelt. Im Gegensatz zu dir wurde sie sehr streng erzogen und sofort getadelt, wenn sie sich falsch benahm. Aber du durftest mehr oder weniger tun, was dir gefiel. Damals verstand ich nicht, warum dein Vater dem Drängen seiner Schwester nachgab und dich in dieses Internat schickte. Dort werden junge Mädchen in Debütantinnen verwandelt, die sich alle auf die gleiche alberne Art aufführen. Vielleicht hätte er eine Gouvernante einstellen sollen, die imstande war, deinen Freigeist zu zügeln und dir vernünftiges Benehmen beizubringen.“ Philip beobachtete, wie sie den Kopf abwandte und eine sorgsam gestutzte Eibenhecke anstarrte. „Tut mir leid, falls ich dich gekränkt habe, Beth. Glaub mir, das wollte ich nicht.“

„Unsinn, du hast mich nicht gekränkt“, erwiderte sie nach einer kurzen Pause. „Später werde ich in Ruhe über deine Worte nachdenken und entscheiden, ob deine Kritik berechtigt ist.“ Sie schaute ihn wieder an. „Und auf die Gefahr hin, weitere kritische Äußerungen herauszufordern – wie würde der Experte für untadeliges weibliches Benehmen mein Betragen jetzt beurteilen?“

Obwohl er glaubte, dass sie ihn verspottete, antwortete er offen und ehrlich: „Seit deiner Heimkehr sehe ich in dir eine junge Frau, die sich so gibt, wie es ihr gefällt. Und du strahlst immer noch einen natürlichen Charme aus, wenn du in der richtigen Stimmung bist.“ Lächelnd fuhr er fort: „Übrigens, beim Dinner hing Charles Bathurst geradezu an deinen Lippen.“

„Da irrst du dich!“, protestierte sie lebhaft und beobachtete ihn, als wollte sie herausfinden, ob er ihr Komplimente oder Vorwürfe machte. „Außer Ann und mir selbst saß niemand nahe genug bei ihm, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Der Vikar und seine Frau ließen sich zu ein paar Höflichkeitsfloskeln herab, doch dann ignorierten sie Mr. Bathurst während der ganzen Mahlzeit. Und deine Schwester bemühte sich ebenso wenig, ihn zu unterhalten.“

„Hm … Manchmal ist die liebe Constance ein bisschen unklug.“ Sie bogen in einen Weg ein, der zum Haus zurückführte. „Den Vikar und seine Gemahlin muss man wohl entschuldigen. Gewiss, es sind nette, anständige Leute. Aber Reverend Chadwick möchte die einflussreicheren Mitglieder seiner Gemeinde nicht irritieren, indem er einem Mann, der zwei Jahrzehnte lang als Bastard galt, allzu freundlich begegnet.“

„Großer Gott! Und ich frage mich die ganze Zeit, warum der alte Eustace Bathurst seinen Neffen nie erwähnt hat! Nicht dass ich den alten Kauz besonders gut kannte …“ Plötzlich runzelte Beth die Stirn. „Aber irgendwann muss er ihn anerkannt haben, sonst hätte er ihm nicht sein gesamtes Vermögen hinterlassen.“

„Nun, der arme alte Eustace befand sich in einer wenig beneidenswerten Lage“, erklärte Philip. „Wie Onkel Waldo mir erzählte, spielte Eustaces Bruder Cedric in jenem Skandal, der sich vor fast vier Jahrzehnten ereignete, eine Schlüsselrolle. Eustace selbst war mit dem sechsten Viscount Litton befreundet, der bis zu seinem Tod mit Charles’ Mutter verheiratet blieb. Anscheinend störte es Eustace kein bisschen, dass der Viscount seine junge Frau, wann immer er betrunken war, gnadenlos verprügelte, um sie für jedes noch so geringe Vergehen zu bestrafen. Und wie so viele andere Männer glaubte Eustace, eine Ehefrau wäre verpflichtet, die – eh – kleinen Sünden ihres Gatten hinzunehmen.“

Empört, aber fasziniert bat Beth ihn, weiterzuerzählen.

„Nach einer besonders schmerzhaften Prügelstrafe wurde die junge Viscountess von Dr. Cedric Bathurst behandelt, der eben erst promoviert hatte. Sie verliebten sich, und sobald sie genas, brannten die beiden durch und lebten unter falschem Namen wie ein Ehepaar zusammen. Ein paar Jahre später erfuhr Litton, wo sich seine entflohene Frau aufhielt. Um diese Zeit war Charles bereits geboren. Der Viscount lehnte eine Scheidung rundheraus ab und machte dem Paar das Leben zur Hölle. Schließlich sahen sich die beiden gezwungen, erneut die Flucht zu ergreifen. In der Folgezeit stand Eustace nicht mit seinem Bruder in Verbindung. Erst nach dem Tod des Viscounts, etwa fünfzehn Jahre später, konnte Cedric die Mutter seines Kindes heiraten. Inzwischen hatte er eine erfolgreiche Arztpraxis in Northamptonshire aufgebaut, und die Brüder nahmen endlich wieder Kontakt auf. Trotzdem weigern sich immer noch viele Leute, Charles Bathurst als Eustaces legitimen Erben anzuerkennen.“

„Zu diesen Spießern gehörst du offenbar nicht“, meinte Beth.

„Allerdings nicht!“, bekräftigte Philip. „In dieser Gegend reichen ihm nur sehr wenige Menschen eine freundschaftliche Hand. Hoffentlich darf ich mich auf deine Unterstützung verlassen?“

„Willst du mich beleidigen?“ In gespielter Entrüstung runzelte Beth die Stirn. „Also wirklich, Philip, eigentlich dachte ich, du würdest eine solche Frage überflüssig finden.“

Statt zu antworten, brach er in Gelächter aus. Und dann – ehe sie ihm ausweichen konnte – umfasste er ihren Arm und führte sie ins Haus zurück, zu seinen anderen Gästen.

3. KAPITEL

Es war am Montag der nächsten Woche, und Beth saß allein im Salon, als ihr Lady Chalfords Besuch gemeldet wurde. Schon nach wenigen Minuten rauschte Sir Philip Stavelys Schwester ins Zimmer, ohne Begleitung und sichtlich verärgert. „Was für einen – eh – merkwürdigen Lakaien du beschäftigst, meine liebe Bethany“, begann sie, nachdem sie der Aufforderung der Hausherrin nachgekommen und in einen der bequemen Sessel vor dem Kamin gesunken war. „Seinen befremdlichen Manieren entnehme ich, dass der Dienst im Hause nicht seine einzige Aufgabe ist.“

„Nun, Rudge kümmert sich um so gut wie alles, was anfällt, Constance“, bestätigte Beth. „Um nichts auf der Welt würde ich auf ihn verzichten. Allerdings muss ich zugeben, dass es ihm als Butler an Übung mangelt.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie lächelte boshaft. „Wenn ich mich eines Tages ganz besonders rachsüchtig fühle, sollte ich deinen Bruder vielleicht bitten, ihn für ein paar Wochen auf Stavely Court zu beschäftigen. Der tüchtige, würdevolle Stebbings könnte ihm einiges beibringen.“

Da die ironische Bemerkung wirkungslos verhallte und Ihre Ladyschaft bloß verwirrt blinzelte, verzichtete Beth auf die Erklärung, sie habe nur gescherzt. Stattdessen stand sie auf, um ihrem Gast eine Erfrischung anzubieten.

„Ich glaube, du bevorzugst das gleiche grässliche Gebräu wie meine Freundin Ann?“, fragte sie und hielt eine Karaffe mit Mandellikör hoch.

„Was …? Oh ja, ein Gläschen Likör wäre hochwillkommen.“

„Jedem das Seine“, murmelte Beth und füllte ein Glas. Für sich selbst schenkte sie Burgunder ein, ehe sie wieder Platz nahm.

„Leistet Mrs. Stride uns nicht Gesellschaft?“ Lady Chalford schaute sich im Salon um. „So eine charmante Frau! Und kein bisschen unterwürfig! Man gewinnt sogar den Eindruck, dass sie an den Umgang mit höhergestellten Personen gewöhnt ist.“

Früher war Beth viel öfter mit Philip zusammen gewesen als mit seiner Schwester und kannte sie auch nicht so gut. Trotzdem wusste sie, dass Constance ihre Worte nicht bösartig meinte. Allerdings neigte sie zum Snobismus.

Und so beschloss Beth, ihre Besucherin sanft zurechtzuweisen. „Wenn ich dir verrate, dass Anns Mädchenname Carrington lautet und ein Zweig ihrer Familie ausgedehnte Ländereien in Gloucestershire besitzt, wirst du vielleicht verstehen, warum sie in sogenannten besseren Kreisen nicht vor Ehrfurcht stirbt.“

Neugierig beugte Lady Chalford sich vor, und Beth fügte weitere Informationen hinzu – in der Hoffnung, ihrer Freundin den Zugang zur ortsansässigen Gesellschaft zu erleichtern.

„Genau wie mein Vater war ihrer ein jüngerer Sohn und gezwungen, seinen eigenen Weg zu machen. Er wurde ein Mann der Kirche und starb als angesehener, indes ziemlich mittelloser Geistlicher. Ann musste schon in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ihre Eltern hatten ihr eine gute Ausbildung ermöglicht, und so trat sie bei einer Familie in Hampshire die Stellung der Gouvernante an. Dort lernte sie Major Stride kennen, der ein kleines Landgut in der Gegend besaß, und wurde seine Frau. Als er mit seinem Regiment nach Portugal segelte, begleitete sie ihn. Unglücklicherweise fiel er bei Talavera. Um diese Zeit traf ich in Spanien ein.“

„Ja, ich erinnere mich … Mein Bruder erwähnte es neulich. Ich sagte, ich verstünde nicht, warum der Colonel nach dir geschickt hat. Und da erklärte Philip, du hättest die Reise aus eigenem Antrieb unternommen.“

Beth verbarg weder ihre Verblüffung noch ihren Respekt vor Philips Scharfsinn. „Wie hat er denn das herausgefunden?“

„Also stimmt es?“

Ausdruckslos starrte Beth ins Kaminfeuer. „Ja“, gab sie zögernd zu. „Das wissen nur sehr wenige Leute. Nicht einmal Ann wurde offiziell darüber informiert. Aber sie hat es natürlich erraten.“ Dann hob sie die Hand. „Wir schweifen vom Thema ab. Kehren wir zur Geschichte meiner lieben Freundin zurück. In Indien hatte ihr Ehemann unter Generalgouverneur Wellesley gedient, und der Duke of Wellington hielt große Stücke auf ihn. Obwohl Ann meine bezahlte Gesellschafterin war, wurde sie von allen Offizieren respektiert.“

„Warum arbeitet sie für dich, statt auf ihrem Landgut in Hampshire zu leben? Das erscheint mir seltsam.“

„Das sagst du, weil du sie nicht kennst. Der Major hinterließ ihr kein Vermögen, und das Haus ist bis zum Ende des Jahres vermietet. Wir haben nie darüber gesprochen – aber ich glaube, Ann möchte nicht nach Hampshire zurückkehren. Dort würde sie sich langweilen und könnte ihren Tatendrang nicht befriedigen.“ Während Beth ins Leere blickte, beschwor sie Bilder aus der Vergangenheit herauf, die sie immer noch erschauern ließen. „Da ich deine Gefühle nicht verletzen will, Constance, möchte ich nur betonen, dass meine Freundin und ich in Spanien Dinge sahen, die einer Frau von Stand normalerweise erspart bleiben. Trotzdem hat mich die Zeit bei der Armee geprägt. Hätte ich England nicht verlassen, wäre ich jetzt verheiratet, in einer wahrscheinlich lieblosen Ehe gefangen und unzufrieden mit meinem Schicksal.“

„Aber meine Liebe!“, protestierte Lady Chalford schockiert. „Ist es nicht das Ziel jedes Mädchens, Ehefrau und Mutter zu werden?“

„Nicht mein Ziel“, entgegnete Beth unverblümt. „Früher dachte ich anders darüber. Zum Glück bin ich jetzt vernünftiger.“ Da sie das Unbehagen ihres Gastes bemerkte, wechselte sie das Thema und erkundigte sich, ob Constance aus einem besonderen Grund gekommen sei.

„Oh ja, ich wollte etwas mit dir besprechen. Und ich bin froh, dass wir unter vier Augen reden können.“ Constance warf einen Blick zur Tür. „Oder glaubst du, wir werden gestört?“

„Nur von Rudge, falls er beschließt, noch etwas Holz ins Feuer zu legen. Aber er sollte dich nicht erschrecken. Trotz seiner mangelnden Manieren ist er sehr diskret“, versicherte Beth. „Und meine Freundin wird kaum vor dem Lunch zurückkehren. Bei deiner Dinnerparty erfuhr die Frau des Vikars, dass Ann die Tochter eines Geistlichen ist. Deshalb fragte sie, ob Mrs. Stride so freundlich wäre, ihr zu helfen und ein paar Kleider unter den Bedürftigen unserer Gemeinde zu verteilen.“ Seufzend sah Beth zur Stuckdecke hinauf. „Und gutmütig, wie Ann nun einmal ist, hat sie zugestimmt.“

„Nun – zufällig ist es das, was ich mit dir erörtern möchte.“

Erstaunt musterte Beth die Besucherin, bevor sie einen Schluck Wein trank. „Das Ansinnen, das die Vikarsgattin an Ann gestellt hat?“

„Oh nein, nein – ich meine die Dinnerparty, und es handelt sich um Philip. An jenem Abend seid ihr beide ziemlich lange im Garten gewesen.“

Worauf Constance hinauswollte, verstand Beth noch immer nicht. „Und?“

„Nun, ich frage mich, wie du ihn einschätzt – sein Verhalten dir gegenüber …“

Endlich ging Beth ein Licht auf. „Wenn du es unbedingt wissen musst – er war furchtbar unverschämt. Er warf mir doch tatsächlich vor, nach der Zeit im Internat hätte ich mich wie eine alberne, affektierte Debütantin benommen.“ Rachsüchtig fügte sie hinzu: „Und das werde ich nicht so bald vergessen, das darfst du mir glauben.“

Constance begann zu kichern. „Mach nicht solche Scherze, du böses Mädchen! Philip ist stets ein untadeliger Gentleman.“

„Ha, da kennst du ihn schlecht!“, spottete Beth. Dann gab sie klein bei, denn sie bemerkte Constances Bestürzung. „Aber weil er dein Bruder ist, fühlst du dich verpflichtet, immer nur das Beste über ihn zu denken.“

„Natürlich“, bekräftigte Lady Chalford hastig. „Und ich sorge mich um ihn …“ Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Findest du, er hat sich verändert?“

„Ja, allerdings“, erwiderte Beth prompt. Was für eine absurde Frage! „In einem halben Jahrzehnt verändern wir uns alle, und die Zeit nimmt nur sehr wenige Menschen davon aus.“

„Da hast du recht. Aber ich meine keine äußeren Veränderungen, sondern Philips Wesen. Seit dem Tod der armen Eugenie ist er so still und in sich gekehrt. Gewiss, in der Öffentlichkeit trägt er eine tapfere Miene zur Schau. Doch ich weiß es besser. Immer wieder beobachte ich ihn, wenn er in der Bibliothek sitzt und das Miniaturporträt seiner verstorbenen Verlobten anstarrt, das er in einer Schreibtischschublade verwahrt. Dabei sieht er so verloren aus, so unglücklich. Wenn ich ihn zu trösten versuche, weist er mich zurück. Ich wage kaum noch, Eugenie zu erwähnen, vor lauter Angst, dass ich ihn aufrege. Und wann immer ich mich dazu hinreißen lasse, wechselt er sofort das Thema.“

„Wie seltsam“, meinte Beth verwundert. Am Abend der Dinnerparty hatte Philip ganz unbefangen mit ihr über Eugenie gesprochen und dabei erstaunlich wenig Emotionen gezeigt. Vielleicht, weil er kein Mitleid erregen wollte … Aber sie erinnerte sich, dass er sein Herz noch nie auf der Zunge getragen hatte. „Dein Bruder ist von Natur aus ein eher verschlossener Mann und behält meistens für sich, was er denkt oder fühlt. Trotzdem muss ihn der Verlust seiner Braut tief getroffen haben. Daran zweifle ich keine Sekunde lang.“

„Oh, gewiss!“, stimmte Constance im Brustton der Überzeugung zu. Hastig nahm sie ein Spitzentüchlein aus ihrem Retikül und betupfte ihre Lider. „Seit jener Tragödie hat er sich für keine andere Frau mehr interessiert.“ Errötend verbesserte sie sich: „Zumindest nicht ernsthaft – also für keine, die als seine Gemahlin infrage käme. Das heißt, bis zur letzten Saison.“

Plötzlich entwickelte sie einen lebhaften Eifer, den Beth nie zuvor an ihr bemerkt hatte.

„Keine Ahnung, ob du es weißt … Jedenfalls hat deine Cousine Phoebe im Frühling debütiert. Wenn sie auch keinen so triumphalen Erfolg erzielte wie ihre älteste Schwester – auch sie wurde von Verehrern umringt. Sogar Philip schenkte ihr seine Aufmerksamkeit. Was mich nicht überrascht, wo sie Eugenie doch so ähnlich ist …“

„Ach, tatsächlich?“, fragte Beth betont beiläufig. „Als ich Phoebe zuletzt sah, glich sie Eugenie kein bisschen. Eher erschien sie mir wie eine kleine graue Maus. Nun, das ist schon einige Jahre her.“

„Dann dürftest du sehr verblüfft sein, wenn du ihr nächsten Monat wieder begegnest, meine Liebe. Deine Tante und sie kommen zu Philips Geburtstagsparty und bleiben ein paar Tage auf Stavely Court. Deshalb hoffe ich auf deine Unterstützung.“

In Beth’ Gehirn begannen Alarmglocken zu schrillen. „Meine Unterstützung? Was genau meinst du damit?“

„Nun, es wäre fabelhaft, wenn du meinem Bruder ermöglichen würdest, Phoebe etwas öfter zu treffen. Du könntest deine Tante und deine Cousine zu einem längeren Aufenthalt in deinem Haus einladen.“

„Nein, völlig ausgeschlossen! Ein zweites Mal werde ich nicht für günstige Gelegenheiten sorgen …“ Als Beth erkannte, wie schockiert Ihre Ladyschaft über die brüske Ablehnung war, fügte sie in etwas sanfterem Ton hinzu: „Tut mir leid, aber das kommt nicht infrage. Philip würde es mir kaum danken, wenn ich mich in sein Privatleben einmische – insbesondere, weil wir nicht mehr so eng befreundet sind wie früher. Außerdem dürfte Tante Henrietta mir immer noch grollen, weil ich es vorzog, nach Spanien zu reisen, statt bei ihr zu wohnen. Zumindest entnahm ich das ihren Briefen, die ich in den letzten Jahren erhielt. Falls sie jetzt bereit ist, die Vergangenheit zu begraben, und wieder bei mir wohnen möchte, werde ich sie gern einladen. Nächstes Jahr, wenn ich das Haus in Ordnung gebracht habe.“

Damit musste Constance sich zufriedengeben.

Kurz nachdem die Besucherin sich verabschiedet hatte, kehrte Ann zurück und traf ihre junge Herrin am Schreibtisch im Salon an. Das Haushaltsbuch war an derselben Stelle aufgeschlagen wie vor zwei Stunden, als die Gesellschafterin aus dem Haus gegangen war, und wies nur wenige neue Eintragungen auf. Auch die gestapelten Rechnungen neben Beth’ schmaler rechter Hand wirkten unberührt. Zwischen den azurblauen Augen hatte sich eine steile Falte gebildet.

„Was bedrückt dich, meine liebe Beth? Ärgerst du dich, weil du deine Buchhaltung heute Morgen noch nicht beendet hast? Soll ich dich allein lassen, damit du dich auf deine Arbeit konzentrieren kannst?“

Erst in diesem Moment bemerkte Beth, dass ihre Freundin neben ihr stand. Wie so oft übte Anns sanfte Stimme eine beruhigende Wirkung auf sie aus. „Allzu viel habe ich nicht erledigt, das ist wahr. Daran ist eine unerwartete Besucherin schuld. Trotzdem möchte ich nicht allein bleiben. Komm, Ann, setzen wir uns vor den Kamin, und du erzählst mir, welche Neuigkeiten du im Dorf aufgeschnappt hast.“

Bereitwillig erfüllte Ann den Wunsch ihrer Freundin und erzählte ihr, dass in den letzten Monaten Diebstähle in der Gegend dramatisch zugenommen hatten. „Wie Mrs. Chadwick, die Vikarsfrau, erwähnte, wurde sogar in zwei oder drei größeren Häusern an der Hauptstraße eingebrochen. Und in der benachbarten Stadt geht es noch schlimmer zu. Dort versammeln sich immer mehr unzufriedene Männer an den Straßenecken und bekunden ganz offen ihren Groll gegen die Leute, die in besseren Verhältnissen leben.“

„Damit war zu rechnen“, meinte Beth, kein bisschen überrascht. „Nach dem Kriegsende sind zu viele ehemalige Soldaten arbeitslos. Und die Unruhen werden sich ausbreiten, solange die Männer sich nicht ernähren können, geschweige denn ihre Familien.“

Zustimmend nickte Ann. Dann erinnerte sie sich an etwas anderes, das sie an diesem Morgen erfahren hatte. „Kennst du zufällig einen gewissen Napier? Das behauptet jedenfalls Mrs. Chadwick. Er ist ein guter Freund ihres Sohnes und hat das Pfarrhaus in den letzten Jahren oft besucht. Sie sagt, er stamme aus Surrey und wohne in der Nähe von Lord und Lady Barfield.“

„Oh, sicher meinst du Crispin Napier.“ Nachdenklich schüttelte Beth den Kopf. „Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch ein Kind. Jetzt muss er Anfang zwanzig sein.“

„Er ging mit dem einzigen Sohn des Vikars zur Schule. Auch danach blieben die beiden befreundet, und offenbar kommt Mr. Napier nächsten Monat zu Sir Philips Geburtstag hierher. Was ich seltsam finde, denn so, wie ich Mrs. Chadwick verstanden habe, erfreut der Baronet sich keineswegs Mr. Napiers besonderer Wertschätzung. Offenbar organisierte Sir Philip zu Beginn des Sommers, kurz nach seiner Rückkehr aus London, einen Jagdausflug. Dazu lud er mehrere Nachbarn ein, darunter den Reverend, dessen Sohn und Mr. Napier, der zufällig gerade zu Gast war im Pfarrhaus. Der junge Mann zeigte sich nicht allzu begeistert über die Jagdpartie und schloss sich nur an, um seinem Freund Gesellschaft zu leisten. Was glaubst du, warum er das Geburtstagsfest besuchen will – obwohl er Sir Philip nicht mag?“

„Sicher, das ist merkwürdig. Aber der junge Crispin wird seine Gründe haben. Zudem nehme ich an, Philips Schwester hat die Einladungen verschickt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er auch ihr zürnt. Da wir gerade von Lady Chalford reden – heute Morgen machte sie mir die Aufwartung und erklärte mir im Lauf unseres Gesprächs, ihr Bruder wüsste, dass ich aus eigenem Antrieb nach Spanien gereist bin.“ Beth musterte das Gesicht ihrer Freundin. „Das kannst nur du ihm erzählt haben.“

Falls die unverhohlene Anschuldigung Ann etwas ausmachte, ließ sie sich nichts anmerken. „Mag sein“, gab sie zu. „Ich weiß es nicht mehr.“ Dann runzelte sie besorgt die Stirn. „Spielt es eine Rolle? Würdest du es vorziehen, er hätte nichts davon erfahren?“

„Um ehrlich zu sein, ja“, gestand Beth, weil sie einsah, dass eine Lüge sinnlos war. „Wie ich mich damals benahm, wie sehr ich Philip und Eugenie grollte – all das wirft kein gutes Licht auf mich. Was ich seinerzeit empfand, soll er nicht wissen. Es ist ohnehin Schnee von gestern.“ Sie sah auf, begegnete Anns forschendem Blick und lächelte. „Aber deshalb mache ich mir keine Sorgen. Wenn Philip auch sehr scharfsinnig ist – wir werden uns nur selten begegnen. Also besteht kaum die Gefahr, dass ich unwillkürlich enthülle, was damals in mir vorging.“

Zwei Tage später besuchte Beth mit Ann die Nachbarstadt und erkannte, dass ihre Prophezeiung zu optimistisch gewesen war, denn sie sah ihren illustren Nachbarn die Hauptstraße entlangschlendern. Da er direkt auf sie zukam, ließ sich eine Begegnung nicht vermeiden. Außerdem wollte sie es auch gar nicht versuchen, weil ihn niemand anders als Charles Bathurst begleitete. Und der Gentleman hatte einen sehr vorteilhaften Eindruck auf eine gewisse Dame in Beth’ nächster Umgebung gemacht – was offenkundig war, da eben jene Dame seinen Namen verdächtig oft erwähnte.

Wie Beth mit einem kurzen Seitenblick feststellte, errötete ihre Gefährtin.

„Möchten die Gentlemen ihren Viehbestand aufstocken?“ Mit der Frage lenkte Beth die Aufmerksamkeit der zwei Männer auf sich und verschaffte der aufgeregten Freundin Gelegenheit, ihre Fassung wiederzugewinnen. „Oder genießen Sie nur das Leben und Treiben am Markttag?“

„Beides“, antwortete Sir Philip und musterte Beth entzückt. An diesem sonnigen Morgen trug sie einen modischen Hut mit blauen Bändern und erschien ihm ganz besonders reizvoll. „Bathurst will sich ein paar Tiere anschauen. Aber ich sauge einfach nur die Atmosphäre in mich auf. Ich liebe das Gewimmel an Markttagen.“

„Ja, ich erinnere mich.“ Beth’ Lächeln wirkte etwas gezwungen. „Früher bin ich oft mit dir über diesen Platz gewandert.“

Nun wäre sie gern wieder ihrer Wege gegangen. Aber da sie annahm, dass dies ihrer Gesellschafterin missfallen würde, bat sie die Gentlemen um deren Begleitung zu ihrer Kutsche, die vor dem beliebtesten Gasthof der Stadt auf sie wartete. Notgedrungen akzeptierte sie Philips Arm. Im Abstand einiger Schritte folgten ihnen Ann und Mr. Bathurst, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Anscheinend war die Gesellschafterin glücklich über die unverhoffte Begegnung, was der heitere Klang ihrer Stimme deutlich verriet.

Entschlossen brach Philip das drückende Schweigen. „Wenn ich auch nicht allzu neugierig erscheinen möchte – darf ich fragen, was dich heute in die Stadt geführt hat?“

„Meine flatternden Nerven, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.“

„Das glaube ich einfach nicht.“

„Nun, nennen wir es den Wunsch, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ich wollte ein halbes Dutzend Hennen kaufen. Und ich dachte, bei dieser Gelegenheit könnte ich mir auch einige Gänse anschaffen, weil die so herrlich laut schnattern. Denn wie ich aus verlässlicher Quelle erfuhr, wurde im Dorf mehrmals eingebrochen.“ Sie drehte den Kopf zur anderen Straßenseite, wo eine Ansammlung Männer müßig bei einer niedrigen Mauer zusammenstand.

„Sehr klug.“ Auch Philip drehte den Kopf in die Richtung und runzelte die Stirn, als sein Blick auf einen hageren Mann mit ungekämmten Haaren fiel. „Aber würde ein Wachhund diesen Zweck nicht besser erfüllen? Der könnte sich im Haus aufhalten.“

„Gewiss, das stimmt. Doch in unserer Nachbarschaft gibt es derzeit keinen geeigneten Wurf. Und ich würde mir einen jungen Hund wünschen.“ Beth sah ihn an und bemerkte seine zusammengezogenen Brauen. „Was ist los, Philip? Kennst du einen dieser Männer?“

Autor

Sylvia Andrew

Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...

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Anne Ashley
Die Engländerin schreibt historical romances und entspannt sich gerne in ihrem Garten. Diesen hat sie bereits öfter zugunsten des Fondes der Kirche in ihrem Dorf der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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