Historical Saison Band 105

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2 Romane von JANICE PRESTON


WIE HEIRATET MAN EINEN EARL?

Meint es das Schicksal wirklich gut mit Miss Leah Thame? Erst erfährt sie, dass sie zwei Halbschwestern hat und eine reiche Erbin ist, dann aber muss sie hören, dass sie die Erbschaft nur antreten kann, wenn sie innerhalb des nächsten Jahres heiratet. Wie soll sie nur so schnell einen Ehemann finden? Außerdem gehört ihr Herz schon längst dem verwitweten Earl of Dolphinstone, um dessen Kinder sie sich aufopferungsvoll kümmert. Leider scheint der Earl ihre Gefühle nicht zu erwidern, und Miss Leah spürt, dass er etwas Entscheidendes vor ihr verbirgt …

FLIEHEN SIE NICHT VOR DER LIEBE, MISS BEATRICE!

Endlich frei! Eine anstehende Erbschaft ermöglicht der jungen Miss Beatrice Fothergill die Flucht aus dem Haushalt ihres tyrannischen Bruders. Jahrelang ist sie dort wie eine Bedienstete behandelt worden. Kein Tag verging, ohne dass jemand sie demütigte. Doch kaum ist sie ihrem alten Leben entkommen, hat ihre Kutsche einen Unfall! Als der schneidige Jack Kingswood Beatrice zu Hilfe eilt, geraten nicht nur ihre Fluchtpläne, sondern auch ihr Herz in Gefahr …


  • Erscheinungstag 27.01.2024
  • Bandnummer 105
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526456
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janice Preston

HISTORICAL SAISON BAND 105

1. KAPITEL

Miss Leah Thame entstieg der Kutsche, die sie vom Dolphin Court an der Küste von Somerset ins Zentrum von Bristol gebracht hatte, und blickte zum Büro von Henshaw und Dent hinauf. In dem Brief, der sie vor zwei Tagen erreicht hatte, war nachdrücklich darauf gedrängt worden, heute an einem Treffen hier teilzunehmen, weil sie sich sonst die Chance ihres Lebens entgehen lassen würde. Leah glaubte nicht an die Vorstellung, das Glück könne sie ganz plötzlich finden, doch selbst sie mit ihrer praktischen Einstellung konnte die Möglichkeit guter Nachrichten nicht einfach ignorieren.

Sie betrachtete das Gebäude vor sich, das sich nicht von den Häusern in derselben Reihe unterschied, wenn man von dem Messingschild neben der Tür absah, und kaute unruhig auf der Unterlippe. Henshaw und Dent, Anwälte. Sie schlüpfte mit der Hand unter ihren Umhang und tastete nach Mamas Ehering, den sie immer an einem Band um den Hals trug. Für gewöhnlich blieb er unter den zweckdienlichen braunen oder grauen Kleidern verborgen, die sie täglich als Gouvernante auf Dolphin Court trug. Doch heute waren Band und Ring zu sehen und schmückten ein wenig ihr altes königsblaues Reisekleid.

Sie suchte in ihrem Retikül nach Papas Taschenuhr und öffnete den Deckel. Noch zwölf Minuten bis Mittag, der Zeitpunkt ihres Termins. Fünfzehn Jahre waren seit Mamas Tod vergangen und sieben seit Papas, aber der Ring und die Uhr riefen noch immer Erinnerungen wach und gaben Leah das Gefühl, nicht ganz allein zu sein in der Welt. Einen plötzlichen, feigen Impuls zu fliehen, unterdrückte sie fast sofort. Nun war sie schon so weit gekommen, also konnte sie auch bleiben. Außerdem hing sie von Mr. Henshaws Hilfe ab, ihr die Reise zurück zum Dolphin Court zu ermöglichen, da sie selbst kaum eigene Mittel besaß, die sie auf luxuriöse Dinge wie das Mieten einer vierspännigen Postkutsche verschwenden konnte.

Das Pferdegetrappel und Rattern der Wagen auf der Straße hinter ihr riss Leah aus ihren Gedanken, und sie erschauderte, als die frostkalte Luft an diesem letzten Tag des Januars unter ihren Umhang kroch. Es wurde Zeit, dass sie erfuhr, warum man sie aufgefordert hatte zu kommen. Sie presste die Lippen fest zusammen, straffte die Schultern und klopfte.

„Miss Leah Thame“, teilte sie dem blassen, gebeugten Schreiber mit, der ihr öffnete. „Ich bin für zwölf Uhr zu Mr. Arthur Henshaw bestellt worden.“

„Folgen Sie mir, Miss.“

Leah trat an dem Mann vorbei ein, der die Tür schloss und den Eingang in plötzliche Dunkelheit tauchte. Das Gebäude roch nach Feuchtigkeit und Staub, und ihre Kehle kitzelte, während Leah dem Schreiber eine steile Treppe in den ersten Stock hinauf folgte. Kein einziges Mal sah er sie an oder versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen, und obwohl sie keine ängstliche Frau war – Gouvernanten konnten sich einen Überfluss an Empfindsamkeit nicht leisten –, spürte Leah doch ein leichtes Unbehagen in sich aufsteigen.

„Herein.“

Der Schreiber stieß die Tür auf und gab Leah ein Zeichen einzutreten.

„Miss Thame, Sir.“ Die Tür wurde hinter ihr leise ins Schloss gezogen.

Die Wände des Büros waren gänzlich vollgestellt mit Bücherregalen. Ein Feuer schwelte mürrisch im Kamin, ohne viel Wärme auszustrahlen, und eine übermäßig verschnörkelte Stockuhr stand auf dem Kaminsims darüber. Am von Leah entfernteren Ende eines großen Mahagoni-Schreibtisches saß ein bebrillter Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, der sich jetzt erhob, um den Tisch herumkam und sich verbeugte.

„Arthur Henshaw zu Ihren Diensten, Miss Thame. Darf ich Ihnen den Umhang abnehmen?“

Leah legte ihn ab, und Mr. Henshaw hängte ihn an einen Garderobenständer in einer Ecke des Raumes.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ Er wies auf drei Holzstühle vor dem Schreibtisch. „Ich bin sicher, die anderen werden bald hier sein.“

Leah runzelte die Stirn. „Die anderen?“

„Alles wird Ihnen in Kürze erklärt werden.“

Henshaw kehrte zu seinem Sessel hinter dem Schreibtisch zurück, der bis auf einen niedrigen Stapel juristisch aussehender Dokumente, einem Tintenfass aus Silber und geschliffenem Glas und einer silbernen Siegelwachsbüchse leer war, griff sofort nach einem der Papiere und begann stirnrunzelnd zu lesen. Leah wählte den mittleren Stuhl und setzte sich. Das Ticken der Uhr klang in der Stille besonders laut.

Ihre Gedanken gingen kurz zu ihrem Arbeitgeber, dem Earl of Dolphinstone, und der Nachricht, dass er nach sechzehnmonatiger Abwesenheit jetzt zurückerwartet wurde, wenn er auch noch kein genaues Datum seiner Ankunft bekanntgegeben hatte. Leah erzitterte bei der Vorstellung, wie er reagieren würde, sobald er herausfand, dass sie seine zwei jungen Söhne in die Obhut der Pfarrerstochter gegeben hatte. Allerdings war es das erste Mal, dass sie sie allein gelassen hatte – und das trotz der Tatsache, dass sie das Recht auf einen freien Tag im Monat hatte.

Leah liebte ihre Arbeit und ihre Schützlinge, aber sie war besorgt, wenn sie an die Rückkehr Seiner Lordschaft dachte. Seit sie gezwungen gewesen war, sich als Gouvernante ihren Lebensunterhalt zu verdienen – mit neunzehn Jahren gleich nach dem Tod ihres Vaters –, hatte sie sich hier zum allerersten Mal glücklich gefühlt. Doch die Ankunft ihres Arbeitgebers könnte alles verändern.

Das Bild Seiner Lordschaft – attraktiv maskulin und auf seine raue Weise sehr gut aussehend – erschien vor ihrem inneren Auge. Sie war ihm ein einziges Mal begegnet, als sie für den Posten der Gouvernante bei ihm vorstellig geworden war, und er hatte schroff und unnahbar gewirkt. Aber Leah hatte ihm damals zugutegehalten, dass er erst vor Kurzem zum Witwer geworden war. Als sie zu ihrer Stellung angetreten war, war Lord Dolphinstone bereits abgereist und hatte sich seitdem auf dem Kontinent aufgehalten. Dass er seine Kinder so bald nach dem Tod ihrer Mutter hatte allein lassen können und selbst so lange fortgeblieben war, war kaum zu fassen, und Leah konnte einen solchen Mangel an väterlicher Fürsorge noch immer nicht begreifen. Inzwischen hatte sie lediglich alles getan, was in ihrer Macht stand, um den Jungen die Beständigkeit zu geben, die sie brauchten.

Plötzlich schlug die Uhr die volle Stunde an und riss Leah aus ihren Gedanken. Henshaw sah erwartungsvoll zur Tür. Sekunden darauf klopfte jemand.

„Herein.“

„Miss Fothergill, Sir.“

Wieder kam Henshaw um den Schreibtisch herum und begrüßte den Neuankömmling, bevor er ihr den Mantel abnahm. Miss Fothergill setzte sich rechts neben Leah, doch Henshaw blieb hinter ihnen stehen und klopfte mit dem Fuß auf den blank polierten Boden, wobei er hin und wieder einen leisen Seufzer ausstieß, statt die Anwesenden vorzustellen.

Leah gab ihrer Neugier nach und blickte zur Seite. Miss Fothergill hielt den Blick gesenkt und kaute auf der Unterlippe. Hellbraune Locken lugten unter ihrem braunen Hut hervor. Sie bewegte die Hände in ihrem Schoß so unruhig, dass die Lehrerin in Leah sie dazu drängte, sie beruhigend zu ergreifen.

Bald darauf klopfte es wieder an der Tür und dieselbe Prozedur erfolgte, als jemand namens Miss Croome erschien. Alle waren angekommen, und Mr. Henshaw machte sich also daran, sie bekanntzumachen.

„Erlauben Sie mir, Sie einander vorzustellen“, sagte er. „Miss Aurelia Croome.“

Leah neigte den Kopf und betrachtete die Frau zu ihrer Linken – zierlich und recht hübsch, wenn auch ein wenig mager, als würde eine ordentliche Mahlzeit ihr nicht schaden. Ihr taubengraues Kleid war gut geschnitten, passte ihr aber nicht sehr gut und war abgetragen, ebenso wie der Hut auf ihrem Haar, das, nach den Augenbrauen und Wimpern zu schließen, blond sein musste.

„Miss Leah Thame.“ Jetzt wurde Leah von den anderen beiden Frauen gemustert, und sie nickte beiden höflich zu.

„Und Miss Beatrice Fothergill.“

Miss Fothergill, ebenfalls zierlich und hübsch, aber angenehm füllig, sah nervös aus, und ihr Lächeln blieb zögernd. Das Unbehagen in Leah nahm zu. Sollte sie ebenfalls nervös sein? Ein Blick auf Miss Croome jedoch, die eher verärgert zu sein schien, machte ihr Mut.

„Nun“, sagte Henshaw und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Dies ist wirklich ohnegleichen.“

Er nahm die Brille ab und sah jede von ihnen abwechselnd an, dann holte er ein Taschentuch hervor und wischte sich damit über die Stirn. Im Raum war nur das Ticken der Uhr zu hören. Henshaw steckte das Taschentuch wieder zurück.

„Ja.“ Er schüttelte den Kopf und sah wieder von einer Frau zur anderen. „Wirklich ohnegleichen und dazu noch verblüffend. Die Damen müssen mir glauben, dass ich große Schwierigkeiten hatte, mir zu überlegen, wie ich am besten vorgehen sollte.“

Miss Croome rührte sich. „Wenn Sie uns vielleicht darüber aufklären wollten, welchen Zweck dieses Treffen hat, Mr. Henshaw, könnten wir womöglich etwas Licht auf Ihre … Schwierigkeiten werfen.“

Sie war wortgewandt, also offensichtlich eine vornehme Dame, die vom Glück verlassen worden war.

„Ja. Nun … Die Klauseln im Testament sind zwar deutlich genug. Es ist nur …“ Er sah alle drei wieder fassungslos an. „Lord Tregowan – der jetzige Lord Tregowan – wird nicht erfreut darüber sein, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe ihm erneut geschrieben, um die Dinge klarzustellen. Schlechte Nachrichten für ihn, aber schließlich war nicht ich es, der dieses Testament aufgesetzt hat, Sie verstehen. Ich dachte, ich hätte bereits ihr letztes Testament in Händen – vor drei Jahren in diesem Büro von mir aufgesetzt und unterschrieben und bezeugt.“

Ein Testament? Leah runzelte die Stirn. Sie hatte keine Verwandten mehr, wenn man von den Westons absah, Papas Familie mütterlicherseits, und sie bezweifelte sehr, dass jemand von denen überhaupt von ihrer Existenz wusste. Sie hatten nie das geringste Interesse an Papa gezeigt, da es sich um keine enge Verwandtschaft gehandelt hatte. Aber was hatte das alles mit Lord Tregowan zu tun?

Mr. Henshaw nahm ein Dokument auf und hielt es an einer Ecke zwischen Zeigefinger und Daumen, als könne er sich daran die Hände schmutzig machen, und rümpfte in unbewusstem Widerwillen die Nase. „Dies kam in der vergangenen Woche hier an, doch ich kann seine Echtheit nicht anzweifeln. Ich würde die Unterschrift Ihrer Ladyschaft überall erkennen, und es wurde von einer Anwaltskanzlei in Bath bezeugt, doch warum sie zu denen gegangen ist, ist mir ein Rätsel. Nein, ich fürchte, es ist echt. Daran besteht kein Zweifel.“

Der verflixte Mann sprach immer noch in Rätseln.

Mister Henshaw. Wenn Sie so gut sein wollten …“

„Geduld, Miss Thame. Geduld.“

Leah sah ihn aufgebracht an. „Wir drei sitzen jetzt seit zwölf Minuten in diesem Büro, ich selbst erheblich länger, und das Einzige, was wir bisher über den Grund für dieses Treffen erfahren haben – das von Ihnen arrangiert wurde und, wie ich annehme, die Anwesenheit von uns dreien erforderte –, ist, dass er Ihr Missfallen erregt. Ich habe mir von meiner Anstellung freigenommen, um heute hier sein zu können, und wüsste es sehr zu schätzen, wenn Sie die Angelegenheit beschleunigen wollten, damit ich so bald wie möglich zu meinen Pflichten zurückkehren kann.“

Henshaw setzte sich gerade auf und sah beleidigt aus. „Miss Thame …“

„Sie erwähnten ein Testament, Mr. Henshaw?“, warf Miss Croome ein.

„In der Tat, Miss Croome. Das Testament von Lady Tregowan von Falconfield Hall in der Nähe von Keynsham in Somersetshire.“

Miss Fothergill atmete scharf ein. „Meine … meine Mutter arbeitete auf Falconfield Hall.“ Ihre Stimme bebte, als hätte es sie viel Mut gekostet, etwas zu sagen. „Sie war Lady Tregowans Gesellschafterin. Bevor ich geboren wurde.“

„Genau.“ Mr. Henshaw räusperte sich. „Alle Ihre Mütter hatten eine Verbindung zu Falconfield. Und zu Lord Tregowan.“ Er verzog verächtlich den Mund.

Leah hob leicht das Kinn an. „Meine Mutter arbeitete nicht dort. Sie und ihre Eltern waren Nachbarn des Earls und der Countess.“

Sie würde diesem kleinen Anwalt nicht erlauben, auf sie herabzusehen. Sie mochte ja gezwungen sein, als Gouvernante zu arbeiten, aber ihre Mutter – die an der Schwindsucht gestorben war, als Leah elf gewesen war – hatte zum Landadel gehört, und ihr Vater stammte von einer aristokratischen Familie ab, die auf den fünften Earl of Baverstock zurückging.

Miss Croome meldete sich erst jetzt zu Wort. „Ich weiß von keiner Verbindung zwischen meiner Mutter und Falconfield Hall, aber Lady Tregowan besuchte einmal das Putzmachergeschäft meiner Mutter in Bath.“

Mr. Henshaw blickte wieder auf das Testament. „Miss Aurelia Croome, geboren am 4. Oktober 1792 als Tochter von Mr. Augustus Croome und Mrs. Amelia Croome?“

Miss Croome errötete. „Ja.“

„Dann liegt kein Fehler vor. Ich bin davon überzeugt, dass Sie drei von der Großzügigkeit Ihrer Ladyschaft Nutzen ziehen sollen.“

„In welcher Beziehung stehen wir aber zueinander?“ Leah sah, dass ihre Gefährtinnen ebenso verwirrt waren wie sie selbst. „Ganz offensichtlich über unsere Mütter, aber wie?“

Henshaw verzog wieder den Mund. „Die Beziehung erfolgt nicht durch Ihre Mütter, sondern durch Ihren Erzeuger. Sie sind Halbschwestern.“

2. KAPITEL

Leah erstarrte. „Aber … das ist nicht möglich. Papa … er hätte nie … Er war ein Geistlicher! Er hätte nie …“

Ihr fehlten die Worte. Sie brachte es nicht über sich, die anderen Frauen anzusehen, wenn sie auch gehört hatte, wie beide auf Mr. Henshaws Worte hin entsetzt nach Luft geschnappt hatten.

Schwestern? Das war unmöglich.

Als sie Mr. Henshaws verächtlichen Blick sah, nahm sie all ihren Mut zusammen. „Mein Vater hätte meine Mutter niemals getäuscht.“

„Nun, ich würde so ziemlich alles glauben, was man meinem Vater zur Last legen würde“, warf Miss Croome ein. „Und was Ihren Vater angeht, glaube ich eher, Mr. Henshaw will andeuten, dass Lord Tregowan uns drei gezeugt hat – in Ihrem Fall wahrscheinlich, bevor Ihre Mutter Mr. Thame ehelichte.“

„Das stimmt“, sagte der Anwalt. „Lord Tregowan selbst arrangierte die Ehen jeder Ihrer Eltern, sobald der … äh … Zustand Ihrer Mütter ihm bekannt gemacht wurde. Und in jedem Fall handelte es sich um einen Gentleman, dessen finanzielle Lage prekär war. Übrigens musste keine Ihrer Mütter nach ihrem unziemlichen Verhalten unter ihrem jeweiligen Stand heiraten.“

Leah war zutiefst betroffen. Kein Wunder, dass Henshaw sie drei mit Herablassung behandelte. Sie wusste allerdings genug über das Gesetz, um zu erkennen, dass Mamas Heirat mit Papa noch vor der Geburt ihrer Tochter wenigstens gewährleistete, dass sie nicht unehelich war.

Miss Fothergill atmete tief ein, und als sie sprach, klang sie, als wäre sie den Tränen nah. „Wenn das wahr ist, ändert das alles. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Sie erwähnten den jetzigen Lord Tregowan“, sagte Miss Croome. „Heißt das also, unser Vater ist tot?“

„Er starb vor acht Jahren, und der Titel und die Tregowan-Güter, allesamt Fideikommiss, gingen an seinen Erben über. Falconfield und das Haus in London wurden von Lady Tregowan in die Ehe gebracht, und so hinterließ er beides ihr. Schon vor Jahren hatte er sich mit dem Vater des jetzigen Lord Tregowan zerstritten, deswegen weigerte er sich, seinem Erben mehr von seinem Besitz zu übergeben als unbedingt nötig.“

„Haben Sie Beweise für all das?“ Alles in ihr drängte Leah, die Worte des Anwalts anzuzweifeln. Ihre liebste Mama sollte sich so vergessen haben? Ihr geliebter Papa sollte nicht ihr Vater sein? Sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen.

„Ich habe Kopien vom Testament Ihrer Ladyschaft gemacht, damit Sie sie mitnehmen können, wenn Sie gehen“, sagte Henshaw. „Es bestätigt die Vaterschaft.“

„Können Sie freundlicherweise schnell zum Punkt kommen, Mr. Henshaw?“ Miss Croome betrachtete den Mann aus leicht zusammengekniffenen Augen. „Ganz offensichtlich fühlen Sie sich nicht wohl, und ich selbst werde nur allzu froh sein, dieses muffige Büro hinter mir zu lassen. Sie erwähnten einen Nachlass, also sagen Sie uns bitte, warum Sie uns herbeordert haben.“

„Sehr wohl. Lady Tregowan von Falconfield Hall ist verstorben, und es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass sie den drei Töchtern ihres Mannes ihren gesamten Besitz vererbt hat, der gerecht zwischen Ihnen aufgeteilt werden soll, nachdem gewisse Bedingungen erfüllt sind.“

Leah erstarrte. Ihren gesamten Besitz?

Miss Croome beugte sich vor. „Wie groß ist der Wert?“

„Beträchtlich. Er umfasst Falconfield Hall und seine Länder. Es befindet sich, wie ich schon sagte, in der Nähe des Dorfes Keynsham auf der Bath Road. Außerdem ein Stadthaus in London und verschiedene Fonds, die allein im vergangenen Jahr über fünfzehntausend Pfund einbrachten. Sie sind jetzt sehr wohlhabende junge Damen.“

Miss Fothergill schnappte nach Luft und wankte. Leah, selbst noch ganz benommen, öffnete ihr Retikül und reichte Miss Fothergill ihr Riechsalz. Nein, Beatrice. Ihrer Halbschwester.

Eine ganz neue Freude erfasste sie. Sie hatte plötzlich Schwestern! Sie würde reich sein. Sie würde nicht mehr länger als Gouvernante arbeiten müssen. Aber … so schnell das Hochgefühl aufgekommen war, so verschwand es wieder. Ihre jetzige Stellung war keine Schinderei für sie. Vielmehr liebte sie ihr Leben auf Dolphin Court, und sie vergötterte Steven, Nicholas und die kleine Matilda, und die Jungen liebten sie und verließen sich auf sie. Wie könnte sie ihnen jetzt den Rücken zukehren? Schon der Gedanke war unerträglich.

Und Papa? Er war gar nicht ihr Vater. Schlimmer noch, er hatte es schon immer gewusst. Aber er war der beste, liebevollste Vater gewesen, den sie sich hätte wünschen können. Sich jetzt über ihren unerwarteten Reichtum zu freuen, kam ihr wie Verrat vor – als wollte sie Papa einen Mann vorziehen, der ihre geliebte Mama verführt hatte.

Sie musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Lieber Himmel, ich habe Schwestern! Wie oft hatte sie als Kind nicht darum gebetet, eine Schwester oder einen Bruder zu bekommen, wenn ihre Gebete auch nie erhört worden waren? Bis jetzt. Und plötzlich hatte sie gleich zwei Schwestern. Aber es waren Fremde.

Beatrice gab ihr scheu lächelnd das Riechsalz zurück. Leah verstaute es und fragte sich, wo die anderen zwei leben mochten und ob sie sich jemals wiedersehen würden. Dieser Gedanke zog einen weiteren Gedanken nach sich. Sie runzelte die Stirn.

„Sie erwähnten Bedingungen?“

„Ah. Ja. Sie sind recht unkompliziert. Die nächsten zwölf Monate bekommen Sie alle drei die gemeinschaftliche Nutzung der beiden Häuser, und Ihre Lebenskosten werden von besagten Fonds bestritten. Nach jenem Jahr werden Sie Ihren Anteil am Besitz Ihrer Ladyschaft vollständig erben, vorausgesetzt dass die übrigen Bedingungen des Testaments erfüllt werden.“

„Was sind das für Bedingungen?“, fragte Miss Croome … Aurelia.

„Dazu komme ich jetzt, Miss Croome. Sie sollen die gesamte nächste Saison in London wohnen, bis Sie heiraten, und zwar unter der Obhut von Mrs. Butterby, die Lady Tregowans Gesellschafterin war. Nach Ende der Saison können Sie wählen, ob Sie in London oder auf Falconfield Hall leben wollen. Aber Sie müssen innerhalb dieses Jahres heiraten.“

„Heiraten?“ Miss Croome verzog verärgert den Mund. „Warum?“

„Da Lady Tregowan mich für dieses Testament nicht zu Rate zog, weiß ich nichts über ihre Gedankengänge“, erwiderte der Anwalt beleidigt. „Ich gehe davon aus, dass Mrs. Buttersby Sie aufklären kann.“

Leah hob die Augenbrauen und wechselte verwirrte Blicke mit den anderen beiden – ihren Halbschwestern. „Und falls wir nicht in dieser Frist heiraten?“

„Dann, Miss Thame, werden Sie den größten Teil Ihres Erbes verlieren, der dann unter ihren zwei Schwestern aufgeteilt werden wird. Sie werden alles zurückgeben müssen, was Sie in diesen zwölf Monaten erworben haben – bis auf persönliche Gegenstände wie Kleidung, versteht sich. Schmuck allerdings, Kutschen oder sogar Häuser müssten Sie aufgeben. Sie werden ein Cottage auf dem Gut von Falconfield behalten dürfen und erhalten eine lebenslange jährliche Zuwendung von zweihundert Pfund, werden also nicht völlig mittellos sein. Und dann gibt es noch zwei Klauseln. Falls eine von Ihnen ihren Anteil an Falconfield Hall verkaufen möchte, bekommen die anderen Schwestern – oder genau genommen deren Gatten – das Vorkaufsrecht. Und als Letztes ist Ihnen nicht erlaubt, den Erben des verstorbenen Lord Tregowan zu heiraten, der ein entfernter Cousin Ihres leiblichen Vaters ist.“

Leah runzelte die Stirn. Der Adel war für gewöhnlich bemüht, seine Güter zusammenzuhalten. „Warum nicht?“

„Wie ich schon sagte, hat Lady Tregowan weder meine Dienste noch meinen Rat gesucht.“

Unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum, und Leah nutzte den Moment, um ihre Gedanken zu sammeln. Besonders schwer lastete der Gedanke auf ihr, dass sie heiraten musste, dabei hatte sie eine solche Möglichkeit schon längst nicht mehr in Betracht gezogen. Niemals könnte sie sich damit abfinden, ihr Leben und jetzt ihr Vermögen – wie seltsam das klang – in die Hände eines Mannes zu legen, der sie nicht liebte. Während ihrer Zeit als Gouvernante hatte sie zu viele lieblose Ehepaare erlebt und hatte nicht den geringsten Wunsch, selbst in einer solchen Ehe gefangen zu sein.

Sie machte sich keine Illusionen über ihre Chancen in dieser Hinsicht, denn sie war bereits sechsundzwanzig Jahre alt und sah sich jeden Tag im Spiegel – ihre allzu schmale Nase, die hohen Wangenknochen und das spitze Kinn, ihre hoch aufgeschossene, schlaksige Figur, ihr rotes Haar und die Sommersprossen. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die in einem Mann romantische Gefühle erweckten. Die einzigen zwei Männer, die je ein Interesse an ihr gezeigt hatten, hatten beide in ihr nur ein Mittel zum Zweck gesehen.

Peter Bennett, der Kaplan ihres Vaters, hatte sie umworben, aber wie sie später herausfand, hatte er es nur getan, um sich bei ihrem Vater einzuschmeicheln. Als Papa starb und Leah fast mittellos zurückblieb und gezwungen war, die Pfarrei zu verlassen, hatte Peter schnell sein wahres Gesicht gezeigt und jedes Einvernehmen, das vielleicht zwischen ihnen bestanden hatte, vergessen. Stattdessen hatte er sich sofort daran gemacht, die Gunst des neuen Pfarrers zu gewinnen, der gleich zwei Töchter besaß.

Und dann war da noch jenes fürchterliche Weihnachtsfest gewesen, an dem sie für Lord und Lady Petherton gearbeitet hatte. Ihr ältester Sohn und Erbe Viscount Usk war mit zwei Freunden gekommen und hatte sich unverzüglich daran gemacht, Leah zu bezaubern. Sie war auf der Hut gewesen und hatte ihm bis zum Heiligabend widerstanden, wo er sie unter dem Mistelzweig festgehalten und um einen Kuss gefleht hatte. Die Hartnäckigkeit, mit der er sie verfolgt hatte, musste ihre Vernunft beeinträchtigt haben. Sie hatte sich von seiner Versicherung, dass er rotes Haar und Sommersprossen liebte, übertölpeln lassen und den Kuss erlaubt. Und sogar erwidert. Woraufhin Usk sie beiseitegeschoben und seinen Freunden stolz zugerufen hatte: „Geschafft! Habe ich euch doch gesagt. Fünf Pfund von jedem von euch!“

Niemals würde sie diese Demütigung vergessen, ebenso wenig wie den Schock darüber, dass sie noch vor Neujahr entlassen worden war, nachdem Usks Eltern von der Wette erfahren hatten. Es waren sehr schmerzhafte Lektionen gewesen, aber sie hatte gelernt, sehr vorsichtig zu sein, wenn es um Gentlemen ging. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre beiden Halbschwestern – beide jünger und sehr viel hübscher als sie – größere Chancen haben würden, einen Ehemann zu finden.

Henshaw unterbrach das Schweigen mit einem Räuspern und ging den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch durch. Am Ende reichte er jeder Dame ein Dokument. „Wie ich schon sagte, ich habe Kopien von dem Testament erstellen lassen.“ Er öffnete eine Schublade und holte drei kleine Lederbeutel hervor. „Hier eine Geldbörse für jede von Ihnen, damit Sie eventuelle Ausgaben begleichen können, bevor Sie nach London kommen. Sie werden zweifellos ein wenig Zeit brauchen, um sich für die Veränderung Ihrer Umstände vorzubereiten und Ihr bisheriges Leben ordentlich abschließen zu können. Aber ich rate Ihnen dringend, sich genügend Zeit in London zu lassen, damit Ihre neue Garderobe angefertigt werden kann, bevor gleich nach Ostern die richtige Saison beginnt.“

Leah verstaute ihre Kopie des Testaments und die Börse in ihrem Retikül. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken vor Unsicherheit. Was würde das alles für ihre Zukunft bedeuten? Sie hatte sich nach Papas Tod an Veränderungen in ihrem Leben gewöhnt, aber jede war schwieriger zu bewältigen gewesen als die davor, und ihre Seele sehnte sich nach Sicherheit und Beständigkeit. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Papa. Er war nicht einmal ihr richtiger Vater gewesen, aber er war der liebenswerteste, freundlichste Mensch gewesen und alles, was sie sich von einem Vater hätte wünschen können.

„Jetzt brauche ich nur noch Ihre Unterschriften auf dieser Erklärung, mit der Sie bestätigen, dass Ihnen der Inhalt des Testaments und seine Bedingungen mitgeteilt wurden, und Sie können gehen“, sagte Henshaw.

Alle drei unterschrieben, und Leah stellte erschrocken fest, dass ihre Hand zitterte. Verstohlen musterte sie Aurelia und Beatrice, die ebenfalls sehr unruhig zu sein schienen und ihrem Blick auswichen.

„Drei Kutschen warten draußen darauf, Sie nach Hause zu bringen“, fuhr Henshaw fort. „Sie müssen spätestens einen Tag nach Ostersonntag, das ist der 15. April, im Londoner Haus ankommen – die Adresse wird im Testament erwähnt –, sonst verlieren Sie Ihren Anteil am Erbe. Mrs. Butterby hält sich bereits dort auf und trifft alle Vorbereitungen, um Sie unterzubringen. Haben Sie noch Fragen, bevor Sie abreisen?“

„Ja.“ Aurelias Stimme zitterte, ihre Wangen waren hochrot. Leah stellte betroffen fest, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. „Könnte ich … darf ich gleich nach London reisen? Ist mir erlaubt, sofort im Stadthaus zu leben?“

Zum ersten Mal bemerkte Leah einen Anflug von Mitleid in Henshaws Miene. „Hier ist eine Notiz für Mrs. Butterby. Müssen Sie nicht zuerst zurück nach Bath?“ Aurelia schüttelte den Kopf. „Dann rate ich Ihnen, die Postkutsche zu nehmen. Sie fährt jeden Nachmittag um vier vom Bush-Gasthaus in der Corn Street ab. Es ist nicht weit von hier. Ich werde meinen Schreiber losschicken, damit er Ihnen eine Fahrkarte besorgen kann, und schicke die Kutsche vor dem Haus fort.“ Er wandte sich an Leah und Beatrice. „Möchte eine von Ihnen ebenfalls sofort nach London reisen?“

„Oh, nein! Mein Bruder … wird mich zu Hause erwarten“, meinte Beatrice atemlos.

„Nein, danke“, sagte Leah.

Henshaw ging zur Tür und öffnete sie, sodass Leah Stimmen aus dem Vorraum hören konnte. „Ich wünsche Ihnen also jetzt einen schönen Tag. Miss Croome, Sie können unten im Großraumbüro warten, bis der Schreiber mit Ihrer Fahrkarte zurück ist.“

Während er Aurelia in den Mantel half, runzelte Leah nachdenklich die Stirn. Nichts von allem ergab Sinn.

„Warum sollte Lady Tregowan sich um uns kümmern wollen?“

„Ich weiß nicht mehr, als was ich Ihnen mitgeteilt habe, aber ich vermute, Mrs. Butterby wird Ihnen weitere Einzelheiten geben können. Sie war ungefähr zwanzig Jahre lang die Gesellschafterin Ihrer Ladyschaft. Ich schlage vor, Sie fragen sie, wenn Sie im Stadthaus auf sie treffen.“

Falls ich dort hingehe. Ich brauche die Bedingungen des Testaments nicht zu akzeptieren.

Die Vorstellung einer Londoner Saison – voller schöner, eleganter junger Damen, die alle um einen Ehemann wetteifern – erfüllte Leah mit Entsetzen.

Aber zweihundert Pfund im Jahr sind eine beträchtliche Summe, und ich hätte ein Dach über dem Kopf.

Wahre Unabhängigkeit, selbst bei einem eingeschränkten Einkommen, war wirklich sehr verlockend. Aber wie einsam es sein würde. Denn sie würde die Jungen aufgeben müssen, und schon der Gedanke allein schnürte ihr die Kehle zu und erinnerte sie daran, dass sie zu ihnen zurück musste. Plötzlich konnte sie es kaum erwarten, allein in der Kutsche zu sitzen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie ging den anderen voraus, die schmutzige Treppe hinunter und hinaus in die frische Luft, wo die zwei Kutschen auf sie warteten. Je ein Pferdebursche stand neben dem Verschlag. Die dritte Kutsche war gerade dabei abzufahren.

Leah drehte sich zu den beiden Frauen um. Zu ihren Schwestern. Und wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Wir können nicht hier auf der Straße reden“, sagte Aurelia. „Aber … ich bin froh, Sie beide kennengelernt zu haben. Ich habe schon immer eine Schwester haben wollen.“

Ihr Lächeln ließ ihr ganzes Gesicht erstrahlen, und Leah konnte sich vorstellen, wie schön sie sein könnte, wenn ihre Haut ein wenig gesünder schimmern, ihr Haar etwas mehr glänzen und sie selbst ein wenig mehr zunehmen würde.

„Ich auch“, sagte Leah.

„Genau wie ich“, warf Beatrice ein, „und jetzt hab ich gleich zwei.“

„Nun, ich hoffe, Sie werden schon bald in London zu mir stoßen, und wir können anfangen, uns besser kennenzulernen.“

„Meine Damen?“, unterbrach sie einer der Pferdeburschen. „Die Kutsche für Miss Thame? Wir müssen losfahren, sonst kommen wir nicht vor Einbruch der Dunkelheit an.“

„Danke. Ich komme.“ Leah lächelte ihre Schwestern an. „Wenn Sie mir vielleicht schreiben möchten, ich lebe auf Dolphin Court in Westcliff in Somerset. Ich weiß, wo Sie sein werden, Aurelia. Und Sie, Beatrice?“

„Oh.“ Beatrice schien zusammenzuzucken. „Ich bin nicht ganz sicher … Das heißt … mein Bruder … er wird nicht einverstanden sein. Aber ich werde nach London kommen, was immer er auch …“ Sie brach erschrocken ab. „Wir sehen uns dann.“ Sie eilte zur zweiten Kutsche. „Ist die für Miss Fothergill?“

Der Junge nickte, und sie stieg ein. Als die Kutsche anfuhr, beugte sie sich aus dem Fenster und winkte, aber ihr Lächeln schaffte es nicht ganz, die Angst in ihren Augen zu verdecken.

„Nun ja“, sagte Aurelia. „Ich muss sagen, ich habe bereits jetzt eine tiefe Abneigung gegen ihren Bruder.“

„Ich auch.“ Leah sah ihre Schwester an und suchte nach einer freundlichen Bemerkung. „Sie haben einen sehr hübschen Namen.“ Sie stieg in ihre Kutsche. „Ich hoffe, wir sehen uns schon bald wieder. Gute Reise.“

Die Kutsche fuhr abrupt an, sodass Leah auf den Sitz fiel, und als sie sich gefasst hatte und aus dem Fenster schauen konnte, hatten die Pferde die Straße bereits hinter sich gelassen und Aurelia war nicht mehr zu sehen.

3. KAPITEL

Piers Duval, Lord Dolphinstone – Dolph für seine Freunde –, lehnte den Kopf an das Kutschenfenster, um so schnell wie möglich einen ersten Blick auf Dolphin Court erhaschen zu können. Sein Zuhause. Als das vertraute Gebäude am anderen Ende des Tals in Sicht kam, schnürten ihm Schuldgefühle, Angst, aber auch Freude die Kehle zu.

Sein Zuhause und seine drei Kinder hatten ihm in den langen Monaten seiner Abwesenheit mehr gefehlt, als er je geahnt hätte. Im Aufruhr dieser Gefühle gewannen die Schuldgefühle die Oberhand – er hätte niemals so lange fortbleiben dürfen, nachdem die Kinder gerade ihre Mutter verloren hatten. Als die Anfrage gekommen war, dass er sich dem Außenminister Lord Castlereagh in Wien anschließen sollte, hatte er die Gelegenheit jedoch mit beiden Händen ergriffen und war nach Europa geeilt, statt an seine zwei Jungen zu denken, die ihre Mutter von einem Tag auf den nächsten verloren hatten. Matilda war glücklicherweise noch zu klein gewesen, um die Katastrophe in ihrem jungen Leben zu begreifen. Dolph war selbstsüchtig genug gewesen, um vor seiner Schuld und seinem Kummer zu fliehen, unfähig, mit den Umständen fertigzuwerden, die zu Rebeccas Tod geführt hatten. Doch er hatte sich ständig gefragt, was er anders hätte sagen oder tun können, welche Zeichen er übersehen hatte und wie er sie hätte aufhalten können.

Er hatte geglaubt, dass Rebecca zufrieden mit ihrem Leben gewesen war. Sie waren eine Vernunftehe eingegangen und hatten sich recht gut verstanden, wenn sie auch nie ineinander verliebt gewesen waren. Was immer das bedeuten mochte. Vielleicht war er gar nicht fähig zu lieben. Nach ihrer Hochzeit war Dolphs Leben mehr oder weniger geblieben wie vorher. Er hatte sich aufgrund seiner politischen Interessen oft und lange in London aufgehalten, und wenn er dann doch einmal zu Hause war, hatte er sich um seine Güter gekümmert. Rebecca gefiel London nicht, und so hatte sie den Eindruck gemacht, zufrieden damit zu sein, in Somerset zu bleiben. Im Nachhinein wurde ihm jedoch bewusst, dass sie sich nie richtig über ihr Leben, ihre Gefühle oder ihre Erwartungen aneinander unterhalten hatten.

Und seine Frau war unglücklicher gewesen, als er sich je vorgestellt hatte.

Erdrückt von seinen Schuldgefühlen, war er nicht in der Lage gewesen, nach Rebeccas Tod ein Trost zu sein. Es war ihm zu bewusst, wie sehr er seine ganze Familie enttäuscht hatte. Und so hatte er am Ende eine Gouvernante für die Jungen eingestellt und war abgereist – fest davon überzeugt, dass es allen ohne ihn besser gehen würde.

„Du bist ja so still, alter Freund.“

Dolph setzte sich gerade auf, rutschte vom Fenster und insgeheim auch von seinem inneren Aufruhr fort und sah seinen Reisegefährten, George, Lord Hinckley, an, in dessen Kutsche sie reisten und der schnell Dolphs Einladung angenommen hatte, sich auf Dolphin Court von einer lebensgefährlichen Infektion zu erholen, die ihm seine Verletzung in einem Duell eingebracht hatte.

„Du musst nach so langer Zeit ja begierig darauf sein, die Kinder wiederzusehen“, fuhr George fort. „Ich kann mich nur erneut dafür entschuldigen, dass ich deine Rückkehr noch weiter verzögert habe.“

Dolph lachte rau. „Es war nicht allein deine Schuld. Tamworth ist schon immer ein Hitzkopf gewesen, aber es war reiner Irrsinn von ihm, dich wegen eines Walzers mit Miss Andrews zu fordern.“

„Und reiner Irrsinn von mir, seine Forderung anzunehmen?“ Georges linker Arm steckte in einer Schlinge, um die Schulter zu entlasten, die Tamworths Degen durchbohrt hatte. „Ich versuchte, ihn zu besänftigen, aber er war wild entschlossen, und ein Gentleman kann nicht jede Beleidigung einfach hinnehmen.“

Dolph erinnerte ihn nicht daran, dass Tamworth vielleicht nicht so gereizt reagiert hätte, wenn George nicht darauf bestanden hätte, auf empörende Weise mit Miss Andrews zu flirten. Eine solche Bemerkung würde nichts nützen. George war dafür bekannt, dass er einem Flirt nicht widerstehen konnte und sich mit beunruhigender Regelmäßigkeit ver- und entliebte. Aber aus seinen Tändeleien wurde niemals Ernst, und Tamworth wusste das, hatte aber leider dennoch den Kopf verloren. Dolph war gerade rechtzeitig in London angekommen, um als Georges Sekundant zu agieren, und war bei ihm geblieben, bis sein alter Freund außer Lebensgefahr gewesen war.

„Ich frage mich, ob die Kinder dich wiedererkennen werden“, sagte George gerade. „Wie lange ist es her, seit du sie gesehen hast?“

Zu lange. „Sechzehn Monate.“

Er hatte sich im Oktober der britischen Delegation in Wien angeschlossen und war nur ein weiteres Mitglied jener Gruppe gewesen, die zuerst Castlereagh und dann dem Duke of Wellington in ihren Bemühungen geholfen hatte, einen lang andauernden Friedensplan für Europa zu verhandeln – nach dreiundzwanzig Jahren fast ununterbrochenen Krieges. Und dann war die Neuigkeit über Napoleons Flucht gekommen und über das entsetzliche Gemetzel bei Waterloo, gefolgt von Wochen und Monaten in Paris, wo über einen endgültigen Friedensvertrag zwischen Frankreich und den vier alliierten Mächten – Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland – verhandelt wurde.

„Die Jungen werden mich erkennen, aber Matilda war erst drei Monate alt, als …“ Er schluckte mühsam. Als Rebecca starb. „… als ich ging.“

Wieder quälten ihn heftige Schuldgefühle. Wäre er nur aufmerksamer gewesen, hätte er sie vielleicht aufhalten und retten können. Er verdrängte den Gedanken. Offiziell war ihr Tod zu einem Unfall erklärt worden. Sie hatte das Gleichgewicht verloren, als sie auf der Landspitze Dolphin Point spazieren gegangen war.

Nur Dolph wusste die Wahrheit – dass Rebecca sich nur drei kurze Monate nach der Tochter, nach der sie sich immer so gesehnt hatte, das Leben genommen hatte. Er hatte den unzusammenhängenden, weitschweifenden Brief, den sie ihm geschrieben hatte, zerstört, völlig entsetzt darüber, wie schlecht es ihr gegangen war, ohne dass er etwas gemerkt hatte. Aber ihre Worte hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Sie hatte ihm nicht die Schuld gegeben, sondern – was ihm noch mehr das Herz brach – vielmehr sich selbst, weil sie davon überzeugt gewesen war, er und die Kinder würden es ohne sie besser haben.

Aber es war seine Schuld. Wenn er weniger oft in London gewesen wäre und mehr Zeit mit seiner Familie verbracht hätte, wann immer er zu Hause war, dann wäre ihm doch bestimmt irgendetwas aufgefallen. Er hätte sie aufhalten können. Und wie es aussah, hatte er nichts aus der Tragödie gelernt, denn statt nach Rebeccas Selbstmord bei seinen Kindern zu bleiben, war er wie ein Feigling davongelaufen.

Die Aufforderung, nach Wien zu kommen, war scheinbar zum besten Zeitpunkt gekommen und hatte ihm ermöglicht zu fliehen. Jetzt allerdings war ihm bewusst, dass sie im schlechtesten Moment gekommen war.

Im Lauf der Monate hatte er die Trauer bewältigt, aber seine Schuldgefühle seinen Kindern gegenüber hatten ihn nicht verlassen. Noch immer schwankte er zwischen der Freude, sie bald wiederzusehen, und der Furcht, sie würden ihm niemals vergeben können. Aber seinem Gutsverwalter Mr. Pople zufolge, der ihm regelmäßig über alles berichtete, was sich auf Dolphin Court zutrug, waren seine Jungen in der Obhut von Miss Thame, ihrer Gouvernante, richtiggehend aufgeblüht.

Nachdem der Friedensvertrag von Paris im November unterschrieben worden war, hatte Dolph gehofft, zu Weihnachten zu Hause sein zu können, aber eine starke Influenza hatte seine Reise verzögert, und danach hatten starke Winde das Ausfahren der Schiffe verhindert. Als er London schließlich erreicht hatte, war er von Georges Eskapade aufgehalten worden, sodass es jetzt schon Ende Januar war.

Jetzt endlich würde er jedoch die Möglichkeit haben, alles wiedergutzumachen. Er war entschlossen, seine Beteiligung am politischen Geschehen zu beenden und um der Kinder willen in Somerset zu bleiben. Von jetzt an würden sie, und nur sie, den Vorrang vor allem anderen haben.

Er wandte sich an George. „Wir sind fast da. Wie geht es deiner Schulter?“

„Noch immer ein bisschen steif und schmerzend, aber ich kann wohl bald schon die Schlinge abnehmen. Aber sie hat mich während der Reise wenigstens beschützt. In den Straßen wimmelt es nur so von Schlaglöchern, mein Freund. Ich frage mich, warum du sie nicht reparieren lässt.“

Dolph lachte. „Du kannst mich nicht für den Zustand der gesamten Straße von Bristol bis Westcliff verantwortlich machen.“

Sein Lachen störte den dritten Insassen der Kutsche. Wolf hob seinen großen zerzausten Kopf, sah Dolph anbetend an und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Lächelnd kratzte Dolph den gutmütigen Hund hinter dem Ohr, bis Wolf mit einem zufriedenen Seufzer den Kopf wieder auf seine Pfoten legte. Dolph war Wolf – kurz für Wolfgang – zum ersten Mal im Augarten in Wien begegnet, wo sein Besitzer, Friedrich Lueger, ihn jeden Tag spazieren geführt hatte.

Die beiden Männer waren bald zu Freunden geworden und hatten sich tiefgründigen Gesprächen über die Welt, das Leben und ihren Platz darin hingegeben. Es war Herr Lueger gewesen, der Dolph zu der Einsicht gebracht hatte, wie wenig es ihm half, seine Gefühle mit der hektischen Tätigkeit eines Diplomaten zu verdrängen. Am Ende hieß es nur hinauszuschieben, was er eines Tages notgedrungen tun musste – irgendwie mit Rebeccas Selbstmord fertigzuwerden. Zu der Zeit war er allerdings zu sehr in seine Aufgaben beim Kongress vertieft gewesen, und seine Pflichten hatten eine Abreise verhindert.

Sein Herz schmerzte bei dem Gedanken an Herrn Lueger, der eines Tages nicht zu seinem täglichen Spaziergang im Park erschienen war. Als er auch die nächsten beiden Tage fortgeblieben war, hatte Dolph sich zu seiner Unterkunft begeben und erfahren, dass er gestorben war. Seine Vermieterin hatte ihm knapp mitgeteilt, dass sie den Hund fortgejagt hatte. Dolph hatte einige Stunden gebraucht, aber am Ende hatte er Wolf gefunden und mitgenommen.

Die Kutsche kam ruckartig zum Stehen. Dolph gähnte und streckte sich. Dolphin Court. Sein Zuhause. Er öffnete die Tür und sprang auf den Kiesweg des Vorhofs, dicht gefolgt von Wolf, bevor er die Stufen für George herabließ und sich dann wieder zum Gebäude umdrehte, dessen Tür noch immer geschlossen war. Vielleicht hätte er schreiben sollen, um alle über das genaue Datum seiner Ankunft zu informieren, aber er hatte die Kinder überraschen wollen. Alles war still – vielleicht gar nicht so überraschend um vier Uhr, wenn es begann, dunkel zu werden. Die Kinder waren gewiss im Haus mit ihrer Gouvernante und ließen sich vielleicht beim Kaminfeuer Geschichten von ihr erzählen.

Dann zerriss ein Schrei die Luft, und ein Junge kam um die Ecke des Hauses gerast, gleich hinter ihm lief ein kleinerer Junge, der ihm zurief: „Warte, Stevie. Warte auf mich!“

Dolphs Herz machte einen Sprung. Steven und Nicholas. Seine Söhne.

Lieber Himmel, wie groß sie geworden sind.

Er sah fasziniert zu, wie sein älterer Sohn auf seinen Bruder wartete, dann seine Hand nahm und ohne aufzusehen, Nicholas hinter sich herziehend, direkt auf Dolph zulief. Dolph hielt Wolf am Halsband fest, falls der Hund ein wenig zu aufgeregt reagieren sollte.

Nicholas war der Erste, der die Kutsche, die Männer und den Hund bemerkte. Er blieb stehen und hielt Steven fest, während er nach vorn wies und die Neuankömmlinge mit großen Augen anstarrte. In diesem Moment kam eine Frau mit einem weiteren Kind im Arm keuchend um die Ecke. Matilda. Rührung schnürte Dolph die Kehle zu. Seine drei Kinder. Gesund und wohlauf. Er runzelte die Stirn. Aber die Frau … Sie sah vertraut aus, aber sie war nicht Miss Thame und sie gehörte auch nicht zu seinen Bediensteten. Zwar erinnerte er sich nicht mehr gut an die Gouvernante, schließlich hatten sie sich ein einziges Mal getroffen, aber sie war für eine Frau ungewöhnlich hochgewachsen gewesen und schlank. Die Frau, die Matilda im Arm trug, war hingegen etwas füllig und kurz. Als sie Dolph bemerkte, blieb sie abrupt stehen und sah ihn bestürzt an. Jetzt erkannte er sie. Es war Philippa Strong, die Tochter des hiesigen Pfarrers.

Was zum Teufel tat sie hier, und wo war Miss Thame? Und warum kümmerte die Pfarrerstochter sich offensichtlich um seine Kinder?

Er hatte ein Kindermädchen für das Baby eingestellt, damit die Gouvernante sich auf Steven und Nicholas konzentrieren konnte. Vielleicht war sie krank?

Dolph ließ Wolf los und ging vorwärts. „Hältst du ihn bitte, George?“, warf er seinem Freund nur knapp über die Schulter zu. Doch fast sofort verlangsamte er seine Schritte. Um zu Miss Strong zu kommen, musste er an seinen Söhnen vorbeigehen, die sich aneinanderklammerten und ihn erschrocken ansahen.

Also zügelte er seine Gereiztheit und hielt neben ihnen inne. „Nun, Steven? Nun, Nicholas? Erkennt ihr euren Papa wieder?“

„Ja, V…Vater. W…willkommen zu Hause.“ Steven versuchte mit seinen sieben Jahren erwachsen zu klingen. Aber seine bebenden Lippen machten ihm einen Strich durch die Rechnung.

Der Drang, sich hinzuknien und seine Söhne zu umarmen, wurde von einer plötzlichen Unsicherheit verhindert. Schon vor seiner Abreise war er ein eher distanzierter Vater gewesen, genau wie als Ehemann. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Wenn er sie nun mit einer Umarmung nur erschrecken würde? Wenn sie nicht von ihm umarmt werden wollten? Wenn er sie zum Weinen bringen würde? Statt seinem Instinkt zu folgen, tätschelte er beiden Jungen nur den Kopf.

„Danke, Steven. Ich bin glücklich, hier zu sein.“ Der misstrauische Ausdruck in ihren Augen versetzte ihm einen Stich. Bevor er weitersprechen konnte, hatte Miss Strong sie erreicht.

„Lord Dolphinstone“, sagte sie atemlos. „Guten Tag und willkommen zu Hause. Leah … das heißt, Miss Thame … sie hat mir nicht gesagt, dass Sie heute kommen würden.“

Dolph verbeugte sich. Schließlich war das nicht Miss Strongs Schuld. Immerhin kümmerte sie sich ja um seine Kinder, im Gegensatz zu den Frauen, die er dafür bezahlte.

„Guten Tag, Miss Strong. Ich leugne nicht, dass ich erstaunt bin, Sie hier vorzufinden. Möchten Sie mir vielleicht erklären?“

Während er sprach, streckte er die Hand aus und strich zart über Matildas Wange. So weich. So hübsch mit den blonden Locken ihrer Mama. Matilda schreckte vor ihm zurück und versteckte das Gesicht an Miss Strongs Schulter. Sie war jetzt ein Jahr und sieben Monate alt und er nicht mehr als ein Fremder für sie. Bedrückt blickte er zu den Jungen hinüber, die sich noch immer fest umarmten.

„Ich … äh … nun …“

Miss Strong brach ab, als eine gelbe Postkutsche mit waghalsiger Geschwindigkeit auf den Vorhof gerattert kam. Die Postillione zügelten das Gespann nur wenige Meter von ihnen entfernt. Dolph runzelte die Stirn. Ein Blick auf Miss Strong zeigte ihm, wie erleichtert die junge Dame zu sein schien. Entschlossen ging er auf die Kutsche zu und öffnete die Tür. Sofort erkannte er Miss Thame mit ihrem zu einem strengen Knoten aufgesteckten roten Haar, der blassen sommersprossigen Haut und den großen Augen, wenn er auch nicht mehr in Erinnerung gehabt hatte, wie strahlend diese Augen waren und wie vollkommen der Schwung ihrer Lippen. Als ihre Blicke sich trafen, verdunkelten ihre Augen sich zu einem faszinierenden Türkisblau, das Dolph einen Moment regelrecht den Atem nahm.

„Mylord! Ich … ich wusste nicht, dass Sie heute zurückerwartet wurden.“ Sie errötete schuldbewusst.

„Das ist nur allzu offensichtlich, Miss Thame.“ Er streckte ihr die Hand hin, um ihr aus der Kutsche zu helfen, und unterdrückte den plötzlichen Wunsch, sie nicht wieder loszulassen. „Das werden wir im Haus besprechen.“

Bis er die Tür geschlossen und sich wieder umgedreht hatte, war Miss Thame bereits in die Hocke gegangen, und Steven und Nicholas liefen zu ihr und umarmten sie. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte Dolph, als er mit ansehen musste, wie seine Söhne ihre Gouvernante auf eine Weise begrüßten, wie er selbst gern von ihnen begrüßt worden wäre.

„Sie haben uns gefehlt, Miss Thame“, sagte Steven. „Miss Strong hat uns gezwungen, die Bibel zu lesen!“

„Stevie, du weißt doch genau, dass wir jeden Mittwochmorgen die Bibel studieren.“

Dolph runzelte die Stirn. Morgen? Sie war den ganzen Tag fort gewesen? Wie oft ließ sie seine Söhne auf diese Weise allein? Und warum?

„Miss Strong folgte meinen Anweisungen“, fuhr Miss Thame fort, bevor sie sich an die Pfarrerstochter wandte. „Miss Strong, ich habe mit dem Kutscher ausgemacht, dass er Sie auf dem Weg zurück nach Bristol am Pfarrhaus absetzt.“

Sie erhob sich anmutig. Tatsächlich war sie es, genauso hochgewachsen und schlank, wie Dolph in Erinnerung gehabt hatte, selbst in einem farblosen Umhang, der vorne geöffnet war und ein Kleid in einem Blau enthüllte, das ihr gut zu Gesicht stand. Gertenschlank, so hätte er sie beschrieben. Verwirrt nahm er den Blick von ihr. Was zum Teufel war in ihn gefahren, dass ihm solche Dinge über die Gouvernante seiner Söhne auffielen?

Ich bin erschöpft von der Reise und verstört von der Begegnung mit meinen Kindern … ich bin nicht ich selbst.

„Vielen Dank, dass Sie für mich eingesprungen sind.“ Miss Thame nahm Miss Strong die kleine Matilda ab. „Wir sehen uns am Sonntag in der Kirche.“

Sie übernahm mühelos die Kontrolle, während er stumm dabeistand wie ein Besucher in seinem eigenen Zuhause. Dolph riss sich energisch zusammen und trat vor.

„Vielen Dank, Miss Strong.“ Er half ihr in die Postkutsche.

„Danke, Mylord. Und willkommen Zuhause.“ Sie lächelte scheu und sah an ihm vorbei. „Ich hoffe sehr, Ihrem Freund wird es bald besser gehen.“

George! Er hatte den armen Kerl ganz vergessen. Er drehte sich zu ihm um und sah, dass sein Freund, die Hand noch immer an Wolfs Halsband, Miss Strong gewinnend anlächelte. Seine Augen funkelten interessiert. Dolph unterdrückte ein Stöhnen. Bei George genügte es schon, eine Frau mit schönen Augen, wohlgeformten Fesseln oder einem melodiösen Lachen zu entdecken, um ihm den Kopf zu verdrehen. Dolph nahm sich fest vor, ihn zur Vorsicht zu mahnen – die Tochter eines Landpfarrers war zu unschuldig für seinen erfahrenen Freund.

Er drehte sich wieder zu Miss Thame um, die ruhig abwartete. Matilda schmiegte sich fest an sie, und die Jungen klammerten sich an ihren Umhang. Wütend über die ganze Lage, die ihn dastehen ließ wie den Bösewicht in einem Melodram, sprach er sie ungeduldig an.

„Ich schlage vor, dass Sie Ihre Pflichten wieder aufnehmen und sich um die Kinder kümmern, Miss Thame, und erlauben es meinem Gast und mir, das Haus zu betreten und uns von der Reise zu erholen. Wir werden später darüber reden, wo Sie waren und warum Sie es für richtig hielten, meine Kinder in der Obhut einer Frau zu lassen, die nicht in meinen Diensten steht.“

Sie errötete heftig. „Wie Sie wünschen, Mylord. Kommt, Kinder.“

Er sah sie zum Haus gehen und dort stehen bleiben, um mit Palmer, dem Butler, zu sprechen, der jetzt an der offenen Haustür wartete. Ein Stallbursche war inzwischen herbeigeeilt und führte Georges Kutscher Winters zu den Ställen.

„Na, so was!“, brach George die Stille. „Ich bin ausgesprochen glücklich darüber, dass ich deine Einladung angenommen habe, Dolph. Miss Strong ist eine wahre Schönheit, oder? Ich werde mich gewiss nicht langweilen.“

Er grinste zufrieden, und Dolph seufzte insgeheim auf. George war wirklich unglaublich. „Komm, lass uns hineingehen.“

Ein Schauder überlief ihn. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr die Temperatur gefallen war, während sie auf dem Vorhof gestanden hatten. Der Wind war auch stärker geworden und brachte den salzigen Geruch der Meeresbucht von Bristol mit sich. Dolph erschauderte wieder, doch diesmal nicht wegen der Kälte, sondern wegen seiner Erinnerungen. Hastig verdrängte er sie und begrüßte Palmer, während sie eintraten.

Die Halle sah aus wie immer. Palmer klang wie immer und schien auch sonst unverändert. Alles war vertraut und doch unvertraut, weil Rebecca nicht mehr da war. Die Tatsache ihres Verlusts wurde ihm in diesem Moment deutlicher klar als in den ganzen vergangenen sechzehn Monaten – seine Trauer mochte sich gelegt haben, doch sein Schuldbewusstsein schwebte stets wie eine schwarze Wolke über ihm. Noch immer wachte er manchmal nachts schweißgebadet auf, weil eine unglückliche, verwirrte Rebecca ihn in seinen Albträumen heimsuchte und vorwurfsvoll anstarrte.

Palmers Räuspern riss ihn aus seinen düsteren Gedanken, und Dolph fiel ein, dass er seinen Haushalt nicht nur über seine eigene Ankunft im Dunkeln gelassen hatte, sondern auch darüber, dass ein Freund ihn begleiten würde.

„Bitte bereiten Sie ein Zimmer für Lord Hinckley vor, Palmer. Er wird bei uns bleiben, bis die Saison in London beginnt.“

George würde bis dahin völlig genesen sein und auf keinen Fall die Bälle und Gesellschaften verpassen wollen, die ihm so gefielen. Dolph hingegen hatte kein Interesse an derlei Nichtigkeiten. Seit Rebeccas Tod hatte er andere Frauen nicht einmal angesehen. Schon der Gedanke daran, wieder zu heiraten, erfüllte ihn mit Grauen. Wie könnte er die Verantwortung ertragen? Er brauchte ja nur daran zu denken, wie sehr er Rebecca vernachlässigt hatte. Vielleicht bedeutete das ja, dass er gar nicht in der Lage war, eine Frau glücklich zu machen. Womöglich hatte er sie zu ihrer schrecklichen Tat getrieben. War das Leben mit ihm eine solche Prüfung gewesen?

Aber jetzt war es zu spät für jede Reue. Das Einzige, was er tun konnte, um für seine Unzulänglichkeit als Ehemann zu büßen, war, zu schwören, dass er nie wieder das Leben einer Frau zerstören würde. Am wichtigsten war jetzt jedoch, dass er seine Fehler als Vater wiedergutmachte.

Palmer verbeugte sich. „Mrs. Frampton und die Mädchen sind bereits dabei, ein Gästezimmer vorzubereiten, Mylord. Wir sahen Sie ankommen. Und es ist ebenfalls für Sie beide heißes Wasser hinaufgetragen worden.“

„Danke, Palmer.“

„Und der Hund, Mylord?“ Palmers Ton ließ keinen Zweifel an seiner Meinung über Wolf aufkommen.

Dolph verbiss sich ein Lächeln und kraulte Wolf am Kopf. „Gewöhnen Sie sich an ihn, Palmer. Er bleibt bei uns.“

„Sehr wohl, Mylord.“

Dolph spürte Zufriedenheit und Frieden in sich, erst noch zaghaft, denn er fühlte sich noch etwas unsicher in der Gegenwart seiner Kinder und hatte noch mit seinen Schuldgefühlen zu kämpfen, aber es war schön, wieder zu Hause zu sein.

4. KAPITEL

Eine Stunde später und nachdem er sich gebadet und die Kleidung gewechselt hatte, machte Dolph sich auf den Weg nach unten, Wolf dicht hinter ihm. Palmer begrüßte ihn in der Halle.

„Lord Hinckley ruht sich aus“, sagte er, „und Mr. Pople wartet in Ihrem Arbeitszimmer auf Sie, da er kurz mit Ihnen reden wollte, bevor er geht.“

Roger Pople war bereits zu Zeiten von Dolphs Vater der Verwalter auf Dolphin Court gewesen.

„Ich danke Ihnen, Palmer. Seien Sie so gut und teilen Sie Miss Thame mit, dass ich sie in einer halben Stunde im Salon zu sprechen wünsche.“

Kein Grund, förmlich zu werden und sie in sein Arbeitszimmer zu zitieren – er würde sich den Grund für ihre Abwesenheit anhören, bevor er die Gouvernante verurteilte.

„Sehr wohl, Mylord.“

Dreißig Minuten später machte Dolph – immer noch mit Wolf an seiner Seite – sich auf den Weg zum Salon. Mr. Pople hatte ihn über alle Gutsangelegenheiten informiert, also blieb ihm jetzt nur noch, Miss Thame gegenüberzutreten und herauszufinden, was in aller Welt mit ihr los war. Er hatte absichtlich weder Palmer noch Mr. Pople darüber befragt, auch nicht, um zu erfahren, wie oft sie seine Söhne der Obhut anderer Menschen überließ. Zuerst wollte er wissen, was sie selbst dazu zu sagen hatte.

Er betrat den Raum und blieb abrupt stehen. Ein seltsam hohles Gefühl in seiner Brust erfasste ihn bei dem Anblick, der sich ihm bot – Miss Thame saß auf dem Sofa, eine schläfrige Matilda auf dem Schoß, und las Steven und Nicholas laut vor, die sich auf beiden Seiten an sie schmiegten. Die Gouvernante hielt inne, und die gelassene Art, mit der sie Dolph musterte, verdrängte das seltsam wehmütige Gefühl in ihm ebenso wie die heftige Reaktion auf sie, als er ihr aus der Kutsche geholfen hatte. Ihre Augen kamen ihm nicht mehr so zauberhaft vor, da sie ihn kühl und fast schon hochmütig betrachtete. Ihre Lippen waren alles andere als sinnlich, wie er vorhin gedacht hatte, sondern fest zusammengepresst. Und auch sie schien ihn nicht sonderlich eindrucksvoll zu finden, wie ihm klar wurde. Unwillkürlich reagierte er mit Ärger, der sich aber schnell in Belustigung verwandelte. Wenn ein Blick eine solche Wirkung auf ihn haben konnte, wie sehr dann auf seine zwei kleinen Jungen?

Erleichtert stellte er fest, dass die unerklärliche Anziehungskraft, die er vorhin gespürt zu haben glaubte, nichts weiter als eine Illusion gewesen sein musste – eine Folge seiner Müdigkeit und des schwachen Nachmittagslichts. Ihre Gesichtszüge waren fast hart mit den hohen Wangenknochen, den zusammengepressten Lippen und dem streng hochgesteckten roten Haar. Sie hatte das blaue Kleid von vorhin ausgezogen und gegen ein schlichtes braunes ausgetauscht. Das war die Frau, die er eingestellt hatte – eine Gouvernante mit genügend Rückgrat, um zwei kleine Jungen aufzuziehen.

„Guten Abend, Mylord. Ich habe die Kinder heruntergebracht, damit sie Ihnen eine gute Nacht wünschen können, da Sie vorhin keine Zeit dazu hatten. Sie sind sicher froh, sie sehen zu können, bevor sie zu Bett gehen müssen.“

Er glaubte, eine Warnung in ihrer Stimme zu hören, doch obwohl er natürlich alles tun würde, um seine Kinder nicht zu betrüben, brauchte Miss Thame sich nicht einzubilden, dass die Anwesenheit seiner Kinder ihn davon abhalten würde, sie wegen ihrer Abwesenheit zur Rede zu stellen.

„Das bin ich wirklich. Danke für Ihre Rücksichtnahme.“ Er kam weiter herein. „Was lesen Sie da?“

Ihr Lächeln blieb kühl. „Die Geschichte vom kleinen superbraven Mädchen von John Newbery. Haben Sie sie gelesen?“

Er runzelte die Stirn. „Nein.“

„Das Buch stand in Ihrer Bibliothek“, sagte sie. „Das einzige Kinderbuch, das ich finden konnte. Den Jungen gefällt es, wenn ich auch nicht glaube, dass sie es völlig verstehen können.“

„Worum geht es?“

Sie senkte den Blick, und Dolph sah, dass sie ein Lächeln unterdrücken musste, doch als sie wieder aufsah, war die Belustigung in ihren Augen verschwunden.

„Es ist die Geschichte von Margery, einer armen Waisen, die sich als Lehrerin ihren Lebensunterhalt verdient, bevor sie den hiesigen Gutsbesitzer heiratet, dessen Herz sie mit ihrer Aufrichtigkeit, ihrer harten Arbeit und ihrem gesunden Menschenverstand erobert.“

Ihr Blick schien ihn herauszufordern, als wollte sie ihn dazu bringen, ihr zu widersprechen. Dolph entging natürlich nicht die Ironie, wenn auch nichts unwahrscheinlicher sein könnte, als dass diese Geschichte sich im wahren Leben wiederholen könnte – trotz seiner lächerlich gefühlvollen Reaktion auf ihren Anblick, wie sie von seinen Kindern umgeben war. Aber auch er konnte eine ausdruckslose Miene aufsetzen, ein Trick, den er für seine diplomatische Aufgabe in Europa hatte lernen müssen. Er verfügte über eine sehr gute Menschenkenntnis. Selbst wenn ihre Worte nichts enthüllten, wusste er ihre unbewussten Gesten zu deuten.

„Ich verstehe. Es hört sich nach einem harmlosen Märchen an. Doch jetzt möchte ich gern noch über heute mit Ihnen sprechen, Miss Thame. Also schlage ich vor, dass die Kinder zu Bett gehen.“

„Selbstverständlich.“

Steven klammerte sich an Miss Thames Ärmel und flüsterte ihr etwas dringlich ins Ohr.

„Ich bin sicher, er tut dir nichts, Stevie. Mylord, ist Ihr Hund sicher?“

„Sie denken doch wohl nicht, dass ich ein gefährliches Tier in das Haus bringen würde, wo meine Kinder leben?“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll, Mylord, da ich Sie kaum kenne.“

Dolph kniff misstrauisch die Augen zusammen, da er sie der Anmaßung verdächtigte, aber ihr offener Ausdruck besänftigte ihn. Wenn er über ihre Worte nachdachte, konnte er nichts daran aussetzen.

„Ich habe jedenfalls keine Angst“, verkündete Nicholas und sah seinen Bruder verächtlich an.

Steven beugte sich über Miss Thames Schoß und versetzte Nicholas einen Schlag gegen den Arm. „Ich auch nicht! Wag ja nicht zu sagen, dass ich Angst habe!“

„Jungs! Genug!“ Miss Thame unterband jeden weiteren Kontakt zwischen den Jungen, indem sie einfach aufstand, Matilda im Arm, und Steven an der Hand nahm, sodass er gezwungen war, ebenfalls aufzustehen. Sie blieb die ganze Zeit zwischen den Brüdern, während Nicholas auch vom Sofa kletterte. „Was wird euer Vater über ein solches Benehmen denken?“

Dolph zögerte und ging dann auf dem Aubusson-Teppich in die Knie. Wolf setzte sich augenblicklich neben ihn. „Ihr Vater denkt, dass sie herkommen und Wolf kennenlernen sollten, bevor sie zu Bett gehen.“

Er sah Miss Thame an, dass sie seine Reaktion billigte, aber er fühlte sich dennoch viel zu unsicher, wenn man bedachte, dass es sich um seine eigenen Kinder handelte. Selbst während der Verhandlungen mit den höchsten Rängen des Militärs und der Politik war er nicht so nervös gewesen. Wenn er doch nur mehr Zeit mit seinen Kindern verbracht hätte, aber ihm war nie der Gedanke gekommen. In seiner eigenen Kindheit waren er und seine Schwester praktisch von den Dienern aufgezogen worden. Seine Eltern waren die meiste Zeit unerreichbar für ihre Kinder gewesen.

Miss Thame ermunterte die Jungen, auf Dolph und Wolf, dessen Kopf Steven bis zur Taille reichte, zuzugehen.

„Hinlegen“, befahl Dolph, und Wolf rutschte mit den Vorderpfoten nach vorn, legte den Kopf darauf und seufzte.

Die Jungen kamen näher. Nicholas schien der Mutigere von beiden zu sein, obwohl er jünger war. Er berührte Wolfs Kopf als Erster, und dann streichelte er ihn, da der große Hund weiterhin nur dalag und alles über sich ergehen ließ. Zunächst blieb Steven noch zurück und sah besorgt aus, doch dann folgte er dem Beispiel seines Bruders und strahlte vor Entzücken, während er Wolf tätschelte. Miss Thame hockte sich hin, um Matilda den Hund zu zeigen, aber Dolphs Tochter hielt offenbar nicht viel von Wolf, denn sie schmiegte sich an ihre Gouvernante wie ein kleiner Affe und verbarg das Gesicht an ihrer Brust.

„Sie ist müde“, meinte Miss Thame. „Wenn Sie sie morgen früh im Kinderzimmer aufsuchen wollen, wird sie besserer Dinge sein. Die Jungen werden dann außerd...

Autor

Janice Preston
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