Historical Saison Band 26

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MISS CHARITY UND DER MASKIERTE GENTLEMAN von MALLORY, SARAH
Zu Unrecht entehrt führt Ross Durden ein Doppelleben. Bei Tag ist der Gutsbesitzer ein eleganter Gentleman, bei Nacht ein skrupelloser Straßenräuber. Dabei hat er nur ein Ziel: Vergeltung! Bis er auf Charity Weston trifft, die schöne Tochter seines Feindes - denn ihre heißen Küsse lassen ihn all seine Rachepläne vergessen …

DIE SÜßESTE ALLER SÜNDEN von MERRILL, CHRISTINE
Wenn er der Versuchung nachgibt, wird er die Frau, die er liebt für immer ruinieren! Sam darf Lady Evelyn aufgrund seiner Herkunft niemals den Hof machen. Denkt er zumindest … Am Tage ihrer Verlobung mit einem anderen erfährt Sam jedoch, dass er jahrelang an eine Lüge geglaubt hat. Ist es nun zu spät für ein Happy End?


  • Erscheinungstag 06.01.2015
  • Bandnummer 0026
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763121
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Mallory, Christine Merrill

HISTORICAL SAISON BAND 26

SARAH MALLORY

Miss Charity und der maskierte Gentleman

Miss Charity ist verwirrt: Als ein maskierter Räuber ihre Kutsche stoppt und sie an sich zieht, wehrt sie sich nicht – sondern genießt seine leidenschaftlichen Liebkosungen! Sie ahnt nicht, wer der Fremde ist, bis sie ihn in einer kalten Winternacht wiedertrifft. Plötzlich wird ihr einiges klar – denn jetzt will der mysteriöse Verführer mehr als feurige Küsse …

CHRISTINE MERRILL

Die süßeste aller Sünden

Was für eine Enttäuschung! Jahrelang hat Lady Evelyn auf die Rückkehr ihrer großen Liebe Sam gewartet – doch der Marine-Arzt weist sie eiskalt zurück! Als sie erfährt, warum er so handeln musste, scheint es zu spät zu sein: Evelyn ist bereits mit einem anderen verlobt! Kann sie es wagen, dennoch um den Mann zu kämpfen, für den ihr Herz schon immer schlägt?

PROLOG

Charity schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Der Himmel war wolkenlos, eine Lerche trillerte, und eine sanfte Brise streichelte ihr feuchtes Haar, das ihr offen über die Schultern hing.

Himmlisch, dachte sie, aber als sie die Augen wieder öffnete, sah sie immer noch dieselben Felder und in der Ferne, gleich hinter dem Fluss, das Dorf Saltby. Es bestand nur aus ein paar Häusern und einer schlichten Kirche mit einem viereckigen Turm.

Wie schön es doch wäre, nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen!

Charity schüttelte den Kopf und spürte, wie die üppige Haarpracht ihren Rücken hinunterströmte. Bevor sie wieder ins Dorf kam, würde sie die Haare wieder unter der Haube bändigen müssen. Es war so gut, das Haar offen zu tragen, fühlte sich so herrlich frei an.

Sie hörte leises Lachen hinter sich.

„Meine Güte, Charity, deine Haare sind so dick, dass sie bestimmt nicht trocknen werden, bevor wir in Saltby sind.“ Ihre Freundin Jenny hob eine der blonden Strähnen an und ließ sie wieder fallen.

„Aber es hat sich gelohnt.“ Charity hakte sich bei ihrer Freundin ein. „Komm mit.

Wir gehen nach Hause.“

Plaudernd schlenderten sie ein schmales Tal entlang und schlenkerten ihre Hauben sorglos an den Bändern. Erst hinter der nächsten Wegbiegung bemerkten sie, was weiter vorn vor sich ging.

„Oh je, ich hatte keine Ahnung, dass sie heute hier sein würden“, murmelte Jenny und blieb stehen.

Auf der Wiese am Bach wurden die Schafe geschoren. Ein steinerner Pferch war schon voller Tiere, während einige Schäfer weitere Schafe ins Wasser trieben, um vor dem Scheren das Fett aus der Wolle zu waschen. Ein schwarz gekleideter Mann stand auf einem großen Felsen inmitten des lebhaften Treibens. Er hatte die Arme zum Himmel erhoben, in einer Hand hielt er ein Buch. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Charity, dass es eine Bibel war. Er las Psalmen aus den Evangelien vor, aber die Scherer beachteten ihn nicht weiter und fuhren gleichmütig mit ihrer Arbeit fort, weil sie bis zum Einbruch der Dunkelheit alle Schafe geschoren haben wollten.

„Ach du lieber Himmel – es ist dein Vater“, sagte Jenny erschrocken.

„Ja“, antwortete Charity unglücklich. „Phineas denkt wieder, er predigt den Gottlosen. Wir müssen umkehren, bevor er uns sieht. Wir nehmen am besten den Weg über den Hügel.“

„Zu spät.“

Der schwarz gekleidete Mann war von seiner behelfsmäßigen Kanzel gesprungen und kam laut schimpfend auf sie zu. Es half nichts. Die Mädchen blieben stehen und warteten auf ihn.

„Wohin seid ihr beiden unterwegs?“, rief er mit lauter Stimme.

Jenny antwortete ihm.„Wir sind auf dem Heimweg, Mr Weston. Wir haben die alte Mutter Crawshaw besucht und ihr einen Korb mit Essen gebracht. Seit ihr Sohn in den Krieg gezogen ist, hat sie niemanden mehr, der sich um sie kümmert, und Mrs Weston dachte …“

Aber Phineas hörte nicht zu. Er starrte die Mädchen wütend an, sein Gesicht bekam hektische Flecke, und er fuchtelte mit erhobenem Zeigefinger herum.

„Seid ihr etwa so herumspaziert? Ohne Schultertücher und mit offenem Haar wie … wie …“

„Es war so heiß. Darum haben wir auf dem Rückweg bei dem einsamen Teich gerastet und gebadet.“ Charity warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Das haben wir schon oft getan.“

„Und wenn, ihr seid keine Kinder mehr. Mit vierzehn solltet ihr wissen, dass der Herr Frauen missbilligt, die sich in solch schamloser Weise zur Schau stellen.“

„Wir wollten ja gar nicht gesehen werden“, beteuerte Charity verzweifelt. „Bevor wir in Saltby sind, sind unsere Haare längst getrocknet. Und selbst wenn nicht, stecken wir sie vorher unter die Hauben.“

Sein glühender Blick war bohrend auf sie gerichtet, und sie sah kleine Speicheltropfen auf seinen Lippen glänzen.

„Und dann kommt ihr hierher und stolziert vor all diesen Männern herum …“

„Nein, wir wollten eigentlich den anderen Weg nehmen …“ Charity brach ab, weil er sie am Handgelenk packte. „Lass mich los!“

„Gott weiß, wie sehr ich mich bemüht habe, dich auf den Pfad der Tugend zu lenken, aber offenbar vergeblich. ‚Auch ein Kind kennt man an seinem Wesen, ob es fromm und redlich werden will‘, und du bist auf dem falschen Weg.“

„Aber wir haben nichts Unrechtes getan!“

„Ich werde dich lehren, was es heißt, sich so zur Schau zu stellen.“

Er versuchte, auch nach Jenny zu greifen, doch Charity hielt ihn am Ärmel fest.

„Lauf!“, rief sie ihrer Freundin zu. „Lauf schnell nach Hause.“ Als Jenny zögerte, setzte sie hinzu: „Du kannst nichts für mich tun, rette dich selbst!“

„Lauf nur weg!“, schrie Phineas dem fliehenden Mädchen hinterher. „Vor dem Zorne des Herrn kannst du dich nicht verstecken, Jennifer Howe. Kommenden Sonntag werde ich dich von der Kanzel aus brandmarken.“

„Oh nein, bitte nicht!“, stieß Charity hervor und versuchte, sich aus dem eisernen Griff ihres Vaters zu befreien. „Geh zu Mr Howe. Er gibt dir drei Guineen für die Gemeindekasse, und damit lass es gut sein.“

„Willst du mich kritisieren, weil ich die Werke des Herrn vollbringe?“

Charity verzog verächtlich den Mund. „Ich habe schon oft gesehen, dass ein paar Silberstücke deinen gerechten Zorn beschwichtigt haben.“

Er kniff die Augen zusammen. „Widernatürliche Tochter!“

Wir haben die Werke des Herrn getan“, gab sie hitzig zurück. „Wir haben uns um die Armen gekümmert.“

Phineas zeigte mit dem freien Arm auf das Treiben am Fluss.

„Du hast nur nach einer Ausrede gesucht, um dich diesen Männern an den Hals zu werfen. Ich kenne deine sündigen Gedanken, Mädchen.“ Er packte grob in ihre Haare, und Charity begann vor Schmerz zu schreien. „Dir ist doch wohl bewusst, dass du die Männer mit dieser … Haarfülle verwirrst, nicht wahr? Es ist Eitelkeit, Mädchen, hörst du mich, blanke Eitelkeit! ‚Der Herr hat Gräuel an den fehlgeleiteten Herzen, und Wohlgefallen an den Frommen‘.“

„Lass mich gehen!“

„Erst wenn du einsiehst, was aus denen wird, die den Herrn und seine Diener verspotten.“

Er ignorierte ihre Schreie und zog sie an den Haaren hinter sich her zu den Schafscherern. Die Männer schauten misstrauisch zu ihnen herüber, einige murrten leise, aber keiner wagte zu protestieren. Phineas zerrte seine Tochter zu dem Felsen, auf dem er vor wenigen Minuten noch gestanden hatte, und zwang sie, sich darauf zu setzen.

„Jacob, komm her und halte sie fest.“

„Nein, Prediger, ich möchte nicht …“

Phineas drehte sich zornig zu dem Mann um.

„Du wagst es, einem Diener des Herrn zu widersprechen?“

Jacob trat zu Charity und hielt ihre Arme fest.

„Tut mir leid, Mädchen.“

Sie hörte seine gestammelte Entschuldigung kaum, weil sie laut schluchzte. Ihre Kopfhaut brannte, wo Phineas ihr das Haar fast ausgerissen hatte. Er brüllte mit donnernder Stimme: „Elias, bring mir die Schere.“

„Nein!“

Sie schrie und weinte, doch ihr Flehen war vergeblich. Sie hörte das Klappern der Schere, mit der er ihre Haare abschnitt, Strähne für Strähne, und dabei sagte Phineas unaufhörlich Bibelsprüche auf.

Nach wenigen Minuten war es vorbei, in kürzerer Zeit, als man zum Scheren eines Schafes brauchte. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und sie konnte die Wärme der Sonne auf der Kopfhaut spüren. Jacob ließ sie los, doch sie bewegte sich nicht. Zusammengekrümmt blieb sie auf dem Felsen sitzen und starrte mit brennenden Augen auf den Boden, ohne etwas zu sehen.

Phineas trat zurück.

„Und der Herr sprach: ‚Versage dem Kinde die Züchtigung nicht.‘“

Schweigen folgte auf seine Worte. Die Männer wussten offenbar nicht, was sie tun sollten. Die Lerche war fort, und selbst die Schafe blökten nicht mehr.

Langsam stand Charity auf. Mit leerem Blick schaute sie sich um. Der Himmel war immer noch strahlend blau, und die Hügel sahen genauso aus wie vorher, aber alles hatte sich verändert. Es schien, als sei die Welt aus den Angeln gehoben worden. Sie betrachtete die Szene wie ein unbeteiligter Beobachter, dann hob sie den Blick und sah ihren Vater an. Sein Gesicht war immer noch zornig gerötet, und er atmete schwer. Seine Arme hingen herab, mit einer Hand umklammerte er die Schafschere.

„Ich bin aber kein Kind mehr“, sagte sie langsam. „Jetzt nicht mehr. Und das war das letzte Mal, dass du Hand an mich gelegt hast.“

Damit drehte sie sich um und ging fort. Ihre Haare, die langen, seidigen Locken, lagen vor seinen Füßen wie ein zartes goldenes Vlies.

1. KAPITEL

13 Jahre später …

Der scharfe, eisige Wind trieb den Schnee beinahe waagerecht gegen die Fenster der schnellen Überlandkutsche von Scarborough nach York. Charity Weston war froh, dass auf dem Dach des Gefährts wenigstens keine Fahrgäste saßen. Schwarze, tief hängende Wolken verfinsterten den ohnehin schon kurzen Januartag, bald würde es stockdunkel sein. Im Inneren der Kutsche konnte man die Hand kaum vor den Augen erkennen. Es war das ganze Gegenteil des hellen Rampenlichts, in dem sie die meisten ihrer Tage – oder vielmehr Nächte – verbrachte, wenn sie auf der Bühne stand.

Sie überlegte, was ihre Mitreisenden wohl denken würden, wenn sie wüssten, dass sie Schauspielerin war. Sicher hätten der Farmer und seine Frau sie dann nicht so freundlich angelächelt, als sie ihren Platz einnahm. Doch so sahen sie nur eine modisch gekleidete Reisende mit ihrer Zofe vor sich. Charity sprach mit der sanften, kultivierten Stimme einer Dame und vermied die näselnde Sprechweise des Südens, die sie zusammen mit einem neuen Namen während ihres Engagements in London angenommen hatte. Wenn die beiden allerdings in der Nähe von Allingford wohnten, würden sie ihren Irrtum bald erkennen, denn Charity hatte das Angebot eines alten Freundes akzeptiert, seinem Theaterensemble beizutreten.

Eine neue Stadt, neue Rollen, ein neues Publikum. Früher hätte sie dieser Gedanke begeistert, aber aus irgendeinem Grund war es heute nicht so.

Werde ich alt? Ich bin siebenundzwanzig, und ich will nichts lieber als ein eigenes Heim …

Die Kutsche fuhr ratternd durch ein Dorf. Ihr Blick fiel auf ein Cottage, das etwas abseits der Straße lag. Anheimelnd schien das Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss, die Haustür war offen. Eine Frau stand mit weit ausgebreiteten Armen davor, um die beiden kleinen Kinder aufzufangen, die auf sie zu rannten. Charity beobachete, wie sie die Kleinen umarmte und dann zu dem Mann aufblickte, der ihnen folgte. Selbst im Dämmerlicht konnte man ihr Gesicht glücklich strahlen sehen.

Das war es, was sie sich wünschte: ein Heim und eine Familie, die sie liebte.

Es war eine Szene des Glücks gewesen, doch sie wusste nur zu gut, wie sehr der Augenschein trügen konnte. Wenn alle im Haus und nicht mehr von draußen zu sehen waren, konnte es durchaus sein, dass die Kinder sich hinter den Röcken ihrer Mutter versteckten, während der Vater sich vor ihnen aufbaute – Bibel in der einen, Reitpeitsche in der anderen Hand –, vollkommenen Gehorsam von ihnen verlangte und jeden Widerstand mit einer Tracht Prügel bestrafte. Charity lehnte sich schaudernd in ihre Ecke zurück und schloss die Augen. Vielleicht war es ein Fehler, nach Allingford zu fahren, wo sie so nah bei ihrem Herkunftsort sein würde.

Unverhofft wurde die Kutsche langsamer, und man hörte laute Stimmen von draußen. Betty, ihre Zofe, fragte ängstlich: „Oh Gott, was ist passiert?“

„Höchstwahrscheinlich steht eine Kuh auf der Straße“, erwiderte Charity gelassen. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. „Nein“, sagte sie ruhig. „Es ist kein Tier, zumindest keins mit vier Beinen. Es ist ein Wegelagerer.“

Betty schnappte nach Luft. Die Farmersfrau umklammerte ängstlich das silberne Medaillon, das sie an einer Kette über ihrem üppigen Busen trug. Charity jedoch war nicht sehr beunruhigt beim Anblick des Reiters am Straßenrand, der mit gezückter Pistole den Fahrer und den Wachmann bedrohte. Seinen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen, sodass sein Gesicht vollkommen im Schatten lag. Alles an diesem Räuber war schwarz, vom Dreispitz bis zu den Hufen des mächtigen Pferdes, auf dem er saß. Mit tiefer, beschwingter Stimme befahl er dem Wachmann, seine Flinte herunterzuwerfen und ihm den Postsack auszuhändigen.

Jemand berührte Charitys Arm.

„Bitte, Madam, halten Sie sich im Hintergrund“, flüsterte der Farmer. „Vielleicht lässt er uns in Ruhe, sobald er die Post hat.“

Sofort lehnte sie sich zurück, ließ jedoch das Fenster offen, um nicht die Aufmerksamkeit des Räubers zu erregen.

„Ich finde den Wachmann ziemlich feige“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Er hat nicht den kleinsten Widerstandsversuch unternommen.“

„Es ist bestimmt eine ganze Bande“, hauchte Betty.

„Nein, das glaube ich nicht.“ Charity schaute vorsichtig hinaus. „Ich sehe nur den einen Mann.“

„Er kommt herüber“, flüsterte Betty aufgeregt. „Herr im Himmel!“

Sie klammerte sich an Charitys Arm, als die Tür aufgerissen wurde und der Fremde gut gelaunt sagte: „Nun schauen wir doch mal, wen wir da haben. Wenn Sie freundlicherweise herauskommen würden, meine Damen und mein Herr!“

Die Farmersfrau wimmerte und klammerte sich an ihren Mann, als sie die Pistole sah.

Charity kletterte hinaus, der Farmer und seine Frau folgten. Bald standen alle auf offener Straße im eiskalten Winterwind. Charity blickte zum Kutschbock hinauf, wo der Fahrer und der Wachmann mit erhobenen Händen saßen.

„Sind das alle?“

„Ja, außer es versteckt sich noch jemand unter dem Sitz“, witzelte Charity und rieb ihre kalten Hände aneinander. „Wenn Sie uns berauben wollen, tun Sie es bitte schnell, damit wir weiterfahren können.“

Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, aber sie spürte, dass er sie genau musterte. Nun erkannte sie auch, dass er eine schwarze Halbmaske trug.

„Und wer bitte sind Sie, Ma’am? Wer gibt Ihnen das Recht, Forderungen zu stellen?“

Er wedelte mit der Pistole. Seine Stimme klang immer noch freundlich, aber es lag eine Warnung darin. Charity straffte sich.

„Ich bin Mrs Weston.“

„Sind Sie das?“ Er trat etwas näher heran, und sie spürte, dass er sie prüfend ansah. „Sind Sie auf dem Weg nach Beringham?“

„Nein. Ich fahre nach Allingford.“ Sie zögerte. „Zum Theater dort. Ich bin Schauspielerin.“ Sie streckte ihm ihr Retikül entgegen. „Hier. Wenn Sie mich bestehlen wollen, dann nehmen Sie es!“

Er grinste, und dabei blitzten seine Zähne weiß im Schatten des Hutes.

„Nein, ich glaube nicht. Heute Abend bin ich großzügig gestimmt.“

„Also rauben Sie uns nicht aus?“ Der Farmer starrte ihn fassungslos an.

„Nein. Ich habe beschlossen, das Retikül nicht zu nehmen, und auch nicht das Schmuckstück, das am Hals Ihrer Gattin funkelt. Sie können in die Kutsche zurück … das heißt, alle außer Ihnen, Ma’am.“

Charitys Herz kam fast aus dem Takt, aber um keinen Preis wollte sie ihre Angst zeigen. „Ich habe nichts für Sie.“

„Oh, ich denke doch.“

„Rühren Sie meine Herrin nicht an!“ Betty machte Anstalten, sich zwischen sie und den Räuber zu schieben.

Charity hielt sie am Arm fest. „Sei still.“

Der Mann schwenkte die Pistole.

„Schicken Sie Ihre Dienerin mit den anderen in die Kutsche, Mrs Weston.“

Charity sah der Zofe fest in die Augen. „Tu, was er sagt, Betty.“

Grimmig nickend leistete Betty der Anweisung Folge und ließ Charity allein mit dem Straßenräuber zurück.

„Ich habe es mir anders überlegt“, verkündete er träge. „Ich nehme die hübsche Brosche da an Ihrem Umhang.“ Es war eine nicht besonders wertvolle kleine Kamee. Charity löste sie und hielt sie ihm entgegen. „Nehmen Sie sie. Kann ich jetzt gehen?“

„Noch nicht, meine Dame.“

Er trat so dicht an sie heran, dass ihr ganz beklommen wurde. Obwohl Charity eine hochgewachsene Frau war, überragte er sie um Haupteslänge, und sein Mantel ließ seine Schultern unglaublich breit erscheinen. Ein Schauer lief über ihren Rücken.

„Sicher wollen Sie mir nicht hier vor allen Leuten etwas tun“, sagte sie gelassener, als sie sich fühlte.

Er lachte, und wieder sah sie seine weißen Zähne blitzen.

„Etwas tun? Nein, meine Liebe, nur wenn Sie mir nicht zu Willen sind.“

„So? Nun, ich …“

Er schnitt ihr das Wort ab, indem er sie an sich zog. Sie wollte protestieren, doch im selben Moment beugte er sich zu ihr, senkte seinen Mund auf ihren und küsste sie. Bei der Berührung durchfuhr es sie wie ein Blitz, sie war außerstande, sich zu wehren. Mit seiner Zunge drang er in ihren Mund ein und rief einen Ansturm unbekannter Empfindungen in ihrem Körper hervor. Seine stoppeligen Wangen kratzten auf ihrer Haut, doch sie spürte es kaum. Völlig nebensächliche Gedanken gingen ihr plötzlich durch den Kopf – zum Beispiel, dass er nicht nach Stall und Pferden roch. Stattdessen erkannte sie den Geruch von Leder und Wolle, der von seinem Umhang aufstieg, und als er sie noch näher an sich zog, stieg ihr der angenehme Duft von Seife und Zitronen, von Kräutern und sauberem Leinen in die Nase. Er fuhr fort, ihren Mund mit seiner Zunge zu erforschen, und sie glaubte zu vergehen unter den heißen Wellen des Verlangens, die ihren Körper durchströmten. Es waren gänzlich neue Empfindungen für sie, und sie brachten sie völlig aus der Fassung.

Die Zeit stand still. Sie war seine Gefangene, die stärker gegen ihren Wunsch, seinen Kuss zu erwidern, ankämpfen musste als gegen seine Umarmung. Als er schließlich seinen Kopf hob, war sie seltsam enttäuscht. Sie blieb in seinen Armen, unfähig sich zu bewegen, und sah zu ihm hoch. Inzwischen hatten ihre Augen sich an das trübe Licht gewöhnt, und sie konnte seine Gesichtszüge besser erkennen – den lächelnden Mund und die hohen Wangenknochen, sein energisch geformtes Kinn mit der Einkerbung in der Mitte, die schmale Nase, und ganz besonders die funkelnden, fast schwarz wirkenden Augen, die durch die Schlitze der Maske erkennbar waren.

„Hmm“, murmelte er fast unhörbar. „Himmlisch.“

Charity hatte alles um sich her vergessen, selbst den eisigen Wind und die Tatsache, dass er ein völlig Fremder und außerdem ein Straßenräuber war. Bis er den Kopf hob und im Befehlston den Kutscher und den Wachmann warnte: „Schön die Hände über dem Kopf lassen, Freunde.“

Mit einem Ruck war sie zurück in der Wirklichkeit. Sie stieß ihn von sich und strich mit zitternden Händen ihre Röcke glatt. Ein Blick nach hinten zeigte ihr, dass die Kutsche noch auf der Straße stand. Fahrer und Wachmann saßen reglos auf dem Bock, die bleichen Gesichter der Passagiere waren hinter den Fenstern der Kutsche zu erkennen. Es konnten nicht mehr als ein, zwei Minuten vergangen sein, doch Charity fühlte sich, als sei etwas Bedeutsames geschehen. Liebe Güte, es war doch nur ein Kuss, und nicht ihr erster, aber noch nie hatte sie so reagiert.

Es ist die Aufregung, sagte sie sich streng. Die Angst hat deine Nerven gereizt und dich alles viel intensiver erleben lassen.

Der Räuber streckte ihr seine Hand entgegen.

„Nun, da Sie bezahlt haben, Madam, sind Sie frei und können Ihrer Wege gehen.“

Schweigend ergriff sie seine Hand und gestattete ihm, ihr in die Kutsche zu helfen. Er schloss den Schlag. Sie erkannte deutlich ein amüsiertes Glitzern in seinen Augen, als er spöttisch grüßte, indem er sich mit der Pistole an den Hutrand tippte. Dann trat er zurück und blickte hinauf zum Bock.

„So, ihr Burschen dürft noch ein Weilchen dort oben sitzen bleiben.“

Er stieß einen Pfiff aus, und sein schwarzes Pferd kam angetrabt. Charity fiel auf, wie athletisch er sich bewegte, als er in den Sattel sprang und davongaloppierte. Er ließ sie alle schockiert, gelähmt und schweigend zurück.

Als das Klappern der Hufe verklungen war, begann der Farmer laut über die Unverschämtheit des Schurken zu schimpfen, während seine Frau in den Sitz zurücksank, sich heftig Luft zufächelte und erklärte, dass sie gleich einen Weinkrampf bekäme. Betty sprach ein Dankgebet, und der Wachmann kletterte vom Bock, um sein Gewehr zu holen und die Passagiere zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

„In Ordnung? Natürlich nicht!“, rief der Farmer entrüstet. „Was ist mit euch Männern los, dass ihr einem Verbrecher erlaubt, uns solchen Schrecken einzujagen? Sehen Sie sich meine Frau an! Sie ist völlig außer sich. Es ist eine Schande, das sage ich Ihnen. Ein einzelner Mann genügt, und Sie lassen gleich Ihr Gewehr fallen.“

„Ja, stimmt, ich habe es fallen gelassen“, gab der Wachmann beleidigt zurück. „Er hat schließlich damit gedroht, mir den Kopf abzuschießen.“

„Dann lassen wir ihn jetzt also mit einem Überfall am helllichten Tag davonkommen?“

Der Wachmann stemmte die freie Hand in die Hüfte. „Soviel ich weiß, hat er Ihnen nichts weggenommen.“

„Er hat die Post gestohlen“, meldete die Frau des Farmers sich zu Wort.

„Und er hat meine Herrin angegriffen“, fügte Betty hinzu.

„Darum bin ich ja gekommen – um zu hören, ob sie verletzt wurde.“ Der Wachmann wandte sich zu Charity. „Nun, Ma’am? Hat er Ihnen wehgetan?“

Charity war in Gedanken noch in seinen starken Armen gefangen, und ihre Lippen brannten noch vom Kuss des Räubers, aber das würde sie niemals zugeben.

„N…nein. Ich bin ein wenig mitgenommen, aber unverletzt.“

„Der Schurke hat Ihre Brosche gestohlen, Miss.“

„Nur ruhig, Betty. Es war kein wertvolles Schmuckstück.“ Charity wandte sich an den Wachmann. „Bitte, lassen Sie uns weiterfahren.“

Damit gab sich der Mann offenbar zufrieden. Er nickte. „In Beringham halten wir, um die Pferde zu wechseln. Dort werde ich den Vorfall melden.“

Er wandte sich zum Gehen. Die Kutsche schaukelte, als er auf den Bock stieg und sich neben den Fahrer setzte.

Charity setzte ein strahlendes Lächeln auf.

„Ich für mein Teil bin froh, dass wir unbeschadet davongekommen sind. Hoffentlich gibt es keine weiteren Aufregungen mehr bis zu unserem Ziel.“

Ihre Hoffnung erfüllte sich, denn die kurze Fahrt bis nach Beringham verlief ereignislos. Die Fahrgäste wärmten sich im Gasthof auf, während der örtliche Konstabler benachrichtigt wurde.

Nachdem der Wirt sie alle mit heißen Kaffee versorgt hatte, verbesserte sich sogar die Stimmung des Farmers.

Der Konstabler war ein behäbiger Mann namens Rigg, der peinlich genau alles aufschrieb und ihnen erklärte, dass der Friedensrichter sicher sämtliche Einzelheiten des Falles wissen wollte. Nachdem Fahrer und Wachmann jeweils ihre Version der Ereignisse zu Protokoll gegeben hatten, wandte er sich an die Passagiere.

„Sie sagen, er stieg vom Pferd und befahl allen, die Kutsche zu verlassen?“ Rigg machte sich Notizen. „Also hatten Sie die Möglichkeit, sich den Burschen genauer anzusehen?“

Der Farmer schüttelte den Kopf. „Nein. Es war schon zu dunkel, um noch etwas zu erkennen.“

„Das ist richtig“, bestätigte Betty. „Danach hat er allen befohlen, wieder in die Kutsche zu steigen, außer Mrs Weston.“

„Weston?“ Der Konstabler schaute ruckartig auf. „Mrs Weston, sagen Sie? Sind Sie …?“

„Ich bin Schauspielerin.“ Charity lächelte entschuldigend, weil sie ihn unterbrochen hatte. „Weston ist mein Künstlername.“

Die Farmersfrau rümpfte die Nase und starrte sie an.

„Aha.“ Auf einmal wirkte der Konstabler sehr interessiert. „Demnach sind Sie auf dem Weg nach Allingford“, fügte er leise seufzend hinzu. „Wir haben kein Theater in Beringham.“

„Und auch keine anderen Vergnügungsstätten“, knurrte der Farmer. „Sogar die Gasthöfe sind nicht mehr, was sie einmal waren.“

„Aber sie kam dem Schurken am nächsten“, mischte die Farmersfrau sich ein. „Er umarmte sie, und sie gestattete ihm Freiheiten …“

„Unerhört!“, verteidigte Betty gereizt ihre Herrin. „Er tat es ganz gegen ihren Willen!“

Charity errötete und schüttelte den Kopf.

„Er hat mir eine billige Brosche gestohlen, das ist alles.“

„Und geküsst hat er sie!“, rief die Frau des Farmers entrüstet.

„Das ist sehr verständlich, Ma’am, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Der Gesetzeshüter errötete bis über beide Ohren.

„Jedenfalls hat sie ihn besser gesehen als wir Übrigen“, fügte der Farmer hinzu. „Es war ein richtig großer Kerl.“

„Ma’am?“ Der Konstabler schaute wieder zu Charity, doch sie zuckte mit den Schultern.

„Ich finde nicht, dass er sehr groß war. Eher von mittlerer Statur, würde ich sagen.“

„Nein, ziemlich hochgewachsen“, widersprach die Farmersfrau. „Er überragte Sie deutlich.“

Das stimmte, doch Charity schüttelte den Kopf.

„Ich habe mich ein bisschen geduckt.“

Sie hatte keinerlei Angst vor dem Räuber empfunden. Ärger, ja, und Aufregung, aber Angst? Nein, keinen Augenblick. Die Frau des Farmers redete weiter.

„Ein hochgewachsener Mann, ganz in Schwarz, und er saß auf einem riesigen schwarzen Pferd. Und er hatte richtig breite Schultern.“

„Sein Mantel war voluminös“, wiegelte Charity ab. „Mit mehreren Pelerinenkragen. Die ließen seine Schultern so breit erscheinen.“

„Konnten Sie sein Gesicht oder seine Haare erkennen … trug er vielleicht eine Perücke?“

„Den Hut nahm er nicht ab. Und er trug eine Maske, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.“

Das stimmte. Sie hätte nicht einmal mit Sicherheit sagen können, welche Farbe seine Augen hatten, nur dass sie sehr dunkel waren, und dass er sie mit seinem Blick durchbohrt hatte, als wolle er in ihre Seele schauen.

„Aber sein Pferd – das sollte doch zu finden sein.“ Der Kutscher klopfte seine Pfeife in der Feuerstelle aus und stopfte sie neu. „Es war ein Hengst, ein riesiges Tier, rabenschwarz von der Mähne bis zu den Hufen.“

„Und er war nicht von hier“, fügte der Wachmann hinzu. „Schätze mal, ein Ire.“

„Ja“, pflichtete der Farmer ihm bei. „Sein irischer Akzent war unverkennbar.“

Charity sagte nichts. Sie hatte ihr halbes Leben unter Schauspielern verbracht und vermutete, dass der irische Zungenschlag genauso falsch war wie der Tonfall, den sie sich in London angeeignet hatte.

Der Wirt, der die ganze Zeit danebengestanden hatte, nickte schlau.

„Der ‚Schwarze Reiter‘. Man sagt, er komme aus Dublin.“

„Nein, ich meine, es könnte eher Shannon sein“, widersprach der Kutscher. „Aber es ist nur eine Vermutung. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.“

„Der Schwarze Reiter?“, fragte Betty ängstlich.

„Ja.“ Der Wirt nickte. „Taucht seit einem Jahr oder so auf den Straßen rings um Beringham auf. Hat Absalom Keldy und seine Frau kurz vor Weihnachten ausgeraubt.“

„Und Mr Hutton erst letzten Monat um fünfzig Guineen erleichtert“, fügte der Kutscher hinzu.

Der Farmer schnaubte abfällig. „Er kann dem alten Hutton abnehmen, was er will, meinen Segen hat er. Selbstsüchtiger alter Bursche, der er ist.“

„Richtig“, stimmte der Wirt zu. „Aber der Schwarze Reiter ist unberechenbar. Man weiß nie, was er nehmen wird. Es kann ein Kuss von einer schönen Frau sein oder eine Geldbörse.“

„Nur den Postsack nimmt er immer“, ergänzte der Konstabler. „Den findet man dann später am Wegesrand, nachdem er ihn durchsucht hat. Ich frage mich, wer so töricht sein sollte, dass er Geld in einem Brief verschickt.“

Der Wirt zwinkerte Charity zu. „Die Damen der Umgebung sind in heller Aufregung. Alle wollen ihn sehen. Viele glauben, dass er ein verkleideter Gentleman ist, der sich nur einen Spaß erlaubt.“

„Egal, ob Gentleman oder nicht. Wenn man ihn erwischt, wird er am Galgen baumeln“, brummte der Konstabler. „Ich glaube, ich habe jetzt alles, was ich brauche. Sie können weiterfahren.“ Er musterte die Passagiere mit ruhigem Blick. „Bitte nennen Sie mir noch Ihr Reiseziel, falls wir Ihre Hilfe brauchen, um den Übeltäter zu identifizieren.“

„Sie finden uns auf der Broad Ings Farm.“ Die dralle Farmersfrau stand auf und schüttelte ihre Röcke. „Den Fahrpreis bis zur nächsten Kreuzung haben wir schon bezahlt, also sollten wir aufbrechen – je schneller, desto besser.“

„Und Sie, Mrs Weston?“

„Ich weiß noch nicht, wo ich in Allingford wohnen werde, aber Sie können mich immer im Theater finden.“

Sie gingen zurück zur Kutsche. Der Fahrer wollte Zeit gutmachen, und so fuhren sie ratternd durch die Dunkelheit bis zu der Straßenkreuzung, wo der Farmer und seine Frau ausstiegen. Nun saß Charity mit ihrer Zofe allein in der Kutsche.

„Was für ein Trubel, Ma’am! Wir hätten schon vor drei Stunden in Allingford sein können.“

„Ich weiß, Betty. Hoffentlich hat Hywel uns das Abendessen warm gestellt. Von der ganzen Aufregung habe ich Appetit bekommen.“

Betty schnaubte missbilligend.

„Ich weiß nicht, wie Sie an Essen denken können nach den Freiheiten, die der Schurke sich bei Ihnen erlaubt hat.“

Charity antwortete nicht, sondern machte es sich in ihrer Ecke der Sitzbank gemütlich und schloss die Augen. Manchmal fielen Damen im Publikum beim Anblick eines besonders attraktiven Schauspielers in Ohnmacht. Sie hatte solche Überspanntheiten immer lächerlich gefunden, doch nun verstand sie sie besser. Die starke Anziehungskraft des Schwarzen Reiters hatte auch sie in Verwirrung gestürzt.

Himmel! Was ist mit mir los?

Du wirst alt, Mädchen, hielt sie sich unnachsichtig vor Augen. Alt und einsam, wenn du schon bei den Aufmerksamkeiten eines Fremden fast umsinkst.

Als die Lichter von Allingford endlich auftauchten, war Charity erleichtert. Ein Laufbursche erwartete sie, um sie zu einem bescheidenen Haus zu geleiten, wo ein Diener sie einließ und in den Salon führte. Dort sah sie einen hochgewachsenen, distinguierten Herrn mit silbergrauem Haar vor dem Kamin stehen. Als er sie erblickte, kam er auf sie zu, um sie zu begrüßen.

„Ich fürchtete schon, du hättest deine Meinung geändert und wolltest nicht mehr für mich arbeiten.“

Lachend reichte sie ihm beide Hände und küsste ihn auf die Wange.

„Aber keine Spur, Hywel! Und guten Abend, mein Lieber! Wir wurden unterwegs aufgehalten – von niemand Geringerem als einem Wegelagerer!“ Sie wandte sich ab, um ihren Umhang und den Hut abzulegen – und damit Hywel ihren Gesichtsausdruck nicht sah. Er kannte sie so gut, dass er auf der Stelle merken würde, dass mehr an der Geschichte war, als sie ihm erzählte. „Er ist hierzulande wohlbekannt, glaube ich – der Schwarze Reiter.“

„Ich habe von ihm gehört.“ Hywel reichte ihr ein Glas Wein, und sie trat neben ihn an den Kamin.

„Was hat er dir abgenommen?“

„Ein billiges Schmuckstück, eine kleine Brosche.“

„Und hat er von allen Damen einen Kuss gefordert?“

Sie errötete. „Nein. Nur von mir.“

„Weil du natürlich die Hübscheste warst.“

Sie verzog den Mund. „Blonde Locken und blaue Augen. Du weißt, dass ich mein Aussehen eigentlich langweilig finde.“

„Du bist eine gute Schauspielerin, meine Liebe, aber deine Schönheit – auch wenn du sie fade findest – hat zu deinem Erfolg nicht unwesentlich beigetragen.“

Er bot ihr einen Platz am Feuer an und setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. „Wie hat es dir in Scarborough gefallen?“

„Sehr gut.“ Sie warf ihm einen ironischen Blick zu. „Ich wurde sogar wohlwollend mit Mrs Siddons verglichen.“

„Und jetzt wirst du Allingford begeistern. Ich bin dir sehr verbunden, dass du mein kleines Theater beehrst.“

„Unsinn. Alles, was ich bin, schulde ich dir, und das weißt du. Als du mir schriebst, du hättest deine Hauptdarstellerin verloren, wie konnte ich ablehnen, dir zu helfen? Ich verdanke dir unendlich viel, weil du mich damals bei dir aufgenommen und dich um mich gekümmert hast.“

„Ich wurde hinreichend belohnt, denn du bist ein Naturtalent, und dein Erfolg hat sich positiv auf meine Schauspieltruppe ausgewirkt. Sogar Geldgeber habe ich gefunden, die bereit waren, mir den Bau meines kleinen Theaters zu finanzieren.“

„Und doch hast du mich ermutigt, mein Glück in London zu versuchen.“

„Mit deinem Talent hattest du ein größeres Publikum verdient.“ Lächelnd lehnte Hywel sich zurück. „Sämtliche Zeitungen bejubelten dich – ‚Agnes Bennet, der Liebling des Drury-Lane-Theaters‘! Wie lange ist das her? Fünf Jahre?“

„So ungefähr.“

„Aber du bist aus London fortgegangen, als du dir gerade einen Namen gemacht hattest. Warum, meine Liebe?“

Charity schwenkte ihren Wein im Glas.

„Ich hatte mich mit den falschen Leuten eingelassen. Nach einiger Zeit war ich angewidert von mir selbst und ihnen. Ich beschloss, dieses Leben – und Agnes Bennet – hinter mir zu lassen.“ Sie lächelte ironisch. „Wie durch ein Wunder bin ich mit heiler Haut davongekommen, ohne meine Ehre zu verlieren.“

„Demnach bist du jetzt wieder Charity Weston.“

„Ja. Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, umherzuziehen und mir eine neue Karriere aufzubauen.“

„Das ist dir gelungen, wenn man den Berichten Glauben schenken darf.“ Hywel stand auf, um ihre Gläser wieder vollzuschenken. „Also, warum bist du nach Allingford gekommen, meine Liebe?“

Charity lachte leise. „Weil du mich gefragt hast, nachdem deine Hauptdarstellerin eine Lungenentzündung bekam und sich mit ihrem Mann nach Worthing zurückzog.“

„Ich hätte nie erwartet, dass du akzeptieren würdest.“

Sie breitete die Arme aus. „Ich wollte zurück in den Norden.“ Ihre Augen funkelten. „Es ist so viel angenehmer, in einem Theater zu spielen als in einem Gasthof oder einer Scheune. Hywel, als ich erfuhr, dass du Eigentümer und Direktor bist, konnte mich nichts zurückhalten.“

„Schluss mit der Schmeichelei! Bitte versteh mich nicht falsch, meine Liebe. Ich bin entzückt, dass du an meinem Theater arbeiten möchtest. Viele deiner alten Freunde sind immer noch bei mir. Aber es ist nicht weit zu deiner alten Heimat. Und deinem Vater.“

Sie zuckte die Schultern. „Saltby ist mehrere Meilen entfernt. Ich bezweifle, dass Phineas jemals nach Allingford kommt, und noch unwahrscheinlicher ist es, dass er ins Theater geht.“

„Er ist nicht mehr in Saltby, meine Liebe. Er lebt jetzt in Beringham.“

Charity setzte sich kerzengerade auf. „So nah?“ Sie kaute an ihrer Lippe und zog die Stirn kraus, dann sagte sie langsam: „Aber es spielt keine Rolle. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Außerdem bin ich des Wanderlebens überdrüssig, Hywel. Ich überlege, ob ich mich ganz niederlassen soll, und wo wäre es besser als in Allingford, wo ich weiter am Theater arbeiten kann?“

„Aber deinen richtigen Namen zu benutzen – ist das nicht ein Risiko? Weston wird es sicher übelnehmen, wenn er erfährt, dass du hier bist.“

„Ich habe mich schon viel zu lange hinter einem Künstlernamen versteckt. Dass ich mich Mrs Weston nenne, ist eine unverdiente Rücksicht, aber weiter werde ich nicht gehen. Ich will wieder ich selbst sein.“ Sie nippte an ihrem Wein. „Ich habe nichts mehr von Phineas gehört, nachdem ich fortging.“ Als Hywel die Brauen hob, fuhr sie fort: „Seit Jahren nenne ich ihn nicht mehr Vater. Die Bezeichnung hat er nicht verdient. Lebt meine Stiefmutter noch?“

„Nein. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben, noch bevor er nach Beringham zog. Er ist jetzt ein vermögender Mann. Deine Stiefmutter hat ihm ein ordentliches Vermögen hinterlassen.“

Erstaunt blickte Charity auf. „Tatsächlich? Ich wusste, dass er sie wegen ihrer Mitgift geheiratet hatte, aber ich dachte, es sei längst alles aufgebraucht.“

„Offenbar nicht, denn er kam als vermögender Mann nach Beringham. Er hat noch einmal geheiratet, und seine Frau brachte ein kleines Vermögen mit in die Ehe. Er ist jetzt auch Magistrat.“

„Wirklich?“ Charity verzog das Gesicht. „Armes Beringham.“

„Sehr wahr. Glücklicherweise sind wir hier in einer anderen Grafschaft, und er hat keine Befugnisse bei uns. Er regiert mit eiserner Hand in seinem Bezirk und erlaubt kein Theater und andere Vergnügungen.“ Hywel lächelte. „Umso besser für mich natürlich, weil alle, die ein Stück sehen wollen, nach Allingford kommen müssen.“

„Es wird ihn schrecklich wurmen, dass die Leute sich hier amüsieren dürfen. Phineas glaubt, dass Erlösung nur durch Leiden erlangt werden kann.“

„Solange es nicht seins ist.“

Sie lachte. „Natürlich. Seine eigene Bequemlichkeit hat er immer gut rechtfertigen können.“

„Er und seine Frau leben auf großem Fuß. Er besitzt ein prächtiges Haus in Beringham, das vollgestopft ist mit Kunstwerken, wie man sagt. Einige von zweifelhafter Qualität, aber alle sehr teuer. Er hat seinen eigenen Reitstall und eine noble Kutsche, mit der er und seine Gattin im Lande herumfahren.“

Charity starrte ins Feuer und fragte sich, ob seine dritte Frau wohl glücklicher war als die ersten beiden. Das ängstliche, vergrämte Gesicht ihrer Mutter hatte sie nie vergessen können. Vor allem hatte sie Angst gehabt und in der ständigen Furcht gelebt, den Zorn ihres Mannes zu erregen. Als sie gestorben war, hatte Phineas sofort wieder geheiratet. Es war eine freundliche Frau gewesen, die er auch bald mit seiner Grausamkeit gebrochen hatte, bis sie nur noch wie ein demütiger, schweigsamer Schatten war. Charity schauderte.

„Gott sei Dank bin ich kein Mitglied dieser Familie mehr.“

„Aber man wird schnell den Zusammenhang herstellen“, gab Hywel zu bedenken. „Irgendjemand in Beringham erinnert sich sicher daran, dass Phineas früher eine Tochter hatte.“

„Das ist dreizehn Jahre her, Hywel. Ich werde die Verbindung nie zugeben, und sicher hat Phineas kein Interesse daran, dass sie bekannt wird. Für mich ist die Vergangenheit gestorben.“

Hywel sah wenig überzeugt aus.

„Hast du immer noch Albträume?“

Sie zuckte die Schultern. „Selten. Obwohl ich mich frage, ob ich hier …“

Hywel legte ihr die Hand auf den Arm.

„Hier bist du in Sicherheit, Charity. Weston hat keine Gerichtsgewalt in Allingford. Und du kannst dich auf meinen Schutz verlassen.“

Sie drückte kurz seine Hand.

„Das weiß ich, Hywel. Du bist mir immer ein guter Freund gewesen. Aber genug von dem traurigen Gerede. Erzähl mir, wie es dir geht, und welche Rolle du als erste für mich ausgesucht hast.“

„Das Theater floriert, und meine Schauspieler sind gut und verlässlich. Ich habe mir gedacht, dass du bei deinem ersten Auftritt Mr Sheridans gefühlvolle Heldin Lydia Languish spielen solltest.“

„Und du bist Captain Absolute?“

Lachend schüttelte er den Kopf. „Ich bin allmählich zu alt, um den jugendlichen Liebhaber zu geben. Heutzutage spielt Will Stamp diese Rollen.“

„Der ‚junge Will‘? Ich weiß noch, dass er gerade angefangen hatte, als ich ging.“

„Er hat sich als guter Schauspieler erwiesen. Ich spiele seinen Vater, Sir Anthony.“

„Hast du ein Textbuch für mich? Es ist eine Weile her, seit ich die Lydia gespielt habe.“

„Selbstverständlich. Ich besorge dir gleich morgen eins, wenn ich mit dir zum Theater gehe und dir das Ensemble vorstelle.“

„Und ich muss mir eine Unterkunft besorgen.“

„Du kannst gern hier wohnen, solange du es wünschst.“

„Danke, Hywel, aber ich habe vor, mir selbst ein kleines Haus zu mieten.“

„Du wirst einen Diener brauchen. Ich kenne da genau den richtigen Mann …“

„Nein, nein. Wenigstens noch nicht gleich. Betty kann alles tun, was nötig ist … Betty Harrup ist meine Zofe und Garderobiere und schon seit Jahren bei mir. Im Augenblick ist sie oben und packt meine Taschen aus. Wir sind es gewohnt, uns alleine durchzuschlagen, und mehr brauche ich nicht.“ Charity lachte spitzbübisch. „Ich bitte dich auch nicht um Unterstützung. Ich habe mein Geld gut angelegt und ein bequemes Auskommen.“

„Wenn es so ist, suche ich dir ein paar passende Objekte heraus. Die Vermieter in Allingford werden sich überschlagen, um dir ihr Haus anzubieten. Wir haben noch drei Wochen bis zur Eröffnung, also hast du genug Zeit, um dich einzurichten. Genug davon. Ich habe ein Abendessen vorbereiten lassen, und du bist bestimmt hungrig.“

„Ausgehungert, mein Lieber. Soll ich erst nach oben gehen und nachsehen, ob Betty alles ausgepackt hat, oder gestattest du mir, in meinen schmutzigen Reisekleidern mit dir zu essen?“

Er lachte. „Wir können gleich essen! Ein wenig Staub auf deinen Röcken wird nicht so schlimm sein.“

Es wurde ein gemütlicher Abend, und sie erzählten sich alles, was sie seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatten. Obwohl sie immer noch besorgt war, weil ihr Vater in der Nachbarstadt wohnte, hatte Charity in dieser Nacht keine Albträume. Stattdessen träumte sie von einem maskierten Mann auf einem schwarzen Pferd.

Charity hatte schnell ein hübsches Haus in Allingford gefunden. Nach kaum einer Woche zog sie bereits in die North Street. Sie brauchte nur wenige Tage, um sich einzurichten, und schon am dritten Abend konnte sie in dem kleinen Wohnzimmer sitzen und ihre Rolle in ‚Die Rivalen‘ einstudieren. Am nächsten Tag würden die Proben beginnen.

„Ich habe noch einen Eimer Kohlen für das Feuer geholt, Miss Charity.“

„Danke, Betty. Du brauchst nicht aufzubleiben. Ich gehe allein zu Bett.“

Die Zofe stellte den Kohleeimer neben dem Kamin ab und bedachte ihre Herrin mit einem liebevoll tadelnden Blick.

„Ich möchte nicht, dass Sie stundenlang hier sitzen und Ihre Augen überanstrengen, Ma’am.“

„Ich verspreche dir, es nicht zu tun“, sagte Charity lächelnd. „Gute Nacht, meine Liebe.“

Betty ging hinaus, und bald hörte man sie auf der Holztreppe nach oben stapfen. Charity wandte sich wieder ihrem Textbuch zu, aber sie konnte sich nicht recht konzentrieren, da sie noch auf die ungewohnten Geräusche in dem neuen Haus lauschte. Als sie ein dumpfes Poltern hörte, nahm sie die Kerze, ging in den hinteren Raum und überprüfte die Tür zum Hof. Die Kerze flackerte, und sie sah sich beunruhigt um.

Alles war ihr noch fremd, doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie bald jeden Winkel ihres kleinen Hauses kennen würde. Als sie in das Wohnzimmer zurückkam, war das Kaminfeuer ausgegangen, und sie beschloss, keine Kohlen mehr aufzulegen.

„Ich gehe jetzt zu Bett“, erzählte sie den Schatten. „Mein Text muss bis morgen warten.“

Sie stieg die Treppe hinauf, und als sie an der ersten Tür vorbeiging, hörte sie das rhythmische Schnarchen ihrer Zofe. Lächelnd ging sie weiter zu ihrem eigenen Zimmer. Es lag auf der Rückseite des Hauses, und sie hatte es ausgewählt, weil es ruhiger war als das Zimmer zur Straße. Bei ihrem Eintreten flackerte die Kerzenflamme. Sie sah, dass das Fenster nicht ganz geschlossen war, stellte im Vorbeigehen die Kerze auf dem Frisiertisch ab und drückte den schweren Rahmen des Fensters nach unten. Gerade als sie den Riegel vorschob, hörte sie ein leises Lachen hinter sich. Eine tiefe Stimme sagte: „Meiner Treu, Schätzchen, ich hatte ganz vergessen, wie schön Sie sind.“

Charity wirbelte herum. Im Schatten der Tür stand ein Mann in Reitkleidung, den Dreispitz tief ins Gesicht gezogen.

„Der Schwarze Reiter!“

Sie sah die Zähne weiß aufblitzen, als er breit lächelte.

„Eben der, Mylady.“

„Gehen Sie.“ Sie wich rückwärts zum Fenster zurück. „Gehen Sie sofort, oder ich rufe meine Zofe.“

„Das hätten Sie wohl schon früher getan, wenn Sie es wirklich wollten.“

Charity wunderte sich selbst darüber, dass sie nicht gerufen hatte. „Also sind Sie auch noch ein Einbrecher?“

„Mrs Weston, es spricht sich schnell herum, wenn eine berühmte Schauspielerin in einer kleinen Stadt wie dieser wohnt. Wollen Sie mich nicht fragen, weshalb ich hier bin?“

Ein Angstschauder lief ihr den Rücken herunter. Sie trat näher zum Frisiertisch. „Ich will wissen, wie Sie hier hereingekommen sind.“

Er machte eine Handbewegung zum Fenster hin. „Über das Dach. Es ist nicht sehr steil.“

Sie strich über den Samthut, den sie auf dem Frisiertisch abgelegt hatte.

„Dann können Sie ja auf demselben Weg wieder gehen.“

„Das habe ich vor, aber erst, wenn ich fertig bin.“

„Nein, sofort.“ Sie zog eine Hutnadel aus dem Hut. Sie war fast zwanzig Zentimeter lang und glänzte im Kerzenlicht. „Glauben Sie nicht, dass ich mich nicht verteidigen werde“, fügte sie hinzu. „Es wäre nicht das erste Mal, und ich bin ziemlich geübt darin, wissen Sie.“

„Das bezweifle ich nicht“, sagte er heiter und trat zum Fenster. „Aber Sie missverstehen mich, Mrs Weston.“ Er holte etwas aus der Tasche. „Nehmen Sie sie, bevor ich es mir anders überlege.“ Er hielt ihr die Brosche hin, und sie nahm sie an sich.

„Warum bringen Sie sie mir zurück?“

„Schlechtes Gewissen.“ Er kam etwas näher. „Und die Aussicht auf eine Belohnung.“

Plötzlich konnte sie nur noch schwer atmen. Sie schaute in das maskierte Gesicht und sah den Schein des Kerzenlichts in seinen Augen glänzen. Zwischen ihnen war nur noch die Hutnadel. Sie wehrte sich nicht, als er ihr Handgelenk nahm und die spitze Waffe von seinem Körper wegbog.

Was tue ich hier eigentlich? Erschrocken ließ Charity die Brosche fallen und stemmte die freie Hand gegen seine Brust, aber als sie den Mund öffnete, um zu schreien, senkte er seine Lippen darauf und küsste sie so fordernd, dass ihre Beine fast unter ihr nachgaben. Doch nur einen kurzen Moment, dann war es vorbei. Gerade versuchte sie noch, sich ihm zu widersetzen, da ließ er sie bereits los.

„Ja“, sagte er mit belegter Stimme. „Ich hatte recht.“

„W…womit?“

Sie betrachtete seinen Mund, fasziniert von den geschwungenen Lippen und den Lachfältchen an den Mundwinkeln, die sich noch vertieften, als er sie lässig anlächelte.

„Sie küssen wie ein Engel.“

Mit einer geschmeidigen Bewegung wandte er sich von ihr ab, schob den Fensterrahmen hoch und verschwand in der Dunkelheit.

Charity eilte zum Fenster, doch sie konnte niemanden mehr sehen. Einen Moment später hörte sie gedämpfte Hufschläge, die in der Nacht verhallten.

Hywel klatschte in die Hände. „Ich bitte um Aufmerksamkeit. Wir beginnen damit, den ersten Akt vorzulesen. Mrs Weston, hören Sie mich?“

Charity fuhr zusammen. „Entschuldigung, Mr Jenkin. Ich bin selbstverständlich bereit.“

Er musterte sie prüfend. „Haben Sie nicht gut geschlafen, Madam?“

„Ehrlich gesagt, nein.“ Sie zögerte kurz, dann setzte sie beiläufig hinzu: „Sie sagten, Sie könnten mir einen vertrauenswürdigen Diener empfehlen?“

„Oh ja. Einen jungen Mann namens Thomas. Er verrichtet bei mir Gelegenheitsarbeiten, aber ich weiß, dass er lieber eine feste Stelle hätte.“

„Wann kann er anfangen?“

„Noch heute, wenn Sie es wünschen. Soll ich ihn nach dem Ende der Probe zu Ihnen schicken?“

Charity nickte.

„Oh ja bitte, Hywel.“ Sie berührte die kleine Kamee an ihrem Halsausschnitt. „Ich würde mich sicherer fühlen, wenn noch jemand im Hause wäre.“

2. KAPITEL

Am Abend der Premiere war das Theater brechend voll. Alle wollten die neue Aufführung von „Die Rivalen“ sehen. Das Plakat neben dem Eingang verkündete stolz, die Rolle der Lydia Languish werde von der gefeierten Schauspielerin Mrs Charity Weston gespielt, die gerade eine außerordentlich erfolgreiche Saison in Scarborough absolviert habe. Ross Durden suchte sich einen Platz auf einer Bank im Parkett, wo er bald eingezwängt zwischen den zahlreichen anderen Zuschauern saß.

Der Mann mit dem altmodischen Zopf neben ihm meinte: „Es wird bestimmt gut. Ich habe gelesen, dass die neue Hauptdarstellerin sogar einem Vergleich mit Mrs Siddons standhält.“ Er zog eine Nuss aus der Tasche und knackte sie geschickt mit den Fingern.

„Haben Sie Mrs Siddons schon einmal auf der Bühne erlebt?“, fragte Ross mit verhaltenem Interesse.

„Einmal.“ Der Mann knackte eine weitere Nuss und kaute gedankenverloren darauf herum. „In York, in der Rolle der Lady Macbeth. Ausgezeichnet, muss ich sagen. Niemals etwas Vergleichbares gesehen. Hoffentlich ist dieses Mädchen so gut, wie man sagt.“

„Aber dies ist eine Komödie“, gab Ross zu bedenken, weil er wusste, dass die berühmte Sarah Siddons für ihre tragischen Rollen bekannt war.

„Egal, was für ein Stück. Wenn die Dame nicht gut ist, werden wir es ihr zeigen.“

Ross sagte nichts mehr. Er war geschäftlich nach Allingford gekommen und hatte sich eine Eintrittskarte gekauft, denn „Die Rivalen“ gehörte zu seinen Lieblingsstücken. Die Tatsache, dass Charity Weston ihr Debut darin gab, war für ihn nicht allein ausschlaggebend gewesen.

Doch irgendwie nahmen ihn der vertraute Prolog und die erste Szene nicht so gefangen wie sonst, obwohl es dem übrigen Publikum zu gefallen schien. Er merkte, dass er gespannt auf Mrs Westons Auftritt in der zweiten Szene wartete.

Dann betrat sie die Bühne. Mit gepudertem Gesicht und Perücke, aber ihre wunderbare Figur und die strahlend blauen Augen waren nicht zu verkennen, auch nicht von seinem Sitzplatz im hinteren Bereich des Parketts aus. Auch ihre Stimme bezauberte ihn. Sie war weich und dunkel, geradezu verführerisch. Sie passte eigentlich nicht ganz zu ihrer Rolle, denn Lydia Languish sollte eine naive junge Erbin sein – aber Charity spielte sie so unschuldig, dass es trotzdem wahrhaftig wirkte.

Ross schaute sich um. Das Publikum ringsumher war offensichtlich ebenso gefesselt von ihr wie er. Lächelnd wandte er sich wieder der Bühne zu und genoss das Schauspiel.

Der erste Auftritt in einem neuen Theater war immer spannend, aber auch nervenaufreibend. Charity seufzte erleichtert, als alles vorbei war, denn sie wusste, dass die Vorstellung gut gelaufen war. Das Publikum hatte sich von den Sitzen erhoben, klatschte und jubelte. Lächelnd versank sie in einen tiefen Knicks und ging langsam zur Seite der Bühne. Als sie dort ankam, nahm Hywel sie bei der Hand und führte sie zurück in die Mitte.

„Sie werden keine Ruhe geben, wenn du ihnen nicht noch eine Verneigung schenkst“, sagte er leise und lächelte breit.

Wieder versank sie in einen tiefen Knicks. Irgendjemand hatte ein Blumensträußchen auf die Bühne geworfen. Sie hob es auf und berührte es mit den Lippen, bevor sie es dem Publikum entgegenhielt als Dank für den Applaus. Die Zuschauer waren außer Rand und Band und trampelten, klatschten und jubelten immer noch, als Charity und Hywel hinter dem Vorhang verschwanden.

„Das war der erste Abend. Hoffentlich werden sie auch die kommenden Vorstellungen noch mögen.“

„Aber sicher“, meinte Hywel zuversichtlich. „Doch jetzt muss ich mich auf die Posse vorbereiten, und du solltest dich darauf einstellen, dass du nach der Vorstellung von Verehrern umlagert wirst.“

Charity tauschte Lob und Komplimente mit den anderen Schauspielern aus, dann ging sie in ihre Garderobe, wo Betty auf sie wartete. Die strenge Miene ihrer Zofe war ein wenig sanfter als sonst – ein Zeichen, dass sie zufrieden war mit dem Auftritt ihrer Herrin.

„Hilf mir bitte, den Kopfputz abzunehmen, Betty. Himmel, ist der schwer!“

„Wenn Sie zwanzig Jahre früher geboren wären, Miss Charity, hätten Sie Ihr eigenes Haar wochenlang so hoch auftürmen müssen.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass so eine riesige, pomadisierte Frisur einmal modern war.“ Charity seufzte laut vor Erleichterung, als Betty ihr vorsichtig die Perücke abnahm, die gelockt, gepudert und reich verziert war mit Federn und Seidenblumen. „Räum sie fort, Betty, und hilf mir aus dem Kleid. Mr Jenkin glaubt, dass sich nach der Posse eine Menge Leute im Grünen Zimmer einfinden werden und mich kennenlernen wollen.“

„Kein Zweifel. Ich habe das rosa Seiden- und das bestickte Musselinkleid mitgebracht. Welches wollen Sie tragen?“

„Das aus Musselin, glaube ich. Mr Jenkin sagte, hier in Allingford sei es üblich, dass die Schauspieler sich nach der ersten Vorstellung zu einem Empfang in das Grüne Zimmer begeben.“

„Nun denn“, murmelte Betty schulterzuckend. „Und ich kann Ihnen sagen, wer besonders gefragt sein wird.“

Charity war müde und wäre gern nach Hause gegangen, aber sie wusste, dass Hywel von ihr erwartete, sich den anderen Schauspielern anzuschließen und „die Schöne“ zu sein, wie er es nannte. Sie musste mit den reichen Gönnern sprechen, die nach der Vorstellung eingeladen wurden, um die Darsteller zu treffen. Sie schaffte es, ein wenig kaltes Huhn zu essen, bevor Hywel sie mitnahm, um sie den wichtigsten Einwohnern von Allingford vorzustellen. Er begann mit Lady Malton, die sie hochmütig musterte und ihr nur ein knappes Kopfnicken gönnte.

„In solch einer kleinen Stadt genügt eine einzige Gönnerin wie Lady Malton nicht, um das Theater zu unterstützen.“ Hywel führte sie von der Viscountess fort. „Wir sind auch vom Wohlwollen einer Anzahl von Herren und Damen mit etwas bescheidenerem Vermögen abhängig. Wie zum Beispiel den Beverleys. Ein entzückendes Ehepaar und Stützen der Gesellschaft von Allingford. Sir Mark ist der Friedensrichter, und seine Gemahlin versammelt gern Schauspieler und Künstler um sich.“

Nachdem sie sich einige Minuten mit Sir Mark und Lady Beverley unterhalten hatten, stellte Hywel sie einem rotwangigen Gentleman mit gepuderter Perücke vor.

„Mr Hutton ist aus Beringham angereist, um die Vorstellung heute Abend zu sehen.“

Pflichtbewusst schenkte Charity dem Mann ein charmantes Lächeln.

„Welche Ehre für uns, dass Sie so weit gefahren sind, um uns zu sehen.“

„Und welche Ehre für mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte der backenbärtige Mr Hutton galant, ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihre Finger. „Ich bin froh, dass Sie keinen Schaden erlitten haben auf der Reise hierher.“ Er schmunzelte über ihren verwirrten Gesichtsausdruck und drückte ihre Hand. „Ja, Ma’am, ganz Beringham weiß, dass die Postkutsche aus Scarborough überfallen wurde.“

„Ach ja.“ Daher kannte sie seinen Namen! Dank ihres ausgezeichneten Gedächtnisses erinnerte sie sich daran, dass der Kutscher erwähnt hatte, ein Mr Hutton sei von demselben Räuber ausgeraubt worden.

„Dieser ‚Schwarze Reiter‘ wirkt sich enorm ungünstig auf die Geschäfte aus. So mancher hat inzwischen Angst, die Strecke zwischen Beringham und Allingford zu fahren.“ Huttons bärtige Wangen bebten vor Entrüstung. „Je eher der Kerl erwischt und aufgeknüpft wird, desto besser für uns alle.“

Charity zauberte ihr strahlendstes Lächeln auf die Lippen.

„Ich bin sehr froh, dass die Gefahr Sie nicht davon abhalten konnte, heute Abend hierherzukommen, Sir. Ich hoffe, die Vorstellung hat Ihnen gefallen.“

„Oh ja, sehr gut sogar, und ich bin hocherfreut, dass Mr Jenkin dieses Theater in Allingford eröffnet hat.“ Hutton machte eine kleine Verbeugung vor dem Direktor. „Wir brauchen etwas, das uns von dem verdammten Krieg ablenkt.“

„Dazu ist nichts besser geeignet als ein gutes Bühnenstück“, stimmte Hywel zu. „Wir haben noch Folgendes geplant …“

Charity überließ die Herren ihrer Unterhaltung und schlenderte liebenswürdig lächelnd durch die Menge. Sie lernte ein paar Baronets und einen Knight kennen, außerdem Landbesitzer und reiche Kaufleute. Viele der Herren hatten ihre Ehefrauen mitgebracht, die der berühmten Schauspielerin anfangs etwas misstrauisch begegneten. Doch nach ein paar Minuten in Charitys Gesellschaft begriffen die Matronen, dass die gefeierte Mrs Weston ihnen nicht die Ehemänner abspenstig machen würde.

Als Schauspielerin in London hatte Charity gelernt, Bewunderer, die sie zu ihrer Geliebten machen wollten, charmant abzuweisen. Einfach war es nicht immer gewesen, aber es war ihr gelungen, ihre Tugend zu bewahren, und in den meisten Fällen nahmen die Gentlemen es ihr nicht übel. In den letzten Jahren, als sie unter ihrem eigenen Namen auf Tournee gewesen war, hatte sie ihre Taktik perfektioniert. Verheirateten Männern und ihren Ehefrauen gegenüber war sie bescheiden und liebenswürdig. Komplimente nahm sie nur für ihre Auftritte entgegen, nicht für ihre Person. Damit hatte sie großen Erfolg, denn die Matronen waren sich allesamt einig, dass sie eine anständige junge Dame war, wenn auch keine, die man zu sich nach Hause einladen würde.

Unverheiratete junge Gentlemen behandelte sie jedoch ganz anders. Einem jedem von ihnen widmete sie für kurze Zeit ihre Aufmerksamkeit, tat überschwängliche Komplimente mit einem Lachen ab und gab Neckereien freundlich zurück. Niemals ließ sie sich zu mehr als einem harmlosen kleinen Flirt hinreißen, doch jeder junge Mann ging zufrieden nach Hause und träumte von der unerreichbaren goldenen Göttin.

Die Gäste im Grünen Zimmer machten noch keine Anstalten zu gehen. Charity unterdrückte ein Gähnen und überlegte, wann sie sich unauffällig entfernen konnte. Plötzlich merkte sie, dass jemand dicht hinter ihr stand. Sie setzte ein Lächeln auf und drehte sich um. Direkt vor ihrer Nase erblickte sie ein blütenweißes Krawattentuch. Um den ganzen Mann sehen zu können, trat sie einen Schritt zurück. Er trug Schnallenschuhe und weiße Strümpfe zu cremefarbenen Kniehosen, die als Abendkleidung durchgingen, doch an seinem einfachen schwarzen Rock war keine Uhrkette befestigt, er trug keinen Siegelring und auch kein Monokel. Hingegen strahlte seine Haltung große Selbstsicherheit aus, darum hielt sie ihn trotz der schlichten Kleidung für einen der reicheren Einwohner von Allingford.

Er hatte eine athletische Figur und tief gebräunte Haut. Sein Gesicht war nicht gut aussehend im üblichen Sinne, aber faszinierend. Er hatte kräftige Kiefermuskeln, eine schmale, leicht gebogene Nase und dunkle Augen, deren lange schwarze Wimpern jede Frau neidisch machen konnten. Als er sich vor ihr verneigte, sah sie, dass seine modisch kurz geschnittenen, leicht gelockten Haare bis zum Kragen reichten.

„Darf ich Ihnen zu Ihrer ausgezeichneten Vorstellung gratulieren, Mrs Weston?“ Er sprach langsam und gemessen, passend zu seiner seriösen Erscheinung. Doch da war irgendetwas in seiner Stimme, das sie anziehend fand – und seltsam vertraut. Ganz kurz flackerte eine Erinnerung auf, verschwand indes sofort wieder.

„Ich danke Ihnen. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. … Sind wir uns schon einmal begegnet?“

„Wie sollten wir, da Sie doch gerade erst nach Allingford gekommen sind?“ Das mutwillige Funkeln in seinen dunklen Augen war kaum mehr als eine Ahnung, aber es stand im Gegensatz zu seinem ernsthaften Ton.

Sie wollte ihn zum Sprechen bringen, damit sie seine tiefe, samtige Stimme genießen konnte.

„Leben Sie hier in der Stadt, Sir?“

„In der Nähe. In Wheelston.“

„Ist das weit von hier?“

„Ein paar Meilen.“

Seine Antworten waren ärgerlich kurz. Sie sah ihm ins Gesicht und hatte wieder das beunruhigende Gefühl, ihn zu kennen.

„Verzeihen Sie, Sir, aber sind Sie sicher, dass wir uns noch nie …?“

Er zog seine Uhr aus der Tasche.

„Entschuldigung, Mrs Weston, es ist schon spät, und ich muss leider aufbrechen. Ich wollte Ihnen nur kurz zu Ihrem Auftritt gratulieren. Gute Nacht.“ Er verbeugte sich knapp und ging.

Charity blieb seltsam unzufrieden zurück. Sie wandte sich zu Sir Mark und Lady Beverley, aber gleichzeitig sah sie dem hochgewachsenen Fremden auf seinem Weg durch den Raum wie gebannt hinterher.

„Können Sie mir sagen, Sir Mark“, unterbrach sie das freundliche Geplauder des Friedensrichters, „wer der Gentleman dort drüben ist?“

„Wo?“ Sir Mark sah sich um.

„Der mit dem schwarzen Rock und den weißen Kniehosen.“

„Oh, das ist Ross Durden – kein besonders beliebter Zeitgenosse in Allingford.“ Sir Marks Backenbart schien sich zu sträuben. „Er war hoffentlich nicht unhöflich zu Ihnen, Ma’am?“

„Nein, durchaus nicht. Ich bin nur … neugierig.“

„Sie sind sicher fasziniert von der tief gebräunten Haut, die er immer noch hat“, meinte Lady Beverley freundlich. „Die rührt noch aus seiner Zeit bei der Marine. Er war Captain zur See, wissen Sie, doch vor zwei Jahren, als seine Mutter starb, kehrte er zurück.“

„Warum ist er so unbeliebt?“ Charity beobachtete ihn auf seinem Weg zur Tür. Die Menschen mieden seinen Blick, manche wandten sich sogar ab, als er vorbeikam.

Sir Mark zögerte. „Vielleicht ist es seine wortkarge Art – würde mich nicht wundern.“

„Der arme Mann“, sagte Lady Beverley leise. „Aber erstaunt bin ich doch, dass Mr Jenkin ihn eingeladen hat, denn er verfügt über keinerlei Mittel, um in das Theater zu investieren.“

„Jenkin wird ihn aus demselben Grund eingeladen haben, aus dem du ihm vor jeder deiner Partys eine Karte schickst“, erwiderte Sir Mark gutmütig. „Wheelston ist zwar heruntergewirtschaftet und der Eigentümer fast mittellos, aber es ist immer noch eines der größten Anwesen hier in der Gegend. Allerdings finde ich es eher ungewöhnlich, dass Durden heute hier aufgetaucht ist. Normalerweise lebt er sehr zurückgezogen.“

„Kein Wunder, nach allem, was geschehen ist.“ Lady Beverley seufzte. „Doch warum sollte er nicht kommen, da wir heute Abend eine gefeierte Schauspielerin in unserer Mitte haben? Ah, Mr Jenkin – darf ich Ihnen zu Ihrer neuen Hauptdarstellerin gratulieren? Gerade erst erzählte ich Mrs Weston, dass ich bei einer Komödie von Sheridan noch nie so herzlich gelacht habe!“

Charity überlegte, was wohl dazu geführt haben mochte, dass Mr Durden so ungesellig geworden war, aber die Konversation hatte sich in eine andere Richtung bewegt, so konnte sie nicht mehr nachfragen.

Zum Kuckuck, was für ein verdammt ungemütlicher Abend! Warum habe ich mir das nur angetan?

Ross ging mit ausgreifenden Schritten zum Mietstall, um sein Pferd abzuholen. Die meisten ehrenwerten Bürger von Allingford hatten ihm offen die kalte Schulter gezeigt und ihn teilweise fast beleidigend behandelt. Abgesehen vom Theaterdirektor, der nichts über ihn wusste, und Sir Mark und seiner gutmütigen Frau, hatte niemand sich die Mühe gemacht, mit ihm auch nur ein Wort zu wechseln.

Seine Gedanken wandten sich einem erfreulicheren Thema namens Charity Weston zu, und wider Willen musste er schmunzeln. Wenn er länger mit ihr gesprochen hätte, wäre ihr womöglich doch noch eingefallen, woher sie ihn kannte. Weil sie es als Schauspielerin gewohnt war, eine Rolle zu spielen, sah sie die Ähnlichkeiten zwischen dem ruhigen Gutsbesitzer und dem ungestümen Schwarzen Reiter vielleicht eher als andere Menschen. Hölle und Teufel! Er hatte gedacht, dass er mit der verstellten Stimme und dem veränderten Auftreten jeden täuschen konnte. Offenbar nicht. Er hatte gesehen, wie sie die zarten Brauen zusammengezogen hatte, auch der verwirrte Ausdruck in ihren großen blauen Augen war ihm aufgefallen. Bei Gott – wie schön sie war! Er hätte sich damit zufriedengeben sollen, sie bei dem Kutschenüberfall geküsst zu haben. Warum in Dreiteufelsnamen war er in ihr Haus eingebrochen? Wahnsinn. Er streichelte die weiße Blesse auf der Stirn des großen Pferdes.

„Nun, Robin, dieses Mal ist nichts passiert, aber wir müssen vorsichtiger sein. Am besten machen wir von nun an einen weiten Bogen um Mrs Weston.“

Ross ritt zurück zu seinem Hof. Er überließ Robin der Fürsorge des Reitknechts und ging ins Haus.

Stille erwartete ihn, als er durch die Küchentür trat, aber eine kalte, feuchte Schnauze drückte sich an seine Hand. „Geh wieder in dein Körbchen, Samson. Guter Junge.“ Er kraulte dem Hund den Kopf, dann tapste das Tier zurück in den Schatten.

Mrs Cummings, die Haushälterin, war schon zu Bett gegangen. Er entzündete eine Kerze und stellte dankbar fest, dass ein Krug mit Ale und eine Scheibe Fleischpastete für ihn bereitstand. Die Frau war ein Schatz.

Hungrig machte er sich über die Pastete her und dachte über seine Situation nach. Wie hatte es so weit kommen können, dass ein für seine Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichneter Captain der Marine in solchen Zahlungsschwierigkeiten steckte?

Was ist mit den Kutschen, die du überfallen hast? Du könntest den Passagieren mehr als genug abnehmen, um angenehm zu leben.

Kopfschüttelnd versuchte er, die quälenden Gedanken loszuwerden. Er war kein Dieb; er wollte nur Gerechtigkeit und nahm, was man ihm gestohlen hatte. Selbst die Postsäcke ließ er stets am Straßenrand zurück, wo man sie am nächsten Tag unversehrt finden konnte.

Dann bist du ein Narr, sagte eine hartnäckige innere Stimme. Wenn man dich erwischt, wirst du wegen Straßenraubs gehängt, und niemand interessiert sich für deine Gerechtigkeit.

„Außer mir selbst“, sagte er laut zu dem leeren Zimmer. „Mir ist sie wichtig.“

Er spülte den letzten Rest der Pastete herunter und trank seinen Becher leer, dann nahm er die Kerze und stieg die Treppe hinauf.

Narr, unverbesserlicher.

Charity wohnte gern in Allingford. Ihre Schauspielkollegen waren freundlich, ebenso wie die meisten Menschen in der Stadt. Von den adligen Familien grüßten sie lediglich Sir Mark und Lady Beverley, wenn sie sie auf der Straße traf, die anderen nickten ihr nur distanziert zu, aber daran war sie gewöhnt. Schauspielerinnen gehörten nun einmal nicht zur respektablen Gesellschaft.

Nach ihrer ersten Vorstellung folgten ebenso erfolgreiche Auftritte in der Tragödie „Jane Shore“ und einer weiteren Komödie: „Der Wichtigtuer“. Beide Stücke kannte Charity bestens, darum strengten sie sie kaum an. Wenn sie nicht probte und das Wetter gut war, mietete sie gern einen Einspänner und erkundete die Umgebung. Sie war keine fünfzehn Meilen von hier aufgewachsen und die Gegend war ihr vertraut, gleichwohl hatte sie beschlossen, nicht in ihr Heimatdorf zu fahren, das der Zuständigkeit ihres Vaters als Magistrat unterlag. Ihre Zofe missbilligte die einsamen Ausfahrten und versuchte sie davon abzuhalten, doch Charity lachte nur darüber.

„Was soll mir schon passieren, solange ich in der Nähe von Allingford bleibe?“

„Zum Beispiel gibt es hier einen Straßenräuber“, versetzte Betty griesgrämig. „Der unverschämte Schurke, der uns auf der Straße nach Scarborough überfallen hat, ist immer noch nicht gefasst.“

Der Schwarze Reiter. Der Mann, der mich in meinem eigenen Haus geküsst hat.

Seither hatte Charity nichts mehr von ihm gesehen oder gehört. Sie hatte die Zeitungen nach Berichten über den geheimnisvollen Räuber durchforscht und mit einigen ihrer Mitspieler über ihn gesprochen, aber es gab keine neuen Informationen.

„Ein Straßenräuber beobachtet sicher eher die großen Straßen. Ich dagegen fahre nur auf kleinen Seitenwegen.“

Betty machte einen weiteren Vorstoß.

„Sie könnten Ihrem Vater begegnen.“

Die Zofe hatte sich über die Jahre als gute Freundin erwiesen, doch Charity ließ sich nicht von ihr von ihren Plänen abbringen.

„Das bezweifle ich. Außerdem kann er mir nichts anhaben, solange ich auf dieser Seite der Bezirksgrenze bleibe.“

Betty machte eigentlich immer ein mürrisches Gesicht, aber jetzt sah sie geradezu furchteinflößend aus.

„Er muss längst erfahren haben, dass Sie in Allingford wohnen. Irgendjemand hat ihm sicher erzählt, dass Charity Weston im Theater auftritt.“

„Vielleicht hält er es für reinen Zufall, dass eine Schauspielerin denselben Namen trägt wie seine Tochter.“

„Vielleicht plant er aber auch schon Ihr Verderben.“

„Unsinn, Betty. Ich habe Saltby vor mehr als zwölf Jahren verlassen. Phineas hat mich wahrscheinlich längst vergessen.“

„Nicht dieser Mann. Nach allem, was Sie mir von ihm erzählt haben, wird er keine Ruhe finden, solange Sie in Allingford sind. Ihr Erfolg muss für ihn sein wie ein Stachel im Fleisch.“

„Nun, den Schmerz wird er aushalten müssen“, sagte Charity entschlossen, „denn ich habe nicht vor wegzugehen.“

Dennoch achtete sie stets darauf, innerhalb der Grenzen des Bezirks von Allingford zu bleiben, wenn sie nach Norden oder Osten fuhr. Auf der anderen Seite der Stadt wagte sie sich weiter vor. Eines sonnigen Tages im März machte sie sich auf, um den Westen zu erkunden. Die frische Luft war belebend, wenn auch der Winter noch nicht endgültig vorbei zu sein schien, wie der Schnee auf den fernen Berggipfeln vermuten ließ. Doch der Anblick des blauen Himmels hob ihre Stimmung, und Charity war froh, aus der Stadt herauszukommen. An einer Straßenkreuzung hielt sie an und überlegte, ob sie noch weiter fahren sollte oder besser umkehrte. Heute war Premiere eines neuen Stückes, und sie musste sich noch vorbereiten.

Während sie hin und her überlegte, kam ihr ein Hausierer mit einem schwer beladenen Esel entgegen. Charity lenkte ihren Einspänner ein Stück zur Seite, um den fliegenden Händler vorbeizulassen.

Der Mann tippte mit dem Finger an den Hut und sah sie aus hellen Knopfaugen neugierig an.

„Guten Tag, Missus. Haben Sie sich verfahren?“

„Nein“, antwortete Charity in munterem Ton. „Ich schaue mich in der Gegend um und überlege noch, welchen Weg ich nehmen soll.“

„Ja, dann ist es ja gut. Vermute, Sie kommen aus Allingford.“ Der Hausierer schob seinen Hut in den Nacken, um sich am Kopf zu kratzen. „Wenn Sie die Straße nach rechts nehmen, kommen Sie nach Kirby Misperton. Der Weg nach links geht nach Great Habton. Und die Straße da …“ Er zeigte auf einen breiten Weg, an dem links und rechts ein Graben entlangführte, „…sieht am besten aus, aber da kommen Sie nur nach Wheelston Hall.“

„Danke. Sie haben mir sehr geholfen.“

Der Hausierer grinste mit zahnlosem Mund, tippte wieder an seinen Hut und wanderte weiter. Charity fragte sich, welchen Weg sie nehmen sollte. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bevor sie heimfahren musste. Wheelston … Sie zog nachdenklich die Brauen zusammen. Wo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört?

Dann fiel ihr der schweigsame Fremde ein, der bei dem Empfang am Premierenabend dabei gewesen war. Ross Durden. Er hatte gesagt, er wohne in Wheelston. Von den drei Wegen war der nach Wheelston der breiteste und sah am besten aus, obwohl die Gräben überwuchert und die Hecken ungeschnitten waren. Lady Beverleys Worte kamen ihr in den Sinn. Irgendein Geheimnis umgab Mr Durden. Sie setzte den Einspänner in Bewegung.

Du kannst nicht einfach unangemeldet bei jemandem vorfahren, nur weil du neugierig bist!

Charity ignorierte die schockierte Stimme ihres Gewissens. Sie war aufgebrochen, um die Gegend zu erkunden, also warum sollte sie nicht diese Straße nehmen?

Nach ungefähr einer halben Meile wünschte sie sich, auf ihr Gewissen gehört zu haben. Dicke Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, die Luft war empfindlich kalt geworden, und der Wind fuhr eisig durch ihren pelzbesetzten Umhang. Die verwilderten Hecken versperrten ihr die Sicht, und die Straße war so schmal, dass sie ihr Gefährt nicht wenden konnte.

„Ich wende, sobald es geht“, sagte sie so laut, dass das Pony die Ohren spitzte. Doch keine geeignete Stelle kam in Sicht, und so war sie gezwungen, noch um die nächste Kurve zu fahren, hinter der sie sich plötzlich in der Auffahrt zu einem ansehnlichen Anwesen wiederfand. Wheelston Hall.

Es war ein weitläufiges Gebäude aus grauem Stein mit vielen Giebeln und einem einfachen Säulenvorbau über der breiten Eingangstür. Eine gekurvte Auffahrt, die tiefe Fahrrillen aufwies und mit Unkraut überwachsen war, führte entlang der Vorderseite des Hauses zum Eingang. Ohne auf Charitys Befehl zu warten, bog das Pony auf einen schmaleren Weg ab, der seitlich um das Haus herumführte und besser gepflegt war.

Charity gelangte auf einen breiten, gepflasterten Hof. An dessen entferntem Ende hackte ein Mann Holz, aber er stand mit dem Rücken zu ihr und hatte ihre Gegenwart noch nicht bemerkt. Seine Größe allerdings und das gelockte schwarze Haar ließen sie vermuten, dass es sich um Mr Durden handelte. Trotz des eiskalten Windes trug er nur ein Hemd, Wildlederhosen und Stiefel. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und entblößten seine muskulösen Arme.

Er griff sich ein großes Eschenscheit und stellte es auf den Hackklotz. Dann hob er die Axt hoch über den Kopf und ließ sie mit kraftvollem Schwung auf das Holzstück krachen. Charity war beeindruckt von der geschmeidigen Eleganz seiner Bewegung und der Haltung der Beine und Hüften. Das weiße Hemd blähte sich im Wind, die Klinge der Axt blitzte, als sie in hohem Bogen durch die Luft sauste, und dann zersplitterte das Scheit mit einem befriedigenden Krachen, und die Holzstücke fielen herab auf die Pflastersteine. Eines der Bruchstücke rollte hinter ihn, und als er es aufheben wollte, fiel sein Blick auf das Gig. Langsam straffte er sich und drehte sich um. Er warf das Scheit in den Korb und kam auf sie zu.

Einen kurzen Augenblick überlegte Charity, ob sie fliehen sollte, doch sie bekämpfte ihre aufsteigende Panik. Es wäre nicht nur feige von ihr, sie würde es auch nicht schaffen, das Gig schnell genug zu wenden. Ross Durden sah irgendwie größer aus, ungezähmt und verwegen. Weit weniger zivilisiert als an dem Abend im Theater.

Irgendeine andere Erinnerung regte sich in ihrem Bewusstsein, doch sie bekam sie nicht zu fassen.

„Mrs Weston.“

Die Worte äußerte er mit einer so tiefen Stimme, dass sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken ausbreitete.

„Mr Durden. Ich … habe eine Erkundungsfahrt gemacht und zufällig die Straße zu Ihrem Anwesen genommen.“ Sie lächelte freundlich, doch der schroffe, abweisende Ausdruck in seinem tief gebräunten Gesicht änderte sich nicht.

Törichtes Mädchen. Du hättest nicht herkommen sollen.

Sie nahm die Zügel auf. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören …“

Er streckte die Hand aus und griff nach dem Halfter des Ponys.

„Sie stören nicht, aber Allingford ist ziemlich weit von hier entfernt.“

Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken. Gerade hatte er ihr bewiesen, wie schutzlos sie war.

„Ihnen ist kalt“, sagte er ruhig. „Vielleicht möchten Sie hereinkommen und sich am Feuer wärmen?“

Nein! Daran darf ich nicht einmal denken. Genauso gut könnte ich in einen Tigerkäfig steigen.

Autor

Christine Merrill

Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...

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