Historical Saison Band 62

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IM BANN DES STOLZEN PRINZEN von SCOTT, BRONWYN
Eine Schönheit, die alle englischen Ladys in den Schatten stellt! Prinz Nikolai spürt genau, die betörende Klara Grigorieva ist so widerspenstig wie gefährlich. Sie zu zähmen wird ihm eine Freude sein. Doch Klara küsst genauso stürmisch wie er, und plötzlich steht nicht nur sein Leben auf dem Spiel, sondern auch sein Herz …

DER PRINZ UND DIE WIDERSPENSTIGE LADY von SCOTT, BRONWYN
Für Prinz Illarion steht fest: Lady Dove ist seine neue Muse! Ihre Widerworte inspirieren ihn, und je öfter sie sich sehen, desto stärker begehrt er sie! Doch dass er die schöne Debütantin umwirbt, bringt seine Feinde zur Weißglut. Um sich zu retten, muss er ins Exil. Oder soll er bleiben, um für seine Lady zu kämpfen?


  • Erscheinungstag 19.03.2019
  • Bandnummer 62
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737368
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bronwyn Scott

HISTORICAL SAISON BAND 62

1. KAPITEL

London – Spätwinter, 1823

Der heilige Apostel Johannes irrte sich sehr, was das Ende der Welt anging. Prinz Nikolay Baklanov war in der letzten halben Stunde eine ganz andere Offenbarung zuteilgeworden. Die vier Reiter der Apokalypse waren keine mit Schwertern bewaffnete Männer, sondern vielmehr vier junge Damen, deren Schrecken erregende, kuppelnde Mütter selbst jedem erfahrenen Krieger das Fürchten hätten beibringen können. Er war davon überzeugt, dass sein ganz persönlicher Teil dieser Welt nicht durch Krieg oder Seuchen zerstört werden würde, sondern durch das Niedertrampeln seiner Geduld, während er sich mit ansehen musste, wie besagte Mädchen jeden Donnerstag die Mäuler der Pferde malträtierten und seine oft wiederholten Anweisungen ignorierten. Scharf rief er Miss Ransome zum dritten Mal zu, bei ihren Runden doch bitte die Ecken auszureiten.

„Die Fersen tief halten, Miss Edgars, sonst werden Sie beim geringsten Ruck vom Pferd geworfen! Miss Kenmore, denken Sie an die Linke-Schulter-Regel, es sei denn, Sie möchten mit Miss Ransome zusammenprallen!“ Er stand im Zentrum des Reitplatzes von Fozard’s, einer der erlesensten Londoner Reitschulen. Allerdings waren die Reitkünste der vier jungen Damen, die um ihn herumtrabten, alles andere als erlesen.

Jetzt waren es jedoch nur drei.

„Miss Calhoun, wieso um Himmels willen sind Sie stehen geblieben?“

„Mein Pferd ist stehen geblieben, nicht ich.“ Das verzogene Gör warf die glänzenden Locken unter ihrem teuren Zylinderhut zurück und bedachte Nikolay mit einem Schmollmund, den sie zweifellos öfter trainiert hatte als das Reiten.

Sie sind hier die Herrin, Miss Calhoun.“ Nikolay klammerte sich an die letzten Reste seiner Geduld. Der Unterricht würde ja wohl hoffentlich gleich vorbei sein. Danach kam die letzte Stunde für heute. Wer hätte je geahnt, dass es schwieriger sein würde, vier Mädchen das Reiten beizubringen, als ein gesamtes Regiment zu befehligen?

„Aber …“, begann Miss Calhoun zu quengeln.

Sie wagte es, mit ihm zu streiten? Mit einem Prinzen von Kuban? Einem Mann, der die Kubanische Kavallerie ausgebildet hatte? Einem exzellenten Reiter wie ihm? Nikolay hob gereizt die Stimme. „Kein Aber, Miss Calhoun. Setzen Sie Ihr Pferd in Bewegung, sonst tue ich es für Sie!“ Seiner Drohung folgte ein entsetztes Murmeln von den Rängen der Zuschauer, wo die Mütter und Zofen der Mädchen ihre Aufgabe als wachsame Anstandsdamen erfüllten. Er wusste, was sie sich zutuschelten – ob es ratsam sei, ihn für seinen scharfen Ton zu tadeln, wenn sie dadurch womöglich seinen Zorn erregen würden.

Nikolay machte sich nichts vor. Das war der einzige Grund, weswegen sie hier waren – um seine Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erringen. Jede einzelne dieser wohlerzogenen Töchter der englischen Aristokratie war hier, um einen ausländischen Prinzen für sich zu gewinnen, selbst wenn es sich nur um einen in Ungnade gefallenen Prinzen handelte, der aus einem Land stammte, von dem die meisten von ihnen nicht einmal gehört hatten. Und obwohl er nicht im Traum daran dachte, irgendeine von ihnen zu nehmen. Er war seit Weihnachten in London, also seit zwei Monaten, und seitdem war die Nachfrage bei Fozard’s ständig gestiegen – was besonders deswegen bemerkenswert war, da der größte Teil der Londoner Gesellschaft sich noch auf dem Land aufhielt. Die Unruhe in den Rängen legte sich. Die Mamas hatten beschlossen, seinen unhöflichen Ton zu ignorieren.

„Schön, meine Damen, das reicht für heute. Führen Sie Ihre Pferde zum Stall und übergeben Sie sie den Pferdeburschen.“ Er ging mit langen Schritten auf den Ausgang zu. Wenn es ihm gelang, schnell genug zu verschwinden, würde er ein höfliches Geplauder mit den Mamas vermeiden können. Er hielt auf den privaten Salon der Reitlehrer zu, schlüpfte hinein und atmete auf. Endlich lief heute auch einmal etwas, wie er es wollte.

„Hallo, Nik. Wie ich sehe, haben Sie die Vier Amazonen überlebt.“ Peter Crenshaw, einer der anderen Lehrer, sah vom Säubern eines Halfters auf.

„Nur knapp. Noch eine Stunde, dann bin ich für heute fertig.“ Fertig mit dem heutigen Tag, der übel begonnen hatte und danach nur noch schlimmer geworden war. Es hatte damit angefangen, dass Lady Marwood ihm einen Schlüssel mit einer Nachricht in die Tasche gesteckt hatte, in der sie ihm deutlich mitteilte, dass sie sehr viel mehr daran interessiert war, ihn zu reiten als die hübsche rotbraune Stute, die ihr völlig in sie vernarrter, älterer Ehemann letzte Woche bei Tattersall’s für sie erstanden hatte. Und mit den vier Reiterinnen seiner ganz persönlichen Apokalypse hatte es geendet.

Peter warf ihm einen scheelen Blick zu. „Sie können doch einfach gehen. Sie brauchen sich weder mit den Mädchen abzugeben noch mit sonst irgendetwas.“ Nikolay entging nicht der neidische Ton in Peters Stimme. Peter musste arbeiten, da er Offizier auf Halbsold in einer Armee war, die nirgendwo eingesetzt wurde, und von seinem Einkommen als Lehrer leben musste.

Nikolay zuckte mit den Schultern. „Was würde ich mit meiner Zeit anfangen, wenn ich nicht hierherkäme?“ Auch er musste arbeiten, wenn auch vielleicht aus einem anderen Grund als Peter. Vor einem Jahr war er ein hochrangiger Offizier der kubanischen Armee gewesen. Er hatte seine Tage auf den Exerzierplätzen der Kavallerie zugebracht und Manöver geleitet. An seinen Abenden hatte er auf Bällen im Palast mit den schönsten Frauen verkehrt, die Kuban zu bieten hatte – hatte mit ihnen getanzt, geflirtet und ein oder zwei Affären mit ihnen begonnen, wenn ihm der Sinn danach stand. Gewiss, auch jetzt noch verbrachte er seine Nächte auf diversen Gesellschaften. London, wenn die Saison auch noch nicht begonnen hatte, unterschied sich gar nicht so sehr von Kubans glanzvollem Hof, und auch hier gab es viele Frauen, die gern bereit waren, die körperliche Liebe zu genießen – und zwar wie er es vorzog, ohne Bindungen. Aber seine Tage wollten einfach nicht vorübergehen.

So wie er es von seiner Zeit als Offizier gewohnt war, war er anfänglich morgens immer früh aufgestanden, hatte aber rasch feststellen müssen, dass die Gentlemen in London ihr Bett nur selten vor elf Uhr verließen. Also hatte Nikolay begonnen, in den Straßen und Parks spazieren zu gehen und zuzusehen, wie die Stadt langsam erwachte. Später hatte er meist einige Stunden damit zugebracht, Rechnungen zu begleichen, sich eine Mitgliedschaft in den Klubs zu verschaffen und seine Pferde zu versorgen. Doch all das war bald und ohne besondere Mühe erledigt gewesen. An den ersten Nachmittagen hatten er und seine Kameraden aus Kuban, Freunde, die mit ihm geflohen waren, sich die Stadt angesehen. Doch als auch das getan war und sein Leben in London hätte beginnen können? Was hatte es dann noch für ihn zu tun gegeben?

Nikolay hatte nichts mit sich anzufangen gewusst. Es wunderte ihn gar nicht mehr, dass die englischen Gentlemen erst so spät aufstanden. Es gab nichts zu tun, nichts, worauf man sich freuen konnte. Dann hatte er Fozard’s Reitschule entdeckt, einen Ort, an dem es Pferde gab und wo er gefragt war – in gewisser Hinsicht. Denn er war ein Ausbilder für disziplinierte Männer, nicht für verzogene junge Damen. Bis er sich jedoch überlegt hatte, wer er in diesem neuen Leben sein wollte, würde es ihm genügen müssen. Es war eine Frage, die ihn nicht wenig quälte. Nun war er bereits ein Jahr in London und hatte noch immer keine Antwort darauf gefunden. Seine Hoffnung, eine eigene Reitschule zu eröffnen, hatte sich leider zerschlagen.

Jetzt konzentrierte er sich erst einmal auf den Ordner, in dem Informationen über seine nächste Schülerin standen. Er überflog den Inhalt einmal und dann noch einmal etwas langsamer, sorgfältiger, und runzelte die Stirn, als er den Namen las – Miss Klara Grigorieva, die Tochter eines Diplomaten. Selbstverständlich wieder eine junge Dame, denn heute schien das Glück ihm einfach nicht hold zu sein. Er konnte sich vorstellen, wie ungeschickt sie sich beim Reiten anstellen würde. Töchter von Diplomaten wussten, wie man einen Tee und eine Abendveranstaltung gab. Sie sprachen vielleicht auch eine oder zwei Fremdsprachen, um sich bei Gesellschaften über diverse Themen unterhalten zu können. Aber sie waren keine guten Reiterinnen. Das war es allerdings nicht allein, was ihn beunruhigte. Es war die Tatsache, dass sie ein russisches Mädchen war. Klara Grigorieva war die Tochter des russischen Botschafters, was wahrscheinlich erklärte, warum man sie ausgerechnet ihm anvertraut hatte. Was Fozard’s allerdings nicht ahnen konnte, war das Misstrauen, das eine solche Begegnung in Nikolay weckte. Was steckte dahinter? Hatte man sie geschickt, um ihn aufzuspüren? Hatte Kuban also doch noch begonnen, Jagd auf ihn zu machen? Er schloss den Ordner mit einem Knall. Jedenfalls würde er keine Antworten auf seine Fragen bekommen, wenn er noch länger hierblieb. Es war vier Uhr. Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.

Nur konnte er seine neue Schülerin leider nicht finden. Sie war nicht im Wartebereich oder bei den Pferden, um sie zu streicheln. Wenn das so weiterging, würden sie ihren Unterricht verspätet beginnen. Und als wäre das nicht genug gewesen, befand sich bereits jemand auf dem Reitplatz. Seine Kollegen mussten doch wissen, dass er noch eine Stunde zu geben hatte und der Platz erst dann den anderen Lehrern für ihre persönliche Arbeit zur Verfügung stand.

Nikolay ging entschlossen auf den Platz zu, um den Eindringling zur Rede zu stellen, da blieb er abrupt stehen. Wer immer der Lehrer war, er ritt vorzüglich – fester Sitz, gerader Rücken, Ellbogen angelehnt. Der Reiter trieb sein Pferd zu einem leichten Galopp an, indem er kaum merklich Hände und Knie einsetzte. Nikolay folgte seiner Bahn zum Hindernis in der Mitte des Platzes – einem Hindernis, das bisher rein dekorativ herumgestanden hatte. Nikolays Schülerinnen jedenfalls strebten nicht danach, es jemals auszuprobieren. Es war hoch genug, um eine Herausforderung darzustellen, und ein Reiter musste wissen, was er tat, um es bewältigen zu können. Dieser Reiter flog mit großer Leichtigkeit darüber hinweg. Das Pferd hatte nicht die geringste Mühe, und jetzt sah Nikolay, dass es keins der Schulpferde war. Also war der Reiter auch keiner der Lehrer. Wer war es also?

Der Reiter machte kehrt, um von der anderen Seite noch einmal über das Hindernis zu setzen, und so hatte Nikolay zum ersten Mal die Gelegenheit, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen – hohe Wangenknochen, schmales Kinn, fast weiblich wirkend unter seinem Helm, und die grünen Augen konzentriert auf das Hindernis gerichtet. Nikolay konnte nicht sicher sein, ob der Reiter ihn bemerkt hatte. Das Pferd und sein Reiter brachten den Sprung ohne Probleme hinter sich und kamen vor Nikolay am Tor des Platzes zum Stehen.

Der Reiter nahm den Helm ab und schüttelte eine Flut kastanienbrauner Locken aus. Der Reiter war eine Frau, deren sinnliche Lippen sich zu einem nicht sehr freundlichen Lächeln verzogen hatten. „Nikolay Baklanov, vermute ich?“ Wieder warf sie das glänzende Haar zurück. „Sie haben sich verspätet.“

„Und Sie reiten ohne Erlaubnis oder Aufsicht. Klara Grigorieva, wie ich vermute?“, konterte Nikolay. Am besten begann er die Bekanntschaft mit dieser anmaßenden jungen Dame so, wie er sie fortzusetzen gedachte. Nikolay musterte seine neueste Schülerin von Kopf bis Fuß. „Sie sind die Tochter des russischen Botschafters?“

Sie schwang sich vom Pferd. „Ja, die bin ich, und das ist meine Stute Zvezda.“ Sie lächelte breit. „Überrascht? Das hätten Sie nicht erwartet, oder?“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Sie war sehr hochgewachsen für eine Frau, was noch betont wurde dadurch, dass sie männliche Reitkleidung trug und die langen Beine und die schmale Taille besonders gut zur Geltung kamen. Das Haar reichte ihr fast bis zur Taille, und ihr Gesicht musste das der Schönen Helena gleichkommen mit den leicht schrägen Augen, den schmalen dunklen Brauen und den hohen Wangenknochen ihrer russischen Ahnen und dem zarten Kinn einer englischen Dame. Es war die vollkommene Kombination von exotischer Stärke und lieblicher Weiblichkeit.

„Nein, ganz und gar nicht“, wiederholte sie spöttisch. „Und was soll das heißen? Nein, überhaupt nicht überrascht? Oder nein, ganz und gar nicht, was Sie erwartet haben?“

Nikolay legte eine Hand an das Zaumzeug des Pferdes. „Sie wissen sehr gut, dass Sie mir gegenüber im Vorteil waren.“ Allerdings hatte er nicht vor, es dabei zu belassen. Verwegene Frauen waren nur bis zu einem bestimmten Punkt attraktiv. „Ich glaube, es gefällt Ihnen, die Menschen zu überrumpeln, Miss Grigorieva.“ Sehr interessant – die Tochter des Botschafters hatte also einen Hang zur Widerspenstigkeit. Er tätschelte das Pferd. „Zvezda, das heißt Stern auf Russisch.“ Ihm entging das Aufblitzen ihrer Augen nicht. Sie hatte es nicht gewusst. Interessant. „Hübscher Name. Hübsches Pferd.“ Die Stute war ein großartiges Exemplar eines englischen Pferdes. Ein russischer Name für ein englisches Pferd, genauso wie die Tochter offenbar Engländerin war, aber einen russischen Namen trug. Wobei der Name Klara in beiden Welten benutzt wurde, im Gegensatz zu Grigorieva.

„Warum sind Sie zu mir gekommen, Miss Grigorieva?“ Sein Blick war herausfordernd. Er ließ keinen Zweifel daran, was seine Worte bedeuteten. Wenn sie mit dem Feuer spielen wollte, war er nur allzu gern bereit, es zu entzünden.

„Um Reitunterricht zu bekommen, selbstverständlich. Das hier ist doch eine Reitschule, oder?“

„Sie können bereits vorzüglich reiten, wie Sie sehr wohl wissen.“

„Ich habe gehört, Sie seien der Beste. Ist das nicht Grund genug?“

„Der Beste worin?“ Auch diese Frage war herausfordernd und kaum etwas, was man zu einer unverheirateten jungen Dame sagte. Doch sie war keine gewöhnliche junge Dame. Zum Beispiel ritt sie nicht in einem Reitkostüm, sondern in Reithosen.

„Im Reiten“, antwortete sie und ließ vielsagend die Augenbrauen in die Höhe schnellen. Sie hob den Arm, um den Sattel zu packen. „Helfen Sie mir bitte hinauf?“

Touché. Zweifellos, damit ich sie besser sehen kann, dachte Nikolay trocken. Er hielt die Hände zusammen, und sie stellte ihren Stiefel hinein und ließ sich hochstemmen. Nikolay war sich der Rundungen ihrer Hüften nur allzu deutlich bewusst. Einen Moment war er ihrem perfekt geformten Gesäß so nah, dass er es hätte küssen können. Doch er entschied sich für professionelle Distanziertheit. „Lassen Sie uns den Sprung noch einmal probieren. Jeder kann springen, wenn er mutig genug ist“, sagte er. „Aber nicht jeder kann dabei die Schritte zählen. Das ist die wahre Kunst. Gehen Sie das Hindernis in fünf Schritten an.“ Nikolay zog mit dem Stiefel eine Linie in die Erde. „Von hier.“

„Ich nehme ihn in vier Schritten.“ Sie befestigte ihre Kappe.

„Ich habe Sie um fünf gebeten“, erwiderte Nikolay streng. Für einen solchen Ungehorsam hätte er jeden seiner Soldaten auspeitschen lassen. „Wenn Sie bei mir lernen wollen, erwarte ich, dass Sie ebenso wie Ihr Pferd Anweisungen von mir entgegennehmen, Miss Grigorieva. Können Sie sich dazu überwinden?“

Sie riss die weiße Stute dramatisch herum, doch nicht bevor Nikolay die Röte in ihren Wangen bemerkt hatte. So, so, Miss Grigorieva war es nicht gewohnt, gemaßregelt zu werden. Offenbar war eher die Regel, dass andere Leute taten, was sie wollte, und nicht umgekehrt. Sie nahm das Hindernis in fünf Schritten, aber der fünfte erfolgte hastig vor dem Sprung, weil sie zu schnell begonnen hatte. „Noch einmal, Miss Grigorieva! Dieses Mal mit fünf gleichmäßigen Schritten, damit es so aussieht, als hätten Sie es auch so geplant.“

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, und Nikolay lachte leise. Je wilder die Stute, desto besser der Ritt. Er würde es genießen, die Tochter des Diplomaten zu zähmen, wenn er es auch wohl bereuen würde. „Fersen nach unten, Miss Grigorieva. Versuchen wir es noch einmal.“ London war gerade eben interessanter geworden – wenn nicht sogar gefährlicher.

2. KAPITEL

Die Fersen nach unten? Wollte er sich über sie lustig machen? Seit Jahren hatte das keiner mehr zu ihr gesagt. Sie war schließlich keine Anfängerin, aber widerwillig musste sie zugeben, dass sie die Stellung in den Steigbügeln tatsächlich ein wenig korrigieren konnte. Klara wendete Zvezda. Fünf gleichmäßige Schritte. Sie würde diesem hochmütigen russischen Prinzen zeigen, was Vollkommenheit bedeutete. Fersen nach unten. Pah! Das war das letzte Mal, dass sie ihm Grund geben würde, sie zu kritisieren.

Sie arbeiteten den größten Teil der ersten Stunde daran, die Schritte abzuzählen, bis die Stute müde war, aber nicht zu müde, nicht zu verschwitzt. Verschwitzte Pferde konnten sich im Winter leicht verkühlen. Nikolay Baklanov hatte einen guten Blick nicht nur für Pferde, sondern auch für ihre Reiter. Seine Arroganz war wohlverdient, und er wurde seinem Ruf wirklich gerecht. Trotz ihrer Erfahrung lernte Klara ein oder zwei Dinge in seinem Unterricht. Damit hatte sie nicht gerechnet, allerdings war das auch nur einer der Gründe ihres Hierseins. Der andere war ihre Absicht, den jungen Kubaner in Augenschein zu nehmen. Der Prinz war seit zwei Monaten in London, lange genug, um den Botschafter aufzusuchen. Da er es jedoch nicht getan hatte, war sie von ihrem Vater geschickt worden. Sie sollte den Prinzen Baklanov kennenlernen und seinen „Wert“ feststellen.

Klara stieg vom Pferd und führte es so lange am Zügel, bis sein Fell getrocknet war. Neben ihr ging der Prinz und gab ihr Anweisungen, was sie bis zur nächsten Stunde üben sollte. Er war sehr groß, etwas ganz Neues für Klara, denn meistens konnte sie den Männern in die Augen sehen, doch Baklanov reichte sie nur bis zu den Schultern – zu den sehr breiten Schultern. Es war offensichtlich, was für ein großartiger Reiter er sein musste, und er war fürs Reiten gemacht mit seinen langen Beinen, den muskulösen Schenkeln und schmalen Hüften. Er wirkte überaus stark und gebieterisch.

Dieser Mann hatte nichts gemein mit einem Kavallerieoffizier, dessen Stellung und Geschick ihm von seinen Eltern vermacht worden war. Der Prinz war ein Krieger, was auch die Tatsache bewies, dass er sein Haar schulterlang trug. Und dann dieses feste Kinn und die strengen, markanten Gesichtszüge. Eine Frau könnte dieses Gesicht stundenlang ansehen und sich in den Tiefen dieser geheimnisvollen Augen verlieren. Er war ein Mann, der sowohl Männern als auch Frauen gefährlich werden konnte – als Krieger für die einen und als Liebhaber für die anderen. Und gewiss würde sich ein solcher Mann ungern manipulieren lassen.

„Halten Sie sich hier ein eigenes Pferd?“, fragte sie, nachdem er seine Anweisungen erteilt hatte. Männer sprachen sehr gern von sich, und ein derartiges Gespräch war immer nützlich für sie. Genau deswegen war sie auch gekommen. Um mit Prinz Baklanov ein nützliches Gespräch zu führen. Männer gaben beim Reden ständig etwas preis, mit Worten, wenn sie Glück hatte, aber auch auf andere, unterschwellige Weise. Mit dem Ton ihrer Stimme, durch ihre Gesten und ihre Haltung.

„Ich halte mir sogar drei.“ Er lächelte bei der Erwähnung seiner Pferde, und das veränderte sein Gesicht vollkommen, verwandelte das beherrschte Gesicht eines Kriegers in das eines atemberaubend attraktiven Mannes. Zvezda war trocken, und sie führten sie auf einen der Ställe zu. „Da drüben stehen sie.“ Er nickte nach links und holte eine Leckerei aus der Jackentasche, als sie die erste Box erreichten. „Das ist Cossack. Er stammt von einem russischen Don ab. Ein Hengst.“

„Er muss Ihr Kavalleriepferd sein.“ Klara bewunderte den muskulösen Braunen mit seinem glänzenden Fell. „Er ist großartig“, sagte sie und stellte bei einem raschen Seitenblick auf den Prinzen fest, dass ihr Wissen ihn überraschte.

„Ja. Ich ließ ihn nicht zurück, als ich Kuban verließ.“ Sie hörte die Sehnsucht in seiner Stimme. Vielleicht hätte er es vorgezogen, in Kuban zu bleiben? Der Prinz ging zur nächsten Box weiter. „Das ist Balkan, mein anderer Hengst.“ Er strich liebevoll über den Hals eines so dunklen Pferdes, dass man es fast als schwarz hätte bezeichnen können.

„Lassen Sie mich raten.“ Klara bemerkte den kurzen Rücken und die Höhe des Widerrists. „Er ist ein Kabardiner, vielleicht ein Karachai.“

„Sehr gut!“ Er zeigte wieder sein hinreißendes Lächeln. „Sie wissen also doch ein bisschen über die Heimat.“

Sie senkte verlegen den Blick. „Ich weiß etwas über Pferde und die verschiedenen Rassen“, korrigierte sie ihn und führte Zvezda in ihre Box. Sie griff nach der Decke, die über der Stalltür hing. „Wie haben Sie es erraten?“

Der Prinz lehnte an der Wand vor der Box, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick gelassen auf ihr ruhend, während sie die Decke auf Zvezdas Rücken legte. „Sie wussten nicht, was der Name Ihres Pferdes auf Russisch heißt. Sie sprechen also kein Russisch, also vermute ich, dass Ihre Mutter Engländerin ist.“ Er stieß sich von der Wand ab und trat in die Box, um die Bänder der Decke vor der Brust der Stute zusammenzubinden. „Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Sie niemals in Russland gelebt haben.“

„Da haben Sie fast recht.“ Sie hielt inne. Was würde dieser Prinz von einer Frau halten, die nichts über ihr Erbe wusste? „Ich bin nicht mehr dort gewesen, seit ich ein kleines Mädchen war. Es stimmt, ich erinnere mich nicht an sehr viel. Wir lebten drei Jahre lang in Sankt Petersburg, als ich vier war. Den Sommer verbrachten wir auf einem Gut in der Nähe von Peterhof. So wurde es mir erzählt. Woran ich mich erinnere, sind die Wiesen und dass das Gras ebenso hoch war wie ich, und ich den Wind hindurchwehen hören konnte.“ Sie liebte diese Erinnerungen. Stundenlang hatte sie im Gras gelegen und zum Himmel hinaufgeblickt, glücklich und nicht ahnend, wie traurig der Aufenthalt in Sankt Petersburg enden würde.

Damals hatte ihr niemand besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Erst später hatte sie verstanden, warum das so war. Doch in jenen Tagen war sie zufrieden. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, und tun, was sie wollte, und erlebte großartige Abenteuer. Die Rückkehr nach England hatte das Ende jener Abenteuer bedeutet. Wenn sie nicht ihre Pferde gehabt hätte, wäre sie vielleicht verrückt geworden. In England drehte sich ihr Leben um Hauslehrer, danach um Privatschulen – nur das Beste für ein Mädchen, das dazu erzogen werden sollte, einen Duke zu heiraten und eine vollkommene Engländerin zu werden. Ihre russische Herkunft war dabei nur dann von Interesse, wenn man sie zur Schau stellen konnte wie einen Zaubertrick, den man vorführte. Dieser Hauch von Exotik war reizvoll, durfte aber keine allzu große Rolle spielen. In diesem Punkt hatte sie jedoch nicht mit ihrem Vater übereingestimmt. Sie wollte mehr über ihr russisches Erbe erfahren, hungerte regelrecht danach, obwohl Vater am Sterbebett ihrer Mutter versprochen hatte, eine kleine englische Rose aus ihrer Tochter zu machen.

„Sankt Petersburg ist sehr weit entfernt von den Steppen Kubans“, sagte der Prinz ausdruckslos, und Klara beschlich das Gefühl, dass er ihr ins Herz gesehen hatte. Was hatte sie über sich preisgegeben?

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Wir können nicht alle patriotische Kavallerieoffiziere sein.“

Ihr Versuch schlug fehl. Seine Miene blieb ausdruckslos. „Wer hat etwas von patriotisch gesagt? Kommen Sie, Sie haben mein anderes Pferd noch nicht gesehen. Sie ist eine Cleveland-Stute. Ich kaufte sie, als ich hier ankam, und hoffe, sie von meinem Kabardiner-Hengst decken zu lassen.“

Klara entging nicht, dass er das Thema gewechselt hatte. Ihre Bemerkung über Patriotismus hatte ihm nicht behagt. Sie musste zufällig einen empfindlichen Punkt getroffen haben. Während sie sich scheinbar gelassen über Stuten und Pferde im Allgemeinen unterhielten, spürte Klara doch, dass sie beide jetzt auf der Hut waren, um dem jeweils anderen nicht zu viel zu enthüllen. Ihr war es peinlich, dass er schon bei ihrem ersten Zusammentreffen ihren Mangel an Wissen über ihre alte Heimat aufgedeckt hatte. Würde er ebenso angewidert sein wie sie, wenn er die Gründe erfuhr – dass man sie dazu herangezogen hatte, eine teure Schachfigur in einem gefährlichen Spiel zu sein, dem sie nicht entgehen konnte? Würde es ihn überhaupt interessieren? So starke Gefühle setzten ein Interesse voraus, doch er war lediglich ihr Reitlehrer, mehr nicht. Aber was verbarg er vor ihr? Und warum? In jedem Fall schien es etwas zu geben, das er niemandem anvertrauen wollte, genau wie ihr Vater vermutete.

Ein Stallbursche kam heran, um die Ankunft der Kutsche ihres Vaters mitzuteilen. Nikolay nickte knapp. „Zeit, do svidaniya zu sagen, Miss Grigorieva.“ Er beugte sich leicht vor, sodass sie den Duft nach Mann und Pferd wahrnahm, der von ihm ausging, kein unangenehmes Aroma für eine Frau, die Pferde jedem herausgeputzten Gecken des ton bei Weitem vorzog. „Das bedeutet: Bis wir uns wiedersehen.“

„Was macht Sie so sicher, dass ich zurückkommen werde?“, erwiderte sie mit leiser Stimme. Sie flirtete mit ihm, so wie er es mit ihr tat, mit mehrdeutigen Worten und tiefen Blicken.

„Sie haben nicht bekommen, weswegen Sie gekommen sind, Miss Grigorieva. Also werde ich Sie wiedersehen. Möchten Sie bis zum nächsten Donnerstag warten, oder wäre ihnen eher lieber? Am Montag habe ich noch eine Stunde frei.“

„Montag? Das sind ja noch drei Tage“, parierte sie seine Herausforderung mit einer Kühnheit, die sie nicht wirklich empfand. Dieser Mann brachte sie viel zu leicht aus dem Gleichgewicht. Was glaubte er, worauf sie aus war? Sie wusste es doch selbst kaum. „Wie wäre es mit Samstag im Park? Lassen Sie uns ausreiten. Holen Sie mich um zwei Uhr ab.“ Sie hielt inne. „Es sei denn, der Gedanke beunruhigt Sie, ich könnte bekommen, was ich haben will.“

Er lächelte amüsiert. Zu Klaras Erstaunen erschauerte sie am ganzen Leib, obwohl sie arrogante Männer doch sonst unerträglich fand. Er schien eine Ausnahme zu sein. „Ich bin es nicht, der sich Sorgen machen sollte, Miss Grigorieva. Also zwei Uhr am Samstag.“

„Du solltest dir aber Sorgen machen, Nik. Mir gefällt das alles nicht“, meinte Stepan am selben Abend. Alle vier – Illarion, Ruslan, Stepan und Nikolay – hatten das Mahl beendet und genossen ihren Wodka, eine Probe von Stepans selbstgebranntem Wodka, Samogon. Jeden Abend setzten sie sich auf ein Glas zusammen, in dem Versuch, ein Stück ihres alten Lebens in Kuban wiederaufleben zu lassen, was ihnen in dieser neuen Welt, in der sie sich noch nicht zurechtfanden, ein wenig Trost gab.

Nikolay schob sein Glas dem Freund zum Nachfüllen hin. Klara Grigorieva hatte ihn auf verschiedene Weise beunruhigt, vor allem als Frau – und das war ihm nicht mehr geschehen, seit er Kuban verlassen hatte. Eigentlich hatte er gedacht, dass sein letzter, fast tödlicher Zusammenstoß mit einer Frau ihm ein für alle Mal die Augen geöffnet hätte für die Tücken des weiblichen Charmes. Wie es schien, hatte er sich getäuscht. Der Mann in ihm wollte sie erobern, doch der Krieger in ihm riet zur Vorsicht, genau wie Stepan. Im Moment reichte es ihm, die Sache von seinen Freunden diskutieren zu lassen.

Zu seiner Rechten saß Illarion, der Romantiker unter ihnen, und der bat ihn natürlich um Nachsicht. „Vielleicht sind wir einfach zu misstrauisch. Zum einen ist sie ja nicht einmal Russin, zumindest nicht richtig. Sie wurde hier erzogen. Nik sagt, sie spricht nicht einmal unsere Sprache. Also kann ich mir nicht vorstellen, dass ihr Vater sie ins Vertrauen zieht oder sie irgendein Interesse an politischen Dingen hat. Genau wie die meisten dieser englischen Mädchen.“

„Im Gegensatz zu den meisten englischen Mädchen“, warf Stepan ein, „ist ihr Vater jedoch Russe. Und er ist der Botschafter. Es ist seine Aufgabe, die Russen hier in England zu vertreten. Wenn irgendjemand seinem Land gegenüber Loyalität zeigt, dann doch sicher der Botschafter.“

Doch gerade das war ja das Problem. Vielleicht war der Botschafter so loyal, dass er einen abtrünnigen Prinzen, den man für einen Mord an einem Mitglied des Könighauses verantwortlich machte, nach Russland bringen lassen würde.

Das war stets das Risiko gewesen – dass Kuban ihn zur Rechenschaft ziehen wollte und der kubanische Zar sich nicht damit zufriedengeben würde, den größten Unruhestifter außer Landes zu wissen. Nikolay bereute allmählich den Entschluss seiner Freunde, sich nicht genauer über die Situation der Exilrussen hier in London zu informieren. Hin und wieder besuchte Nikolay eine Gaststätte, die gern von Russen aufgesucht wurde, aber das war’s dann auch schon.

Bisher hatte ihre Strategie zwar funktioniert, und sie hatten ein ruhiges Leben führen können, ohne dass selbst der Botschafter ein Interesse an ihnen gezeigt hätte. Doch heute hatte sich das geändert. Es sei denn, Klara war wirklich nicht mehr, als sie vorgab – eine Reitschülerin, ein weiteres englisches Mädchen, das ihre langen, leeren Tage auszufüllen suchte, bis sie endlich verheiratet wurde. Doch diese Vorstellung passte nicht zu der Frau, die er kennengelernt hatte. Nikolays Bauchgefühl hatte ihn vor ihr gewarnt. Andererseits war sie offenbar wirklich eine begeisterte Reitern, so sehr, dass sie sogar so weit gegangen war, ihren Stolz hinunterzuschlucken, als er sie angewiesen hatte, die Stellung ihrer Fersen zu korrigieren oder das Hindernis anders anzugehen. Gewiss, vielleicht hatte sie tatsächlich Unterricht nehmen wollen, aber das war nicht der einzige Grund, weswegen sie gekommen war.

Auf der anderen Seite des Tisches unterstützte der stets diplomatische Ruslan Stepans Rat. „Du musst zugeben, dass es seltsam aussieht. Die Tochter des russischen Botschafters, die bereits eine ausgezeichnete Reiterin ist, kommt zu dir, um sich unterrichten zu lassen? Warum? Ganz besonders, wenn man deine derzeitigen Lebensumstände bedenkt. Wir sind alle vier Exilanten, die hier keinen richtigen Status haben.“

Das stimmte, doch sie mussten ihre Anwesenheit in England als freiwillige Übersiedlung bezeichnen. Nichts allerdings hätte weniger zutreffend sein können. Nikolays Entscheidung, sein Land zu verlassen, war die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, um einer Anklage wegen Mordes zu entgehen. Der Mord wäre als Verrat ausgelegt worden, und Nikolay hätte den Prozess verloren. Er hatte sich häufig über die Zustände im Königreich beschwert – offenbar einmal zu viel. Der Zar hätte dafür gesorgt, dass Nikolay schuldig gesprochen worden wäre, da gab es keinen Zweifel. Oft hatte er sich mit dem traditionstreuen Zaren gestritten, doch das letzte Mal war Blut geflossen. Sein Freund Prinz Dimitri Petrovich, ein Mann, der seinen Titel in Kuban aufgegeben hatte, um eine Frau zu heiraten, die er nach kubanischem Gesetz nicht hätte heiraten dürfen, hatte ihm zu ebendieser Zeit geschrieben und ihn gebeten, seine Schwester nach England zu begleiten. Sofort hatte Nikolay die Gelegenheit ergriffen, sowohl um seinem Freund als auch sich selbst zu helfen.

Dimitris Bitte war zu einem Zeitpunkt erfolgt, da Kuban nicht mehr sicher war für Nikolay, ebenso wenig wie für die anderen drei Männer, die mit ihm am Tisch saßen. Stepan Shevchenko hatte ihm geholfen, aus dem Kerker des Zaren zu fliehen. Illarion Kutejnikov hatte zwar einen Cousin, der in den jüngsten Kriegen bis zum General aufgestiegen war, doch er selbst hatte bisher nur seine Gedichte dazu benutzt, um gegen die Heiratspraktiken von Kuban zu protestieren. Und dann war da noch Ruslan Pisarev, der vielleicht – vielleicht auch nicht – an einem fragwürdigen geheimen Unternehmen beteiligt gewesen war, das Menschen dabei half, das Land zu verlassen. Die Tatsache, dass er alles darüber gewusst hatte, wie man am besten fliehen konnte, sprach für diese Vermutung. Keiner von ihnen konnte sich erlauben, je wieder nach Kuban zurückzukehren, bis auf Ruslan, der eines Tages vielleicht einen Weg finden würde, es doch zu tun.

Doch jetzt waren sie nichts als vier heimatlose Prinzen in einem fremden Land, die auf Kosten von Dimitri lebten. In den ersten Monaten hatten sie bei Dimitri und dessen englischer Frau Evie auf dem Land gelebt. Doch sie hatten ihnen nicht lästig werden wollen, besonders da Evie ihr erstes Kind erwartete. Ihr Freund hatte eine Familie, und es war an der Zeit gewesen, ihnen ein bisschen Privatsphäre zu gönnen. Jetzt wohnten sie in Dimitris Haus in London, und obwohl er sie nicht drängte, wussten sie, dass sie ein eigenes Zuhause finden mussten. Im Moment war es allerdings alles, was sie hatten, was ein völlig ungewohnter Gedanke war für Prinzen, die einst in Palästen und Sommerresidenzen gelebt hatten, in denen es an keinem Komfort gemangelt hatte.

Ehemalige Prinzen, verbesserte Nikolay sich. Prinzen ohne Paläste, ohne Rechte und Heimat – schließlich wussten sie nicht, ob sie jemals in Ruhe gelassen werden würden. War London weit genug entfernt, um sie vor Verfolgung zu schützen? Das war die Frage, die sich auch seine Freunde stellten, das wusste er. War die liebliche, scharfsinnige Klara Grigorieva Vorbotin des Plans, die Prinzen wieder nach Hause zu zerren? Und wenn ja, hatte man sie alle im Visier oder nur ihn? Immerhin war Nikolay der Einzige, gegen den offiziell Anklage erhoben worden war. Bevor er nicht wusste, was genau Miss Grigorieva im Schilde führte, würde sein Verhalten ihr gegenüber Auswirkungen auf sie alle haben. Um seiner Freunde willen musste er erfahren, womit er es zu tun hatte.

Nikolay trank seinen Samogon aus und schob den Stuhl zurück. „Ich werde am Samstag mit ihr ausreiten. Sollte sie mir wirklich eine Falle stellen wollen, würde es sie nur misstrauisch machen, wenn ich absagte. Und ich kann nichts über ihre Absichten herausfinden, wenn ich keine Zeit mit ihr verbringe.“ Was ihm nicht schwerfallen würde, denn Klara Grigorieva hatte ihn von Anfang an fasziniert, von dem Augenblick an, da sie die Kappe abgenommen und ihr wunderschönes Haar geschüttelt hatte, bis zu dem Moment, da sie ihn zu einem Ausritt eingeladen hatte. Er war sofort entschlossen gewesen, die Einladung anzunehmen. Klara Grigorieva stellte eine beunruhigende Herausforderung dar, aber niemand hatte je Grund gehabt, ihn einen Feigling zu nennen.

3. KAPITEL

Klara glitt mit dem Finger über die Karte von Russland, vorbei an Moskau und Kiew und bis zu einem Punkt zwischen dem Schwarzen Meer und der Don-Steppe. Kuban. Die Heimat von Nikolay Baklanov – ein Land reich an Bergen, Steppen, Weideflächen und Flüssen.

Sie strich über die Stelle, die die Bergkette des Kaukasus darstellte, dann an den Windungen eines Flusses entlang. Es war ein Land mit mildem Klima und rauen Gebirgen, wenn man der Karte glauben durfte. Ein Land der Kontraste, genau wie der Mann selbst. Man erfuhr viel über einen Mann, wenn man wusste, woher er stammte. Männer waren das Ergebnis ihres Heimatlands. Genau wie Frauen. Klara schloss sich da nicht aus.

Sie konnte Nikolays Lächeln nicht vergessen. Es hatte sein Gesicht völlig verändert und den Eindruck vermittelt, er sei zugänglicher und eine Frau könne versuchen, die Geheimnisse hinter diesen dunklen Augen zu erforschen. Was mochte einen Mann dazu bringen, sein Land zu verlassen? Und nicht irgendein gewöhnlicher Mann, sondern ein Krieger, dazu ausgebildet, für dieses Land zu kämpfen und es zu verteidigen. Was brachte einen Prinzen dazu, verwöhnte junge Damen das Reiten zu lehren?

Die Antworten auf diese Fragen lagen gewiss in den dunkelgrauen Augen, so wie auch andere Geheimnisse, die er vor der Welt versteckte – sinnlichere Geheimnisse, die seine Blicke und seine Lippen nur andeuteten. Er war ein leidenschaftlicher Mann, das war ihr sofort aufgefallen. Sie dachte an die Art, wie er sie gestern beobachtet hatte. Jeden Moment hatte sie gespürt, dass er nicht nur ihre Reitkünste in Augenschein genommen hatte. Offenbar fand er sie als Frau anziehend.

Und das machte ihn gefährlich. Ein vertriebener Prinz war gewiss nicht, was ihr Vater für sie im Sinn hatte. Doch das Bestreben, ihrem Vater Gehorsam zu leisten, vermochte nicht zu verhindern, dass sie bei dem Gedanken an Samstag erschauderte. Würde Baklanov mit ihr flirten? Würde er sie wieder glühend mit seinen dunklen Augen voller Leidenschaft ansehen? Würde er sie mit seinen kühnen Andeutungen necken? Und würde sie es ihm erlauben, obwohl sie doch wusste, dass es nirgendwohin führen konnte? Sie war für einen englischen Aristokraten bestimmt, und das wohl schon bald. Obwohl Klara das wusste, konnte sie nicht anders, als sich zu fragen, wie es sein mochte, die Aufmerksamkeit eines Mannes wie Baklanov zu erregen – vielleicht sogar seine Zuneigung.

Klara seufzte. Vielleicht war es nicht mehr als der Gedanke an Kuban, der sie zu ihm hinzog. Russland war für sie wie die verbotene Frucht. Sie sollte in allem englisch sein, so englisch wie ihre Mutter, die am Ende jenes letzten Sommers in Sankt Petersburg gestorben war. Doch das erstickte nicht die Sehnsucht in ihr, sondern erklärte sie nur.

Die Tür zur Bibliothek wurde geöffnet, und Klaras Vater trat ein. Schnell legte Klara ein Buch auf die Karte. Es hätte ihn verletzt, hätte er gesehen, womit sie sich gerade beschäftigt hatte. Russland hatte ihm die Frau genommen, er würde niemals zulassen, dass es ihm auch die Tochter raubte. Lächelnd kam er auf sie zu. „Endlich haben wir Zeit, uns zu unterhalten, Klara.“ Er war ein gut aussehender und vitaler Mann von Mitte fünfzig. Lediglich die grauen Strähnen in seinem Haar wiesen auf sein wahres Alter hin. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. „Sag mir alles. Wie war dein Unterricht mit Baklanov?“

Ihr Vater war ein guter Mensch, er interessierte sich wirklich für den Unterricht, aber eben nicht nur. Er wollte ihre Einschätzung des Prinzen hören. Eigentlich hätte sie stolz darauf sein können, dass er so viel Wert auf ihre Meinung legte, doch sie hatte mit Schuldgefühlen zu kämpfen, als würde sie für ihren Vater spionieren, das Vertrauen eines anderen Menschen verraten. Nein, das war zu dramatisch. Sie gab dem Ganzen zu viel Gewicht. Wie konnte sie einen Mann verraten, dem sie ein einziges Mal begegnet war und über den sie fast nichts wusste? Außerdem würde sie nur ihre ersten Eindrücke schildern.

Aber vielleicht irrte sie sich. Selbst nach einer einzigen Begegnung hatte Klara das Gefühl, ihn zu kennen. Sie wusste, wie es war, seinen Blick fast wie eine Liebkosung auf sich zu spüren. Sie hatte an der Art, wie er seine Pferde sanft streichelte und ihnen leise etwas zuflüsterte, ablesen können, welche Liebe er ihnen entgegenbrachte. Und jetzt sollte sie ihrem Vater diese Erfahrungen mitteilen. Sie wollte diese Begegnung aber für sich behalten, statt sie dem „Ziel“ zu übergeben. In ihrem Leben gab es kaum etwas, das nicht diesem Ziel untergeordnet wurde. Das Ziel war die Grundlage der Beziehung zu ihrem Vater geworden, während Klara aufwuchs. Jetzt blickte ihr Vater sie geduldig, aber auffordernd an. Er zweifelte nicht daran, dass sie alles tun würde, um dem übergeordneten Ziel zu dienen. Seinem Ziel.

„Der Prinz ist sehr talentiert. Wir haben an meiner Schrittarbeit gefeilt. Selbst bei meinem Niveau hat er einen Weg gefunden, mich zu verbessern.“

Ihr Vater hörte ihr höflich zu, bevor er fragte: „Was ist mit dem Mann selbst? Was für einen Charakter hat er?“

„Einen starken, entschlossenen Charakter.“

„Sehr nützliche Eigenschaften“, meinte ihr Vater nachdenklich. So ordnete er die Menschen ein: Sie waren entweder brauchbar und unbrauchbar. „Glaubst du, er empfindet noch etwas für seine Heimat, oder ist er bereit, sich neu zu orientieren? Ein Mann verlässt sein Land nicht ohne Grund.“

„Das kann ich nach so kurzer Bekanntschaft nicht sagen.“ Was nur halb gelogen war. Klara dachte an die Wehmut in Baklanovs Stimme, als er von seinen Pferden gesprochen hatte. Er hatte nicht gesagt, dass er sie mitgebracht hatte, sondern dass er sie nicht zurücklassen wollte. Seine Worte hatten den Eindruck vermittelt, dass er an Kuban als sein Zuhause dachte. Eine solche Wehmut schaffte ein Band, das man nur schwer zerreißen konnte.

„Dann musst du die Bekanntschaft vielleicht vertiefen.“ Ihr Vater lächelte. „Wir könnten einen entschlossenen, starken Mann gebrauchen.“ Wir. Klara erschauderte. Damit meinte er die Union der Erlösung, eine geheime Gruppe von Offizieren und Palastpolitikern wie ihren Vater, die ein Komplott gegen Zar Alexander in Sankt Petersburg schmiedeten. Vor drei Jahren war die Union besiegt worden, und deswegen waren ihre Mitglieder seitdem gezwungen, im Ausland oder Untergrund fortzufahren, das Ziel zu erreichen. Für ihren Vater war dieses Ziel sein ganzes Leben, und Klara wollte Teil seines Lebens sein und seine Liebe und Aufmerksamkeit gewinnen. Sie wollte sich beweisen.

Pflichtbewusste Töchter gehorchten und beschützten jene, die sie liebten. Nie hätte Klara für das Ziel der Union gekämpft, wenn ihre Mutter noch gelebt hätte, ebenso wenig wie ihr Vater. Besorgt musterte Klara ihn. Von Nahem konnte man die ersten Zeichen des Alters an ihm erkennen – die Linien um den Mund, die Müdigkeit seiner Augen. Er gab Russlands Rückständigkeit die Schuld am Tod ihrer Mutter – an dem Fieber, das sie dahinraffte, obwohl sie sich weit entfernt von dem abwasserverseuchten Fluss der Stadt aufgehalten hatten. Doch die Entfernung war nicht groß genug gewesen, und die Fähigkeiten des Landarztes zu gering. Es war im Jahr 1810 gewesen. Sieben Jahre später und voller Euphorie nach dem Sieg über Napoleon, empfanden viele Männer wie ihr Vater – dass Russland dem Rest von Europa in vielem nachstand. Jetzt begeisterte ihr Vater sich nur noch für die Idee, Russland zu modernisieren, ein Weg, um den Tod seiner Frau zu rächen und seinem Land zu dienen.

„Wann siehst du den Prinzen wieder?“, fragte er, in Gedanken bereits dabei, alle Möglichkeiten durchzuspielen. Jeder Tag war jetzt wie ein Schachspiel, und sie spielte es mit, weil sie ihn liebte.

„Wir reiten am Samstag zusammen aus. Vielleicht kann ich dann mehr erfahren.“ Sie erwähnte nicht, dass ein Schatten über Nikolays Gesicht gehuscht war, als sie das Wort patriotisch hatte fallen lassen.

„Großartig. Bitte ihn, uns beim Dinner mit dem Duke of Amesbury Gesellschaft zu leisten. Prinz Baklanov würde wunderbar in die Runde passen. General Vasilev und die anderen werden ebenfalls anwesend sein. Dann können wir uns ein Bild von ihm machen.“

Klara nickte nur, ohne sich den Widerwillen anmerken zu lassen, den sie empfand, wenn sie an die Männer dachte, die ihr Vater gerade erwähnt hatte. Amesbury war ein furchterregender Mann mit üblen Ansichten. Jeder in ihren Kreisen wusste, wie mächtig der Duke war und dass sein besonderes Interesse der Beziehung zwischen England und Russland galt. Klaras Vater hatte dafür gesorgt, dass der Grenzverlauf im Nordwesten Amerikas den Investitionen des Dukes im Pelzhandel zugutekam. Sie wusste nicht, was der Duke als Gegenleistung getan hatte. Aber irgendetwas hatte ihr Vater bekommen, das war immer so. Auch der Duke hielt nicht viel von Russland, und den Prinzen diese Meinung hören zu lassen, würde gewiss ans Tageslicht bringen, ob er seinem Heimatland noch treu ergeben war oder nicht. Würde der Prinz sich als traditionsbewusst oder modern erweisen? Klaras schlechtes Gewissen regte sich. Den Prinzen zum Dinner einzuladen, hieße, ihn in einen Hinterhalt zu locken. Sie hätte ihn eigentlich warnen müssen, aber das hätte die Pläne ihres Vaters durchkreuzt. Der Samstag würde noch sehr … spannend werden.

Am Samstag war der Himmel herrlich blau und die Luft kühl und klar. Es war ein vollkommener Wintertag für einen Ausritt. Jeder Londoner nutzte die Gelegenheit. Obwohl die Saison offiziell erst in drei Monaten anfangen würde, begann London sich bereits zu füllen. Heute war der Hyde Park randvoll mit Besuchern – Reiter und Kutschen, deren Insassen sich in Pelzmäntel gehüllt hatten, um sich vor der Kälte zu schützen. „Ich nehme an, die Kälte macht Ihnen nichts aus.“ Nikolay ritt neben ihr und trug heute einen Wintermantel und Schal und auf dem Kopf eine Uschanka, eine russische Pelzmütze. „Wird es in Kuban fürchterlich kalt im Winter?“ Langsam begann sie sich vorzutasten. Schließlich sprach jeder über das Wetter.

Der Prinz lachte. „Kälte ist milde ausgedrückt. Sehr oft liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Natürlich haben wir auch viel Schnee. Aber es regnet auch viel.“ Seine Stimme klang wieder wehmütig, wie beim ersten Mal in der Reitschule. Also hatte Klara es sich doch nicht eingebildet.

„Die englischen Berge kommen Ihnen wahrscheinlich wie Hügel vor.“ Sie lachte leise. „Fehlt Ihnen Kuban und seine Rauheit?“

„Es stimmt, man muss sich erst an die britische Insel gewöhnen.“ Er lächelte sie betont unbeschwert an, aber Klara ließ sich nicht täuschen.

„Warum sind Sie dann fortgegangen?“, fragte sie und hoffte, dass er ihr ehrlich antworten würde, weil sie ihn mit ihrer so persönlichen Frage überrumpelt haben musste.

Doch Nikolay war zu gerissen. „Vielleicht werde ich es Ihnen eines Tages verraten, Miss Grigorieva, aber heute nicht.“

„Klara“, verbesserte sie ihn, obwohl es ziemlich kühn von ihr war, einem fast Fremden solche Freiheiten zu gewähren. Wenn sie allerdings erreichen wollte, dass ihr Verhältnis über das eines Lehrers zu seiner Schülerin hinausging, musste sie die Formalitäten abschütteln. „Nennen Sie mich wenigstens Klara, wenn wir allein sind“, fügte sie hinzu.

„Dann müssen Sie mich Nikolay nennen.“ Er sah sie mit neuem Interesse an. Ihre unausgesprochene Einladung war ihm nicht entgangen – und er hatte sie angenommen. Aber war sie wirklich bereit, sich auf eine engere Beziehung mit diesem Mann einzulassen? Wollte sie, dass er mit ihr flirtete? Wie sie sich selbst eingestehen musste, war sie sogar sehr neugierig, wohin ihr Flirt sie führen würde.

„Klara.“ Wenn er ihren Namen aussprach, klang es sinnlich und exotisch, nicht englisch ausgesprochen, sondern russisch, und plötzlich schien der Name zu einer Verführerin zu gehören, einer Frau, die die Macht hatte, Männer zu bezaubern, ihn zu bezaubern. „Gibt es auch weniger überfüllte Pfade in diesem Park?“ Jetzt war er es, der kühn wurde, indem er sie indirekt darum bat, allein mit ihr sein zu dürfen. Klara erschauderte unwillkürlich und runzelte die Stirn. Sie war es nicht gewohnt, dass Männer eine solche Wirkung auf sie hatten.

„Es gibt da eine Stelle, wo wir die Pferde am See trinken lassen können.“ Sie wies auf eine Baumgruppe – dort würde weitaus weniger los sein als auf den Hauptwegen des Parks. Klara ritt voran und der Prinz folgte ihr. Schließlich stiegen sie ab und führten die Pferde an den Serpentine. „Manchmal friert der See zu und man kann hier Schlittschuh laufen.“ Klara lächelte. „Als ich elf Jahre alt war, fror die Themse einmal für einen ganzen Monat zu, und ein wundervoller Jahrmarkt fand darauf statt. Mein Vater ging einmal mit mir hin. Es erinnerte mich an die Newa in Sankt Petersburg. Ich habe nur vier Jahre dort verbracht, es aber nie vergessen. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Newa von Dezember bis März oder sogar April zugefroren sein würde. Ich ging fast täglich mit meiner Nyanya Schlittschuh laufen.“ Das russische Wort für Kindermädchen fiel ihr nach so vielen Jahren ohne Mühe wieder ein.

Sie zuckte mit den Schultern, selbst verblüfft über sich. „Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht.“ In dieser Ecke des Parks war es still, das Wasser dunkel und kalt. Der perfekte Ort für Enthüllungen. „Ich war damals noch sehr klein, aber es fehlt mir“, sagte sie und hoffte, dass er die Gelegenheit ergreifen würde, um ihr etwas über Kuban zu erzählen, etwas über sich. Nach irgendetwas musste er sich doch sehnen, sonst hätte er nicht mit solcher Wehmut gesprochen.

Nikolay ging jedoch nicht darauf ein. „Eines Tages werden Sie zurückkehren.“ Er war offenbar nicht gewillt, irgendetwas Persönliches preiszugeben. Aber das machte nichts. Seine Worte hatten Klara einen Anknüpfungspunkt gegeben.

„Und Sie? Haben Sie vor, irgendwann zurückzukehren?“

Er wandte ihr abrupt das Gesicht zu, eine Warnung flackerte in seinem Blick auf. „Ich kann nicht zurück, Miss Grigorieva“, erwiderte er schroff. „Ist das die Antwort, die Sie hören wollten?“

Sie war zu weit gegangen und bedauerte ihre Aufdringlichkeit sofort. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“

„Ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken?“, unterbrach Nikolay sie scharf und machte einen Schritt auf sie zu. „Nein, genau das wollten Sie. Leugnen Sie es nicht. Es war von Anfang an Ihre Absicht.“

Klara hob trotzig das Kinn. Er hatte sie durchschaut, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, sich einschüchtern zu lassen. „Wenn Sie etwas entgegenkommender gewesen wären, hätte ich es nicht zu tun brauchen.“ Sie wich einen weiteren Schritt zurück. Aus der Nähe kam er ihr plötzlich so viel größer vor.

„Warum interessiere ich Sie überhaupt so sehr? Mir war nicht bewusst, dass ein Reitlehrer gezwungen ist, seine Schüler mit ausführlichen Geschichten aus seinem Leben zu unterhalten.“ Er blieb noch immer nicht stehen, sodass Klara gezwungen war, weiter rückwärts zu gehen.

„Nicht all Ihre Schüler sind Töchter ausländischer Diplomaten. Unser Leben steht ständig auf dem Prüfstand, und das von gleich zwei Ländern. Wir müssen aufpassen, mit wem wir Umgang pflegen.“ Jetzt standen sie nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, weil er Klara gegen einen Baumstamm gedrängt hatte und sie nicht weiter zurückweichen konnte.

„Und ich bin ein Prinz, der nicht in sein Königreich zurückkehren kann und der ebenfalls aufpassen muss, mit wem er Umgang pflegt.“ Seine Stimme war leise, heiser.

Im nächsten Moment spürte Klara seinen Mund auf ihrem. Nikolay küsste sie wie ein Krieger, besitzergreifend und prüfend, wie ein Mann, der sich nicht herausfordern ließ, ohne seinerseits mit einer Herausforderung zu antworten.

Und sie erwiderte seinen Kuss. Ihr Körper erzitterte. So fühlte sich ein wahrer Kuss an, nicht wie die wenigen, flüchtigen Küsse, die sie bekommen hatte, kurz nachdem sie in die Gesellschaft eingeführt worden war. Wie viel sie doch von diesem Kuss über Nikolay erfuhr. Wohlgesinnte Gentlemen hielten ihre niederen Triebe im Zaum und küssten einen nicht, als wollten sie die Welt in Flammen aufgehen lassen. Doch Prinz Nikolay Baklanov schien nicht viel von Uneigennützigkeit zu halten, wenn es darum ging, eine Frau zu verführen, und er wollte, dass Klara das wusste. Als Krieger und auch als Liebhaber schreckte er vor nichts zurück.

Doch Klara weigerte sich, hinter ihm zurückzustehen. Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, zog ihn an sich und presste sich fest an ihn, damit sie seinen harten Körper spüren konnte. Leise seufzend vertiefte sie den Kuss, ließ die Zungenspitze über seine gleiten und nagte dann an seiner Unterlippe. Auch sie wollte, dass er etwas über sie erfuhr. Sie war nicht wie seine übrigen verwöhnten Schülerinnen und würde sich nicht von seinem strengen Blick oder seiner drohenden Stimme einschüchtern lassen. Sie hatte keine Angst vor der Leidenschaft und würde sich nehmen, was sie wollte – auch von ihm. Denn sie war eine Frau, die man zu einer Heirat zwingen würde, die nicht wusste, woher sie stammte, und die zwischen zwei Welten gefangen war. Sie schob ihm die Finger ins Haar und zog das lederne Band ab, das es zusammenhielt. Ein Stöhnen entfuhr ihr, als sie seine Zähne an ihrem Ohrläppchen spürte.

Als er das hörte, fluchte er leise – auf Russisch, aber Klara erkannte die Bedeutung am Ton seiner Stimme. Nikolay löste sich von ihr, die Augen glänzend, die Stimme rau. Klara wusste nicht, ob der Kuss ihn wirklich aufgewühlt hatte oder ob Nikolay ihr nur hatte zeigen wollen, was geschah, wenn sie mit dem Feuer spielte. „Vergeben Sie mir. Ich wollte nicht …“

„Doch, genau das wollten Sie“, fiel sie ihm wütend ins Wort. „Es war von Anfang an Ihre Absicht, mich zu küssen.“

„Touché.“ Er neigte leicht den Kopf. „Damit sind wir also quitt.“

Seine Dreistigkeit brachte sie noch mehr in Rage. Am liebsten hätte Klara ihm eine Ohrfeige gegeben, aber genau das erwartete er wahrscheinlich. Vielleicht wollte er sie auf diese Weise vertreiben. Es stand zu viel auf dem Spiel, als dass Klara sich jetzt hätte einen Ausrutscher leisten dürfen – sie musste sich beherrschen. „Wohl kaum. Mein Vater möchte, dass Sie zum Dinner kommen“, sagte sie so gelassen wie möglich. Wenn sie etwas über Nikolay Baklanov erfahren hatte, dann, dass er niemals klein beigeben würde.

„Ich werde da sein.“

Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen. „Wollen Sie nicht wissen, warum?“, gab sie schnell zurück, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Nikolay antwortete mit einem aufreizend zuversichtlichen Lächeln. „Machen Sie sich keine Sorgen, kotyonok moya. Das weiß ich bereits.“

„Sie haben wahrscheinlich eine Natter zum Dinner eingeladen“, meinte der Duke of Amesbury. Er saß im bequemen Armsessel vor Alexei Grigorievs angenehm prasselndem Kaminfeuer. Gewiss war Grigoriev sich des Risikos bereits bewusst, das er einging, indem er den russischen Prinzen eingeladen hatte. Neugierig betrachtete er den Botschafter, während der vor der Terrassentür seines Arbeitszimmers auf und ab ging.

„Oder“, wandte Grigoriev mit einem Optimismus ein, den Amesbury ganz und gar nicht empfand, „ich habe die vollkommene Lösung eingeladen. Russland zu retten, war schon immer eine schwierige Aufgabe, vor allem dann, wenn sein eigener Herrscher es verrät. Ich denke, ein aus seinem Land geflohener Prinz sehnt sich nach zwei Dingen: nach Rache und danach, seinen Platz wieder einzunehmen. Und für beides können wir Sorge tragen.“ Amesbury dachte darüber nach, während Grigoriev fortfuhr. „Er könnte ideal für uns sein. Er ist Offizier und ein natürlicher Führer. Wir könnten ihn mit den Waffen nach Sankt Petersburg schicken, wenn die Zeit gekommen ist, um die Truppen aufzurütteln.“

Ein Mann also, der den Märtyrer spielen könnte. Das konnte Amesbury sich schon eher vorstellen. Baklanov könnte als Sündenbock herhalten, sollte der Versuch misslingen. Sie wussten schließlich aus Erfahrung, wie viel tatsächlich schiefgehen konnte. Die Union der Erlösung, deren ergebenes Mitglied Grigoriev war, hatte sich nach dem misslungenen militärischen Aufstand im Jahr 1821 verstecken müssen. Sie konnte es sich nicht leisten, wieder zu versagen, ebenso wenig konnte sie sich allerdings erlauben, nicht noch einen weiteren Versuch zu machen. Also plante die Union ihre Verschwörung jetzt im Geheimen und in Sicherheit in England und anderswo. Die Tatsache, dass selbst Zar Alexanders eigene Armee bereit war, eine Revolution anzuzetteln, bewies, wie groß die Unzufriedenheit inzwischen geworden war, nicht dass Amesbury sich tatsächlich für die Lage Russlands interessierte. Nein, nur für den Profit. Waffen an Emporkömmlinge und Aufrührer zu verkaufen, die nach Napoleons Niedergang überall in Europa ihr zweifelhaftes Glück versuchten, hatte sich als ausgesprochen gewinnbringend erwiesen. Grigorievs Revolution könnte sich als die lohnendste von allen erweisen.

Der Botschafter sprach noch immer: „Die Armee wird den Prinzen respektieren, und er kennt die Strategien der Truppen des Zaren gut.“

„Theoretisch“, wandte Amesbury träge ein. „Das muss sich erst noch herausstellen.“ Die Idee eines Sündenbocks, sollte die Revolution fehlschlagen, gefiel ihm immer mehr. Doch der Gedanke, Grigoriev könnte diesen Prinzen ihm selbst vorziehen, war ihm unerträglich. Er selbst wollte die rechte Hand des Botschafters sein, und ebenso wollte er sich den enormen Profit nicht entgehen lassen, den er sich dadurch versprach, dass er Grigoriev unterstützte.

„Er ist ideal.“ General Vasilev, der Dritte im Bunde, strich sich nachdenklich mit dem Finger über den Schnurrbart. „Sind Sie auf diesen Gedanken gekommen, Alexei? Wenn die Dinge zu gut zu sein scheinen, um wahr zu sein, dann gibt es gewiss irgendwo einen Haken. Vielleicht ist er geschickt worden, um uns zu überführen.“

Der Botschafter fixierte den General mit einem strengen Blick. „Wenn es eine Falle wäre, hätte er sich an uns gewandt und sich zu erkennen gegeben. Aus der Ferne kann man niemanden in eine Falle locken.“ Grigoriev zuckte mit den Schultern. „Außerdem können wir uns nicht leisten zu zweifeln. Wir brauchen jemanden, der mit den Waffen nach Russland reist.“ Er hob die dunklen Augenbrauen. „Es sei denn, einer von Ihnen beiden ist bereit, es zu tun.“

Amesbury wollte lieber über den Prinzen sprechen. „Überlegen Sie doch einmal“, gab er zu bedenken. „Wenn Baklanov nicht auffallen will, bedeutet es, dass er etwas zu verbergen hat. Und das könnte uns nützlich sein.“ Er säte gern Zweifel unter seinen Mitstreitern. Grigoriev und er ordneten beide die Menschen je nach ihrer Nützlichkeit ein, doch ihre Motive unterschieden sich deutlich voneinander. Grigoriev benutzte die Menschen, um seine Ideale durchzusetzen. Aber Amesbury selbst nur zu seinem persönlichen Vorteil. Seine Motive waren selbstsüchtig, die von Grigoriev manchmal sogar aufopfernd. Und Amesbury hoffte, dass Grigoriev niemals erraten würde, wie sehr es ihm an Idealismus mangelte. Er würde dem Botschafter erlauben, Baklanov in seine Pläne einzubeziehen, solange es seine eigene Position nicht gefährdete und bis er durch Heirat einen dauerhaften Platz an dessen Seite eingenommen hatte. Schon seit einer ganzen Weile hatte er ein Auge auf Klara Grigorieva geworfen, und er wollte nicht, dass irgendwelche dahergelaufenen Prinzen diese Pläne zerstörten.

Unwillkürlich musste er lächeln beim Gedanken an Klara Grigorieva mit ihren festen Brüsten und dem lebhaften Temperament. Sie würde sich an seinem Arm sehr gut ausmachen. Jeder Mann würde sie haben wollen. Und er würde ihr die teuersten Kleider und den kostbarsten Schmuck schenken. Dank ihres Vaters besaß er die Mittel dazu. Nach außen hin würde er ihre Schönheit feiern und seinen Triumph darüber, eine Frau gewonnen zu haben, die andere Männer umsonst umworben hatten. Und hinter geschlossenen Türen würde er seinen Spaß daran haben, diesen hochgewachsenen Hitzkopf mit den langen, schlanken Beinen zu zähmen. Schon lange hatte er keine Frau mehr gehabt, die so wild war wie Klara, und deren Wildheit war genau, was er sich wünschte – eine Frau, die kämpfte, wenn sie in die Enge getrieben wurde. Er schlug ein Bein über das andere, als seine Gedanken ihn in Erregung versetzten.

Er liebte es, wenn die Frauen sich wehrten und wenn er am Ende als Strafe für ihren Ungehorsam und um seinen Sieg zu feiern, seinen Gürtel auf ihren weißen, glatten Po niederschnellen lassen konnte. Zunächst würde er Klara erlauben, davonzulaufen, zu kämpfen und zu glauben, es bestünde tatsächlich eine Chance für sie, zu entkommen. Doch schon bald würde sie am Ende ihrer Kräfte sein, und dann gehörte sie ihm. Ihr Vater hatte es ihm zugesichert. Grigoriev brauchte seinen Schutz, bis er sein Ziel erreicht hatte. Klara zuliebe war er bereit dazu, aber wie sehr würde er sie dafür zahlen lassen – auf die verruchteste, sündhafteste Weise, und sie sollte dabei nackt vor ihm knien. Oh ja, Alexei Grigoriev war ein viel zu nützlicher Verbündeter, als dass Amesbury ihn an einen Exilprinzen verlieren wollte. Nur ein Hindernis galt es zu überwinden – es musste ihm gelingen, Nikolay Baklanovs Geheimnisse zu enthüllen. Wenn er welche hatte, dann war er erpressbar. Jeder hatte einen Preis. Es musste einen bestimmten – und über aus delikaten – Grund dafür geben, aus dem ein Prinz mit Vermögen und hohem Ansehen aus seinem Land floh.

4. KAPITEL

Es musste einen bestimmten Grund dafür geben, aus dem ein Botschafter einen in Ungnade gefallenen Prinzen zu sich einlud. Nikolay war jedoch nicht sicher, welcher das sein könnte. Allerdings erkannte er einen Hinterhalt meist schon aus meilenweiter Entfernung.

Heute Abend hatte der Hinterhalt das Gesicht einer hinreißenden Frau. Sie trug ein dunkelblaues Seidenkleid, das verlockend unter ihren festen Brüsten gerafft war, und in ihrem dunkelbraunen Haar funkelten diskret funkelnde Diamanten. Klara fungierte als die Ablenkung. Sie sollte ihn beschäftigen, damit er hinterrücks angegriffen werden konnte. Gar keine so schlechte Idee. Was für einen verblüffenden Anblick sie doch in diesem verführerischen Kleid bot, besonders da er sie bisher nur in Reithosen und einem Reitkostüm zu sehen bekommen hatte. Heute Abend konnte sie sich mit den Schönheiten von Kuban messen, wenn sie sie nicht sogar übertraf. „Klassische militärische Strategie“, sagte er leise zu ihr, während sie im Raum umhergingen und sie ihn den übrigen Gästen vorstellte.

„Wie bitte?“ Sie führte ihn vom rundlichen grauhaarigen General Vasilev, der mit seiner Frau und seiner hübschen Tochter gekommen war, weiter zu einer Gruppe junger Offiziere neben dem italienischen Marmorkamin.

„Ist Ihnen Hannibals Hinterhalt an der Trebia ein Begriff?“, entgegnete er. Ihm gefiel es, sie in einem Raum voller Menschen ganz für sich zu haben. Zwar schien sie noch ein wenig verschnupft zu sein nach ihrer Begegnung im Park und hatte ihm den Kuss wohl noch nicht verziehen. Oder sie konnte sich selbst nicht verzeihen. Immerhin hatte es ihr offensichtlich nicht wenig gefallen, so wie sie seinen Kuss erwidert hatte. Vielleicht erinnerte sie sich nur nicht gern daran, dass er es gewesen war, der den Kuss beendet hatte.

Sie lachte leise. „Ich weiß natürlich, wer Hannibal ist, aber ich beschäftige mich nicht mit militärischen Taktiken so wie Sie.“

Bevor sie die Offiziere erreichten, blieben sie mitten im Raum stehen, und Nikolay nutzte die Gelegenheit, um den Kopf leicht zu neigen, als wollte er nur, dass sie ihn besser verstehen konnte. „Hannibal griff das römische Heer offen von vorne an, lenkte es jedoch eigentlich nur ab, während es von hinten von dem größeren Teil seiner Armee überfallen wurde.“ Er sprach fast zärtlich, und so dicht wie sie nebeneinanderstanden, musste es für die anderen Gäste so aussehen, als würde er mit ihr flirten.

Klara lächelte. „Und bin ich in diesem Fall die Ablenkung?“ Sie spielte mit dem Diamantanhänger, der genau über ihren Brüsten baumelte, ihren Ausschnitt betonte und Nikolays Blick unwillkürlich dorthin gleiten ließen. „Und, wie mache ich mich?“

„Kein Gentleman kann gefahrlos darauf antworten“, meinte er trocken. Er hatte keine Eile, sich von ihr zu trennen, dazu amüsierte ihn die Situation viel zu sehr. Außerdem zogen sie die Aufmerksamkeit des Duke of Amesbury, des einzigen Engländers im Raum, auf sich, dem Nikolay kurz bei seiner Ankunft vorgestellt worden war. Die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, waren von eisiger Höflichkeit gewesen. „Wenn ich sage, dass Sie sich großartig machen, deute ich an, dass Ihre Moral zu wünschen übrig lässt. Wenn ich das Gegenteil behaupte, ist es, als würde ich Ihnen Charme absprechen.“ Er lachte leise. „In beiden Fällen bekäme ich eine Ohrfeige.“

„Ohrfeigt man Sie oft?“, neckte Klara ihn.

„Schlimmer noch. Manchmal fordert man mich sogar.“ Er blickte vielsagend zu Amesbury hinüber. „Muss ich mir Sorgen machen? Er lässt uns nicht aus den Augen.“

Klara zögerte nur kurz, doch es reichte, um ihn in seinem Verdacht zu bestätigen, und als sie Amesbury mit einem gleichgültigen Schulterzucken abtat, glaubte Nikolay ihr nicht. „Wir befinden uns in einem Salon voller Menschen. Da kann er doch wohl kaum eifersüchtig sein.“

„Warum sollte er überhaupt eifersüchtig sein? Ist er an Ihnen interessiert, Klara?“ Er fand die Vorstellung irgendwie enttäuschend.

„Er ist an meinem Vater interessiert“, antwortete Klara heftig. Aha, sehr aufschlussreich. Offenbar hatte der Duke seinem Interesse nicht offiziell Ausdruck verliehen, aber Klara war sich dennoch seiner Absichten bewusst. Nachdenklich sah er Amesbury an. Der Mann wäre als Feind sehr gefährlich, das hatte er sofort gespürt. Männer mit einem so eiskalten Blick kannten keine Gnade. In einem Duell schossen sie niemals in die Luft.

Der Butler kündigte an, dass serviert werden konnte, und Klara hakte sich bei Nikolay ein. „Sie sollen mich heute zu Tisch führen.“

„Selbstverständlich.“ Nikolay lachte, erfreut, aber ganz und gar nicht überrascht. „Schließlich sind Sie die Ablenkung, kotyonok moya.“

Nikolay musterte die Speisetafel prüfend – schweres Silber, fünfarmige Armleuchter, ein teurer, schwerer Tafelaufsatz, gefüllt mit Früchten, die im Winter schwer zu bekommen waren, ein ebenso seltenes Lomonosov-Porzellanservice mit dem unverwechselbaren Muster in Kobaltblau und Weiß, das nur in Russland hergestellt wurde. Der ganze Abend war russisch ausgerichtet, vom Besteck bis zu den Gästen. Am Tisch fanden bis zu vierundzwanzig Gäste Platz, doch heute war nur für zwölf gedeckt, für Grigorievs engsten Kreis und dessen Gattinnen. Nikolay fragte sich, wer von allen die erste Salve abfeuern würde. General Vasilev? Oder der junge russische Graf, der mit einem Freund aus Sankt Petersburg zu Besuch war, der kaum den Blick von der hübschen Tochter des Generals nehmen konnte? Vielleicht aber auch die beiden Männer, die ihm im Alter am nächsten standen. Beide trugen Uniform und waren wohl Protegés des Generals, aber offiziell war er ihnen noch nicht vorgestellt worden.

So exzellent wie alles andere im reichen Belgravia-Stadthaus der Grigorievs war auch das Mahl. Sie begannen mit Austern und Kaviar vom Kaspischen Meer. Darauf folgte eine klare Brühe – russischer Brauch – und schließlich Fisch, bei dem die Gäste jedoch auf Englisch miteinander plauderten. Vielleicht aus Rücksicht auf Klara und Amesbury, oder aber um indirekt einen brisanten Standpunkt zu verdeutlichen. Als sie beim Roastbeef und dem Gemüse ankamen, ging das Gespräch zu ernsteren Themen über. Die höfliche Konversation wurde politisch. Die Männer hatten offenbar nicht vor zu warten, bis die Damen den Tisch verlassen hatten.

Nikolay ahnte, warum er eingeladen worden war. Man wollte ihn in Augenschein nehmen – aber zu welchem Zweck? Seine Schlussfolgerung wollte ihm gar nicht gefallen. Ein heimatloser Prinz musste in den Augen dieser Männer zornig genug sein, um sein Land zu verraten. Aber was genau hatte Grigoriev im Sinn? Wollte er einen Verräter überführen? War dies der Versuch, ihn in die Falle zu locken und ihn zurück nach Kuban zu verschleppen? Und hatte Stepan recht, wenn er behauptete, sie müssten Grigoriev fürchten? Oder ging es hier um etwas anderes? Hatte der Botschafter ganz persönliche Pläne?

Nikolay beugte sich zu Klara, sich wohl bewusst, dass Amesbury ihn beobachtete und dabei sein Buttermesser fest umklammert hielt. „Haben Sie mich deswegen eingeladen? Damit Ihr Vater meine politische Einstellung prüfen kann?“

Verärgert runzelte sie die Stirn. „Sind Sie immer so misstrauisch? Vielleicht ist es genau umgekehrt. Vielleicht sollten Sie heute die Gelegenheit bekommen, seine Einstellung zu prüfen.“

Er musterte sie nachdenklich. War das denkbar, oder versuchte sie nur, ihn in die Irre zu führen? Wusste Grigoriev, warum er im Exil Zuflucht suchte? Kümmerte es irgendjemanden in Sankt Petersburg, dass ein Prinz eines erst jüngst entstandenen „Königreiches“ im russischen Kaiserreich im Grunde desertiert war? Kuban gehörte erst seit drei Generationen zu Russland. Er brauchte Antworten, andernfalls konnte Nikolay nicht sagen, ob es sich bei dem heutigen Abend um eine Falle handelte oder nicht.

Oder übersah er etwas? War womöglich eine lukrative Heirat das Ziel des Botschafters? Nikolay dachte an Klaras leidenschaftliche Küsse und an ihren ebenso scharfen Verstand. Hatte sie lediglich versucht, ihn in eine Ehe zu locken? Alexei Grigoriev wäre nicht der erste ehrgeizige Botschafter, der durch seine Tochter die Verbindung mit einer königlichen Familie Russlands suchte. Sollte Nikolay jemals nach Kuban zurückkehren, würde Klara – wenn sie verheiratet wären – eine Stellung einnehmen, die die Karriere ihres Vaters zweifellos vorantreiben würde. Die meisten Ehen wurden aus politischen Gründen eingegangen, Liebe fand für gewöhnlich außerhalb besagter Ehe statt.

Außerdem wurde Kuban immer wichtiger. Als Offizier war Nikolay sich bewusst, wie bedeutend Kuban in den folgenden Jahrzehnten werden könnte. Der Einfluss der Türken wurde schwächer. Ihr Reich fiel langsam auseinander, und Russland würde gewiss einen Teil der Kriegsbeute für sich beanspruchen – ebenso wie England. Die Krim stand im übertragenen Sinne zwischen England und Russland im Westen, der Khaiberpass von Afghanistan bildete im Osten eine natürliche Grenze und war Russlands Zugang zu Britisch-Indien. Noch war die Zeit für einen Krieg nicht reif, aber es würde nicht mehr lange dauern, davon war Nikolay überzeugt. Und dann würde das Land, das er liebte, sich gegen das Land stellen, in das er geflohen war, und er würde sich entscheiden müssen.

Doch falls Grigoriev einen Weg nach Kuban suchte, würde er einen anderen finden müssen. Nikolay hatte nicht vor, sich an eine Frau zu binden, und selbst eine so schöne Frau wie Klara Grigorieva würde das nicht ändern können. Er war der festen Überzeugung, dass ein Soldat wie er, der ständig in Gefahr schwebte, weder eine Frau noch Kinder haben durfte. Die Chancen, dass sie Witwen oder Waisen werden könnten, waren viel zu groß.

Außerdem wollte er sich das Leben nicht schwerer machen als nötig, und das Gegenteil wäre der Fall, wenn er sich ständig Sorgen machen müsste, was mit ihm geschehen würde, wann immer er einen Angriff anführte. Darüber hinaus war der sicherste Weg, an der Front getötet zu werden, die Angst, mit der Sorge um seine Familie unter Druck gesetzt werden zu können. Dimitri Petrovich war der beste Beweis dafür. Was hatte sein Freund nicht in all den Jahren durchgemacht, um seinen Vater und seine Schwester in Sicherheit zu wissen. Eine sehr wichtige Lektion, dass Liebe – wahre Liebe – kaum die Opfer wert war, die man für sie bringen musste.

Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und lehnte sich zurück, damit der Diener den Teller nehmen konnte. Klara lächelte ihn auf ihre verführerische Art an. Eine Ehe kam keinesfalls für ihn infrage, aber das hieß nicht, dass er einem kleinen Flirt abgeneigt gewesen wäre.

Auf der anderen Seite des Tisches ließ sich einer der jungen Offiziere über die derzeitige Situation in Russland aus. „Die Armee wird Konstantin als Nachfolger unterstützen, wenn die Zeit gekommen ist.“ Während Nikolay nachgedacht hatte, war ihm ein großer Teil der Unterhaltung bei Tisch entgangen. Er musste aufpassen.

„Wann wird das sein?“, warf der Graf ein. „Zar Alexander ist gesund. Sollen wir Däumchen drehen und warten, bis er stirbt? Er ist nicht weit über vierzig. Wenn er nach seiner Großmutter kommt, wird er noch eine Ewigkeit leben. Russland kann nicht noch zwei Jahrzehnte seiner religiösen Inbrunst ertragen.“

„Hört, hört.“ General Vasilev, wahrlich eindrucksvoll in seiner scharlachroten Uniform, erhob das Glas. „Russland braucht Erneuerung, wenn es mit dem Rest von Europa Schritt halten will. Wenn man überhaupt etwas Gutes über Napoleon sagen kann, dann, dass unsere Männer in die Welt hinausgingen, sich umsahen und erkannten, dass es ihrem Vaterland an vielem mangelt. Zu lange sind wir ein Land von Bauern und feudalen Prinzen gewesen.“ Er warf Nikolay einen scharfen Blick zu. „Ihre Anwesenheit ausgeschlossen, Eure Hoheit. Nichts für ungut.“ Er neigte den Kopf, fixierte Nikolay jedoch unverwandt mit seinen dunklen Augen. Der Mann wartete darauf, dass Nikolay reagierte. Das ist also der Hinterhalt.

„Schon gut.“ Nikolay neigte ebenfalls den Kopf und hoffte, dass seine knappe Antwort reichen würde.

Amesbury lächelte wie eine Katze, die die Maus in die Enge getrieben hatte. „Heißt das, Sie sind derselben Meinung wie General Vasilev?“

Nikolay spürte, dass Klara neben ihm sich anspannte. Er antwortete gelassen: „Ich denke, ein Mann sollte seine Meinung frei äußern dürfen, ohne fürchten zu müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.“ Offenbar wurde hier eine Revolte geplant. Sehr interessant. Noch interessanter war, dass sie ihn für ihre Sache gewinnen wollten. Warum hätten sie sonst in seiner Gegenwart über solche Dinge reden sollen?

Alexei Grigoriev ließ beifällig die Augenbrauen in die Höhe schnellen. „Eine sehr großzügige Einstellung, Eure Hoheit. In gewissen konservativen Kreisen würde sie bereits als revolutionär gelten.“

„Wir sind in England, wo es kaum etwas Bemerkenswertes ist“, antwortete Nikolay und beschloss, den Spieß umzukehren. Er hob sein Glas. „Kompliment, Eure Exzellenz. Was für ein schöner Abend es doch war, besonders wenn man ihn mit Landsleuten verbringt, die ebenso wie ich weit von der Heimat entfernt sind. Zazdarovje!“ Es folgte ein begeistertes Zazdarovje von fast allen, doch Nikolay war sicher, dass weder Grigoriev noch sonst jemand an diesem Tisch seine Botschaft überhört hatte.

„Um aber jeglichem Missverständnis vorzubeugen, Gentlemen, muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht den Wunsch habe, mich mit politischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Ich habe vielmehr die Absicht, hier in London ein überaus ruhiges Leben zu führen.“ Blicke wurden getauscht, Gespräche wurden leise fortgesetzt, und als der Käse als letzter Gang serviert wurde, redete niemand mehr über Politik. Selbst nachdem die Damen sich zurückgezogen hatten, kam niemand auf das brisante Thema zurück, was den Abend wahrscheinlich um gute zwei Stunden verkürzte.

Die Männer verweilten nicht lange beim Brandy, und auch der „musikalische“ Teil des Abends erwies sich glücklicherweise als kurz. Nikolay hatte sich lange genug aufgehalten, um zu wissen, was er zu tun hatte – und zwar sich deutlich von allem distanzieren. Hier gab es nichts für ihn als Gefahr und Ärger. Er hatte Kuban nicht verlassen, um wieder in das Chaos irgendwelcher Intrigen hineingezerrt zu werden – ob nun politischer oder erotischer Art. Zwar war es mehr als schade, dass er somit auch auf Miss Grigorieva würde verzichten müssen, aber das ließ sich nicht ändern.

„Sie sind ein ziemlicher Spielverderber“, sagte Klara, während sie ihn in die Halle begleitete. Es war kurz vor Mitternacht, und auch die übrigen Gäste begannen allmählich, sich zu verabschieden. „Sie sind oft in Gesellschaft, was?“

Nikolay lachte. „Nein. Nicht in solcher wie der heutigen.“

Sie hob die Augenbrauen. „Das überrascht mich nicht. Sind Sie sicher, dass Sie kein als Offizier verkleideter Politiker sind?“

„Das überlasse ich meinen Freunden Stepan und Ruslan, wenn ich kann. Allerdings ist mir noch kein Soldat begegnet, der nicht für beides klug genug gewesen wäre.“ Der Butler half ihm in den Mantel. Daraufhin nahm Nikolay Klaras Hand und berührte mit den Lippen ihre Fingerknöchel. „Do svidaniya, Miss Grigorieva. Ich danke Ihnen für diesen … aufschlussreichen Abend.“ In Belgravia wurde ein Aufstand geplant, und obwohl er wusste, dass er sich davon fernhalten sollte, begehrte sein Herz insgeheim gegen seinen Wunsch auf, in Ruhe zu leben. Wann hatte er schon jemals ruhig gelebt? Wusste er überhaupt, wie das ging? Wie ironisch, dass das Einzige, dem er in seinem neuen Leben auszuweichen versucht hatte, das Einzige, das ihn aufwühlte, ihn hier gefunden hatte. Allerdings war da noch Klara Grigorieva. Sie wühlte ihn auf eine ganz andere, aber nicht weniger gefährliche Weise auf.

5. KAPITEL

Klaras Hand prickelte selbst dann noch immer, als sich die Tür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte. Was wahrscheinlich genau die Absicht des Prinzen gewesen war. Arroganter Mann! Klara hätte ihn gern vergessen, ihn und die Wirkung seiner Nähe auf sie. Sie hätte sich gern eingeredet, dass er sie ebenso wenig berührte wie jeder andere Mann. Doch es war nicht ihre Art, sich etwas vorzumachen. Ihre Reaktion auf Nikolay Baklanov machte alles nur unnötig komplizierter.

„Der Prinz hat sich heute Abend gut gehalten. Kann er uns von Nutzen sein?“ Ihr Vater richtete seine Frage an die beiden verbliebenen Gäste, seine engsten Berater – Amesbury und Vasilev. Er stand an der Tür zum Salon und machte eine einladende Geste. „Wollen wir darüber reden?“

Klara würde sich wie selbstverständlich zu den Männern gesellen, um Eindrücke auszutauschen. Das war schon immer so gewesen, seit sie achtzehn gewesen und in die Gesellschaft eingeführt worden war. Auf diese Weise hatte ihr Vater sie geschickt in die Kunst der Diplomatie eingewiesen – wie man Menschen durchschaute, wie man zwischen den Zeilen ihre wahren Absichten erkannte. Sie hatte diese Erziehung nur erhalten, weil sie einem bestimmten Zweck diente. Nicht nur Klara profitierte davon, auch für ihren Vater war die Zusammenarbeit mit seiner aufgeweckten Tochter von Vorteil. Ihm war wohl bewusst, dass Männer in der Gesellschaft einer hübschen jungen Frau unvorsichtig wurden, besonders da sie annahmen, sie sei harmlos, denn Schönheit ging ja angeblich mit Geistlosigkeit einher.

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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