Historical Saison Band 85

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VERFÜHRUNG EINER SÜSSEN UNSCHULD von LAURA MARTIN
Erwischt! In einer pikanten Pose werden Lady Georgina und Sam Robertson überrascht. Schon will die abenteuerlustige Lady auf Sams verwegenen Vorschlag eingehen und mit ihm durchbrennen, da stellt sie fest, dass ihr Zukünftiger eine unheilvolle Verbindung zu ihrer Familie hat … Ist er etwa doch nur auf Rache aus?

HEIMLICHE KÜSSE FÜR DIE SCHÖNE VERRÄTERIN von LAURA MARTIN
Ben ist zurück? Lady Francescas Herz schlägt schneller. Endlich darf sie ihren Jugendfreund wiedersehen! Damals sind sie im Streit auseinandergegangen, doch jetzt braucht sie Bens Hilfe, damit sie nicht den schrecklichen Lord Huntley heiraten muss. Am besten wäre es dafür natürlich, sie wäre bereits verheiratet …


  • Erscheinungstag 26.10.2021
  • Bandnummer 85
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502993
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laura Martin

HISTORICAL SAISON BAND 85

1. KAPITEL

Ist es nicht ein Skandal, wer heute zu dem Ball eingeladen ist?“

„Ich habe gehört, es handle sich um ehemalige Sträflinge, die erst kürzlich aus Australien heimgekehrt sein sollen.“

„Gewiss nicht. So tief wird Lord Gilham seinen Standard nicht senken.“

„Ein guter Freund verriet mir, es seien Fischer, die durch Schmuggel reich geworden sein sollen“, flüsterte die erste Lady übertrieben laut, und ihre Zuhörerinnen prusteten aufgeregt.

Sam musste ein Lächeln unterdrücken. Erst fünf Minuten zuvor waren sie auf dem Ball angekommen, und schon brodelte die Gerüchteküche. Er fand es erstaunlich, wie genau diese schnatternde Schar von Frauen mittleren Alters über sein Herkunftsland informiert war. Allerdings hatte er sich niemals mit Fischen oder Schmuggeln befasst, obwohl er den größten Teil seines jungen Lebens an der Küste verbracht hatte.

„Amüsierst du dich gut?“, fragte George Fitzgerald und klopfte Sam auf den Rücken.

Sam schaute im Raum umher und verzog das Gesicht. Dies hier war nicht seine Welt. Sein Halstuch war zu eng, und das gut geschnittene Jackett spannte an den Schultern. Er bevorzugte bequemere Kleidung als das alberne Zeug, das hier von den Reichen und Mächtigen offenbar bevorzugt wurde.

„Es ist doch sehr … anders hier“, meinte Sam.

„Du sagst es.“

Die beiden Männer standen nebeneinander. Bisher hatte noch niemand den Mut aufgebracht, sie anzusprechen, obwohl sie von allen Seiten angegafft wurden. Doch es war nur eine Frage der Zeit.

„Es sind doch deine Leute, George. Solltest du nicht mit den Lords und Ladys tanzen?“

Fitzgerald verzog das Gesicht. Sein Vater war der zweite Sohn eines verarmten Barons, aber George hatte sein ganzes Leben in der Wildnis Australiens verbracht und war auf einer Farm aufgewachsen. Es war eine sehr erfolgreiche Farm, die ihn zu einem der reichsten Männer Australiens gemacht hatte. Inmitten von Pferden und bei harter Arbeit fühlte er sich wohler als in prunkvollen Ballsälen.

„Hast du ihn schon entdeckt?“, fragte Fitzgerald.

Sam schüttelte den Kopf. Er und sein Freund hatten die Einladung zu dem Gilham-Ball nur angenommen, um einen Ausgangspunkt für ihre Suche nach dem Mann zu haben, der Sams Leben zerstört hatte. Lord Westchester, Earl, einflussreiches Mitglied im Oberhaus und – zumindest in Sams Augen – der Teufel persönlich.

„Jungs.“ Die schrille Stimme trug nicht gerade dazu bei, das allgemeine Interesse von den beiden Männern abzulenken. „Ich suche euch schon seit einer Ewigkeit.“

„Tante Tabitha.“ Fitzgerald beugte sich vor und küsste seine Tante auf eine Wange, Sam übernahm die andere Seite.

„Seid ihr nicht zu dritt gewesen? Andererseits ist es vielleicht besser, euch nacheinander auf die Gesellschaft loszulassen. Sonst wissen die lustigen Witwen nicht, wen von euch sie zuerst verführen sollen.“

„Crawford tanzt gerade mit einer rehäugigen Debütantin“, sagte Sam und suchte mit den Blicken den Saal nach ihrem Freund ab. Crawford hatte die Schritte der beliebtesten Tänze sehr schnell gelernt und fand immer eine Tanzpartnerin. Sam war nicht ganz so begabt, aber auch er war leichtfüßig und behände. Er tanzte Walzer und Quadrille so geschickt, dass ein zufälliger Beobachter angenommen hätte, er würde schon sein Leben lang tanzen.

„Der Mann verschwendet keine Zeit.“ Tante Tabitha lächelte viel zu anzüglich für ein angesehenes Mitglied der gehobenen Gesellschaft. „Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, dass Sie eine Möglichkeit suchen, sich Lord Westchester zu nähern.“

Sam öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Tante Tabitha stoppte ihn mit einer Handbewegung. Er warf Fitzgerald einen misstrauischen Blick zu.

„Schluss damit“, sagte die ältere Frau. „Ich möchte gar nicht wissen, warum Sie unbedingt dem Earl vorgestellt werden wollen, aber das hübsche junge Ding dort drüben in dem blauen Kleid könnte Ihre Eintrittskarte zu ihm sein.“

„Eine Verwandte des Earls?“, fragte Sam, plötzlich sehr aufmerksam.

„Seine Tochter. Vermutlich hat so eine hübsche Frau die Tanzkarte bereits ganz voll, doch von George habe ich gehört, dass Sie ziemlich einfallsreich sind. Ich verwette meine Perlen, dass es Ihnen gelingt, sie für einen oder zwei Tänze von diesen Langweilern loszueisen.“

„Lady Winston, Sie sind ein Juwel“, sagte Sam und küsste sie auf die Wange.

Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf sein Opfer. So musste sich ein General fühlen, wenn er den Feind auf dem Schlachtfeld erspäht.

Ohne die vielen neugierigen Blicke zu beachten, die auf ihn gerichtet waren, durchquerte er den Ballsaal. Jeder hier wollte die Wahrheit über die drei geheimnisvollen Gentlemen erfahren, die wie durch Zauberei in der Gesellschaft aufgetaucht waren. Doch er ließ sich auch von hartnäckigen Fragestellern nicht aufhalten.

Die Tochter des Earls war umringt von einer Schar von Männern verschiedener Altersstufen, die offenbar alle darauf brannten, ihr sämtliche Wünsche von den Augen abzulesen, sogar die, von denen sie selbst nichts wusste. Sam blieb kurz stehen, um zuzuhören. Die Antworten der jungen Frau waren höflich, aber deutlich angeödet.

„Noch ein Glas Limonade, Lady Georgina?“ Der Jüngling konnte kaum älter sein als zwanzig.

„Es geht mir sehr gut, danke, Mr. Forrester.“

„Würden Sie gern an die frische Luft gehen, Lady Georgina?“, fragte ein anderer junger Mann.

„Ich glaube, gleich beginnt unser Tanz“, sagte ein etwas älterer Mann und beäugte die Jüngeren mit abschätzigem Blick.

Die umworbene Lady Georgina lächelte, doch sie blieb innerlich unbeteiligt, wie man an ihren Blicken erkennen konnte. Sam wusste sofort, dass sie nicht abgeneigt sein würde, wenn er sie von ihren vielen Bewunderern befreite.

„Entschuldigen Sie mich“, sagte er mit leiser tiefer Stimme, während er sich einen Weg zu ihr durch die Menschen bahnte, die sie umgaben. „Ihre Mutter bat mich, Sie zu suchen, weil sie etwas Wichtiges besprechen möchte.“

Lady Georgina betrachtete ihn mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht. Sie wusste wahrscheinlich, dass er log und dass es nur eine List war, um sie eine Weile für sich zu haben. Ob sie seine Täuschung auffliegen lassen würde? Als sie ihn ansah, erfasste Sam ein erregendes Prickeln, und er fühlte sich auf der Stelle stark von ihr angezogen. Sie war sehr hübsch, hatte dichtes schwarzes Haar und grüne Augen in einem herzförmigen Gesicht, ihre Haut war hell und glatt. Doch erst, als sie ihn direkt anschaute, verstand er, warum sie so umschwärmt wurde. Ihr Blick war voller Leben, und Sam verspürte den plötzlichen Drang, sie auf jedem Abenteuer zu begleiten, das sie vorhatte.

„Oh, hoffentlich ist es nichts Ernstes“, sagte sie und legte sich anmutig eine Hand vor den Mund, um eine besorgte Miene vorzutäuschen.

„Nicht übertreiben“, raunte Sam ihr ins Ohr. Es war ihm gelungen, die meisten ihrer Verehrer zu vertreiben, und er stellte sich nun wie selbstverständlich an ihre Seite. „Nur eine Familienangelegenheit“, fuhr er fröhlich fort. „Ich bin sicher, dass Sie sehr bald wieder zurück sein werden.“

Sie legte graziös ihre Hand auf seinen Arm, und gemeinsam traten sie einen Schritt vor. Durch Ärmel und Handschuh hindurch spürte er ihre Wärme, und für einen Augenblick überlegte Sam, wie ihre Haut sich wohl unter seinen Lippen anfühlen würde. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort. Er hatte die Frau gerade erst kennengelernt. Was noch wichtiger war – sie war sein Mittel zum Zweck, um an das gesuchte Objekt heranzukommen. Also nicht die Richtige für ein Techtelmechtel.

„Soll ich Sie nicht lieber begleiten, Lady Georgina?“, fragte ein Mann ungefähr in Sams Alter mit misstrauisch gerunzelter Stirn. „Besser als dieser … Fremde.“

„Warum glauben Sie, dass ich ein Fremder bin?“ Sam amüsierte sich zum ersten Mal am heutigen Abend.

„Sie wollen doch wohl sicherlich nicht mit ihm fortgehen“, fügte ein anderer Mann hinzu. „Sie müssen doch die Gerüchte gehört haben?“

„Gentlemen, meine Mutter hat nach mir gefragt, und Mr. …“

„Robertson“, ergänzte Sam hilfsbereit.

„Mr. Robertson war so freundlich, mir die Nachricht auszurichten und mich zu ihr zu bringen. Ich werde bald zurück sein.“

Sam führte Lady Georgina durch die Menge und spürte dabei die neugierigen Blicke sämtlicher Gäste auf sich.

„Was haben Sie vor, Mr. Robertson?“, fragte Georgina leise.

„Vielleicht finden wir einen etwas ruhigeren Platz“, entgegnete er. Innerlich sah er ein dunkles, verlassenes Zimmer vor sich, nur von wenigen Kerzen beleuchtet, und darin Lady Georgina, die sich verführerisch in einem Sessel rekelte. Das hatte er zwar eigentlich nicht gemeint, aber die Vorstellung gefiel ihm trotzdem außerordentlich gut.

„Obwohl jeder im ganzen Ballsaal uns beobachtet? Ich muss an meinen Ruf denken.“ Sam war nicht sicher, ob er sich ihr kurzes Zögern nur eingebildet hatte. Ihre Wangen waren leicht gerötet, als hätte sie sich eben etwas Ähnliches vorgestellt wie er.

„Jeder hier ist äußerst interessiert an jeder unserer Bewegungen.“ Sam spürte die Blicke von mindestens zwanzig Menschen auf sich.

„Ich glaube, die Leute sind besorgt, dass der große böse Fremde mich kleines unschuldiges Geschöpf ausnutzen könnte.“

„Unwahrscheinlich“, sagte er. Lady Georgina war zwar die verwöhnte Tochter eines Earls und an eine große Schar Dienstboten gewöhnt, die sich um alle ihre Bedürfnisse kümmerten, aber eine schüchterne, zurückhaltende Unschuld war sie nicht. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass die angebliche Nachricht ihrer Mutter erfunden war, und doch war sie hier bei ihm und genoss für eine Weile die Abwechslung von ihrem Alltag. Mit ihren exotischen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.

„Vielleicht die Terrasse?“, schlug Lady Georgina vor. „Auch dort werden genügend Paare sein, aber vielleicht herrscht nicht ganz so viel Trubel.“

Sam geleitete sie durch den Ballsaal und hinaus auf die Terrasse. Natürlich hatte sie recht damit, dass es auch hier mehrere Pärchen gab, die sich an die Balustrade lehnten oder Arm in Arm in der frischen Luft herumspazierten. Immerhin wurden sie hier draußen etwas weniger scharf beäugt als drinnen. Wieder fühlte er sich fehl am Platze in dieser Welt. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass es überhaupt eine Terrasse gab, auf die man sich als Paar zurückziehen konnte. Die ganze Szenerie, überhaupt alles an diesem Abend, war ihm völlig fremd. Auf einem Pferd fühlte er sich zu Hause, wenn er durch die australische Landschaft ritt, um die Ursache für einen ausgetrockneten Brunnen zu finden oder um neues fruchtbares Land für die Aussaat zu suchen.

„Jeder im Ballsaal spricht über Sie.“ Sie blieben an einer Seite der Terrasse stehen.

„Sicherlich nur Gutes.“

Sie lachte, und Sam wusste sofort, dass es nicht das Lachen war, das für ihre Verehrer reserviert war. Dieses hier war echt. Es ließ ihr Gesicht strahlen von den exotischen Augen bis zum perfekt geformten Kinn.

„Wenn man allen Gerüchten glaubt, sind Sie ein Pirat, einer der ruchlosen Korsaren, die vor der afrikanischen Küste ihr Unwesen treiben. Oder Sie sind ein Ex-Sträfling aus der australischen Wildnis. Oder Sie sind ein französischer Spion, der den Krieg wieder anfachen will, der vor sechs Jahren endete.“

„Ich bin anscheinend ein ziemlich beschäftigter Mann.“ Sam merkte, dass er zu lächeln begann. „Ich frage mich, woher ich die Zeit habe, mich so vielen Unternehmungen zu widmen.“

„Und es ist Ihnen sogar gelungen, einen Besuch dieses einfachen kleinen Balls einzuschieben.“

„Wahrscheinlich nur, um meine schändlichen Pläne voranzutreiben.“

Sie lachte wieder. Ein anderes Paar, das langsam vorbeischlenderte, warf ihnen neugierige Blicke zu. Schnell nahm sie wieder einen ernsthaften Gesichtsausdruck an, doch Sam hatte einen kurzen Blick auf die Frau hinter der Fassade werfen können.

„Was tun Sie also hier?“, fragte Lady Georgina.

Er beantwortete ihre Frage nicht, sondern bedachte sie mit einem Lächeln, das ein wenig zu schön war, als gut für sie war. Und er zwinkerte.

„Ich führe die Aufträge Ihrer Mutter aus.“

„Das ist Unsinn. Meine Mutter liegt mit grässlichen Kopfschmerzen im Bett und wird nicht vor morgen Mittag wieder auftauchen.“

„Meine kleine Lüge ist Ihnen also aufgefallen.“ Mr. Robertson lächelte sie wieder an. So hatte er gewiss schon viele Herzen gebrochen. Er war sehr attraktiv mit strahlend blauen Augen in seinem offenen Gesicht, und er hatte das gewinnendste Lächeln, das sie je gesehen hatte. Natürlichen Charme verströmte er mit der Selbstverständlichkeit von jemandem, der genau weiß, wer er ist und was er will. Es war beinahe unmöglich, ihn nicht auf den ersten Blick zu mögen. Georgina verspürte ein kleines Flattern im Leib. Wenn sie zu viel Zeit mit ihm verbrachte, würde er ihr gefährlich werden. Dieser Mann hatte gewiss schon vielen Frauen den Kopf verdreht.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ Sie wich seinem Blick aus, weil sie befürchtete, sonst nicht mehr wegschauen zu können.

„Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, dass ich nur Ihre Bekanntschaft machen wollte?“

Es war überaus verführerisch, das Kompliment anzunehmen und sich von seinem Charme und strahlenden Lächeln einlullen zu lassen, um etwas zu tun, das sie später womöglich bereuen würde. Bis heute hatte Georgina nie verstanden, wie junge Damen alles vergessen konnten, was man ihnen immer wieder eingeschärft hatte, um sich mit Männern in dunklen Ecken herumzudrücken. Am Ende war ihr Ruf ruiniert. In diesem Moment jedoch spürte sie erwartungsvolle Spannung in sich aufsteigen wie kleine Bläschen im Champagner. Aber sie wusste genau, sie würde es bedauern, wenn sie darauf einging, darum riss sie sich zusammen und setzte eine ernsthafte Miene auf.

„Dann hätten Sie sich mir vorstellen lassen sollen“, sagte sie steif.

„Vergessen Sie nicht, ich bin Pirat, französischer Spion und Ex-Sträfling und habe nicht viele Beziehungen in der englischen Gesellschaft. Niemand würde mich einer schönen jungen Frau auf einem Ball vorstellen.“

„Und doch haben Sie es geschafft“, sagte Georgina leise.

Es war erstaunlich, dass er und seine beiden Freunde einfach in der Gesellschaft aufgetaucht waren, obwohl niemand so recht wusste, wer sie waren. Gerede ließen sie einfach an sich abprallen. Ein Gerücht besagte, einer der jungen Männer wäre ein Verwandter von Lady Winston. Das hätte ihre Einladung zu dem Ball erklärt. Doch davon abgesehen, wusste Georgina nicht, was sie glauben sollte.

Mr. Robertson lehnte sich lässig an die Balustrade. „Sagen Sie mal, mögen Sie eigentlich die vielen Aufmerksamkeiten Ihrer zahlreichen Verehrer?“

Georgina seufzte. Seit drei Jahren bewegte sie sich in der Gesellschaft. Seit ihrem eher späten Debüt im Alter von achtzehn Jahren wurde sie hartnäckig von diesen Männern verfolgt. Auf jedem Ball, jedem Opernabend gab es für sie zu viele Gläser Limonade, zu viele Angebote, sie zu begleiten, zu viele hoffnungsvolle Gesichter. Diese Männer würden alles für sie tun, wenn sie nur mit den Fingern schnippte. Anfangs hatte ihr die Bewunderung gefallen – wie sicher jeder jungen Frau –, doch schon nach wenigen Wochen hatte sie begriffen, warum man sie so umschwärmte.

„Manchmal denke ich, ich würde den nächsten Mann heiraten, der mich fragt, nur um sie loszuwerden.“ Sie war erstaunt über ihre eigene Ehrlichkeit.

Mr. Robertson warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Die anderen Pärchen auf der Terrasse schauten neugierig herüber.

„Ich weiß, es hört sich sehr eingebildet an“, fügte Georgina rasch hinzu.

„Sie glauben also, dass alle wegen Ihrer Familienbeziehungen hinter Ihnen her sind?“

„Und wegen meiner Mitgift.“

Georgina wusste, dass sie ziemlich hübsch war, und ihre Mutter hatte sie alles gelehrt, was eine Frau wissen und können musste. Sie spielte Klavier und konnte schön singen, einen Haushalt mit militärischer Präzision führen und eine Blumenvase in verschiedenen Techniken und Farben malen. Doch das alles waren nur zusätzliche Vorzüge. Ihre wichtigste Eigenschaft war, die Tochter eines Earls zu sein, eines der einflussreichsten Männer des Landes.

„Haben Sie Heiratsanträge zurückgewiesen?“

Georgina nickte. Sie spürte, dass ihre Wangen heiß wurden beim Gedanken an die vielen Männer, denen sie bereits einen Korb gegeben hatte. Ihren Vater hatte es nicht gestört, zumindest anfangs nicht, aber irgendwann würde seine Geduld ein Ende haben. Er würde ihr den nächstbesten Bewerber mit guten Beziehungen und guter Familie aufdrängen, ob sie den Mann mochte oder nicht.

„Ich muss allmählich zurückgehen.“ Sie machte einen Schritt in Richtung der Glastüren.

Eine warme, feste Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück, und sofort schlug Georgina alle Vorsicht in den Wind.

„Ein paar Minuten länger werden doch wohl nichts schaden. Oder sucht Ihr Vater sonst nach Ihnen?“

„Mein Vater?“ Georgina runzelte die Stirn.

„Sie sagten, Ihre Mutter sei daheim im Bett …“

„Mein Vater geht niemals zu solchen Veranstaltungen. Ich bin mit einer Freundin und ihrer Mutter hier.“

Ganz kurz glaubte sie etwas in seinen Augen wahrzunehmen. Es sah fast aus wie Enttäuschung. Aber was es auch war, es war sofort wieder verschwunden. Stattdessen zeigte er wieder die lockere Belustigung, die ihr allmählich vertraut war.

„Dann gibt es wirklich keinen Grund, warum wir nicht ein wenig länger hier verweilen können.“

„Sie vergessen meinen respektablen Ruf, Mr. Robertson. Wenn ich nicht in den nächsten paar Minuten wieder im Ballsaal auftauche, machen sofort alle Arten von Gerüchten die Runde.“

„Ich finde, man sollte das Getratsche einfach ignorieren.“

„Nicht alle können das so einfach. Eine junge Frau ist so viel wert wie ihr Ruf. Es war schön, mit Ihnen zu reden, Mr. Robertson, aber ich muss jetzt zurück in den Ballsaal.“

Mit einer kleinen Verbeugung reichte er ihr seinen Arm und geleitete sie nach drinnen. Als sie durch die Tür traten, spürte Georgina die Blicke sämtlicher anderer Gäste im Ballsaal auf sich. Es war töricht gewesen, überhaupt mit Mr. Robertson nach draußen zu gehen, nur weil sie sich auf einem Ball langweilte, den sie in ähnlicher Form wohl schon tausendmal besucht hatte. Man würde beginnen zu tuscheln. Nichts allzu Boshaftes, aber dennoch würde man tuscheln.

„Sie spielen zum Walzer auf“, hörte sie Mr. Robertsons Stimme erstaunlich nah an ihrem Ohr.

„Ich glaube, ich habe ihn bereits Mr. Wilcox versprochen.“ Georgina schaute umher, um ihren Tanzpartner zu entdecken.

„Tanzen Sie mit mir.“

Sie lachte, weil sie es für einen Scherz hielt, aber dann sah sie in seinem Gesicht, dass er es ernst meinte. Und der bloße Gedanke daran, dass er sie in seinen starken Armen hielt und mit diesen Lippen anlächelte, war verlockend … Doch sie durfte der Versuchung nicht nachgeben.

„Ich möchte Mr. Wilcox nicht enttäuschen.“ Sie zog ihren Arm zurück.

„Obwohl Sie es gern tun würden?“

Bevor sie es sich versah, hatte Mr. Robertson sie auf die Tanzfläche manövriert, wo die anderen Paare sich bereits zum Tanz aufgestellt hatten. Aus dem Augenwinkel sah sie Mr. Wilcox auf sich zukommen, doch er blieb stehen, als er Georgina in den Armen eines anderen Mannes sah.

„Was haben Sie sich dabei gedacht?“, zischte Georgina, als die Musik begann und sie die ersten Tanzschritte machten.

„Dass ich mit der schönsten Frau im Saal tanzen wollte.“

„Ich sagte Ihnen doch, dass ich für den Walzer schon vergeben war.“

Mr. Robertson zuckte mit den Schultern. Er hielt sie weiterhin in der korrekten Position und ließ keinen Schritt aus.

„Ich wollte mit Ihnen tanzen, Lady Georgina. Und ich bin der Meinung, dass man auf der Welt nicht viel erreicht, wenn man immer zurücksteht und abwartet, bis man endlich an der Reihe ist.“ Normalerweise hielt sie Abstand von jemandem mit so viel Selbstbewusstsein, aber zu dem Mann vor ihr passte es. Irgendwie fand sie seine lässige Art und die starken Arme sehr anziehend.

„Sie tanzen sehr gut“, sagte er bei der nächsten Drehung und nutzte die Gelegenheit, sie ein wenig enger an sich zu ziehen.

„Ich tanze hinlänglich gut“, korrigierte sie ihn. Sie kannte alle Schritte, trat nur selten einem Partner auf die Füße und konnte bei langsameren Tänzen eine Unterhaltung führen. Doch sie würde nie eine von den Frauen sein, die anmutig über den Tanzboden zu schweben schienen.

„Sie machen es einem Mann schwer, Ihnen Komplimente zu machen“, sagte er leise. „Nicht, weil es nichts Nettes gäbe, das man Ihnen sagen könnte, sondern weil Sie ständig widersprechen.“

„Normalerweise nicht“, entgegnete sie kaum hörbar. Sonst beantwortete sie alle Komplimente immer nur mit einem kleinen Lächeln und gesenkten Lidern. Die meisten ihrer Verehrer lobten die Schönheit ihrer Haare, Augen und Lippen, aber Georgina empfand das meiste nur als lächerlich und schwieg. Sie fand es einfacher, ein Kompliment zu akzeptieren, als darüber zu diskutieren, ob ihre Augen wirklich aussahen wie zwei glänzende Smaragde.

„Sie schulden mir etwas“, sagte Georgina, um das Thema zu wechseln.

„Wieso das?“

„Weil ich jetzt bei Mr. Wilcox wiedergutmachen muss, dass ich nicht mit ihm getanzt habe.“

„Glück für Mr. Wilcox.“

Georgina ignorierte die provozierende Bemerkung. „Zum Ausgleich möchte ich die Wahrheit über Sie erfahren.“

„Ob ich ein französischer Spion oder ein schlimmer Verbrecher bin?“

„Ja, genau. Wer sind Sie, Mr. Robertson?“

Er neigte sich näher zu ihr, als es der Anstand erlaubte, aber Georgina konnte sich ihm nicht entziehen. Alle starrten sie an, und sie wusste, dass spätestens morgen Mittag auch ihre Mutter wissen würde, dass Georgina zu eng mit einem unpassenden Gentleman getanzt hatte. Und doch genoss sie es, wir ihr sein Atem übers Ohr strich.

„Wenn ich es Ihnen verrate, verdirbt es den Reiz für Sie“, flüsterte er. „Dann haben Sie keinen Grund mehr, mich wiedersehen zu wollen.“

Georgina spürte einen Schauer ihren Rücken hinunterrieseln. Mr. Robertson war wohl kaum ein geeigneter Verehrer, und ihre Eltern würden ihr wahrscheinlich nicht einmal erlauben, ihn zu empfangen, aber er war erfrischend anders. Das machte ihn interessant und hob ihn ab von den meisten der heiratsfähigen Junggesellen Londons, die sie umwarben. Sie konnte immer noch nicht sicher einen vom anderen unterscheiden.

Die Musik verklang, und Mr. Robertson hielt sie einen Moment länger fest, als schicklich gewesen wäre. Als er sie losließ und sich formell vor ihr verbeugte, fühlte sie sich irgendwie beraubt.

„Ich glaube, dort sucht jemand Ihre Aufmerksamkeit.“ Er zeigte auf die dicht gedrängt stehenden Gäste.

„Lady Yaxley, meine Anstandsdame für heute Abend.“

„Zweifellos wird sie Sie für die Wahl Ihres Umgangs tadeln.“

„Es war mir ein Vergnügen, Mr. Robertson, aber nun muss ich mich verabschieden.“

„Bis zum nächsten Mal, Lady Georgina. Ich hoffe, es wird nicht allzu lange dauern.“

2. KAPITEL

Georgina, Sie müssen sich Ihre Begleiter sorgfältiger auswählen“, schalt Lady Yaxley, während sie eine Runde durch den Ballsaal drehten. „Einfach wegzulaufen und all die netten Gentlemen einfach so stehen zu lassen. Ihre arme Mutter bekäme einen Anfall, wenn sie es wüsste.“

Georgina unterdrückte ein Lächeln, als sie Caroline hinter ihrer Mutter die Augen verdrehen sah. Wenn Lady Yaxley beim Thema Anstand und gute Manieren in Fahrt kam, ließ man sie am besten schimpfen, bis sie außer Atem war.

„Sie würden nicht glauben, was man über diesen Mann, Mr. Robertson, hört. Es wäre absolut unschicklich, wenn Sie noch einmal mit ihm sprechen würden. Vielleicht kann der Schaden begrenzt werden, wenn Sie von jetzt an Abstand wahren.“

„Mama …“, sagte Caroline stöhnend.

„Du bist nicht besser, junge Dame. Glaube nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass du den netten Mr. Fielding von deiner Tanzkarte gestrichen hast. Das gehört sich nicht.“

„Sein Atem ist schlimmer als ein Misthaufen“, erklärte Caroline hinter ihrer Mutter.

„Über so etwas macht man sich nicht lustig. Vor drei Jahren war eure erste Saison, und keine von euch beiden ist verheiratet.“

„Aber nicht aus Mangel an Angeboten für Georgina“, stichelte Caroline.

„Ja, Ihr Vater ist bisher sehr nachsichtig gewesen“, meinte Lady Yaxley kopfschüttelnd.

Georgina kannte die Yaxleys schon ihr ganzes Leben lang. Sie und Caroline waren fast gleichaltrig und eng befreundet. Die beiden Familien lebten auf angrenzenden Landgütern, und es gab dort im Umkreis von vierzig Meilen keine weiteren adligen Familien. Sie hatten Glück, dass sie perfekt zueinanderpassten, und seit dem Alter von fünf Jahren waren sie unzertrennlich. Lady Yaxley war fast wie ein Familienmitglied für Georgina, also musste sie sich auch ihren Tadel anhören.

„Mutter, ist das nicht Lord Westcott, der deine Aufmerksamkeit sucht?“ Caroline wies mit dem Kopf zur anderen Seite des Ballsaales. Georgina lächelte erstaunt, als ihre Freundin einen Blick des Barons erhaschte und grüßend die Hand hob.

„Ich möchte den Ruheraum aufsuchen“, sagte Georgina rasch, um ihnen ein Gespräch mit Lord Westcott zu ersparen. „Caroline, kommst du mit und hilfst mir, mein Kleid zu richten?“

Lady Yaxley schaute sie misstrauisch an, aber sie nickte den jungen Frauen zu.

„Erzähl!“, sagte Caroline und hakte sich bei Georgina unter. „Erzähl mir alles über Mr. Robertson.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, erwiderte Georgina schulterzuckend. Es war die Wahrheit. Obwohl sie zwanzig Minuten in der Gesellschaft des Mannes verbracht hatte, wusste sie eigentlich nicht mehr über ihn als jeder andere im Ballsaal. „Schau mich nicht so an. Ich weiß wirklich nichts.“

„Du warst doch sogar draußen mit ihm. Das tust du doch sonst nicht. Mit niemandem.“

Da Georgina stets Angst hatte, mit einem Mann, den sie nicht heiraten wollte, in einer kompromittierenden Situation gesehen zu werden, blieb sie grundsätzlich niemals allein mit einem Gentleman.

„Wir waren nicht allein. Es waren noch andere Paare auf der Terrasse.“

„Ich kenne dich viel zu gut, Georgina Fairfax. Spiel nicht die Unschuldige.“

„Er war ziemlich dreist.“ Georgina bemühte sich um einen missbilligenden Ton, damit Caroline nicht merkte, dass sie von dem Mann beeindruckt war. Sie wollte keine hohlköpfige junge Frau sein, die sich vom ersten Mann hinreißen ließ, der sich unkonventionell benahm.

„Hat er versucht, dich zu küssen?“

„Nein.“ Georgina war beinahe enttäuscht, dass er es nicht versucht hatte. Aber er hatte ihr den Arm umgelegt, um sie zur Tanzfläche zu ziehen, und am Ende hatte er sie etwas zu lange festgehalten. Georgina war jedoch nicht sicher, ob es Absicht gewesen war oder nur der Beweis, dass er sich mit Fragen der Etikette nicht auskannte.

„Er hat danach mit keiner anderen mehr getanzt, sondern stand immer nur mit seinem Freund zusammen in der Ecke“, stellte Caroline fest.

„Du scheinst ja hingerissen zu sein“, sagte Georgina misstrauisch.

Ihre Freundin seufzte. „Ich bin es so leid, Georgie, die ganzen Bälle und Dinnerpartys und Opern. Und die langweiligen jungen Männer, die mich angeblich kennenlernen möchten, obwohl sie eigentlich dir vorgestellt werden wollen.“ Sie wedelte abwehrend mit der Hand, als Georgina protestieren wollte. „Wenn ein schneidiger französischer Spion oder ein australischer Sträfling mich bitten würde, mit ihm durchzubrennen, würde ich es wahrscheinlich tun. Willst du denn kein Abenteuer erleben? Ein bisschen Aufregung haben?“

Caroline hatte ihr Debüt zur selben Zeit wie Georgina gehabt, und nach mehr als drei Jahren begann man zu tuscheln, dass es für sie an der Zeit sei, wenigstens einen einzigen Heiratsantrag vorweisen zu können. Georgina wusste, dass ihre Freundin eine gute Partie für jeden der verfügbaren Junggesellen wäre. Sie brachte außer einer guten Mitgift ihre guten Familienbeziehungen mit und hätte längst mindestens einen Antrag erhalten müssen. Manchmal fragte sich Georgina, ob Caroline wohl absichtlich alle Verehrer entmutigte, um noch länger frei und unverheiratet zu bleiben, aber dieser Gedanke erschien ihr denn doch zu abwegig. Caroline war nicht rebellisch genug, um wirklich eine alte Jungfer sein zu wollen.

Doch Georgina sah auch einen Vorteil darin, allein so zu leben, wie man wollte, ohne einen Ehemann, der bestimmte, was man tun und lassen durfte. Viel zu oft träumte sie selbst von einem Leben, in dem sie ihre eigenen Entscheidungen treffen durfte. In stillen Momenten dachte sie darüber nach, wie wohl ihr Leben sein könnte, wenn sie ihre eigene Herrin wäre.

„Komm schon, bitte“, sagte Caroline auf dem Weg hinaus aus dem Ballsaal hin zum Ruheraum. „Erzähl mir jede Einzelheit über ihn.“

„Über wen?“ Die tiefe Stimme kam von hinten, und beide schreckten zusammen.

Georgina erkannte die Stimme – sie war klar und deutlich, ohne den affektierten Unterton der hundert anderen Männer auf dem Ball, die alle die gleichen drei Eliteschulen besucht hatten.

„Mr. Robertson“, sagte Georgina, als sie sich langsam umdrehte, „darf ich Ihnen meine liebe Freundin Miss Yaxley vorstellen?“

„Erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Yaxley.“

„Wir sprachen gerade über Sie, Mr. Robertson“, sagte Caroline, und Georgina stöhnte innerlich. Sie liebte ihre Freundin mehr als jeden anderen auf der Welt, aber manchmal wünschte sie, dass Caroline nicht jeden Gedanken laut aussprechen würde, der ihr durch den Kopf schoss. „Leider ist Georgina ein wenig zurückhaltend.“

„Im Gegensatz zu dir“, murmelte Georgina und stieß Caroline leicht in die Rippen.

Mr. Robertson schaute sie sichtlich amüsiert an. „Kann ich die Damen irgendwo hinbegleiten? Unterwegs kann ich vielleicht einige Ihrer Fragen beantworten.“

„Ich begebe mich kurz in den Ruheraum“, sagte Caroline leise. „Aber Georgina, warum gehst du nicht schon mit Mr. Robertson vor, und ich komme gleich nach.“

Georgina warf ihrer Freundin einen warnenden Blick zu.

„Es dauert nur zwei Minuten“, sagte Caroline fröhlich und verschwand.

Allein mit Mr. Robertson, sah Georgina ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

„Sind Sie mir gefolgt?“

„Werden Sie denn oft von Männern verfolgt?“

„Nicht so offensichtlich.“ Sie fühlte sich im Stich gelassen von Caroline und musste ihren Ärger loswerden.

„Ich finde es sinnlos, zurückhaltend zu sein.“ Mr. Robertson lächelte so selbstsicher, dass Georgina beinahe den Faden verloren hätte.

„Man sieht es.“

„Und Sie haben gelogen“, sagte er und trat etwas näher. Georginas Herz schlug schneller, als er mit seinem Arm unschuldig ihren Arm berührte.

„Habe ich nicht.“

„Sie sagten, dass eine Frau niemals mit einem Mann allein sein dürfe.“ Er zögerte kurz. „Und hier sind wir allein.“

Georgina schaute sich schnell um. Der verdammte Mann hatte recht. Sie waren allein. Unabsichtlich von ihrer Seite aus, aber trotzdem allein. Wenn in diesem Moment eine besonders neugierige Person sie zusammen erspähte, würde die Gerüchteküche sofort angeheizt.

„Sagen Sie“, fragte er, ohne sich von ihr wegzubewegen, „was würde passieren, wenn man uns beide allein hier entdecken würde?“

„Mein Ruf wäre zerstört, und mein Vater würde mich schnell und unauffällig mit dem nächstbesten Mann verheiraten, der mich haben will.“

„Und das wollen wir doch nicht.“ Mr. Robertson nahm ihren Arm und ging rasch mit ihr um die Ecke, als zwei ältere Frauen aus dem Ballsaal kamen.

Georgina hielt den Atem an und hoffte, die beiden würden sich nicht umschauen. Erst, als die Frauen außer Sichtweite waren, fiel ihr auf, wie dicht sie neben ihrem Begleiter stand. Sein Körper war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und sie spürte seine Körperwärme. Doch es war keine beabsichtigte Nähe, auch von ihm aus offenbar nicht, denn er schien sie kaum wahrzunehmen und machte keine Anstalten, sie zu berühren oder zu küssen.

Zu ihrem eigenen Erstaunen war Georgina eher enttäuscht darüber. Die meisten Männer hätten die Situation ausgenutzt, was sie jedes Mal verärgerte. Seltsamerweise hätte sie aber nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn Mr. Robertson es darauf angelegt hätte, sie zu küssen. Natürlich hätte sie ihn abgewiesen, aber ein Versuch hätte ihr gefallen.

„Wir müssen gehen. Einzeln.“

Er schaute sie mit einem Blick an, mit dem er jeden Zoll ihres Körpers in sich aufzunehmen schien.

„Wie Sie wünschen, Mylady.“ Er machte eine spöttische Verbeugung. „Doch ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“

Georgina nickte. Ihr Herz schlug noch schneller. Sie hatte sich wohl in eine leichtsinnige Achtzehnjährige zurückverwandelt.

„Erlauben Sie mir, Sie morgen aufzusuchen.“

Sie hatte erwartet, dass er sie um einen Kuss bitten würde, und war darauf eingestellt, ihm die Hand zu geben. Nun war sie für einen Moment unsicher und nickte, bevor sie darüber nachgedacht hatte.

„Dann gehe ich als glücklicher Mann.“ Er ergriff ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen.

Mr. Robertson schaute sich rasch um, ob sie immer noch allein waren, dann eilte er zurück in den Ballsaal, ohne sich noch einmal umzusehen. Georgina stand immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle, als Caroline zwei Minuten später zu ihr stieß. Sie bemühte sich um eine gleichmütige Haltung, bevor ihre Freundin auf die Idee kam, es könnte etwas geschehen sein.

3. KAPITEL

Ben Crawford blickte Sam an und trank einen großen Schluck aus der feinen chinesischen Teetasse. In seinen rauen Händen sah das Trinkgefäß irgendwie fremdartig aus, aber Crawford schien es nicht aufzufallen.

Sam zog eine Augenbraue hoch und wartete ab, was sein Freund zu sagen hatte. Er aß weiter seinen Fisch zum Frühstück, während das Schweigen andauerte.

„Ich weiß, du willst Rache am alten Earl nehmen, aber seine Tochter zu kompromittieren … das ist übel, selbst für deine Verhältnisse“, sagte Ben endlich.

„I…ich habe nicht vor …“, begann Sam stotternd, dann trank er noch einen Schluck Tee und sprach weiter. „Ich habe nicht vor, seine Tochter zu kompromittieren.“

„Du warst aber gestern auf dem direkten Wege dahin. Den ganzen Abend habe ich von allen Seiten gehört, wie skandalös Lady Georgina sich gegenüber einem ausländischen Tunichtgut verhalten hat.“

„Ich habe mit dem Mädchen nur getanzt.“

„Und sie dann in eine dunkle Ecke gezerrt.“

„Wohl kaum.“

„In England herrschen andere Regeln als bei uns. Hier wirfst du dir die Auserkorene nicht einfach über die Schulter und hältst ihr eine Pistole an den Kopf, bis sie nachgibt und dich heiratet.“

„Weil wir das in Australien immer so machen?“ Sam lehnte sich zurück auf seinem Stuhl. „Ich werde Lady Georgina nicht kompromittieren“, sagte er mit fester Stimme. „Ich brauche sie nur, um Zutritt in ihr Haus zu erlangen und die Familie näher kennenzulernen.“

„Also willst du nicht den Vater bestrafen, indem du die Tochter entehrst?“

„Nein.“

Der Gedanke war ihm kurz durch den Kopf gegangen, aber trotz seiner Verurteilung hielt er sich für einen Ehrenmann. Es war nicht das Gleiche, sich an dem Mann rächen zu wollen, der sein Leben zerstört hatte, oder eine Unschuldige mit hineinzuziehen, nur weil sie seine Tochter war.

Er hatte nicht erwartet, dass er sie mögen würde. Da sie die Tochter dieses Mannes war, hatte er angenommen, sein Interesse an ihr heucheln zu müssen, um an sie heranzukommen. Doch tatsächlich fand er sie sympathisch und sogar etwas zu anziehend. Es war die Art, wie sie ihn ansah mit ihren großen grünen Augen. Und die Wärme, die ihn erfüllt hatte, als er ihr seinen Arm um die Taille legte. Und der überwältigende Wunsch, sie zu küssen, als sie allein in dem Flur warteten. Eigentlich durfte er sie nicht mögen, aber es war so. Daher hatte er beschlossen, sie nicht mehr in seinen Racheplan zu involvieren, als unumgänglich war.

„Hast du bekommen, was du wolltest?“, fragte Ben.

„Lady Georgina hat mir erlaubt, sie heute aufzusuchen.“ Sam war sehr zufrieden mit sich selbst.

Als er mit Ben Crawford und George Fitzgerald nach England zurückgekommen war, hatte er nur seine Rache im Kopf gehabt. Er wollte Lord Westchester in die Augen sehen und den Mann mit dem konfrontieren, was er ihm achtzehn Jahre zuvor angetan hatte. Allein Lord Westchester war verantwortlich für Sams zu Unrecht erfolgte Verurteilung wegen Diebstahls und die darauffolgende Deportation nach Australien. Nun würde er für immer mit dem Makel eines Ex-Sträflings leben müssen. Niemals würde er die vielen Jahre der Zwangsarbeit vergessen, die Monate im schmutzigen Schiffrumpf oder die Trauer des zehnjährigen Jungen, der von seiner Heimat und Familie und allem anderen fortgerissen worden war, das ihm je etwas bedeutet hatte. Am Tag seiner Verurteilung hatte er seine Familie zum letzten Mal gesehen. Und in all dieser Zeit hatte der Earl ein Luxusleben geführt und wahrscheinlich nie wieder an den kleinen Jungen gedacht, den er vor all den Jahren der Obrigkeit übergeben hatte.

„Und du glaubst, der Earl ist zu Hause?“

Sam nickte.

„Ihr seid früh auf, Jungs“, sagte Lady Wilson, die gerade in das Esszimmer trat.

Erst in den frühen Morgenstunden waren sie von dem Ball heimgekehrt, aber die beiden jungen Männer waren es nicht gewöhnt, nach sieben Uhr noch im Bett zu liegen.

„Guten Morgen, Lady Winston“, sagte Sam und erhob sich, doch die ältere Frau wedelte mit der Hand, um zu zeigen, dass sie auf Formalitäten keinen Wert legte.

„Tante Tabitha“, sagte sie, nicht zum ersten Mal.

„Guten Morgen, Tante Tabitha“, sagte Crawford folgsam und küsste sie auf die Wange, bevor er sich wieder setzte.

„George hat mich vor eurem Charme gewarnt.“ Sam unterdrückte ein Lächeln. Crawford war unwiderstehlich für Frauen, egal welchen Alters. Er hatte eine so charmante Art, dass sie ihm geradezu in die Arme zu fallen schienen.

„Seid ihr gut versorgt worden heute Morgen?“

Beide nickten. Sam fühlte sich fast wieder wie ein kleiner Junge, obwohl er ein erfolgreicher Landbesitzer von bald dreißig Jahren war. Lady Winston war weder mit ihm noch mit Ben verwandt, aber sie behandelte sie genauso wie ihren Neffen George.

Die drei Männer waren wie Brüder, obwohl sie einen sehr unterschiedlichen Hintergrund hatten. George Fitzgerald war ein reicher Landbesitzer, und sein Vater war der zweite Sohn eines verarmten Barons. Viele Leute verstanden nicht, warum ein Mann aus guter Familie wie Fitzgerald sich mit zwei ehemaligen Sträflingen abgab, gleichgültig wie reich und erfolgreich sie heute waren. Tante Tabitha akzeptierte sie jedoch als Brüder, obwohl keine Blutsverwandtschaft bestand. Sie behandelte alle drei gleich.

„Stimmt es, dass du heute der schönen Lady Georgina einen Besuch abstattest?“

„Ja, ich dachte mir, ich schaue nach dem Frühstück mal bei ihr vorbei.“

„Mein lieber Junge, man schaut nicht einfach vorbei, und vor allem nicht gleich nach dem Frühstück.“

Sam machte ein gequältes Gesicht. Natürlich gab es Vorschriften, wenn man eine junge Lady besuchen wollte. Wie für alles andere in dieser Gesellschaft.

„Klären Sie mich auf, Tante Tabitha.“

„Zunächst einmal ist die passende Zeit für einen Besuch zwischen elf und drei Uhr.“

Sam blickte zur Wanduhr. Es war erst kurz nach acht Uhr morgens.

„Wenn man ankommt, gibt man zunächst dem Butler seine Karte, und dieser erkundigt sich dann, ob die junge Lady zu Hause ist.“

„Na klar wird sie zu Hause sein, denn sie hat es mir gesagt.“ Sam fand das Ganze ziemlich lächerlich. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Crawford ein Lachen unterdrückte, und warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Oh, sie wird wahrscheinlich daheim sein, aber vielleicht möchte sie dich nicht empfangen. In diesem Fall wird der Butler dir mitteilen, dass Lady Georgina für Besucher nicht zu sprechen ist.“

„Sie würde mich abweisen?“

„Sie könnte es sich anders überlegt haben.“ Tante Tabitha tätschelte ihm die Hand. „Wenn sie dich als Besucher akzeptiert, wirst du in den Salon geführt, wo Lady Georgina mit ihrer Mutter sein wird. Und nach zwanzig Minuten leeren Geplauders erwartet man von dir, dass du wieder gehst.“

„Klingt nach einem aufregenden Nachmittag.“ Crawford klopfte ihm auf den Rücken.

„Und ihr Vater?“

„Ach ja, der Earl. Den bekommst du höchstwahrscheinlich gar nicht zu Gesicht. Nur bei einem Ehrengast würde er kurz auftauchen.“

Also musste er das ganze Palaver durchstehen, ohne sicher zu sein, dass der Earl überhaupt auftauchte. Er atmete tief durch. Heute war erst ihre zweite Woche in London, und er hatte immerhin schon die Bekanntschaft von Lord Westchesters Tochter gemacht. Er würde genug Zeit haben, die Beziehung auszubauen und ein Treffen mit dem Earl zu arrangieren. Zeit genug, um den ersten Schritt seines Racheplans in die Tat umzusetzen.

Wenn er sich dem Earl zum ersten Mal näherte, musste er zuerst herausfinden, ob der ältere Mann sich an ihn erinnerte. Sam war nicht mehr der schlaksige Junge von einst. Er war zu einem gut gebauten Mann herangewachsen, seit der Earl ihn zuletzt gesehen hatte. Doch manche Menschen hatten ein erstaunlich gutes Gedächtnis. Wenn er sicher war, dass der Earl seine wahre Identität nicht erkannte, konnte er zum zweiten Schritt übergehen.

„Warum bist du eigentlich so an Lord Westchester interessiert?“ Lady Winston kniff die Augen zusammen und schaute ihn misstrauisch an.

„Es ist vermutlich am besten, wenn Sie das nicht wissen.“ Sam lächelte, um die Situation zu entschärfen.

„Wahrscheinlich hast du recht.“ Lady Winston seufzte. „Falls du etwas Schlimmes vorhast, ist es besser, wenn möglichst wenige darüber Bescheid wissen.“

Er plante Schlimmes, aber er hatte gute Gründe. Vor achtzehn Jahren war Sams Mutter als Hilfsköchin im Haushalt des Earls angestellt gewesen. Einmal nahm sie Sam mit zur Arbeit, um sich von ihm bei Erledigungen helfen zu lassen. Danach war er beschuldigt worden, Lady Westchesters Smaragde gestohlen zu haben. Ohne wirkliche Beweise vorzulegen, hatte der Earl seinen Einfluss genutzt, um Sams Verurteilung und Deportation nach Australien zu erwirken. Wenig später saß der Knabe tief im Inneren eines der schmutzigen Transportschiffe auf dem Weg in die Fremde. Kurze Zeit später erlagen dann seine Mutter und Schwestern einem Winter-Fieber. Sam hatte nicht nur seine Kindheit und seine Heimat verloren, sondern auch die Möglichkeit, jemals seine Familie wiederzusehen.

In all den Jahren war der Earl immer weiter in den Fokus seines Zorns gerückt. Sam war überzeugt davon, dass der ältere Mann ihn bewusst verleumdet hatte, aber er kannte den Grund dafür nicht. Und nun war er zurückgekehrt, um Rache zu nehmen und den Plan auszuführen, den er in den vergangenen achtzehn Jahren geschmiedet hatte.

„Wenn ich sowieso drei Stunden warten muss, bis ich Lady Georgina aufsuchen darf, reite ich in der Zeit aus.“

Da sie gerade aus Australien gekommen waren, besaß keiner der Männer ein Pferd. Doch Lady Winston hatte ihnen Reitpferde gemietet für die Monate ihres Aufenthalts in London, denn sie war der Ansicht: Kein Gentleman sollte ohne Reitpferd auskommen müssen.

„Ziehe deinen besten Reitanzug an!“, rief sie ihm nach, als er hinausging.

Er murrte zwar über die lächerliche englische Angewohnheit, sich für jede neue Tätigkeit umzuziehen, aber trotzdem zog er seine Hirschlederhose, ein langes Jackett und hohe Reitstiefel an. Obwohl er eigentlich mit der Gesellschaft nicht viel zu tun haben wollte, durfte er nicht zu sehr aus dem Rahmen fallen, sonst kam er nie an den Earl heran.

Auf dem Weg nach oben zu seinem Zimmer dachte er an Lady Georgina. Obwohl sie eigentlich nur Mittel zum Zweck sein sollte, musste er immer wieder an ihr Lächeln und den Glanz ihrer Augen denken. Und an die schönen Rundungen ihres Körpers. Es würde ihm nicht schwerfallen, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Doch er durfte sein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Seit achtzehn Jahren wartete er auf diesen Moment. Er wollte sich nicht ablenken lassen von einer Frau – selbst, wenn sie die erste Frau seit langer Zeit war, der es gelang, seine Aufmerksamkeit zu fesseln.

Georgina schaute verstohlen zurück, als sie durch die Hintertür in den Hof schlich, wo Richards, der junge Reitknecht, auf sie wartete. Um diese Zeit durfte sie eigentlich noch nicht ausgehen, besonders nach so einer langen Nacht, aber nach einem Ball konnte sie nie gut schlafen. Sie hatte immer noch den Klang der Musik in den Ohren, der Champagner schien noch in ihrem Blut zu prickeln, und wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder die hellen Lichter und schönen Kleider vor sich.

Zweifellos würde ihre Mutter sie später dafür tadeln. Immerhin hatte Mama aber aufgehört, Richards für die Begleitung Georginas auf ihren frühen Ausritten zu maßregeln. Ihre Mutter wusste, dass der junge Reitknecht ihre eigensinnige Tochter sowieso nicht davon abhalten konnte und sie nur begleitete, weil er um ihre Sicherheit besorgt war.

Geschickt schwang Georgina sich ohne Unterstützung in den Sattel, denn sie ließ sich nicht gern helfen. Ihre Mutter fand, das gehöre sich nicht für eine Lady, doch Georgina hielt es für nützlich, allein auf ein Pferd steigen zu können.

Insgeheim träumte sie von Abenteuern und davon, ohne Reitknecht oder andere Begleiter in die Wildnis hinausreiten zu können. Der Traum war unerfüllbar, doch nichtsdestoweniger träumte sie weiter.

„Wohin möchten Sie heute Morgen, Mylady?“

„Hyde Park, Richards. So bekommen die Pferde ein wenig Auslauf.“

Sie sah, dass der junge Knecht das Stöhnen unterdrückte, und hätte fast gelächelt. Sie würden zur Rotten Row reiten, wo normalerweise die Angesehensten der Gesellschaft fein gekleidet zu ihrem Vergnügen ausritten, vor allem aber, um gesehen zu werden. Um diese frühe Stunde jedoch würden sie dort nur wenige Reiter antreffen. Hauptsächlich Pferdeknechte, die die Pferde ihrer Herrschaft trainierten. Später am Morgen war es dann ein ungeschriebenes Gesetz, dass man auf der Rotten Row nur in gemäßigtem Schritttempo ritt.

Wie immer übernahm sie die Führung. Geschickt lenkte sie ihr Pferd durch die Straßen bis zum Parkeingang. Erst als sie über die gewohnten Pfade im Park ritten, konnte Georgina sich entspannen. Sie war froh, dass bisher keiner ihrer Verehrer ihre Vorliebe für frühmorgendliche Ausritte entdeckt hatte. Sonst würde sie immer wieder zufällig auf diese Männer treffen.

„Bitte reiten Sie nicht zu weit voran, Mylady!“, rief Richardson hinter ihr.

Im Moment war er noch dicht hinter ihr, aber der junge Knecht wusste aus Erfahrung, das Georgina bald ihre schöne graue Stute, Lady Penelope, galoppieren lassen würde. Er blieb dann immer weit zurück.

Georgina nickte grüßend den wenigen anderen Reitern an diesem frühen Morgen zu, dann ließ sie die Zügel locker. Es war für Lady Penelope das Signal, schneller zu laufen. Als sie trabte und dann in einen leichten Galopp überging, warf Georgina den Kopf zurück und erfreute sich am Gefühl des Windes in den Haaren. Am liebsten hätte sie es wie eine mittelalterliche Prinzessin offen hinter sich herflattern lassen.

Rotten Row war nicht mehr als eine Meile lang. Viel zu schnell war sie am anderen Ende und musste Lady Penelope zügeln, um Richards das Aufholen zu ermöglichen. An dieser Seite der Rotten Row war es noch ruhiger um diese Zeit. Viele Pferdeknechte blieben lieber am anderen Ende, wo sich die Hyde Park Corner befand, um sich mit den Kollegen über ihre Herrschaften zu unterhalten. Doch als sie wendete, sah sie, dass Richards von einem Reiter überholt wurde.

Sie erkannte ihn an der Haltung. Offensichtlich fühlte er sich zu Pferd sehr wohl. Der Mann war ein echtes Naturtalent. Sie versuchte jedoch, ihre Freude über die Begegnung mit Mr. Robertson zu bändigen, denn sie fragte sich, ob er sie mit Absicht hier treffen wollte. Obwohl das unwahrscheinlich war, weil sie ihre morgendlichen Ausritte immer geheim gehalten hatte.

„Lady Georgina“, begrüßte er sie mit tiefer warmer Stimme und passte sich ihrem Tempo an. Richards war ihm direkt auf den Fersen, aber sie gab ihm ein Zeichen, dass alles in Ordnung war und er Abstand halten sollte.

„Mr. Robertson, welche Überraschung, Sie hier zu sehen.“

„Glauben Sie etwa, ich verfolge Sie?“ Er lächelte. Seine erstaunlich weißen Zähne blitzten in dem sonnengebräunten Gesicht.

„Es ist also nur ein Zufall …?“, sagte sie, als müsste sie sich selbst davon überzeugen. Sie schaute ihn an. Bewundernd stellte sie fest, wie natürlich er zu Pferd saß, wie gut seine Haltung war und wie ausgezeichnet er ritt. Seine gewölbten Muskeln unter der Reitkleidung waren nicht zu übersehen, und die gebräunte Haut verriet, dass er viel Zeit unter gleißender Sonne verbracht hatte. Schnell wandte sie den Blick ab und konzentrierte sich.

„Schätze, ich bin Ihnen tatsächlich gestern vom Ballsaal aus gefolgt, aber nicht einmal ich würde einer jungen Lady auflauern, wenn sie zu ihrem Vergnügen ausreitet.“

„Und Sie? Reiten Sie zum Vergnügen?“

Sie wusste zwar nicht viel über Mr. Robertson, aber dafür umso mehr darüber, wie die Gesellschaft funktionierte. Wenn ein junger Mann frisch in London ankam und nicht viele Familienbeziehungen hatte, würde er Schwierigkeiten haben, ein Reitpferd zu finden. Wenn er eines für die ganze Saison mietete, zeugte es von großer Freude am Reiten.

„So ist es. Daheim bin ich mindestens fünf Stunden am Tag zu Pferd. Ausritte nur zum Vergnügen sind es nicht, aber ich könnte es nicht ertragen, monatelang gar nicht zu reiten.“

„Daheim?“ Georgina versuchte, ihre Frage harmlos klingen zu lassen.

Er schaute sie eine Weile an, und sie fragte sich, ob er der Frage nach seiner Herkunft erneut ausweichen wollte. „Australien“, sagte er schließlich. „Ostküste.“

Dorthin wurden die verurteilten Strafgefangenen deportiert. Georgina nahm sich zusammen, damit die Fantasie nicht mit ihr durchging. Sie dachte unwillkürlich an brutale Kriminelle, Männer in Ketten, die unter glühend heißer Sonne Zwangsarbeit verrichteten. Sie hatte noch nie ein Bild von Australien gesehen, aber in ihrer Vorstellung bestand dieser Teil der Erde hauptsächlich aus Sand in der Farbe gelben Bernsteins. Und es herrschten extreme Arbeitsbedingungen dort.

Ihr wurde der Mund trocken, als sie sich unwillkürlich Mr. Robertson mit nacktem Oberkörper ausmalte, wie er sich, angekettet an andere Sträflinge, in einer Arbeitskolonne abrackerte. Schnell stellte sie eine Frage, irgendeine Frage, um sich von diesem Bild zu befreien.

„Wie ist es dort?“

Mr. Robertson lachte leise. „Absolut anders als alles, was Sie sich vorstellen können.“ Er hielt inne. Nach einem Moment fuhr er fort. „Es ist völlig anders als in England. In jeglicher Beziehung. Die Menschen sind rauer und haben keine Zeit für die Vorschriften oder Manieren, die hier in London allen so viel bedeuten. Das Land ist hart, aber wunderschön. Ich habe schon manchen Mann in die Wildnis verschwinden sehen, der nie wieder auftauchte.“

„Das würde in Surrey oder Sussex nicht geschehen.“

„Doch trotz aller Herausforderungen, denen man dort ausgesetzt ist, hat es auch etwas Verzauberndes an sich. So blaues Meer, so goldenen Sand gibt es sonst nirgendwo. Oder so riesige Landflächen ohne jedes Zeichen von Besiedlung.“ Er starrte ins Leere, als erinnerte er sich daran voller Zuneigung. „Vermutlich denkt jeder so über seine Heimat, wo immer sie sein mag.“

„Sind Sie dort geboren?“

Er schaute plötzlich auf und zog die Augen zusammen. „Nein“, sagte er brüsk.

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Mr. Robertson war offensichtlich tief in Gedanken versunken über das Land, das er offenbar sowohl liebte als auch ein wenig fürchtete.

„Sie sind in Hampshire geboren“, sagte er nach mehreren Minuten.

„Haben Sie sich nach mir erkundigt?“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte. „Ich wohne bei Lady Winston. Sie weiß Bescheid über alles und jeden.“

„So ist es.“ Im ton gab es keine Geheimnisse. Nur wenige Menschen wurden von ihrer Mutter als passende Freunde erachtet, darum war Georginas soziales Umfeld klein. Die reichsten Angehörigen des Adels – die mit den ältesten Familien und den größten Landgütern – verkehrten nur mit Leuten in ähnlicher Position. Das hieß, dass man auch ziemlich viel Zeit mit Personen verbringen musste, die man vielleicht nicht einmal besonders mochte.

„Sind Sie mit ihr verwandt?“ Sie näherten sich Hyde Park Corner und wendeten für eine weitere Runde auf der Rotten Row.

„Nicht direkt … Ich bin mit zwei guten Freunden nach England gekommen, Mr. Sam Crawford und Mr. George Fitzgerald, Lady Winstons Neffe.“

Was hatte nicht direkt zu bedeuten? Vermutlich gab es Menschen, die so enge Freundschaften pflegten, dass diese Menschen für sie wie Familienmitglieder waren. Sie selbst hatte eine ähnliche Freundschaft mit Caroline und empfand gegenüber deren Mutter auch so.

Gerade wollte Georgina eine weitere Frage stellen, da hörte sie in der Ferne einen Schrei. Mr. Robertson schaute sich um und versuchte herauszufinden, wer geschrien hatte.

Ein reiterloses Pferd kam aus einiger Entfernung rasend schnell auf sie zu galoppiert. Der Reitknecht war abgestürzt und war gerade im Begriff, wieder aufzustehen. Das Pferd schien vor irgendetwas zu scheuen, seine Nüstern waren weit aufgerissen, und es warf den Kopf wild hin und her.

„Bleiben Sie auf dieser Seite.“ Mr. Robertson wies auf den Zaun. Dort würde sie in Sicherheit sein, da der Hauptpfad ein paar Meter entfernt war. Georgina hatte großen Respekt vor Pferden und wusste, welchen Schaden sie anrichten konnten, wenn sie in Panik gerieten.

Sie sah, dass Mr. Robertson einen Moment die Augen zusammenkniff, als überlegte er, was zu tun wäre. Dann ritt er in eine andere Richtung als das verängstigte Tier.

Das herrenlose Pferd raste auf ihn zu. Er passte sein Tempo dem des anderen Tieres an, und als das reiterlose Pferd ihn erreichte, waren beide Pferde gleich schnell. Der Pfad endete bald, darum musste er etwas unternehmen, damit das Tier nicht in den Park hineinlief, wo es zu einer Gefahr für nichtsahnende Spaziergänger werden würde.

Als Georgina gerade fürchtete, es könnte bereits zu spät sein, sah sie, dass Mr. Robertson sich zu dem anderen Pferd hinüberbeugte und die Zügel ergriff. Dann wechselte er blitzschnell von seinem Pferd auf das andere. Das verängstigte Pferd buckelte, doch nach wenigen Sekunden hatte es sich beruhigt und fiel in einen ruhigen Trab.

Mr. Robertson stieg ab, fing sein eigenes Pferd ein und führte beide Tiere zu Georgina und dem erstaunten Knecht. Sie sah, dass er unablässig beruhigende Worte murmelte, damit die Tiere ruhig blieben.

„Ich danke Ihnen“, sagte der Pferdeknecht erfreut und sichtlich beschämt.

„Ein lebhaftes Tier“, meinte Mr. Robertson in fast bewunderndem Ton und übergab dem Mann die Zügel.

„Wo haben Sie das gelernt?“, fragte Georgina, als sie wieder allein waren, obwohl sie viele Blicke von allen anderen Knechten erhielten.

„Das ist meine Arbeit. Mir gehört die größte Pferdezucht in Australien. Mehr oder weniger die einzige in Australien.“

„Sie züchten Pferde?“

„Ich züchte sie, ziehe sie groß, trainiere und verkaufe sie.“

Kein Verbrecher also. Georgina seufzte. Wahrscheinlich war er sehr reich, obwohl sie nicht wusste, ob man das Einkommen eines australischen Landbesitzers mit dem eines englischen vergleichen konnte. Obwohl das für ihre Eltern sowieso keine Rolle spielte, denn sie würden ihn von vornherein ablehnen. Er war „neureich“, also jemand, der seinen Aufstieg und sein Geld durch eigene Arbeit erreicht hatte. Es gab Leute, die es bewundernswert fanden, sich selbst durch Arbeit ihr Vermögen zu verdienen, doch ihre Eltern gehörten ganz sicher nicht dazu. Die Einzigen, die ihnen etwas bedeuteten, hatten ihr Geld geerbt, vorzugsweise von einer langen Reihe adliger Vorfahren.

War dies der Grund dafür, dass sie sich zu Mr. Robertson so unwiderstehlich hingezogen fühlte? Er war auf eine ungekünstelte Art attraktiv, hatte einen gut gebauten Körper mit breiten Schultern und harten Muskeln an den richtigen Stellen, aber Georgina glaubte, dass es mehr als nur körperliche Anziehungskraft war. Sie wusste, dass es junge Frauen gab, die den „falschen Männern“ nachliefen, weil ihre Eltern sie nicht guthießen. Sich selbst hatte sie nie für rebellisch oder so oberflächlich gehalten. Und doch fragte sie sich gerade jetzt, wie sie wohl mehr Zeit mit Mr. Robertson verbringen konnte, obwohl zwischen ihnen nie etwas sein durfte.

„Ich muss nach Hause.“ Plötzlich fühlte Georgina sich leicht unwohl. Wenn sie noch bei Verstand war, beendete sie sofort diese Beziehung und sah den Mann niemals wieder.

„Möchten Sie, dass ich Sie begleite?“

„Nein“, sagte sie schnell, viel zu schnell. „Danke, aber nein.“

Mr. Robertson lächelte sichtlich amüsiert. „Erlauben Sie mir denn, Sie später zu besuchen, wie vereinbart?“

Jetzt musste sie ablehnen, eine Entschuldigung vorbringen. Doch sie nickte nur stumm.

„Und Sie werden für mich zu sprechen sein?“

Georgina trug gelegentlich dem Butler auf, einen Besucher abzuweisen, obwohl sie zu Hause war. Doch eigentlich tat sie so etwas nicht gern, wenn jemand sich die Mühe gemacht hatte, sie aufzusuchen.

„Das werde ich.“

„Dann bis nachher, Lady Georgina.“

„Auf Wiedersehen, Mr. Robertson.“

4. KAPITEL

Geschickt unterdrückte Georgina das Gähnen. Mr. Wilcox verlas gerade ein Gedicht, das mindestens drei Seiten lang war, und er war immer noch auf der ersten Seite. Die Verse waren nicht gut und außerdem langweilig. Sie bemühte sich, nicht genau zuzuhören, damit sie nicht lachen musste, denn das wäre unhöflich. Mr. Wilcox war ein recht netter junger Mann, der ihr beharrlich den Hof machte, ohne je ein Zeichen der Ermutigung zu erhalten. Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen, obwohl das Gedicht wahrhaft grässlich war.

„Wollte ich Ihre Haut vergleichen,

dann mit dem weißen Gips eines Springbrunnens.

Ihre Lippen würde ich vergleichen

mit der roten Rose, die daneben wächst.“

Waren Springbrunnen überhaupt mit Gips verputzt? Sie kannte nur Brunnen aus Stein.

„Mr. Robertson bittet darum, Lady Georgina seine Aufwartung machen zu dürfen“, verkündete der Butler. Dabei wandte er sich an Lady Westchester, die Georgina einen fragenden Blick zuwarf.

„Ich habe gestern Abend auf dem Ball seine Bekanntschaft gemacht.“ Sie vermied es, ihre Mutter anzusehen. „Er ist mit Lady Winston verwandt“, flunkerte sie.

„Bringen Sie ihn herein.“

Georgina betrachtete die Stickarbeit in ihrer Hand und versuchte, sich innerlich auf die nächsten Minuten einzustellen. Auch ohne seinen fragwürdigen Hintergrund zu kennen, würde ihre Mutter gewiss Mr. Robertson auf der Stelle ablehnen, denn er war völlig anders als alle Männer, mit denen sie es sonst zu tun hatten.

„Lady Georgina“, sagte Mr. Robertson und verbeugte sich in ihre Richtung, als er eintrat.

„Meine Mutter, Lady Westchester.“

Erneute Verbeugung. „Lady Westchester.“

„Und ich glaube, Mr. Wilcox haben Sie gestern Abend bereits kennengelernt.“

Mr. Wilcox erinnerte sich ganz offensichtlich – er kniff die Augen zusammen, und seine Lippen zitterten sichtlich empört. Zu spät fiel Georgina wieder ein, dass es Mr. Wilcox gewesen war, der seinen versprochenen Tanz nicht bekommen hatte, als Mr. Robertson sie auf die Tanzfläche entführte.

Als alle sich gesetzt hatten, musterte Lady Westchester Mr. Robertson mit einem stechenden Blick.

„Ich kenne Sie nicht, Mr. Robertson. Woher kommt Ihre Familie?“

Georgina hätte am liebsten die Hände vor das Gesicht geschlagen. Normalerweise wartete ihre Mutter wenigstens einige Sekunden, bevor sie mit der Inquisition begann.

„Meine Familie?“

„Von woher stammen Sie?“

„Ich bin in Hampshire geboren und aufgewachsen, Mylady.“

Georgina wunderte sich, warum Sam dies nicht erwähnt hatte, als sie über ihre Kindheit sprachen. „Hampshire, wie entzückend, dort befindet sich unser Familienstammsitz. Vielleicht kennen wir ja Ihre Familie.“

„Das bezweifle ich, Lady Westchester. Meine Eltern starben, als ich noch sehr jung war. Ich hatte das Glück, von einem freundlichen und reichen Wohltäter aufgenommen zu werden. Seit vielen Jahren war ich nicht mehr in Hampshire.“

„Wie schade.“

„Darf ich mit meinem Gedicht fortfahren?“, fragte Mr. Wilcox.

Georgina hatte seine Anwesenheit völlig vergessen. Sie schaute zu Mr. Robertson. Er saß in einem Sessel, und falls er sich unbehaglich fühlte, zeigte er es nicht.

„Bitte, fahren Sie doch fort“, sagte Georgina und zwang sich zu lächeln.

„Ihre Augen gleichen dem Sternenhimmel …“

„Lady Westchester, eine dringende Nachricht von Lady Yaxley“, unterbrach der Butler den Vortrag.

Georginas Mutter konnte eine Nachricht ihrer besten Freundin nicht ignorieren. Sie las rasch den Brief und stand auf.

„Ich komme in ein paar Minuten zurück.“ Eilig verließ sie das Zimmer.

„Ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht.“ Mr. Robertson erhob sich und setzte sich neben Georgina auf das Sofa.

„Also bitte“, sagte Mr. Wilcox. „Ich war gerade dabei, Lady Georgina mein Gedicht vorzulesen.“

Mr. Robertson ließ eine Augenbraue in die Höhe schnellen, aber seine Miene blieb ernst. „Ich finde, Poesie ist etwas sehr Persönliches. Vielleicht sollten Sie es ihr besser vortragen, wenn Sie beide allein sind. Ich möchte die Stimmung nicht verderben und damit Ihr Gedicht ruinieren.“

Mr. Wilcox schien protestieren zu wollen, aber dann fiel ihm wohl auf, dass der andere Mann etwas Kluges gesagt hatte. „Vermutlich haben Sie recht“, murmelte er.

„Vielleicht sollten Sie für Lady Georgina eine Abschrift anfertigen, damit sie das Gedicht behalten und lesen kann, wann sie möchte.“

„Das ist eine ziemlich gute Idee.“ Mr. Wilcox schaute auf seinen handgeschriebenen Erguss. „Ich werde es noch heute Nachmittag für Sie kopieren, Lady Georgina.“

„Danke, Mr. Wilcox.“

„Es ist nur eine Kleinigkeit“, sagte Mr. Robertson und zog ein Taschentuch aus der Tasche. Georgina sah zu, wie er das Tüchlein auseinanderfaltete und etwas herausnahm. „Es ist eine Blüte des Teebaums.“

Es war eine perfekt gepresste Blüte, leuchtend rosa in der Mitte und umrandet von hellrosa Blütenblättern. Es war die schönste Blüte, die Georgina je gesehen hatte.

„Man findet sie überall in Australien, in vielen Formen und Farben.“

„Haben Sie sie den ganzen Weg über das Meer aufbewahrt?“

„Aus Zufall“, gab er zu. „In Australien ist vieles noch nicht dokumentiert. Mein Freund George Fairfax katalogisiert wilde Pflanzen und Tiere, darum nehme ich für ihn alles mit, was ich unterwegs finde, damit er es sich ansehen kann.“

„Und diese Blüte ist mitgereist nach England.“

„Ich habe sie in einer Tasche wiedergefunden.“

Georgina erhielt häufig Geschenke von ihren Verehrern. Viele Männer kamen zu ihr mit großen Blumensträußen oder teuren Delikatessen, manche auch mit vertraulicheren Dingen wie neuen Seidenhandschuhen. Die meisten Dinge waren extravagant, um den Reichtum und Status des Gebers auszudrücken. Dies hier war ein wohlüberlegtes Geschenk, ein kleiner Einblick in eine Welt, die Georgina niemals kennenlernen würde.

„Es gefällt mir sehr gut, vielen Dank“, sagte sie und schaute ihm in die Augen. Sie waren leuchtend blau, sehr auffällig in seinem sonnengebräunten Gesicht. Für einen Augenblick vergaß sie, dass Mr. Wilcox sich auch im Zimmer aufhielt, so gebannt war sie von dem Mann vor ihr. Plötzlich wurde ihr ganz warm, als sie sich vorstellte, dass er sie mit diesen starken Armen umfing. Sie blickte auf sein makellos weißes Hemd und überlegte nicht zum ersten Mal, wie wohl der Körper darunter aussah.

„Sicher kommt Ihre Mutter gleich zurück.“ Mr. Wilcox hüstelte höflich und schaute auffällig zum Sofa, wo Georgina und Mr. Robertson viel zu dicht nebeneinandersaßen. Hastig rückte Georgina von ihm ab. Sie war besorgt. Mr. Robertson brauchte sie nur anzusehen, und schon beschleunigte sich ihr Puls. Sie mochte es nicht, wenn sie ihren eigenen Körper nicht unter Kontrolle hatte.

„Hoffentlich war es nichts Ernstes, weswegen Ihre Mutter fortmusste.“ Mr. Robertson beachtete Mr. Wilcox’ auffälliges Starren nicht. „Ist denn Ihr Vater zu Hause?“

Es war eine leicht dahingesagte Frage, aber sofort wurde Georgina hellhörig. Ihre Verehrer wollten oft ihren Vater sehen, um sich bei einem der einflussreichsten Männer in England beliebt zu machen. Und es gab auch die unangenehmen Gelegenheiten, wenn jemand um ihre Hand anhielt. Doch sie hatte nicht erwartet, dass Mr. Robertson an so etwas Interesse hatte. Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt, und er wollte nur auf der sozialen Leiter aufsteigen und die Bekanntschaft mit ihr und ihrer Familie ausnutzen, um voranzukommen.

„Vater ist um diese Zeit nur selten in London. Er bevorzugt unseren Landsitz, es sei denn, seine Verpflichtungen erfordern seine Anwesenheit hier.“

Sie beobachtete Mr. Robertsons Gesichtsausdruck sehr genau, konnte aber kein Anzeichen von Enttäuschung entdecken. Entweder war er ein guter Lügner, oder er hatte sich nur aus Höflichkeit nach ihrem Vater erkundigt.

„Er ist also in Hampshire?“

„Ja. Zumindest für die absehbare Zukunft. Aber ich bin sicher, er kommt zurück, wenn die Saison begonnen hat, um seine politischen Verpflichtungen wahrzunehmen.“

Lady Westchester eilte zurück ins Zimmer. Stirnrunzelnd nahm sie Mr. Robertsons neuen Sitzplatz auf dem Sofa zur Kenntnis, aber sie konnte nichts dagegen einwenden, weil der angemessene Abstand zwischen ihm und Georgina gewahrt blieb.

„Was haben Sie für Ihren Aufenthalt in London geplant, Mr. Robertson?“, fragte Lady Westchester.

Georgina hätte fast die Augen verdreht. Ebenso gut hätte ihre Mutter fragen können, ob Mr. Robertson in der Stadt war, um sich eine Ehefrau zu suchen.

„Ich habe Geschäftliches zu erledigen.“ Mr. Robertson war offensichtlich nicht sehr beeindruckt von Lady Westchester. Es war nicht einfach, angesichts der abweisenden Haltung ihrer Mutter so gelassen zu bleiben wie er. Georginas Bewunderung für den Mann wuchs. „Ich möchte auch einige Personen aus meiner Vergangenheit wiedersehen. Ich war so viele Jahre außer Landes, dass ich die Bekanntschaft mit Personen auffrischen möchte, an die ich über die Jahre immer wieder denken musste.“

„Außer Landes?“ Lady Westchester sprach in mildem Ton, aber Georgina musste ein Stöhnen unterdrücken. Ihre Mutter mochte keine Ausländer, und dazu gehörte jeder, der Zeit außerhalb Englands verbracht hatte, es sei denn, es war aus so noblen Gründen geschehen wie ein Kriegseinsatz.

„Mein genannter Wohltäter lebte in Australien. Vor Kurzem ist er verstorben, darum erschien mir der Zeitpunkt richtig, nach England zurückzukehren.“

„Australien.“ Ihre Mutter machte aus ihrem Missfallen keinen Hehl.

„Mutter“, murmelte Georgina. Dann sah sie Mr. Robertson an, der eher belustigt als beleidigt aussah.

„Es ist ein schönes Land. Sie sollten es eines Tages besuchen.“

„Mama mag keine Reisen ins Ausland.“ Georgina träumte davon, die Welt zu erkunden, aber dies war ein aussichtloser Traum für eine Frau ihres Standes und ihrer Erziehung. Mit etwas Glück würde sie auf ihrer Hochzeitsreise durch Europa reisen, aber auf mehr konnte sie nicht hoffen. Wohlerzogene Damen fuhren nicht weiter als bis nach Italien.

„Ich verstehe“, sagte Mr. Robertson. „Es ist nicht jedermanns Sache.“

Er schaute Georgina an, als wollte er herausfinden, ob sie die Ansichten ihrer Mutter teilte. Ihr Herz schlug schneller, und sie musste sich in Acht nehmen, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Es lag sicher daran, dass Mr. Robertson anders war, oder vielleicht an den schönen blauen Augen und seinem gewinnenden Lächeln. Sie konnte sich nicht dagegen erwehren, sie wollte ihn näher kennenlernen. Das durfte natürlich nicht sein, weil ihre Positionen in der Gesellschaft zu verschieden waren. Dennoch hoffte sie, Mr. Robertson wiederzusehen.

„Ich muss aufbrechen.“ Er stand auf. „Vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben, Lady Westchester, Lady Georgina. Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wiedersehen.“

Er hatte sich vorbildlich benommen. Seinen Besuch hatte er nicht zu lange ausgedehnt, und trotz ihrer Vorurteile konnte sich ihre Mutter nicht über ihn beklagen.

„Sie haben den musikalischen Abend bei den Hamiltons erwähnt“, sagte Georgina mit sanfter Stimme. „Vielleicht können wir uns dort wiedersehen.“

Der Vorschlag war sehr gewagt, aber sie wollte sich noch nicht von Mr. Robertson verabschieden. Sie wollte mehr über Australien und seine Herkunft erfahren, darum ließ sie den Hinweis fallen, wo sie später in der Woche sein würde. Dann würde sich zeigen, ob er die Einladung annahm.

5. KAPITEL

Du willst wohl deine Sorgen ertränken.“ George Fitzgerald klopfte Sam auf den Rücken und ließ sich auf den freien Platz neben ihm in der Schenke fallen. „Hat die schöne Lady Georgina dich etwa abgewiesen?“

„Natürlich nicht.“

„Warum dann das lange Gesicht?“

„Der Earl ist in Hampshire und wird nicht allzu bald wiederkommen.“

„Ah, verstehe.“ Fitzgerald bestellte zwei weitere Krüge Ale. „Du hast also noch nicht aufgegeben.“

„Nein. Aber ich werde wohl nach Hampshire fahren müssen.“

Eigentlich hatte er das vermeiden wollen, weil viele schmerzvolle Erinnerungen mit dem Ort seiner Kindheit verbunden waren. Außerdem hatte er dort keine lebenden Verwandten mehr und wollte die Geister ruhen lassen.

„Du wirst den Mann wohl kaum zu Gesicht bekommen – du brauchst eine Einladung, um das Landgut des Earls auch nur betreten zu dürfen.“

Sam trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und dachte nach. „Diese reichen Leute veranstalten doch oft Hauspartys auf dem Lande, oder?“

„Ja“, sagte Fitzgerald bedächtig, „ich glaube schon, aber sicher nicht im Winter. Und du brauchst eine Einladung.“

Das war ein Problem. Lady Georgina mochte ihn, aber mehr in der Art und Weise, wie man ein exotisches Tier mochte. Außerdem war da noch Lady Georginas Mutter. Binnen Sekunden hatte sie ihn eingeschätzt – aber nicht zu seinen Gunsten, denn seine Familie gehörte nicht zu den wenigen, die sie anerkannte. Daher würde sie ihrer Tochter sicher nicht gestatten, Zeit mit ihm zu verbringen.

Beim Gedanken an Zeit mit Lady Georgina wurde ihm warm ums Herz, aber er durfte solche Gefühle nicht aufkommen lassen. Obwohl sie die erste Frau seit langer Zeit war, für die er sich interessierte, war sie nicht die Richtige für ihn. Er musste sich auf sein Ziel konzentrieren und durfte sich nicht ablenken lassen von ihren seelenvollen grünen Augen.

„Und wenn es gar keine Hausparty gibt?“, gab Fitzgerald zu bedenken, aber auch das konnte Sams Enthusiasmus nicht dämpfen.

„Gewiss kann ich die schöne Lady Georgina davon überzeugen, dass es eine grandiose Idee wäre.“

Fitzgerald verdrehte die Augen. „Unter zu wenig Selbstbewusstsein hast du noch nie gelitten.“

„Man kann nicht durch die Welt gehen ohne genügend Selbstvertrauen.“

Sam hatte das Glück gehabt, jemanden gefunden zu haben, der mehr in ihm sah als den verurteilten Straftäter und ihm Vertrauen schenkte. Georges Vater, Henry Fitzgerald, hatte ihn und Crawford in seine Familie aufgenommen und ihnen die Chance gegeben, sich in Australien ein gutes Leben aufzubauen. Ohne diesen Mann wären sie wahrscheinlich heute als Tagelöhner von Farm zu Farm gezogen wie Hunderte von anderen ehemaligen Sträflingen. Sam würde ihm ewig dankbar sein.

„Trink aus“, sagte Fitzgerald. „Du darfst nicht in solchen unpassenden Etablissements gesehen werden, wenn du in Lady Georginas Kreis aufgenommen werden möchtest.“

Eigentlich war es unwahrscheinlich, dass ein Bekannter von Lady Georgina sich in so eine Schenke verirrte, aber trotzdem leerte er seinen Bierkrug. Es sah so aus, als würde er längere Zeit in London bleiben. Er hatte noch viel vorzubereiten, wenn er sich Einladungen zu den Veranstaltungen sichern wollte, die die Tochter des Earls besuchen würde. Es könnte auch nichts schaden, Lady Georginas Hausangestellten ein wenig Geld in die Hand zu drücken. Zumindest konnte er so erfahren, welche gesellschaftlichen Ereignisse sie besuchen würde.

Georgina gab ihrer Neugier nach und spähte, versteckt hinter den Vorhängen, aus dem Fenster. Ihr Zimmer ging hinaus zu den Gärten von Grosvenor Square, und oft schaute sie den Kindermädchen zu, wie sie den Kleinen auf den perfekt gepflegten Wegen nachliefen. Doch heute glaubte sie, Mr. Robertson dort gesehen zu haben.

Nach wenigen Sekunden kam sie sich lächerlich vor und trat zurück vom Fenster. Selbstverständlich hatte sie den rätselhaften Mr. Robertson nicht gesehen. Er hätte keinen Grund, sich in ihrer Straße aufzuhalten, nur fünf Stunden, nachdem er sie aufgesucht hatte. „Dumme Gans“, murmelte sie. Sie wollte sich nicht wie eine verliebte Närrin aufführen.

Die Tür ging auf, und Caroline spazierte herein.

„Was machst du da?“, fragte sie.

„Nichts.“ Georgina errötete.

„Und warum bist du dann rot geworden?“

„Ich habe gerade aus dem Fenster geguckt.“

„Warum?“

„Einfach nur so.“

Caroline glaubte ihr offenbar nicht und ging selbst zum Fenster, um nachzusehen.

„Dort ist niemand“, stellte sie schließlich fest.

„Das habe ich doch gesagt. Aber du siehst aus, als hättest du Neuigkeiten für mich.“

„Stimmt. Ich habe mich ganz diskret nach deinem Mr. Robertson erkundigt. Er kommt wirklich aus Australien.“

„Ich weiß.“ Georgina berichtigte ihre Freundin nicht. Mr. Robertson war zwar aus Australien herübergesegelt, aber ursprünglich stammte er aus Hampshire.

„Woher weißt du das?“

„Weil er es mir gesagt hat.“

„Du hast ihn schon wiedergesehen?“

„Mach nicht so ein erfreutes Gesicht“, sagte Georgina streng. „Er hat mich heute besucht, das ist alles.“

Ihre Begegnung im Hyde Park erwähnte sie nicht, weil Caroline immer jede Einzelheit erfahren wollte.

„Außerdem ist er nicht mein Mr. Robertson.“

Caroline machte es sich auf dem Bett bequem. „Erzähl.“

„Er machte mir seine Aufwartung, Mutter war da, außerdem Mr. Wilcox. Wir sprachen ein paar Minuten, dann ging er wieder.“

„Siehst du ihn denn noch einmal wieder?“

„Vielleicht kreuzen sich unsere Wege irgendwann. Er wohnt bei Lady Winston.“

„Eine Verwandte?“

„Nein, er ist mit ihrem Neffen befreundet.“

„Wie wunderbar.“ Caroline legte sich auf das Bett und blickte verträumt nach oben.

„Er ist nur ein neuer Bekannter.“

„Und warum hältst du dann am Fenster Ausschau nach ihm?“

„Das h…habe ich nicht.“ Georgina protestierte zwar, aber sie wusste, ihr Stottern hatte sie verraten.

6. KAPITEL

Wo ist der Dritte?“, fragte Lady Winston und bahnte sich ihren Weg zu Sam und George durch die Menge der zahlreichen Gäste, die auf den Beginn der musikalischen Darbietungen warteten.

„Ben war schon anderweitig verabredet“, antwortete Sam, obwohl er wusste, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Ben hatte sich schon die ganze Woche über seltsam verhalten – seit ihrem ersten Ball.

„Bestimmt mit einer Frau.“ Lady Winston schmunzelte. „Er ist ein gut aussehender Junge.“

„Die Damen lieben ihn“, murmelte Fitzgerald.

Lady Winston sagte nichts, sondern schaute zur anderen Seite des Raumes, wo Georgina mit ihrer Mutter gerade eintrat.

„Fort mit dir“, flüsterte Lady Winston ihrem Neffen ins Ohr.

Fitzgerald machte ein verblüfftes Gesicht, Sam hob fragend eine Braue.

„Wir sollten nicht zu mehreren zu deiner Lady Georgina gehen. Zu viel Ablenkung.“

Autor

Laura Martin
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