Historical Saison Band 98

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HERZENSENTSCHEIDUNG IN CORNWALL von ELIZA REDGOLD
Maud braucht dringend eine neue Anstellung! Um unangenehmen Fragen nach ihrer Vergangenheit zu entgehen, bewirbt sie sich unter dem Namen ihrer Schwester bei dem Besitzer einer Eisenbahnlinie in Cornwall. Dort soll sie sich um seine Tochter kümmern. Schnell wächst ihr nicht nur das kleine Mädchen ans Herz, sondern auch ihr Arbeitgeber Dominic Jago. Doch was passiert, wenn er erfährt, wer Maud wirklich ist?

SECHS WOCHEN MIT DEM DUKE von JENNI FLETCHER
Nein, möchte Beatrix rufen, als sie mit Quinton Roxbury, einem mittellosen Duke, vor dem Altar steht. Aber sie muss diese von ihrem skrupellosen Onkel arrangierte Ehe eingehen. Gleich nach dem Jawort flieht die junge Frau und schlägt ihrem Gatten per Brief die Scheidung vor. Doch Quinton macht ihr einen Vorschlag: Wenn sie ihn nach sechs Wochen Ehe noch immer verlassen will, gibt er sie frei …


  • Erscheinungstag 25.04.2023
  • Bandnummer 98
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517959
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Eliza Redgold, Jenni Fletcher

HISTORICAL SAISON BAND 98

1. KAPITEL

Sie ist nah, sie ist nah

Alfred, Lord Tennyson: Maud (1855)

Cornwall, 1855

Es war einmal …

Die Buchstaben verschwammen Maud Wilmot vor den Augen. Eine Träne hing an ihren Wimpernspitzen, aber sie blinzelte sie fort.

Sie schloss das Märchenbuch mit zitternden Fingern und legte es auf ihren Schoß. Mit einem Finger ihrer behandschuhten Hand zog sie die verblassten Goldbuchstaben des Titels nach: Märchen für Kinder.

Selbst die vertrauten Geschichten konnten sie nicht trösten.

Eine Träne tropfte auf den abgegriffenen blauen Ledereinband.

Sie lehnte sich an die Rücklehne des Sitzes und schloss die Augen. Mit den Fingern umklammerte sie immer noch das Buch.

„Es wird funktionieren“, sprach sie sich selbst Mut zu.

Ein tiefer Atemzug.

Dann noch einer.

Sie durfte nicht weinen. Auf keinen Fall. Bisher hatte sie es nicht zugelassen, und wenn sie jetzt damit anfing, konnte sie vielleicht nicht wieder aufhören. Dieser Zug brachte sie immer näher zu ihrer unbekannten neuen Stellung, ihrer letzten, verzweifelten Chance. Sie atmete tief durch, als die Tränen sie zu überwältigen drohten.

Sie würde sich von ihrer Angst nicht überwältigen lassen.

Noch ein Atemzug. Sie ließ sich von der gleichmäßigen Bewegung der Eisenbahn beruhigen. Maud war immer gern mit dem Zug gereist, obwohl es nicht oft vorkam, aber heute entspannte es sie nicht so wie sonst. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen, hatte sich im Bett hin und her geworfen vor Sorge über das, was vor ihr lag.

Was sonst sollte sie tun? Es ging gegen jede Faser ihres Wesens, aber sie hatte keine andere Wahl.

Sie hörte immer noch Lord Melvilles höhnische Stimme in ihrem Kopf.

Niemand wird Ihnen diese Geschichte glauben.

Als sie nun im fahrenden Zug saß, kehrte sie in Gedanken zurück zu den schrecklichen vergangenen Wochen.

„Oh, Maud.“ Ihre Schwester Martha hatte sie umarmt. „Wie kann es sein, dass du entlassen wurdest? Du bist die beste Gouvernante, die ich kenne.“

„Danke, Martha“, hatte Maud mit erstickter Stimme gesagt. „Aber ich bin nun mal entlassen worden. Ohne Bezahlung und ohne Empfehlungsbrief.“

Sie hatte bei der Unterstützungskasse für Gouvernanten eine Beihilfe beantragt und war in ein möbliertes Zimmer eingezogen, aber das Geld würde nicht lange reichen.

Martha umarmte sie noch einmal. „Ich könnte vielleicht mit Albert sprechen. Du kannst bei uns wohnen.“

„Auf keinen Fall“, war Mauds Antwort, obwohl ihr der Mut sank. Die Zeit wurde knapp, bald würde sie auf der Straße sitzen. „Ihr seid frisch vermählt, Martha. Ich möchte euch nicht zur Last fallen.“

„Du wärst uns keine Last“, sagte Martha. „Dies alles ist so unfair!“

„Unfair oder nicht, ich muss einen Ausweg finden.“ Maud wusste, dass sie nicht so tapfer war, wie sie sich anhörte. Trotzdem wollte sie ihre Schwester nicht belasten, die erst vor kurzer Zeit ihr Glück mit Albert gefunden hatte. Und sie hatte Martha nicht einmal die ganze Geschichte erzählt.

Sie konnte es nicht.

Es war so unsagbar schrecklich.

„Was wirst du denn nun tun?“, fragte Martha und schaute sie besorgt an.

Maud biss sich auf die Lippen. „Ich muss eine neue Stellung als Gouvernante finden. Ohne Referenzen ist es sehr schwierig, vielleicht unmöglich. Aber ich habe leider keine andere Möglichkeit, für meinen Unterhalt zu sorgen, und ich liebe Kinder. Doch nach allem, was geschehen ist …“ Sie presste die Hände zusammen, „… wird niemand Miss Maud Wilmot einstellen wollen.“

In diesem Moment kam ihr die Idee. „Martha … Hast du mir nicht von einem Stellenangebot in Cornwall erzählt?“

Ihre Schwester nickte. „Ja, das war kurz bevor Albert mir den Heiratsantrag machte. Ich hatte mich beworben und sehr lange auf eine Antwort gewartet. Dann kam endlich ein Brief, in dem stand, dass man sehr erfreut wäre, mich in Pendragon Hall einzustellen.“

„Hast du zurückgeschrieben?“, fragte Maud. Natürlich würde Martha Ja sagen, und damit hatte es sich erledigt. Es war sowieso eine absurde Idee.

Doch Martha schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Löckchen flogen. „Noch nicht.“

„Also erwartet man dort immer noch eine Miss Wilmot“, sagte Maud langsam.

Sie und Martha waren fast gleichaltrig, Maud mit sechsundzwanzig zwei Jahre jünger als ihre Schwester. Beide hatten schon einige Jahre als Gouvernanten gedient und besaßen viel Erfahrung.

Es könnte funktionieren, obwohl es vermessen wäre. Nicht nur das – es wäre sogar äußerst skandalös. Doch sie hatte nichts zu verlieren. Sie musste es versuchen.

„So ist es“, hatte Martha gesagt und große Augen gemacht. „Oh, Maud, du hast wieder diesen Gesichtsausdruck, den du immer hast, wenn du eine Geschichte erzählst …“

Maud öffnete die Augen. Nun war sie hier in Cornwall, und die Räder der Eisenbahn ratterten auf den Gleisen unter ihr. Um sich aufzumuntern, betrachtete sie die schöne Landschaft, die vor dem Fenster an ihr vorbeizog.

Es war eine große Erleichterung gewesen, zu dieser Reise aufzubrechen. Je weiter der Zug nach Westen vorankam, desto freier begann sie sich zu fühlen. Der Zug kam sehr viel schneller vorwärts als ein Pferdefuhrwerk, es war fast schwindelerregend. Und es gab so viel zu sehen. Die Landschaft wurde immer wilder, je tiefer sie nach Cornwall gelangten.

Am Anfang der Reise hatte sie noch die Rückseiten der Londoner Häuser mit ihren Gärten und Wäscheleinen gesehen, aber bald erreichten sie eine Hügellandschaft, wo die grünen Weiden gesprenkelt waren mit Schafen und Kühen. In Exeter hatte sie beim Bahnhof in einem Gasthof übernachtet, der erstaunlich gemütlich war und von ihrem neuen Arbeitgeber bezahlt wurde. Danach ging es weiter nach Südwesten. Immer seltener tauchten Dörfer und einzeln stehende Landhäuser auf, je mehr sie sich der abgelegenen, schroffen Küste näherten.

Sie spürte einen kleinen aufgeregten Schauer an ihrem Rücken hinabrinnen.

Noch einmal holte sie den Brief hervor, den sie in das Märchenbuch gesteckt hatte.

Oben war die seltsame Adresse aufgedruckt: Pendragon Hall, West Cornwall. Darunter befand sich ein Wappenschild mit drei schwarzen Kreuzen auf goldenem Grund und einem schwarzen Band in einem nach oben gerichteten Pfeil.

Werte Miss Wilmot,

Das zumindest war so weit richtig.

Sie legte das Blatt für einen Moment auf ihren Schoß. Immerhin stand da nicht Werte Miss Martha Wilmot. Es war Miss Wilmot, die sie wollten, und sie würden eine Miss Wilmot bekommen.

Sie schluckte und las weiter.

ich habe Ihre Zusage zu der Stellung als neue Gouvernante erhalten. Hiermit sende ich Ihnen die Zugfahrscheine.

Ich erwarte Sie baldmöglichst in Pendragon Hall.

Ergebene Grüße

Sir Dominic Jago

Sie zog mit der Fingerspitze den Namen nach. Es war eine große energische Handschrift. Die Nachricht war knapp und in schwarzer Tinte geschrieben.

Jago. Ein ungewöhnlicher Name, den sie noch nie gehört hatte.

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass er ihren richtigen Namen nie gehört hatte.

Niemand wird Ihnen diese Geschichte glauben.

Ihre Finger zitterten immer noch, als sie den Brief zusammenfaltete. Aus den anderen Unterlagen, die Martha an sie weitergegeben hatte, wusste sie, dass die Bedingungen für ihre neue Stellung sehr gut waren, viel besser als erwartet, besonders für eine Stellung auf dem Land. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Gouvernante nichts als Kost und Logis für ihre Arbeit angeboten bekam anstelle einer Bezahlung. Doch in Pendragon Hall wurde ein gutes Gehalt geboten, sodass sie etwas würde sparen können. Sie brauchte es, denn nach ihrer letzten Arbeitsstelle stand sie mit leeren Händen da.

Sie würde nur ein Kind unterrichten – ein Mädchen, Rosabel, sieben Jahre alt, das sich von einer Krankheit erholte. In dem Stellenangebot wurden keine weiteren Kinder erwähnt, und Sir Dominic Jago war Witwer.

Zu ihrer Überraschung lag dem Brief von Sir Dominic für den letzten Teil der Strecke ein Erste-Klasse-Ticket der West Cornish Railway bei. In den ersten Zügen – sie hatte zweimal umsteigen müssen – war sie in der zweiten Klasse gereist, wie es üblich war für Gouvernanten, Lakaien, Zofen und andere Bedienstete. Eine Fahrt in der ersten Klasse war etwas für die Oberschicht, nicht für Gouvernanten.

Sie lehnte den Kopf an den Ledersitz. Das Erste-Klasse-Abteil der West Cornish Railway war so sauber und neu, dass es noch nach Politur roch. Die Messingbeschläge und – handgriffe glänzten, und eine hübsche Messinglampe blieb ständig eingeschaltet, sodass sie sogar lesen konnte, wenn sie durch Wälder und Tunnel fuhren. Es gab drei private Abteile in dem Waggon, die jeweils durch eine Trennwand aus Holz voneinander abgeteilt waren. In jedem Abteil standen zwei Ledersitze einander gegenüber.

Es war sehr geräumig. Maud streckte die Beine unter ihren Röcken aus. Sie trug mehrere Schichten von Unterröcken übereinander aus Batist, Flanell, Wolle und Baumwolle. Neuerdings waren Reifröcke modern, und beinahe hätte sie sehnsüchtig geseufzt. Wie gern hätte sie einen Reifrock, doch sie konnte es sich nicht leisten, ihre Kleider im neuen Stil umarbeiten zu lassen. Bis sie sich diesen Luxus leisten konnte, waren Reifröcke wahrscheinlich schon längst wieder aus der Mode gekommen. Sie sehnte sich nach Dingen, die sie nicht haben konnte.

Um sich abzulenken, schaute sie wieder aus dem Fenster. Auf keinen Fall wollte sie etwas von der schönen Strecke verpassen. Im Glas des Fensters sah sie ihr Spiegelbild geisterhaft vor der Landschaft aus niedrigen Hecken, Wiesen, Weiden und Landhäusern sitzen. Unter ihren grünen Augen lagen dunkle Schatten, dünne Linien umrahmten ihren Mund, die vor wenigen Wochen noch nicht da gewesen waren. Feine braune Haarsträhnen ringelten sich unter ihrer taubengrauen Haube hervor und lagen auf dem weißen Kragen ihres grauen Kleides.

Gegenüber von ihr saß die andere Passagierin des Abteils. Es war eine nette alte Lady, die bisher die meiste Zeit geschlafen hatte. Vorhin hatte Maud ihr geholfen, es sich auf dem Platz am Fenster bequem zu machen und ihr Riechsalz zu suchen. „Danke, meine Liebe“, hatte die Lady gewispert. „Wie freundlich von Ihnen. Das Reisen mit der Eisenbahn ist sehr anstrengend. Ich fühle mich etwas unwohl dabei.“

Der Zug wurde langsamer und ein schriller Pfiff ertönte, als sie in einen Bahnhof einfuhren.

Die alte Dame fuhr mit einem Ruck hoch. „Sind wir schon da?“

„Noch nicht. Es ist noch ein Stück bis zum Bahnhof von Penponds“, sagte Maud mit beruhigendem Lächeln. Sie hatten vorhin festgestellt, dass sie beide dasselbe Ziel hatten. „Wir machen nur einen Zwischenstopp.“

Sie schaute aus dem Fenster.

Der Bahnsteig wurde von einer Dampfwolke eingehüllt, die sich bald auflöste. Ein Mann stand dort und starrte sie an.

Er war nicht zu übersehen – groß, dunkelhaarig und langbeinig, gekleidet in einen langen dunkelgrauen Mantel mit einem scharlachroten Halstuch, das er nachlässig umgeschlungen hatte. Er trug keine Handschuhe, sodass sie den goldenen Siegelring an seiner rechten Hand glänzen sah. Maud fiel seine kraftvolle Ausstrahlung auf. Obwohl er ruhig dort stand, vermittelte er den Eindruck einer gewissen Rastlosigkeit, als müsste er sich zurückhalten, um nicht wie der Zug fortzueilen.

Sein Blick in das Innere des Waggons war sehr intensiv. Er starrte ihr direkt in die Augen, bevor eine weitere Dampfwolke ihn wieder verschluckte.

Maud zog sich zurück. Der Blick des Mannes war eindringlich und von geradezu magnetischer Anziehungskraft, als gäbe es das Glasfenster zwischen ihnen nicht.

Die Dampfwolke löste sich wieder auf, doch der dunkelhaarige Mann war verschwunden.

„Na so etwas!“

Maud drehte sich auf dem Sitz herum.

Ein weiterer Passagier hatte den Wagen betreten, ein beleibter junger Mann in einem karierten Mantel. Sein Gesicht unter dem Zylinderhut war hochrot.

„Entschuldigen Sie, Madam“, sagte er sehr laut zu der alten Lady. „Sie sitzen auf meinem Platz.“

„Oh je, oh je“, jammerte die alte Dame. „Was sagten Sie?“

Der junge Mann schaute sie mürrisch an. „Ich sagte, dies ist mein Sitzplatz! Ich wollte nämlich am Fenster sitzen.“

Der Mund der alten Dame zitterte.

Maud schaute sich nach dem Dienstmann um, aber er war nicht zu sehen.

Sie beugte sich vor. „Entschuldigen Sie, Sir. Dürfte ich wohl Ihren Fahrschein sehen?“

Der junge Mann wandte sich um. „Was?“, sagte er in herrischem Ton und schaute aus seinen vorquellenden Augen unfreundlich auf sie herab.

Maud hob das Kinn. Nach fünf Jahren als Gouvernante ließ sie sich nicht von einem großen Kind einschüchtern.

„Dürfte ich Ihren Fahrschein sehen?“, wiederholte sie in einem Ton, bei dem ihr noch nie ein Kind widersprochen hatte.

Der junge Mann stieß die Luft aus und wollte sich offenbar weigern, aber leise murrend drückte er ihr dann doch seinen Fahrschein in die Hand.

„Danke.“ Maud überprüfte ihn und schaute dann auf die Sitznummer. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen. Als sie der alten Frau vorhin auf den Sitzplatz half, hatte sie vergessen, ihr Ticket zu überprüfen.

„Es tut mir sehr leid“, sagte sie zu der alten Dame. „Es liegt tatsächlich ein Irrtum vor. Sie sitzen offenbar wirklich auf dem falschen Platz.“

Die alte Dame umklammerte ihr Seidentüchlein. „Oh, wie schrecklich!“

„Ich habe es doch gesagt!“, sagte der junge Mann in triumphierendem Ton.

Maud gab ihm sein Ticket zurück.

„Ich bin sicher, diese Lady möchte gern sitzen bleiben“, sagte sie ruhig. „Sie leidet unter Reisekrankheit. Würden Sie ihr den Gefallen tun?“

Maud roch eine Weinfahne, als der junge Mann seine Wangen aufblies. „Ganz gewiss nicht! Dies ist mein Platz und ich will ihn haben.“

„Das ist ja wohl der Gipfel der Unhöflichkeit!“ Maud konnte den Vorwurf nicht zurückhalten. „Diese Lady ist alt genug, um Ihre Großmutter zu sein.“

Der Mann schien womöglich noch roter zu werden. „Wer sind Sie eigentlich, dass Sie mich Manieren lehren wollen?“

„Zu schade, dass niemand anders es bisher getan hat“, entgegnete Maud. „Bitte, lassen Sie die Lady weiter hier sitzen.“

Doch die alte Dame versuchte nun mühselig, sich aus dem Sitz zu erheben. „Ich will keine Unannehmlichkeiten machen“, sagte sie leise.

Maud sprang auf, und das Märchenbuch fiel zu Boden. „Bitte, nehmen Sie meinen Platz, wenn Sie unbedingt am Fenster sitzen wollen.“

„Ich will Ihren Platz nicht“, beharrte der junge Mann. „Ich will den Platz, für den ich bezahlt habe.“

Eine weitere Person betrat den Wagen.

Es war der große Mann vom Bahnsteig, wie Maud sofort sah. Aus der Nähe war der Eindruck unterdrückter Gefühle und großer Energie um ihn herum fast greifbar. Doch seine Haltung wirkte ungerührt, während er die Lage erfasste.

„Worum geht es hier?“, fragte er mit kühler Stimme.

„Der junge Gentleman …“, sagte Maud mit hörbarer Entrüstung, „… besteht darauf, dass diese Dame ihren Sitzplatz für ihn freimacht.“

„Ich sagte bereits – sie sitzt auf dem falschen Platz!“ Der junge Mann wedelte mit seinem Fahrschein.

„Auch, wenn es nicht ihr Platz ist, können Sie ihr doch sicher gestatten sitzen zu bleiben. Wie ich schon sagte, es geht ihr nicht gut.“

„Das interessiert mich nicht“, erklärte der junge Mann schnarrend.

Der dunkelhaarige Mann trat vor. Er sprach leise, aber mit unverkennbarer Autorität. „Der Zug fährt gleich ab. Zufällig weiß ich, dass in dem anderen Abteil der ersten Klasse noch ein Fensterplatz frei ist. Wenn Sie den nehmen, können die Ladys hierbleiben.“

Der junge Mann machte ein verärgertes Gesicht, aber nach einem Blick in die Augen des Mannes vor ihm änderte er sichtlich seine Meinung.

„Na gut“, sagte er mürrisch.

„Ausgezeichnet.“ Der dunkelhaarige Mann wandte sich an den Dienstmann, der inzwischen zu ihnen getreten war. „Könnten Sie wohl diesem Gentleman seinen neuen Platz zeigen?“

Der Dienstmann verbeugte sich. „Sehr wohl, Sir.“

Der junge Mann stieß noch eine nach Wein riechende Atemwolke aus und folgte dann dem Dienstmann aus dem Abteil.

Maud seufzte erleichtert.

Der dunkelhaarige Mann bückte sich und hob das Märchenbuch vom Boden auf. Stirnrunzelnd betrachtete er den Titel. „Gehört das Ihnen?“

Maud nickte. Er streifte sie mit den Fingern, als er ihr das Buch reichte.

Dann verbeugte er sich und verließ den Wagen.

Maud setzte sich. Sie umklammerte das Buch und spürte irgendwie noch die Spur seiner warmen Hände daran.

„Ich danke Ihnen, meine Liebe“, sagte die alte Dame dankbar lächelnd, als der Zug aus dem Bahnhof hinausrollte.

Wenige Minuten später kehrte der Dienstmann zurück. Er tippte an seine Kappe. „Ich hoffe, die beiden Ladys haben es jetzt bequem.“

„Sehr gut, vielen Dank.“ Maud konnte ihre Neugier nicht bezwingen. „Der Gentleman, der uns zu Hilfe kam. Woher wusste er, dass es einen freien Platz in dem anderen Wagen gab? Hat er seinen eigenen angeboten?“

Der Dienstmann lachte ein wenig. „Alle Plätze gehören ihm.“

Maud fragte verdutzt: „Was meinen Sie damit?“

„Er ist der Eigentümer der West Cornish Railway Line. Sir Dominic Jago.“

2. KAPITEL

Zu den Türmchen und den Mauern

Alfred, Lord Tennyson: Maud (1855)

Willkommen in Pendragon Hall.“

Maud fuhr zusammen. Sie saß auf einer nach Kamille duftenden Wiese und beobachtete einen kleinen kupferfarbenen Schmetterling beim Herumflattern über den Gänseblümchen, als hinter ihr eine tiefe Stimme ertönte.

Sie legte sich erschrocken eine Hand auf die Brust und drehte sich rasch um. „Oh!“

Auf der Kiesauffahrt stand Sir Dominic Jago.

Sie sah seinen Umriss im Licht der untergehenden Sonne vor Pendragon Hall. In dem goldenen Licht sah das Haus hinter ihm aus wie eine Illustration in einem Märchenbuch.

Maud holte tief Luft. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre neue Stelle an einem so wunderschönen Ort sein würde. Ihre vorige Stelle war in einem größeren Haus gewesen, aber dieses hier hatte viel mehr Charme. Sie hatte eigentlich ein reetgedecktes Farmhaus erwartet, aber Pendragon Hall war ein großes Herrenhaus aus grauen Steinen und mit einem Schieferdach. Es hatte Kamine, so hoch wie kleine Türme, und steinerne Bogenfenster. Alles schien im Licht der untergehenden Sonne zu glühen.

Das Haus befand sich einige Meilen entfernt von der Küste, doch die frische Brise, die die Gänseblümchen und ihre Haare zerzauste, trug noch den Duft des Meeres.

Der Wind wehte ihrem neuen Arbeitgeber die Haare aus der Stirn. Mit zusammengezogenen Brauen betrachtete er sie durchdringend.

Unter ihrem Mieder spürte Maud, wie ihre Brust sich heftig hob und senkte. Nach allem, was ihr in ihrer letzten Stellung passiert war, erschrak sie viel schneller. Sie zuckte zusammen, wenn jemand plötzlich das Zimmer betrat, aber auch bei jedem lauten Geräusch. Ihre Nerven waren stets angespannt. Doch das war es nicht allein, was sie in diesem Moment beunruhigte. Es war Sir Dominic Jago, ihr Arbeitgeber mit der energischen Aura.

Er neigte ein wenig den Kopf. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Das haben Sie nicht, Sir Dominic.“ Zu ihrer Erleichterung klang ihre Stimme nicht so unsicher, wie sie sich fühlte. Sie wusste nicht genau, wie sie ihn ansprechen sollte. Meist benutzte der Adel den Vornamen mit dem Titel statt des Familiennamens, aber irgendwie kam es ihr sehr persönlich vor, ihn so anzusprechen.

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Also kennen Sie meinen Namen.“

Sie nickte.

Sein Blick war so durchdringend wie bei ihrer ersten Begegnung durch das Glasfenster des Zuges. „Und ich kenne Ihren.“

Maud drehte sich fast der Magen um.

„Vielleicht hätte ich mich im Zug vorstellen sollen“, sagte er. „Ich hatte eine Ahnung, wer Sie sind. Die neue Gouvernante.“

Er hatte einen leichten cornischen Akzent, wie Maud feststellte, doch war er zweifellos ein Gentleman. Seinen Titel hatte er – wie Martha ihr bewundernd erzählt hatte – von Königin Victoria selbst verliehen bekommen, in Anerkennung seiner Verdienste für die Krone. Er war noch jung für so eine Auszeichnung. Die West Cornish Railway Company hätte jedoch ohne seinen Elan und seine Entschlossenheit niemals gebaut werden können, hatte Martha gesagt. Und Queen Victoria reiste leidenschaftlich gern mit der Eisenbahn.

Er wirkte jünger, als Maud ihn sich nach Marthas Schilderung vorgestellt hatte. Sie hatte jemand Älteren erwartet, vielleicht einen beleibten grauhaarigen Gentleman. Doch Sir Dominic Jago hatte all dies vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag zuwege gebracht, wenn sie sein Alter richtig einschätzte.

„Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe im Zug“, sagte Maud. „Die Situation war sehr unangenehm. Hoffentlich haben Sie nicht Ihren eigenen Sitzplatz aufgegeben.“

„Ich bin nicht zum ersten Mal in der Lokomotive mitgefahren.“ Er strich sich die Haare zurecht. „Kohlenstaub stört mich nicht. Ich möchte, dass alle Passagiere der West Cornish Railway Line bequem reisen.“

„Es ist ein schöner Zug“, sagte Maud ehrlich. „Ich habe die Reise genossen trotz der Auseinandersetzung mit dem jungen Mann. Vom Dienstmann erfuhr ich, dass Sie der Eigentümer der Eisenbahnlinie sind.“

„Nicht allein. Ich gehöre zu einer Gruppe einheimischer Investoren, die sich unseren Eisenbahnlinien und Zügen verschrieben haben. Bei guter Verwaltung werden wir Wohlstand nach Cornwall bringen. Wohlstand und etwas noch Wichtigeres.“

„Und was wäre das?“

„Hoffnung, Miss Wilmot“, erwiderte er. „Hoffnung ist der Motor des Wohlstands. Unser Ziel ist die Verbindung von London nach Land’s End durch die West Cornish Railway Line.“

„Here be dragons – Hier leben Drachen“, sagte Maud, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Wie bitte?“

Maud biss sich auf die Zunge. Bisher war das Gespräch erstaunlich locker verlaufen. Fast, als würden sie sich bereits kennen und wären nicht Gouvernante und Arbeitgeber. Darum war es ihr herausgerutscht. „So steht es auf alten Landkarten. Wo das bekannte Land endete, wurde das unerforschte Gebiet dahinter bezeichnet mit Hier leben Drachen.“

Seine Mundwinkel gingen wieder hoch. „Hier gibt es jedenfalls keine Drachen, Miss Wilmot, obwohl mein Haus so heißt. Wenigstens hoffe ich es. Hatten Sie schon Gelegenheit, sich mit Pendragon Hall vertraut zu machen?“

„Nicht mit dem Haus“, gab Maud zu. „Man hat mir natürlich mein Zimmer gezeigt, danach wollte ich gern Rosabel kennenlernen. Leider machte sie gerade ihren Mittagsschlaf, und ich brauchte ein bisschen Luft nach der langen Zugfahrt. Ich bin nun schon ziemlich lange draußen, fürchte ich. Die Gärten sind sehr schön.“

Sie wandte sich um zu der leicht hügeligen Wiese, wo immer noch die Schmetterlinge in der Luft tanzten. Das Gras war sorgfältig geschnitten und umsäumt mit Blumenbeeten, aber alles hatte auch etwas Wildes an sich. Kletterrosen rankten aneinander hoch. Es sah aus, als wollten sie mit ihren Dornen eine schlafende Prinzessin beschützen. Auch Wälder gehörten zu dem Anwesen, ebenso wie Obstgärten, die sie auf dem Weg vom kleinen Dorfbahnhof Penponds nach hier gesehen hatte. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, Sir Dominic würde in der Kutsche, die sie abholen gekommen war, mit ihr zum Haus fahren, aber er war nicht erschienen.

Sie hatte den Kutscher gefragt, aber der lachte nur. „Sir Dominic hat keine Zeit, in Kutschen zu fahren. Er reitet auf seinem Pferd zum Bahnhof und zurück. Sein Hengst läuft so schnell wie der Teufel.“

„Also sind Sie wohl gern draußen im Freien?“, fragte Sir Dominic zu ihrem Erstaunen.

„Sogar sehr gern“, erwiderte sie. „Ich bin keine Botanikerin, aber ich erforsche die Natur. Besondern gern habe ich Schmetterlinge.“

„Schmetterlinge. Sammeln Sie sie?“

Maud schauderte. „Wenn Sie damit meinen, ob ich sie mit einer Nadel aufspieße, dann gewiss nicht. Aber ich weiß gern, welche Arten es sind und wie sie heißen. Wussten Sie, dass Schmetterlinge immer an denselben Ort zurückkehren? Man findet sie leicht wieder.“

„Nein, das wusste ich nicht“, sagte er gedehnt.

Maud errötete. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie wieder viel ungezwungener gewesen und hatte freier gesprochen, als sie sollte. „Es tut mir leid, ich rede oft zu viel.“

Wieder zuckten seine Mundwinkel. „Von einer schweigsamen Gouvernante habe ich auch noch nie gehört.“

„Ich gehe auch oft und gern spazieren“, fügte Maud hinzu. Sie wollte dies von Anfang an klarstellen. „Tagsüber und auch abends, aber manchmal auch nachts.“

Er ließ eine Braue in die Höhe schnellen. „Kann man denn nachts Schmetterlinge sehen?“

Sie lächelte. „Keine Schmetterlinge. Motten. Und …“ Sie schluckte die Angst hinunter, die wieder ihr seelisches Gleichgewicht bedrohte. „Manchmal kann ich nicht schlafen.“

Seine dunklen Augen schienen noch tiefer in sie hineinzublicken. „Eine Frau nachts allein unterwegs – das ist ungewöhnlich.“

„Ich hoffe, es ist kein Problem für Sie“, sagte Maud. Manchmal war Nachtluft das einzige Mittel gegen die furchtbaren Träume in der letzten Zeit. Es wurde nicht besser. Ihr Schlaf war immer öfter gestört. Oft hielt die Angst vor den Albträumen sie die ganze Nacht wach.

„Im Gegenteil.“ Sir Dominic verbeugte sich. „Ich schätze Ihr Interesse an der Natur. Doch wenn Sie nun mit nach drinnen kommen möchten, Miss Wilmot, dann können wir unser Gespräch über Ihre Position als Gouvernante beginnen.“ Er wies auf das Haus, das inzwischen im abendlichen Schatten versunken war. „Wenn Sie mich begleiten würden?“

Ihre Aufregung wuchs, als sie versuchte, mit seinen großen Schritten mitzuhalten. Sie überquerten die Wiese und die Kiesauffahrt und gingen hinein ins Haus in ein Zimmer im Erdgeschoss von Pendragon Hall. Es war ein großer Raum mit vielen Regalen voller ledergebundener Bücher, über die sie normalerweise entzückt gewesen wäre. Schon auf den ersten Blick erkannte sie die Werke von Shakespeare und Gibbon. An den burgunderroten Wänden über den Holztäfelungen hingen schöne Drucke und Gemälde, aber im Moment konnte sie noch nicht alles in sich aufnehmen.

Maud hob den Kopf. „Es liegt wohl ein Missverständnis vor, Sir Dominic.“

Stirnrunzelnd setzte er sich hinter einen Schreibtisch mit grüner Lederoberfläche. Er zog den Mantel aus, unter dem er eine dunkelrote Weste trug. Auf dem blütenweißen Hemd war kein Stäubchen und keine Spur von Kohlenstaub. „Ein Missverständnis?“

„Ich nahm an, ich wäre bereits bei Ihnen eingestellt.“ Ihre Stimme schwankte ein wenig. „Habe ich den ganzen Weg nur für ein Einstellungsgespräch gemacht?“

„Ach so.“ Er trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. „Bitte, setzen Sie sich, Miss Wilmot. Es gibt einige Dinge, über die ich mit Ihnen sprechen muss, und die etwas … heikel sind. Das wollte ich persönlich tun. Ich habe nicht die Absicht, Sie nach London zurückzuschicken, bevor Sie überhaupt angefangen haben. Aber es könnte sein, dass Sie selbst diese Stellung nach meinen Erklärungen … als ungeeignet für sich befinden könnten.“

„Das ist sehr ungewöhnlich“, erwiderte Maud und versuchte ihre Furcht zu unterdrücken.

„Wenn Sie mir erlauben würden, es Ihnen zu erklären …“

Maud strich über ihre Röcke, dabei zitterten ihre Hände kaum. Dann setzte sie sich auf den geschnitzten Holzstuhl. Nichts würde sie von hier vergraulen können, sie brauchte diese Stellung.

Sie war ihre einzige Hoffnung.

Sir Dominic schob den hochlehnigen Holzstuhl, auf dem er saß, zurück und schlug die langen Beine übereinander, doch die entspannte Haltung konnte die Intensität seiner Blicke nicht verleugnen. Immer noch schienen seine Augen zu lodern.

„Zunächst einmal sind die Zeugnisse über Ihren Charakter ausgezeichnet. Hauptsächlich aus diesem Grund habe ich Sie eingestellt.“

„Oh“, sagte Maud matt. Es waren natürlich Marthas Referenzen. Es schmerzte sie, dass sie sie benutzen musste. Ihr einziger Trost war, dass ihre Referenzen für den Unterricht der Melville-Knaben, die sie sehr lieb gewonnen hatte, ebenso ausgezeichnet gewesen wären, wenn ihr früherer Arbeitgeber nicht so grausam gewesen wäre.

Sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück zu Sir Dominic.

„Sie werden in Rosabel vermutlich einen angenehmen Schützling finden, denke ich“, sagte er. „Sie hat wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes im Laufe der Jahre viel durchgemacht. Seit einiger Zeit ist sie sehr ängstlich. Ich kann sie kaum dazu bewegen, nach draußen ins Freie zu gehen.“

„Ist Rosabel denn nun wieder gesund?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht besonders robust aufgrund ihrer Krankengeschichte, aber eigentlich geht es ihr ganz gut. Ich habe den Doktor kommen lassen, aber er sagt, dass ihr körperlich nichts fehlt.“

Verwirrt runzelte Maud die Stirn. „Frische Luft ist gut für Kinder. Ich werde zusehen, dass ich sie ermutigen kann, das Haus zu verlassen.“

„Vielen Dank. Dann werden Sie auch verstehen, warum ich so erfreut bin, dass Sie sich gern an der frischen Luft aufhalten“, sagte er. „Das Gelände ist sehr weitläufig, und ich hoffe, dass Sie es mit Rosabel gut nutzen werden. Es gibt mehrere Gärten, auch Obstgärten, und es gibt einen Wald. Sie soll nicht ihre ganze Zeit mit Unterricht verbringen.“

„Damit bin ich vollkommen einverstanden.“ Maud zögerte einen Moment. Sie hatte sich während der Zugfahrt genau überlegt, was sie sagen wollte. „Bezüglich Rosabels Unterricht …“

„Das Übliche für ein Mädchen ihres Alters. Musik, Sprachen und Zeichnen.“

„Das genügt nicht“, meinte Maud. „Junge Ladys sollten mehr lernen als Musik und Zeichnen, Sir Dominic.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Ach ja? Sind Sie ein Blaustrumpf, Miss Wilmot?“

„Ich bin eine leidenschaftliche Befürworterin der Bildung von Frauen“, erwiderte sie. „Wenn mich das zum Blaustrumpf macht, dann bin ich einer.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte er. „Ich würde Rosabel nicht erziehen lassen, wenn ich nicht an Bildung für Frauen glaubte.“

Maud nickte. „Wenn sie mein Schützling ist, würde ich gern dafür sorgen, dass Rosabel sich nicht nur in den Dingen auskennt, die eine Lady wissen sollte, sondern dass auch ihr geistiger Horizont erweitert wird. Geografie, Mathematik, Latein und Botanik würden ihr auch nützen.“

Erstaunt sah er sie an. „Latein? Botanik? Sind Sie denn qualifiziert, diese Fächer zu unterrichten? Haben Sie sie studiert?“

„Gewiss. Meine Eltern engagierten sich sehr für die weibliche Erziehung. Mein Vater war Schulmeister. Darum erhielten meine Schwester und ich eine sehr gute Ausbildung. Wir hatten den gleichen Lehrplan wie die Knaben in der Schule, obwohl wir zu Hause lernten. Meine Schwester …“ Sie zögerte, weil sie Martha nicht bei ihrem Namen nennen konnte. „Meine Schwester und ich studierten fleißig und wurden danach beide Gouvernanten.“

Er legte die Fingerspitzen zusammen und betrachtete sie von seiner Seite des Schreibtischs aus. „Rosabel ist erst sieben Jahre alt.“

„Es ist nie zu früh zum Lernen“, versicherte Maud ihm. „Haben Sie keine Angst, dass ich es zu schwierig oder unangenehm für sie gestalte. Im Gegenteil, Sir Dominic. Mein Ziel wäre es, dass Rosabel ihre Unterrichtsstunden liebt. Oder – noch besser – gar nicht merkt, dass es Unterricht ist.“

„Wie das?“

„Ich habe meine eigenen Methoden. Die Fantasie eines Kindes muss angeregt werden, damit es lernen kann.“ Sie beugte sich vor. „Bitte. Lassen Sie mich meine Unterrichtsmethoden bei Rosabel einsetzen. Wenn es ihr nicht gefällt, kann ich den Lehrplan immer noch anpassen. Doch sie hat doch sicher eine Chance verdient?“

„Sie sind sehr überzeugend.“ Er überlegte anscheinend einen kurzen Moment. „Nun gut. Sie haben freie Hand.“

„Ich danke Ihnen, Sir Dominic.“ Erleichtert stieß sie den Atem aus. Es bedeutete ihr sehr viel, ihre neuen Ideen umsetzen zu können. „Sie werden es nicht bereuen.“

„Ich hoffe nicht, Miss Wilmot“, sagte er leise.

„Bitte überzeugen Sie sich selbst von meinen Methoden.“ Es war pädagogisch wertvoll, wenn Eltern sich an der Erziehung beteiligten, doch nach ihrer Erfahrung taten es nur sehr wenige. Einige ihrer Schützlinge sahen ihre Eltern nur selten. „Sie sind jederzeit im Schulzimmer willkommen.“

„Seien Sie versichert, Miss Wilmot, dass ich auf dieses Angebot zurückkommen werde.“

Er schwieg für einen Moment. „Da wir nun das schulische Vorgehen besprochen haben, möchte ich noch über ein anderes Thema sprechen. Rosabels Mutter Sarah starb kurz nach ihrer Geburt.“

Er sprach mit ausdrucksloser Stimme, doch sie spürte seine Trauer und sah Trostlosigkeit in seinem Blick.

„Es tut mir sehr leid“, sagte Maud voller Mitgefühl.

Er nickte dankend, mehr nicht. „Weil sie keine mütterliche Zuwendung erfahren kann, braucht Rosabel eine gute Gouvernante. Sie hat eine Kinderfrau, die sie sehr liebt, und die in Pendragon Hall bleiben wird. Doch Rosabel braucht auch eine Frau von gutem Charakter, die nicht nur für ihre akademische Ausbildung zuständig ist, sondern auch für Manieren, Etikette und Moralerziehung.“

„Selbstverständlich.“ Maud biss sich auf die Unterlippe. „Das gehört zu den Pflichten einer Gouvernante.“

„Bei Rosabel wird dies besonders wichtig sein. Als Vater kann ich sie teilweise in ihrer moralischen Erziehung lenken, aber nicht in allen Dingen. Eine Gouvernante ist die geeignete Person, um dem mutterlosen Kind Unterweisung darin zu geben.“

„Haben Sie noch nicht daran gedacht, sich wieder zu verheiraten?“, fragte Maud unschuldig.

Die Veränderung in Dominic Jagos Gesicht war sehr auffällig.

Als sie ihn zum ersten Mal auf dem Bahnsteig gesehen hatte, war es ihr vorgekommen, als wäre keine Glasscheibe zwischen ihnen gewesen, doch nun schien es eine Mauer aus Stein zu sein. „Ist es wichtig für Sie, ob ich verheiratet bin, Miss Wilmot? Haben Sie deswegen die Stellung akzeptiert?“

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Ich wusste, dass Sie Witwer sind, Sir Dominic. Doch das war keinesfalls der Grund, warum ich diese Stelle angenommen habe. Warum sollte es?“

„Was waren Ihre Gründe, wenn ich fragen darf?“ Er sprach mit strenger Stimme.

„Meine Gründe …“ Sie zögerte.

„Allerdings. Warum verließen Sie Ihre letzte Stellung?“

Maud atmete tief ein. „Ich wollte einen neuen Anfang machen“, sagte sie unsicher.

„Aha.“ Er hörte sich nicht überzeugt an.

Er stand auf und ging zum Fenster. Als er sich wieder umdrehte, sah seine Miene hart aus. „Dies ist eine heikle Angelegenheit, Miss Wilmot, und ich fürchte, es muss von Anfang an alles geklärt werden.“

Maud begann zu zittern. Also hatte er herausgefunden, dass sie nicht Martha war. Irgendwie war ihm zu Ohren gekommen, was bei ihrer letzten Stelle bei Lord Melville geschehen war.

Niemand wird Ihnen Ihre Geschichte glauben.

„Ich bin gezwungen, ganz offen zu sein“, sagte er. „Es ist Ihnen sicher aufgefallen, dass es eine Verzögerung gab, bevor ich Sie kontaktierte und Ihnen diese Stelle anbot.“

„Ja“, flüsterte Maud und versuchte ihr Zittern zu bezähmen.

„Es gab vor Ihnen schon andere Gouvernanten.“ Er atmete laut aus. „Genauer gesagt, zwei.“

Ihr Zittern wurde so stark, dass sie es kaum noch verbergen konnte.

„Ich musste feststellen, dass ich als Witwer offenbar … romantische Vorstellungen in ihnen erweckte.“ Er legte eine Hand flach auf den Tisch. Sein Siegelring glänzte. „Es scheint die Absicht mancher Gouvernanten zu sein, den Hausherrn zu heiraten.“

„Oh!“ Maud fühlte sich, als hätte er ihr kaltes Wasser über den Kopf gegossen.

„Sicherlich haben Sie davon auch schon gehört?“, fragte er knapp.

„Das habe ich.“ Als sie allmählich begriff, worauf er hinauswollte, verschwand ihr Zittern, und Ärger machte sich in ihr breit. „Doch nach meinen Erfahrungen hat es weniger mit den Erwartungen der Gouvernanten zu tun als vielmehr mit denen des Hausherrn.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Ach ja?“

„Frauen werden viel zu oft für das Verhalten von Männern ihnen gegenüber verantwortlich gemacht.“ Maud konnte kaum die Bitterkeit aus ihrer Stimmer heraushalten. Sie wusste, wovon sie sprach. Nur allzu gut.

„Ich versichere Ihnen, dass die vorigen Gouvernanten auf eigenen Wunsch gingen, als sie feststellten, dass die Stelle nicht das war, was sie sich erhofft hatten“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Ich möchte nur von Anfang an ehrlich und aufrichtig mit Ihnen sein, Miss Wilmot.“

Entschlossen reckte sie das Kinn. „Das will ich auch. Ich kann Ihnen versichern, Sir Dominic, dass ich keinerlei romantische Absichten habe. Nicht die geringsten.“

„Im Zug lasen Sie ein Märchenbuch“, sagte er. „Ich schloss daraus, dass Sie eine Frau sind, die fantasievolle Vorstellungen hat.“

Maud bemühte sich um eine ausgeglichen klingende Stimme. „Ich habe Fantasie. Das ist alles.“

Er schaute sie scharf an. „Ich wollte Sie nicht beleidigen.“

„Sie haben mich verurteilt, ohne mich zu kennen.“ Maud konnte kaum ihren Ärger zurückhalten. „Nur, weil ich eine Gouvernante bin.“

Er wich zurück. „Ich wollte Sie nicht verurteilen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an, wenn ich diesen Eindruck auf Sie machte. Ich wollte nur Klarheit über die Art Ihrer Stellung schaffen.“

„Sie haben sich äußerst klar ausgedrückt, Sir Dominic.“ Maud hob den Kopf sehr hoch. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich keinerlei … romantische Absichten hege, wenn es um Sie geht. Oder überhaupt.“

Er senkte den Kopf. „Es tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt haben sollte.“

„Vielleicht ist es gut, dass Sie darüber gesprochen haben.“

„Sind Sie immer noch gewillt, unter diesen Bedingungen die Stelle anzutreten?“, fragte er nach kurzem Zögern.

„Gewiss, Sir Dominic.“ Maud stand auf, um ihn anzusehen. Er war einen Kopf größer als sie, doch sie begegnete ihm auf Augenhöhe. „Glauben Sie mir – sonst würde ich die Position nicht annehmen.“

Dominic trommelte wieder mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Sein Einstellungsgespräch mit der neuen Gouvernante – wenn es denn so genannt werden konnte – war nicht ganz so verlaufen, wie er es geplant hatte.

Miss Martha Wilmot.

Sie hatte beim Verlassen des Zimmers nicht die Tür zugeknallt, aber er hatte den Eindruck, dass sie es gern getan hätte.

Er nahm die Briefe vom Tisch und legte sie in die geöffnete Schreibtischschublade. Ihre Empfehlungsbriefe waren ausgezeichnet. Sie war in jeder Hinsicht eine hervorragende Gouvernante. So beispielhaft, dass es fast nichtssagend war. Nichts Ungewöhnliches. Doch seine Meinung aufgrund der Referenzen war ganz anders als seine Wahrnehmung von ihr.

Als er sie das erste Mal vom Bahnsteig aus erblickte, hatte sie mit offensichtlicher Neugier und großem Interesse aus dem Zugfenster geschaut. So wach, so lebendig. Das hatte sofort seine Aufmerksamkeit geweckt. Sie hatte ihn an einen Zaunkönig erinnert mit ihren strahlenden Augen, und auch die braune und graue Farbe ihrer Kleidung passte zu diesem Bild. Unauffällige Farben, wie es sich für eine Gouvernante gehörte. Auch ihre Haare waren hellbraun, die Augen grün. Das war alles nichts Besonderes. Doch als ihre Blicke sich begegnet waren, hatte Dominic sofort eine deutliche Reaktion auf den Eifer gefühlt, den diese strahlenden Augen ausdrückten. Unter den eintönigen Farben verbarg sich gewiss ein lebhafter und suchender Verstand.

In dem Gespräch gerade eben – wie sie selbst herausgestellt hatte, konnte man es wohl kaum ein Vorstellungsgespräch nennen – war er gezwungen gewesen, ziemlich direkt über seine früheren Erfahrungen mit Gouvernanten zu sprechen. Er hatte vorher bereits geplant, dass er die neue Gouvernante von Anfang an aller möglicherweise vorhandenen Illusionen berauben musste. Nachdem er dann Miss Wilmots Märchenbuch gesehen hatte, war es ihm sogar noch dringender erschienen.

Damit hatte er sie jedoch anscheinend beleidigt. Er hatte nur von Anfang an mögliche Missverständnisse ausschließen wollen, aber es klang wohl arrogant und wichtigtuerisch. Verdammt bedauerlich. Und ihre Reaktion …

Dominic runzelte die Stirn.

Sie sah mehr als nur verletzt aus, aber sie verteidigte geschickt die Position der Gouvernante. Und damit hatte sie recht. Viel zu oft kam es vor, dass männliche Arbeitgeber die Frauen in ihrem Haushalt ausnutzten. Dessen war er sich bewusst, und es war einer der Gründe, warum er geradeheraus über alles hatte sprechen wollen. Aber er hatte es offenbar falsch angefangen.

Für einen kurzen Moment erkannte er Schmerz und große Angst in ihrem Blick. So einen Ausdruck wollte er nicht gern in ihren strahlenden Augen sehen.

Er schloss die Schublade.

Miss Wilmot war rätselhaft. Aber sie hatte moderne Ansichten über weibliche Erziehung, und er wollte sich gern von den Ergebnissen ihrer Methoden überzeugen, bevor er sich ein Urteil darüber erlaubte.

Für Rosabel wollte er immer nur das Beste. Wenn es Miss Wilmot gelang, die rosige Farbe wieder auf die Wangen seiner Tochter zurückzubringen, würde es keinen Streit mit der neuen Gouvernante geben. Sie hatte ihm sehr deutlich mitgeteilt, dass ihr Interesse ausschließlich der Kindererziehung galt.

Welch eine Erleichterung.

Gedankenverloren trommelte Dominic mit den Fingerspitzen auf dem Schreibtisch. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er den bezaubernden Ausdruck wie bei ihrer ersten Begegnung wieder in ihren strahlenden Augen sehen würde.

Maud wusch sich Gesicht und Hände an dem weißen Waschbecken in ihrem Zimmer. Sie benetzte ihre Wangen immer wieder. Die Ringellocken auf ihrer Stirn wurden nass und kräuselten sich, aber ihr Ärger legte sich nicht.

Romantische Vorstellungen!

Wie konnte Sir Dominic es wagen, ihr zu unterstellen, sie hätte die Stellung nur deswegen angenommen, weil er Witwer war! Fand er sich selbst so attraktiv? Erwartete er, dass alle Gouvernanten ihm zu Füßen lagen? Oder dass sie ihn so unwiderstehlich fand? Glaubte er tatsächlich, sie wäre den weiten Weg nach Cornwall nicht wegen der Arbeitsstelle gekommen, sondern um sich einen Ehemann zu angeln?

Wenn er wüsste …

Heiße Tränen vermischten sich mit dem Wasser auf Mauds Wangen.

Manchmal heirateten Gouvernanten wirklich ihren Arbeitgeber, das kam vor. Doch bei ihr würde es niemals so sein.

Eine Ehe – egal mit wem, schon gar nicht mit dem Hausherrn – war keine Perspektive für sie. Nicht jetzt, nicht in Zukunft. Jede Hoffnung darauf war ihr entrissen worden. Kein Mann würde sie je akzeptieren, und sie konnte es niemals jemandem erklären. Eine Zukunft mit Ehemann und Familie stand für sie außer Frage. Alle Träume mit diesem glücklichen Ende waren ihr gestohlen worden.

Stattdessen hatte sie sich geschworen, die Kinder in ihrer Obhut mit aller Liebe und Ermutigung zu erziehen, die sie zu geben hatte. Dieser Berufung hatte sie sich geweiht.

Es war ihr einziger Weg, um weiterzuleben.

Nicht alle Gouvernanten betrachteten diese Arbeit als Beruf. Viele glaubten, eine Gouvernante zu sein, wäre die letzte Hoffnung für mittellose Damen aus gutem Hause. Für Maud war es viel mehr. Die Arbeit von Privatlehrerinnen veränderte sich. Die Mitglieder der Organisation für Gouvernanten erhielten nicht nur Unterstützung, wenn sie in Not gerieten, sondern sie hatten auch damit begonnen, ihre Erfahrungen und Kenntnisse untereinander auszutauschen. Gegenseitige Empfehlungen für Unterrichtsideen und Lehrbücher wurden immer beliebter. Doch trotzdem hatten Gouvernanten immer noch den Ruf, ihre Arbeit lediglich als einen Vorwand zu benutzen, um einen Ehemann zu finden.

Oder Schlimmeres.

Sir Dominics Warnung hatte sie bis ins Mark getroffen. Immer schon war sie in diesen Dingen empfindlich gewesen. Aber was viel schlimmer war – sie hatte ihn auf den ersten Blick gemocht. Seine Energie, musste sie sich eingestehen, war sehr anziehend, und sein gutes Aussehen ließ sich nicht leugnen. Hatte sie ihn etwa unbewusst mit den Augen einer Frau betrachtet, die einen Mann suchte? Nein. Ihre ungezwungene Unterhaltung in dem sonnigen Garten hatte sie auf den Gedanken gebracht, dass ihre neue Stellung als Gouvernante sich als wirklich erfreulich erweisen würde.

Und nun wünschte sie sich, sie könnte den nächsten Zug zurück nach London nehmen. Obwohl – ihr Verstand begann zu ticken – vielleicht war diese Stelle ja genau, was sie brauchte. Es war wie vorherbestimmt. Ein Hausherr, der kein Interesse an Liebschaften oder Heirat hatte, wäre nicht der Richtige für jede Gouvernante, aber in ihrem Fall war es ideal.

Maud wusch sich die Tränen von den Wangen. Sie würde in Pendragon Hall bleiben. Und ihrer Schülerin zuliebe, würde sie das Beste daraus machen.

Sorgfältig trocknete sie sich das Gesicht ab. Das Handtuch war aus feinem schneeweißen Leinen und von guter Qualität. Das Zimmer war geräumig und luftig, hatte hohe Bogenfenster, von denen aus sie einen Blick auf den Garten hatte. Es gab einen schönen Schreibtisch und einen Schrank, der für ihre wenigen Kleidungsstücke viel zu groß war. Sie besaß nur drei Kleider: ein graues aus Baumwolle und ein braunes aus Wolle für den Arbeitsalltag, außerdem ein dunkelgrünes Baumwollkleid für besondere Gelegenheiten. Sie hatte nicht oft Gelegenheit gehabt, es anzuziehen, darum war es immer noch in gutem Zustand.

An einer Seite des Raumes stand ein Himmelbett aus Eichenholz. Alles in allem war das Zimmer sehr viel größer und schöner als die Dachkammer bei ihrer letzten Stelle.

Der Raum besaß eine Verbindungstür zum benachbarten Schulzimmer. Sie hatte bei ihrer Ankunft einen kurzen Blick hineingeworfen. Es hatte sie ein wenig enttäuscht, obwohl es gut eingerichtet war, aber in ihren Augen fehlte etwas. Sie hatte viele Spielsachen gesehen, ein Puppenhaus und einen Schaukelstuhl, mehrere Tische und Stühle, aber wenige Dinge, die sie für den Unterricht gebrauchen konnte. Die früheren Gouvernanten hatten anscheinend keinen Einfluss auf die Einrichtung genommen.

Vielleicht waren sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, Sir Dominic Jago nachzustellen.

Maud lächelte kläglich. Wenigstens hatte sie ihren Sinn für Humor zurück. Von allen Gouvernanten auf der Welt sollte sie die Letzte sein, die so etwas dachte.

Der Herr von Pendragon Hall war sicher vor ihr.

Sie faltete das Handtuch zusammen und hängte es sorgfältig zurück auf die Stange. Dann schaute sie in den Spiegel und glättete ihre Haare. Kleine Strähnen waren dem strengen Haarknoten entwischt und machten ihr Profil weicher. Bedauerlich. Sie hatte im Freien ihre Haube abgenommen, und nun schien sich eine weitere Sommersprosse abzuzeichnen. Aber sie war nun mal so gern draußen an der Luft.

Wenn es ihr gelang, würde sie Rosabel lehren, es auch zu lieben, im Freien zu sein.

Sie ging zur Verbindungstür. Rosabels Kinderzimmer war auf der anderen Seite des Schulzimmers.

Es wurde Zeit, das kleine Mädchen kennenzulernen, das ihre Fürsorge brauchte. Ihren ärgerlichen Vater, Sir Dominic Jago, würde sie einstweilen zu vergessen suchen.

Maud drückte die Tür zum Schulzimmer auf.

3. KAPITEL

Zu der kleinen Kletterpflanze

Alfred, Lord Tennyson: Maud (1855)

Hallo“, sagte Maud freundlich.

Die kleine Rosabel saß am Tisch vor ihrem Abendessen, bestehend aus Brot und Milch. Ihre Haare waren rabenschwarz wie die ihres Vaters und steckten in einem schwarzen Samt-Haarnetz. Sie trug eine weiße gerüschte Schürze über einem gelben Kleid. Ihre leicht olivfarbene Haut sah blass aus, als verbrächte sie zu wenig Zeit im Freien.

Sie muss öfter hinaus in den Garten gehen, dachte Maud, damit ihre Wangen so rosig werden wie ihr Name.

Neben dem Kind saß eine Kinderfrau in schwarz-weißer Uniform. Es war ein rundliches blondes Mädchen von kaum mehr als zwanzig Jahren mit einem breiten freundlichen Gesicht.

„Hallo, Miss“, sagte die Kinderfrau mit dem gleichen Akzent wie der Kutscher, der sie vom Bahnhof abgeholt hatte. Auch in Sir Dominic Jagos Stimme war Maud das gerollte R und die leicht nuschelige Aussprache aufgefallen. „Sie müssen die neue Gouvernante sein. Ich bin Netta.“

„Guten Tag.“ Maud lächelte die junge Frau an. „Sir Dominic sagte, dass Sie sich immer um Rosabel gekümmert haben und dies auch weiterhin tun werden.“

„Das ist richtig, Miss. Ich bade Rosabel, mache ihr das Essen und so weiter. Gleich ist Schlafenszeit für sie.“

Maud ging etwas in die Knie, um sich auf gleiche Höhe mit dem Kind zu bringen. Sie beugte sich nicht gern von oben hinab über ihre Schüler, denn es machte sie so unnahbar. „Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen.“

Das kleine Mädchen antwortete nicht.

Maud kam näher heran, aber das Kind zog sich noch weiter zurück. Auf ihrem Schoß hatte die Kleine eine goldhaarige Porzellanpuppe, die sie fest in den Händen hielt.

„Du hast eine schöne Puppe“, sagte Maud. „Hat sie einen Namen?“

Rosabel zögerte und blickte weiter nach unten. Dann schüttelte sie heftig den Kopf.

„Oh je“, meinte Maud. „Eine Puppe ohne Namen. Wie kann sie denn zu dir kommen, wenn sie keinen Namen hat?“

Das Mädchen lachte, offenbar überrascht. Doch sie schaute immer noch nicht auf. „Es ist nur eine Puppe! Sie kann doch gar nicht kommen, wenn ich sie rufe!“

„Woher weißt du das, wenn du sie noch nie gerufen hast?“

Jetzt blickte Rosabel auf und schaute Maud sichtlich misstrauisch mit ihren dunklen Augen an, die so tiefbraun waren wie die ihres Vaters.

„Die richtigen Namen sind wichtig.“ Maud ignorierte das unbehagliche Zittern ihres Körpers. Es störte sie mehr als erwartet, dass sie nicht ihren richtigen Namen benutzen konnte. „Du musst einen Namen finden, den die Puppe mag, sonst spielt sie nicht ordentlich mit dir.“

Zum ersten Mal sah Maud ein Grübchen in Rosabels Wangen.

„Wie könnte sie wohl heißen …?“ Maud überlegte laut. „Könnte es … Mergetrude sein?“

„Mergetrude ist doch kein Name!“, rief das Mädchen kichernd.

„Nicht?“ Maud spitzte die Lippen und schaute zur Decke, als müsste sie überlegen. „Dann vielleicht Dorothea-Millicent-Margaret-Anne?“

Rosabel kicherte. Es klang irgendwie verlegen, als wäre es ungewohnt für sie. Sie hielt Maud die Puppe entgegen. „Sie hat aber doch einen Namen. Polly!“

„Natürlich!“ Maud berührte mit der flachen Hand ihre Stirn, als wäre sie ein bisschen dumm. „Wie konnte ich nur etwas anderes denken! Ich bin sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Miss Polly.“

Sie machte einen Knicks.

Schüchtern kichernd, bewegte Rosabel die Puppe zu einer kleinen Verbeugung als Antwort.

„Du hast dir diese Namen doch nur ausgedacht“, sagte sie.

„Selbstverständlich“, entgegnete Maud. „Denkst du dir nie etwas aus?“

Sofort schaute Rosabel wieder misstrauisch.

„Nun, ich tue es die ganze Zeit“, sagte Maud.

„Ist das so, Miss Wilmot?“

Maud drehte sich rasch um. Die Schulzimmertür zum Flur musste offen gewesen sein. Sie hatte Sir Dominic Jago nicht hereinkommen gehört, weil sie sich voll und ganz auf das Kind konzentriert hatte.

Er lehnte sich an den Türrahmen und schaute sich mit seinen dunklen Augen alles an.

„Papa!“, rief Rosabel.

Er setzte sich sofort in Bewegung, ging um den Tisch herum und küsste seine Tochter auf die schwarzen Haare. Das kleine Mädchen strahlte. Es war offensichtlich, dass sie ihren Vater sehr liebte und er sie auch. Als er auf seine kleine Tochter sah, wurde sein Gesicht ganz weich, alle Kanten schienen verschwunden zu sein.

„Wie ich sehe, haben Sie bereits Rosabels Bekanntschaft gemacht“, sagte er und verwuschelte der Kleinen die Haare.

Rosabel kicherte. „Sie dachte, Pollys Name wäre Merget… Merg…“

„Mergetrude“, half Maud.

„Das hat sie sich aber ausgedacht!“

Sir Dominic zog eine Augenbraue hoch.

„Ich ermutige Fantasie“, sagte Maud rasch.

„Ach so.“ Er sah sich im Schulzimmer um. „Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit und passt zu Ihren Methoden.“

Maud biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte nicht mäkelig erscheinen, aber in ihrem vorhergegangenen Gespräch hatte Sir Dominic Jago betont, dass er Offenheit schätzte.

Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte sie.

„Nicht so ganz“, erwiderte sie.

Sie hörte, wie die Kinderfrau erschrocken nach Luft schnappte.

„Was brauchen Sie denn noch?“, fragte Sir Dominic. Sie glaubte, ein leichtes Hochziehen seiner Mundwinkel zu entdecken, aber sie war sich nicht sicher.

„Mehr Bücher“, gab sie zurück. Sie hatte ihr Märchenbuch und auch einige andere mitgebracht, aber sie würde viel mehr brauchen. „Und anderes Unterrichtsmaterial. Zum Beispiel einen Globus. In der Bibliothek habe ich einen oder zwei gesehen.“

„Einen Globus“, wiederholte er.

„Für Geografie.“

Nach kurzem Überlegen nickte er. „Die Bibliothek steht zu Ihrer Verfügung. Suchen Sie sich aus, was Sie brauchen.“

„Danke.“ Sie zögerte. „Könnte ich wohl einen der Globen gleich holen gehen?“

Er ließ die Brauen abermals in die Höhe schnellen. „Heute Abend noch?“

Maud nickte. „Er könnte nützlich sein.“ Sie wandte sich wieder an das kleine Mädchen. „Magst du Geschichten, Rosabel?“

„Ja“, antwortete die Kleine mit unsicherer Stimme.

„Ich kann dir und Polly eine Gutenachtgeschichte erzählen. Würde dir das gefallen?“

„Und du denkst sie dir aus?“

„Gewiss“, sagte Maud.

„Das gefällt mir“, sagte sie. „Und Polly auch.“

Maud lächelte. „Während Netta dich zu Bett bringt, hole ich rasch den Globus aus der Bibliothek.“

Sir Dominic trat vor. Seine Augen glänzten.

„Gestatten Sie“, sagte er. „Ich hole Ihnen selbst den Globus, Miss Wilmot, wenn ich danach bei der Gutenachtgeschichte zuhören darf.“

Maud löste ihre ineinander verkrampften Hände. Sie wollte Sir Dominic nicht zeigen, wie nervös sie war.

Sie saß neben Rosabels Bett in dem hübschen Kinderzimmer. Es war alles mit rosafarbener Seide ausgestattet, und die Tapete hatte ein Rosenmuster. Es musste alles erst kürzlich neu dekoriert worden sein, denn solche Tapeten waren momentan die große Mode, und diese gehörte zu den hübschesten, die Maud je gesehen hatte. Das Zimmer war hell und luftig, und aus den Fenstern schaute man auf denselben Teil des Gartens wie aus Mauds Zimmer.

Rosabel lag im Bett unter der rosafarbenen Daunendecke aus Seide. Sie hatte ein weißes Nachthemd an. Der Puppe hatte sie ebenfalls ein weißes Nachthemd angezogen.

„Das wäre für heute alles für mich“, sagte Netta. „Ich trinke jetzt meinen Tee mit den anderen Bediensteten. Sie werden vermutlich Ihr Abendessen von einem Tablett im Schulzimmer essen wollen? So haben es die anderen Gouvernanten gemacht.“

Maud seufzte innerlich. Eine Gouvernante saß immer zwischen den Stühlen. Sie durfte nicht mit der Familie essen, war aber auch nicht besonders gern gesehen beim übrigen Personal. Oftmals hatte Maud sich einsam gefühlt, wenn sie Abend für Abend allein im Schulzimmer speiste. Doch sie hatte gelernt, damit umzugehen. Sie las Bücher, schrieb Briefe oder bereitete den Unterricht vor. Oft nähte oder flickte sie, und wenn sie konnte, schlüpfte sie nach draußen und ging spazieren.

„Danke, Netta.“ Maud lächelte sie an. Es war nicht ihre Schuld, dass die Gouvernante im Untergeschoss nicht willkommen war. So war es nun einmal. „Ein Tablett mit dem Abendessen wäre gut. Ich kann es mir aber gern selbst holen, wenn ich Ihnen damit helfen kann.“

„Oh nein, Miss. Ich bringe es Ihnen herauf. Und auch das Frühstückstablett.“

Netta schaute sie sichtlich neugierig an. Die Geschichte von der neuen Gouvernante, die offen vor dem Hausherrn das Schulzimmer kritisiert hatte, würde vermutlich in wenigen Minuten die Runde im Dienstbotenzimmer machen.

Kurz danach kam Sir Dominic zurück. Wieder fielen ihr seine geschmeidigen Bewegungen auf. Er betrat den Raum mit solch lockerer Ungezwungenheit, dass sie ihn attraktiv gefunden hätte, wenn er sie nicht so wütend machen würde. Irgendwie konnte sie verstehen, warum die früheren Gouvernanten sich zu ihm hingezogen fühlten, obwohl sie selbst natürlich nicht vorhatte, seinem Charme zu erliegen.

Mit einer leichten Verbeugung überreichte er Maud den Globus.

Sie achtete darauf, dass ihre Finger sich nicht berührten, als sie ihn entgegennahm. „Vielen Dank.“

Er lächelte ein wenig, dann stellte er einen Stuhl für sich neben Rosabels Bett.

Also wollte er wirklich dableiben und der Geschichte zuhören.

„Die heutige Geschichte handelt von Klein-Schwalbenschwanz.“ Maud war ungewohnt angespannt. Sonst war sie nie so aufgeregt, wenn sie Geschichten erzählte, aber Sir Dominic Jagos Gegenwart verunsicherte sie. Er hatte nichts mehr gesagt, seit er mit dem Globus zurückgekommen war, doch sie spürte ständig seine Anwesenheit.

„Klein-Schwalbenschwanz ist eine Fee – eine Schmetterlingsfee. Sie ist so winzig klein und zart, dass man sie von Weitem mit einem Schmetterling verwechseln kann.“ Maud beugte sich vor und flüsterte Rosabel zu: „Ich glaube, einige solche Schmetterlinge leben in eurem Garten.“

Rosabel riss die Augen weit auf.

Ein kleines Lächeln huschte über Sir Dominics Gesicht.

Maud setzte sich auf dem Stuhl zurück. Ihre Nervosität verging. „Es war einmal eine Schmetterlingsfee namens Klein-Schwalbenschwanz. Sie war noch sehr jung und darum noch keine fertige Schmetterlingsfee. Sie wollte nämlich ihre Flügel nicht wachsen lassen, musst du wissen.“

Rosabel machte immer noch große Augen. „Haben denn nicht alle Feen Flügel?“

„Nicht, solange sie noch klein sind“, sagte Maud. „Wenn sie geboren werden, haben sie noch keine Flügel, sondern wunderschöne schwarz-weiß gestreifte Raupenkörper mit gelben Punkten. Und sie bleiben auf dem Boden.“

„Bäh!“ Rosabel schauderte und drückte Polly fest an sich. „Ich mag keine Raupen.“

„Vielleicht hast du die schönsten noch nicht gesehen“, meinte Maud. „Klein-Schwalbenschwanz ist freundlich, aber der rote Admiral kann manchmal eine recht unangenehme Raupe sein, und der Laubfalter ist oft ziemlich zänkisch bei schlechtem Wetter. Aber ich habe noch nie einen Kleinen Fuchs gesehen, den ich nicht mochte.“

Sir Dominic hüstelte.

Maud schaute auf. Sein Gesicht war ausdruckslos.

Sie fuhr mit der Geschichte fort. „Jetzt will ich dir von Klein-Schwalbenschwanz erzählen. Sie wurde in einem wunderschönen Garten geboren. Ihre Familie hatte sich vor langer Zeit in Cornwall niedergelassen, aber ursprünglich kamen sie aus tropischen Gefilden.“

Maud hielt den Globus hoch, damit Rosabel ihn besser sehen konnte.

„Ihre Familie kam aus Nordafrika …“ Sie tippte mit einem Finger auf die Landkarte. „… und Asien.“ Sie zeigte es Rosabel und drehte dann den Globus. „Und hier sind wir – in Cornwall.“

Sie drehte erneut den Globus, um Rosabel die weite Entfernung zwischen den Ländern vorzuführen. Dann hielt sie ihn an, damit Rosabel ihn selbst drehen konnte.

Sir Dominic lächelte und beugte sich vor. „Sehe ich da etwa ein kleines Mädchen in Cornwall?“ Er deutete auf einen Punkt auf dem Globus.

Rosabel kicherte.

Maud ließ beinahe den Globus auf die Bettdecke fallen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sich am lustigen Geschichtenerzählen beteiligen würde.

Sir Dominic streckte schnell eine Hand aus und hielt den Globus fest. Er schürzte die Lippen. „Soll ich die Welt für Sie halten, Miss Wilmot?“

Schnell zog Maud ihre ...

Autor

Eliza Redgold
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Jenni Fletcher
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