Im Bann des russischen Tycoons - Sexy, skandalös und unwiderstehlich! (4-teilige Serie)

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BERAUSCHT VON SO VIEL LIEBE

Prickelnder Champagner im Club, danach eine rauschende Liebesnacht - mehr hat Playboy-Tycoon Daniil mit Tänzerin Libby nicht im Sinn. Er lässt niemanden an sich heran, sonst kommt noch sein Geheimnis ans Licht! Dumm nur, dass irgendetwas ihn immer wieder zu Libby zieht …

NAOMI UND DER PLAYBOY

Die Liebe ist für den attraktiven Playboy-Tycoon Sev Derzhavin nichts als ein skrupelloses Spiel: Je öfter seine schöne Assistentin Naomi seine Avancen zurückweist und ihm die kalte Schulter zeigt, umso stärker fühlt er sich herausgefordert, sie zu erobern …

DER MILLIONÄR UND DIE BALLERINA

Als Primaballerina Anya überraschend ihre Jugendliebe Roman wiedersieht, begehrt sie ihn heiß. Aber wenn sie sich nicht erneut das Herz brechen lassen will, darf sie ihm nicht zu nahekommen! Nur wie? Die dunkle Anziehungskraft des Selfmade-Millionärs ist überwältigender denn je!

NUR DIESE NACHT IST NICHT GENUG

Als Tycoon Nikolai der bildschönen Balletttänzerin Rachel begegnet, gerät er sofort in ihren sinnlichen Bann. Eine Nacht ist nicht genug, um das Verlangen zu stillen, das sie in ihm weckt. Doch für mehr als eine kurze Affäre muss er erst die Schatten der Vergangenheit besiegen!


  • Erscheinungstag 15.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727130
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carol Marinelli

Im Bann des russischen Tycoons - Sexy, skandalös und unwiderstehlich! (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Berauscht von so viel Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2015 by Carol Marinelli
Originaltitel: „The Price of His Redemption“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA
Band 455 - 2018 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Valeska Schorling

Umschlagsmotive: "frantic00 / depositphotos"

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733727192

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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PROLOG

„Hey, shishka.“

Daniil Zverev versteifte sich, als er den Schlafsaal betrat und hörte, wie sein Freund Sev ihn gerade genannt hatte. Anscheinend war shishka von jetzt an sein Spitzname. Das russische Slangwort hieß so viel wie „Großes Tier“ und traf Daniil an seiner empfindlichsten Stelle.

Sev legte sein Buch weg. „Wir haben gerade über dich und deine neue reiche Familie in England gesprochen, shishka.“

„Nenn mich nie wieder so!“, drohte Daniil. Er griff nach dem Buch und hielt es hoch über seinen Kopf. Er tat so, als wolle er ein paar Seiten rausreißen, warf das Buch jedoch schnell wieder aufs Bett, als er Sev schlucken sah.

Er hatte nie die Absicht gehabt, wirklich Seiten herauszureißen – Sev war ein echter Büchernarr –, aber Daniil hoffte, dass es seinem Freund eine Warnung war.

„Hast du Streichhölzer gefunden?“ Nikolai blickte von dem Holzschiff hoch, das er detailgetreu nachbaute.

Daniil griff in seine Hosentasche und zog eine Handvoll Streichhölzer heraus, die er beim Fegen aufgesammelt hatte. „Hier.“

„Danke, shishka.“

Daniil funkelte seinen Freund wütend an. Er würde nicht davor zurückschrecken, Nikolais Schiff zu zerstören.

Dabei waren die vier Jungs mehr als nur Freunde.

Daniil und Roman waren eineiige Zwillinge, zwar nicht mit Nikolai und Sev verwandt, aber zusammen mit ihnen aufgewachsen. Im Waisenhaus.

Keiner der vier Jungen hatte die Chance gehabt, schnell vermittelt zu werden. Als Kleinkinder hatten Daniil und Roman sich ein Bettchen geteilt, während Nikolai und Sevastyan links und rechts von ihnen geschlafen hatten.

Als die vier Jungen alt genug für richtige Betten geworden waren, waren sie in den Schlafsaal des Waisenhauses umgezogen. Jetzt, im Flügel für die Jugendlichen, teilten sie ein Vierbettzimmer.

Die meisten Menschen hielten sie für unkontrollierbar und schwierig, aber untereinander hielten diese Jungen zusammen wie Pech und Schwefel.

Sie waren alles, was sie hatten.

„Wehe, wenn du mein Schiff anrührst!“, drohte Nikolai.

„Dann nenn mich nicht shishka! Was sowieso völlig überflüssig ist. Ich gehe nämlich nicht nach England.“ Daniil sah seinen Zwillingsbruder Roman, der mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf seinem Bett lag und an die Decke starrte, herausfordernd an. „Ich werde ihnen sagen, dass ich nicht will. Sie können mich nicht zwingen.“

„Warum solltest du das tun?“, fragte Roman. Er wandte seinem Bruder das Gesicht zu und fixierte ihn aus eisgrauen Augen.

„Weil ich nicht die Unterstützung einer reichen Familie brauche. Wir schaffen es auch allein, Roman.“

„Na klar doch!“, höhnte Roman.

„Wir schaffen das“, beharrte Daniil. „Sergio hat gesagt …“

„Was weiß der denn schon? Er ist nur der Hausmeister.“

„Er war früher Boxer.“

„Sagt er.“

„Wir sind doch die Zverev-Zwillinge! Er sagt, wir kommen ganz groß raus …“

„Geh du nur zu deiner reichen Familie. Hier werden wir nie im Leben reich und berühmt. Wir werden nie aus diesem Loch rauskommen.“

„Wenn wir hart trainieren, schon.“ Daniil griff nach einem der beiden Fotos neben Romans Bett. Sergio hatte vor ein paar Jahren seinen Fotoapparat mitgebracht und erst die Zwillinge und dann die Viererbande fotografiert. „Du hast selbst gesagt, dass wir es schaffen.“

„Ich habe gelogen.“

„Hey!“ Sev, der sich wieder in seine Lektüre vertieft hatte, hob den Blick. „Lass ihn in Ruhe, Roman. Er kann seine Entscheidung allein treffen.“

„Nein.“ Verärgert setzte Roman sich auf. Seit Monaten gab es Spannungen zwischen ihnen – seitdem sie erfahren hatten, dass eine Familie einem Zwölfjährigen ein Zuhause schenken wollte. „Er will sich diese einmalige Chance nur entgehen lassen, weil er dem idiotischen Traum nachhängt, es in den Ring zu schaffen. Daraus wird nie etwas.“

„Wir zusammen schaffen das“, widersprach Daniil.

Ich schaff das“, korrigierte Roman ihn. „Oder zumindest könnte ich es schaffen, wenn du mich nicht zurückhalten würdest.“ Er nahm Daniil das Foto weg und warf es auf den Fußboden. Der Rahmen hatte kein Glas, aber trotzdem zerbrach etwas.

Daniil fühlte es – tief in seinem Inneren.

„Komm schon!“, sagte Roman. „Ich zeige dir, wer von uns beiden wirklich boxen kann.“ Er stand auf und baute sich herausfordernd vor Daniil auf.

Endlich würden sie gegeneinander antreten.

Die Zverev-Zwillinge trainierten den ganzen Tag unter Sergios Anleitung. Erst seit wenigen Monaten durften sie miteinander sparren, aber nur unter der strengen Aufsicht ihres Trainers.

Die Jungs waren wundervoll gebaut, groß und langgliedrig. Sie waren außerdem leichtfüßig, schnell und ehrgeizig.

Mit dem richtigen Training würden sie es weit bringen. Was für ein Team! Sergio musste sie nur etwas bremsen.

Aber er war heute nicht hier.

„Sagt den anderen Bescheid!“, rief Roman. Schnell begann das Zimmer, sich zu füllen. Betten wurden zurückgeschoben, um mehr Platz zu schaffen und sich darauf zu knien.

„Na los, zeig mir, was du drauf hast“, rief Roman, bevor er angriff. Sofort ging Daniil in die Defensive, wehrte Schläge ab und schlug zurück.

Sie hatten weder Helme noch Handschuhe, und es ging nicht um Geld.

Noch nicht.

Roman war erbarmungslos. Er gönnte Daniil keine Pause.

Die anderen Jungs johlten, aber nur gedämpft, um das Personal nicht zu alarmieren.

Roman war am wildesten, und obwohl Daniil sein Bestes gab, ermüdete er zuerst. Er nahm Roman in den Schwitzkasten, um ein paar Sekunden nach Luft zu schnappen, doch sein Bruder schüttelte ihn ab.

Wieder gelang es Daniil, seinen Bruder zu Boden zu drücken, doch Roman kämpfte sich erneut frei, und sie schlugen sich weiter, bis Roman derjenige war, der seinen Bruder in den Schwitzkasten nahm und sich auf ihn legte. Daniil hörte den schweren Atem seines Bruders in einem Ohr, bevor er einen heftigen Schlag ins Gesicht bekam.

Als er wieder zu sich kam, sah er in erschrockene Gesichter. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohnmächtig gewesen war, aber anscheinend lange genug, um den anderen einen Schrecken einzujagen.

Allen – außer Roman.

„Siehst du?“, höhnte sein Zwillingsbruder. „Ich bin ohne dich besser dran, shishka!“

Dem Personal war inzwischen aufgefallen, dass ein paar der Schlafsäle leer waren. Außerdem waren die Anfeuerungsrufe der Zuschauer immer lauter geworden.

Katya, die Köchin, nahm Daniil mit in die warme Küche und rief ihrer Tochter Anya zu, den Verbandskasten zu holen. Anya war zwölf Jahre alt und machte eine Ausbildung an einer Ballettschule, war jedoch in den Ferien zu Hause. Manchmal ärgerte sie die Zwillinge, indem sie behauptete, fitter als sie zu sein.

Anya hatte große Träume und hoffte, eines Tages durch den Tanz dem Elend zu entfliehen.

Daniil hatte jetzt keine Träume mehr.

„Was zum Teufel habt ihr euch nur dabei gedacht?“, schimpfte Katya. Sie reichte Daniil eine Tasse starken, gesüßten Schwarztee, bevor sie sein blutendes Gesicht betupfte. „Die reiche Familie will bestimmt keinen hässlichen Jungen …“

Ein paar Tage später saß Daniil auf einem Bett, Lichtjahre von zu Hause entfernt.

Vom Wagen aus hatte er kleine Häuser und Läden an sich vorbeiziehen sehen, bevor sie in eine lange gewundene Einfahrt gebogen waren. In der Ferne war ein großes Herrenhaus aufgetaucht. Nur widerstrebend war Daniil davor aus dem Wagen gestiegen.

Ein Mann in einem schwarzen Anzug hatte die Tür geöffnet. In seinem Outfit hatte er Daniil zuerst an einen Beerdigungsunternehmer erinnert, aber das Lächeln des Bediensteten war aufrichtig und warm.

In der Eingangshalle hatten die Erwachsenen sich über seinen Kopf hinweg in der neuen Sprache unterhalten, die er noch nicht gelernt hatte. Dann hatte die Frau, die ihn zweimal im Waisenhaus besucht hatte, und die jetzt seine Mutter war, ihn eine breite Holztreppe hochgeführt.

Hinter der Biegung hatte er ein Porträt seiner neuen Eltern an der Wand gesehen. Darauf lagen ihre Hände auf den Schultern eines lächelnden dunkelhaarigen Jungen.

Dabei hatte man ihm erzählt, dass sie kinderlos waren.

Das Schlafzimmer war groß, und vom Bett aus waren Wiesen und Bäume zu sehen.

„Bad!“

Er hatte keine Ahnung, was die Frau von ihm wollte, bis sie auf die Tür zu einem angrenzenden Zimmer zeigte und ging.

Daniil nahm ein Bad und hüllte sich gerade noch rechtzeitig in ein Handtuch, als es an der Tür klopfte und gleich darauf seine neue Mutter eintrat. Sie begann sofort, seine Sachen zu durchwühlen und nannte ihn immer bei einem falschen Namen.

Er wollte sie korrigieren, ihr sagen, dass er Daniil hieß und nicht Daniel, aber dann fiel ihm wieder ein, was der Dolmetscher gesagt hatte: dass er jetzt einen neuen Namen hatte.

Daniel Thomas.

Die Frau – seine Mutter – trug Gummihandschuhe und steckte seine Kleidungsstücke und seine Schuhe in einen großen Müllsack, den der Mann im Anzug wortlos aufhielt. Die ganze Zeit sprach sie in einer Sprache, von der Daniil kein Wort verstand. Immer wieder zeigte sie auf das Fenster und dann auf seine Wange und machte eine Geste, als wolle sie nähen. Irgendwann begriff er, dass sie irgendwo mit ihm hinfahren wollte, wo man seine Wunde besser behandeln würde als Katya es getan hatte.

Stumm sah er ihr dabei zu, wie sie sein altes Leben entsorgte, bis sie zwei Fotos in die Hand nahm, die er gar nicht eingepackt hatte. Roman musste sie in sein Gepäck geschmuggelt haben.

„Njet!“, rief Daniil.

Es war das erste Wort, das er seit seiner Abreise aus Russland sagte. Die Frau keuchte erschrocken auf, als Daniil ihr die Bilder aus der Hand riss und ihr in wütendem Russisch verbot, sie je wieder anzurühren.

Fluchtartig rannte sie aus dem Zimmer, während der Mann im Anzug eine Weile unschlüssig stehenblieb, bevor er sich aufs Bett setzte und gemeinsam mit Daniil die Fotos betrachtete.

„Du?“, fragte er und zeigte von Daniil auf einen der Jungen auf dem Foto.

Daniil schüttelte den Kopf. „Roman.“

Der Mann mit dem freundlichen Blick zeigte auf seine Brust. „Marcus.“

Nickend richtete Daniil den Blick wieder auf das Foto. Erst in diesem Augenblick begriff er, dass Roman ihn nicht hasste. Dass er nur versucht hatte, ihn zu retten.

Dabei hatte Daniil gar nicht gerettet werden wollen.

Er hatte gemeinsam mit seinem Bruder in die Welt ziehen wollen.

Und jetzt war er plötzlich ganz allein.

1. KAPITEL

Libby Tennent sagte nicht ganz die Wahrheit.

Sie hatte es durch die vergoldete Drehtür geschafft, war durch das eindrucksvolle Marmorfoyer geschritten und bis zu den Fahrstühlen gekommen, bis ein uniformierter Wachmann sie angehalten hatte und sie gefragt hatte, wo sie hinwollte. „Ich habe einen Termin mit Mr. Zverev.“

„Das mag sein, aber bevor Sie den Fahrstuhl benutzen, müssen Sie sich erst an der Rezeption anmelden.“

„Ach ja, natürlich“, antwortete Libby so lässig, als sei ihr das nur kurz entfallen.

Sie war tief beeindruckt von diesem luxuriösen Bürogebäude in Mayfair. Aber im Gegensatz zu dem, was ihr Vater behauptet hatte, würde es kein Kinderspiel sein, Daniil Zverev zu sehen.

Libby ging zur Rezeption, um sich anzumelden. Hoffentlich fiel der Frau nicht auf, dass in Wirklichkeit nicht sie, sondern ihr Vater, Lindsey Tennent, einen Termin hatte.

„Und Ihr Name ist?“

„Tennent.“ Libby beobachtete, wie die Empfangsdame die Informationen eintippte und verwirrt die Augenbrauen zusammenzog.

„Einen Moment bitte.“ Sie griff zum Telefon. „Ich habe hier eine Miss Tennent. Sie sagt, sie habe einen Termin mit Mr. Zverev.“ Sie schwieg einen Moment und richtete den Blick dann auf Libby. „Ihr Vorname lautet?“

„Libby“, antwortete sie, bevor sie hinzufügte: „Als Abkürzung für Elizabeth.“ Sie versuchte, möglichst gleichmütig zu wirken und unterdrückte den Impuls, in ihrem Haar rumzufummeln oder mit einem Fuß auf den Boden zu klopfen.

In Wirklichkeit war sie nämlich total nervös. Diese Situation war ihr sehr unangenehm.

Die Rezeptionistin legte kopfschüttelnd auf. „Mr. Zverev kann Sie nicht empfangen.“

„Wie bitte?“, fragte Libby verblüfft. Nicht wegen der Ablehnung an sich, sondern weil sie ohne jede Entschuldigung oder Erklärung kam. „Wie meinen Sie das? Ich habe …“

„Mr. Zverev empfängt nur Personen, die einen Termin haben, und Sie haben keinen, Miss Tennent.“

„Doch, habe ich.“

Die Empfangsdame schüttelte den Kopf. „Der Sechsuhrtermin ist für Mr. Lindsey Tennent. Er hätte vorher fragen müssen, ob er jemanden an seiner Stelle schicken darf, wenn er es nicht rechtzeitig schafft. Mr. Zverev nimmt sich nicht für jeden Zeit.“

Libby wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Die Versuchung war groß, sich für die durch sie verursachten Umstände zu entschuldigen und zu gehen, aber ihr Vater hatte sie unter Tränen angefleht, den Termin wahrzunehmen. Davon hing nämlich eine Menge ab.

Also richtete sie sich zu ihrer vollen, wenn auch nicht sehr imposanten Körpergröße auf und sah die Empfangsdame direkt an.

„Mein Vater hatte einen Autounfall. Nur deshalb hat er mich an seiner Stelle geschickt. Würden Sie Mr. Zverev also bitte ausrichten, dass ich ihn sehen will? Der Grund meines Kommens ist ihm bekannt, aber natürlich kann ich ihn auch gern näher erläutern.“

Die Empfangsdame warf einen Blick auf zwei neu angekommene Besucher hinter Libby und schien zu dem Schluss zu kommen, die Angelegenheit lieber nicht im Foyer zu besprechen. „Einen Moment, bitte.“

Wieder griff sie zum Telefon, ging damit jedoch ein Stück weg, sodass Libby sie nicht hören konnte. Irgendwann kehrte sie zurück und reichte Libby einen Besucherausweis.

Kurz darauf öffnete man ihr die Fahrstuhltür, und Libby trat ein.

Sogar der Fahrstuhl war luxuriös. Der Teppich fühlte sich dick unter ihren Füßen an, und es war angenehm kühl und nur gedämpft beleuchtet – eine Wohltat an diesem heißen Sommertag.

Doch als sich die Fahrstuhltüren leise schlossen, fühlte sich Libby nicht mehr so wohl. Mit Schrecken betrachtete sie ihr windzerzaustes, erhitztes Äußeres in den verspiegelten Türen. Sie wirkte mal wieder viel jünger als fünfundzwanzig! Schnell band sie ihr langes blondes Haar zu einem ordentlichen Zopf und trug etwas Lipgloss auf.

Ich hätte mich nie von meinem Vater hierzu überreden lassen dürfen, dachte Libby.

Als sie von dem Unfall gehört hatte, hatte sie sich nur schnell etwas über ihre Trainingssachen geworfen und war losgeeilt. Sie war schrecklich in Sorge gewesen!

Als er sie dann bat, ihn bei einem Geschäftstermin seines Eventunternehmens zu vertreten, hatte Libby in ihrer Aufregung sofort zugesagt. Schließlich sollte es nur darum gehen, einen Mann namens Daniel Thomas dazu zu überreden, zum vierzigsten Hochzeitstag seiner Eltern zu kommen.

Erst in letzter Sekunde war Libbys Vater mit der ganzen Wahrheit herausgerückt.

„Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest“, hatte er gestanden. „Er hat jetzt einen anderen Namen.“

„Wie bitte?“

„Na ja, Daniel Thomas hat kürzlich seinen echten Namen angenommen – Daniil Zverev. Er wurde adoptiert.“

„Wenn er seinen Geburtsnamen wieder angenommen hat, ist das Verhältnis zu seinen Adoptiveltern eindeutig zerrüttet. Ich werde mich da nicht einmischen …“

„Libby, bitte“, hatte ihr Vater sie beschworen. „Zverev braucht sich nur kurz blicken zu lassen und eine Rede zu halten.“

Eine Rede? Die Forderungen nahmen ja gar kein Ende! Auftauchen, tanzen, gesellig sein und jetzt auch noch eine Rede halten!

Nein, Libby behagte die Vorstellung gar nicht!

„Du hast bisher gar nichts von einer Rede gesagt!“

„Kannst du nicht einfach mit ihm reden, Libby? Bitte!“

Warum zum Teufel hatte sie nur Ja gesagt?

Seufzend stieg Libby aus dem Fahrstuhl und ging einen langen Gang entlang.

Natürlich hatte sie während der Taxifahrt Internetrecherchen über Zverev gemacht. Ihr Vater hatte ihr geraten, an sein Gewissen zu appellieren, aber so wie es aussah, hatte der berühmte Finanzier keins. Er schien total herzlos zu sein.

Und was Frauen anging – tja, eine halbe Stunde im Taxi war viel zu wenig, um sich umfassend zu informieren. Das Wort „Herzensbrecher“ fiel in mehreren Artikeln. Anscheinend hatte seine längste Beziehung – wenn man das überhaupt so nennen konnte – gerade mal zwei Wochen gedauert. Die Frau, ein deutsches Topmodel, war hinterher am Boden zerstört gewesen.

Aber was stellten diese Frauen sich auch vor? Man musste schön blöd sein, sich auf so einen Typ einzulassen!

Libby hatte noch nie viel von One-Night-Stands gehalten, aber Daniil Zverev war darin offensichtlich Meister. Was Beziehungen anging, war Libby allerdings auch vorsichtig, und bisher hatte ihre Skepsis sich immer als berechtigt herausgestellt. Die Trennungsgründe, die ihre Freunde anführten, waren immer die gleichen: Libby war besessen vom Ballett und hatte kaum Zeit, auszugehen.

Was stimmte.

Genau das hatte sie ihnen immer von Anfang an gesagt!

Libby verdrängte die Erinnerungen an ihr katastrophales Liebesleben und konzentrierte sich wieder auf Daniil Zverev. Erstaunlicherweise hatte sie bei ihrer schnellen Recherche kaum Informationen zu seiner Namensänderung gefunden – so als schreckten die Medien vor bestimmten Themen zurück.

Genau wie ihr Vater … Was er ihr heute alles eröffnet hatte! Das Familienunternehmen steckte in ernsten Schwierigkeiten. Um den nächsten Monat zu überstehen, benötigte die Eventagentur ihres Vaters unbedingt den Auftrag für diese Hochzeitstagsparty. Doch den gab es nur, wenn Libby es schaffte, den Sohn der Feiernden als Gast zu gewinnen …

Die Vorstellung, diesen Mann zu bitten, einen auf heile Familie zu machen, widerstrebte ihr immer mehr. Sie hatte bestimmt keine Chance! Ein Mann, der die Verbindung zu seiner Familie so radikal gekappt hatte, dass er sogar seinen Namen geändert hatte, würde kaum Zugeständnisse machen, nur weil sie ihn darum bat.

Außerdem war Libby die Letzte, die anderen Menschen sagen wollte, was sie zu tun hatten. Das hasste sie nämlich selbst wie die Pest.

Okay, sie würde einfach loswerden, was sie zu sagen hatte, sich möglichst nicht von ihm einschüchtern lassen – und wieder gehen.

Der lange Gang hatte Libby zu einem weiteren Empfangstresen geführt, hinter dem eine weitere schöne Frau saß. Mit einem kritischen Blick musterte sie Libbys Erscheinung, dann griff sie stirnrunzelnd zum Telefon und kündigte Libbys Ankunft an. „Sie können gleich durchgehen“, sagte sie zu Libby, nachdem sie aufgelegt hatte. „Aber lassen Sie Ihre Tasche hier.“

Widerstrebend stellte Libby ihre Tasche ab und ging zur Tür. Als sie eine Hand hob, um anzuklopfen, hielt die Empfangsdame sie mit einem Zwischenruf davon ab.

„Klopfen Sie nicht an, das macht ihn nur ärgerlich! Gehen Sie einfach durch.“

Libby juckte es in den Fingern, jetzt erst recht anzuklopfen. Und dann gleich noch mal.

Bei der Vorstellung musste sie lächeln.

Und zwar über das ganze Gesicht …

Und so sah Daniil sie zum ersten Mal. Über einen geheimen Witz vor sich hin schmunzelnd.

Er erkannte auf den ersten Blick, dass die junge Frau Tänzerin war. Das sah er schon allein an ihrer Haltung, als sie die Tür hinter sich schloss und das Zimmer betrat.

Libby sah sich verblüfft um. Von diesem Büro aus hatte man einen herrlichen Blick auf London. Wie vom London Eye aus, aber dort würde ihr bestimmt nicht so eine Augenweide gegenübersitzen.

Der Mann hinterm Schreibtisch hatte dunkles Haar, dunkle Augen und helle Haut. Über dem linken Wangenknochen zeigte sich eine helle Narbe. Er saß sehr aufrecht hinter seinem sehr großen Schreibtisch und musterte sie mit mildem Interesse.

Er füllte den riesigen Raum mit seiner Präsenz total aus.

„Danke, dass Sie mich empfangen, Mr. Zverev“, sagte Libby.

„Aber, Mr. Tennent, was haben Sie für eine hohe klare Stimme?“, sagte er mit schwerem russischen Akzent. Seine Stimme klang tief, samtweich … und total sexy.

Libby musste lächeln. Ihre Nervosität löste sich schlagartig in Luft auf.

„Aber, Mr. Tennent, was haben Sie für glatte Haut“, fügte Daniil hinzu, während er ihre schlanken Beine betrachtete.

Nein, Libby hatte plötzlich keine Angst mehr.

Sie war wie gebannt von seinen eisgrauen Augen. Plötzlich konnte sie nachvollziehen, warum seine zahlreichen Geliebten sich auf ihn eingelassen hatten. Bisher hatte sie sich nie vorstellen können, einfach so mit einem Mann ins Bett zu gehen, aber jetzt schon. Er war so schön und sein Blick so intensiv und sexy, dass sie für nichts mehr garantieren konnte.

Sie räusperte sich, um ihre Stimme wiederzufinden. Was hatte sie noch mal sagen wollen? Ach ja!

„Wir wissen doch beide, Mr. Zverev, dass Sie der böse Wolf sind!“

Zu ihrer Überraschung lächelte Daniil. „Das bin ich tatsächlich.“

Libby stockte der Atem, als seine bisher verschlossenen Gesichtszüge sich für einen Moment entspannten. Ein schwaches Lächeln umspielte seine sinnlichen Lippen, und seine eisgrauen Augen sahen plötzlich gar nicht mehr so kalt aus.

Doch das änderte sich sofort wieder. „Setzen Sie sich!“, befahl er.

Libby gehorchte. Sie überkreuzte die Knöchel und legte die Hände in den Schoß.

„Möchten Sie eine Erfrischung?“

„Nein danke.“

„Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher“, bestätigte Libby, obwohl sie schrecklichen Durst hatte. Plötzlich holte ihre Nervosität sie wieder ein. Sie ärgerte sich über ihren Vater, weil er sie hierzu überredet hatte.

Daniil öffnete eine Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand. Sie war eisgekühlt, wie Libby an dem Kondenswasser sah. Als sie das köstliche Zischen beim Öffnen und das herrliche Gluck-gluck-gluck beim Eingießen hörte, wurde ihr Durst fast unerträglich.

Er bot ihr das Wasser nicht wieder an.

Bastard!

Als er ihr wortlos das Glas hinschob, verdrehte sie die Augen und akzeptierte es. „Danke.“

Er schenkte sich ebenfalls ein Glas ein. Ihr Blick blieb an seinen Händen hängen. Sie waren schön und schlank, mit langen Fingern und kurzen, manikürten Nägeln.

„Und?“, fragte Daniil.

Ach so, ja.

Libby versuchte, sich auf den Grund ihres Kommens zu konzentrieren. „Mein Vater bedauert es sehr, dass er es heute Abend nicht geschafft hat. Er war in einen Autounfall verwickelt.“

„Tut mir leid, das zu hören. Er ist doch hoffentlich nicht ernsthaft verletzt?“

„Oh nein!“, sagte sie, überrascht von dem besorgten Unterton in seiner Stimme. „Er hat nur eine leichte Gehirnerschütterung …“

Daniil beobachtete, wie Libby stirnrunzelnd verstummte. Verwirrende Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Es war eine sehr leichte Gehirnerschütterung. Der Arzt hatte Libbys Vater bereits nach Hause geschickt. Wenn dieser Termin mit Daniil wirklich so dringend nötig war, hätte er eigentlich selbst kommen können …

„Er muss sich in den nächsten achtundvierzig Stunden ausruhen“, sagte Libby lahm – mehr, um sich zu überzeugen als Daniil. „Wie Sie wissen, ist er Eventplaner und …“

„… und das Event, das er gerade plant, hängt davon ab, ob ich komme“, ergänzte Daniil ihren Satz.

„Ja.“ Libby trank einen Schluck Wasser. „Sir Richard sagt, wenn sein Sohn nicht anwesend ist …“ Als sie Daniil spöttisch die Augenbrauen heben sah, hatte sie das unangenehme Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. „Na ja, es ist immerhin ihr vierzigster Hochzeitstag. Das ist heutzutage eine ganz schöne Leistung.“

„Warum?“

Libby blinzelte überrascht. „Na ja, zumindest dann, wenn man immer noch glücklich miteinander ist.“ Sie lachte nervös. Daniil entging aber auch nichts.

„Mag sein“, sagte er achselzuckend. „Ich selbst bin nie über achtundvierzig Stunden hinausgekommen.“ Er sah sie intensiv an – so intensiv, dass Libby das seltsame Gefühl bekam, dass er sie warnen wollte. Fragte sich nur, wovor …

Verwirrt erwiderte sie seinen Blick. Flirtete er etwa mit ihr?

Schon möglich. Vermutlich wollte er in Übung bleiben.

„Was ist mit dem deutschen Topmodel?“, platzte Libby heraus. „Sie waren zwei Wochen mit ihr zusammen, wenn ich mich nicht irre.“

„Sie haben Ihre Hausaufgaben anscheinend gut gemacht“, sagte Daniil grinsend. „Stimmt, ich bin ihr zu einem Fotoshooting nach Brasilien gefolgt, aber nicht, weil ich liebeskrank war, sondern weil ich etwas überprüfen wollte.“ Er zeigte stumm auf seinen Adamsapfel.

„Wie bitte?“

„Na ja, die Ungewissheit ließ mir einfach keine Ruhe … Sie war so groß und ihre Stimme so tief …“

Oh mein Gott, das war ja schockierend!

„Und? War sie …?“, krächzte Libby.

„Eine ‚Sie‘?“ Daniil nickte. „Eindeutig ja. Gott sei Dank.“ Sein Lachen verwandelte ihn so, dass Libby für einen Moment vergaß, wo sie war. Doch schon brachte Daniil sie mit einem knappen Nicken wieder in die Realität zurück. „Fahren Sie fort!“

Sie hatte noch einiges zu sagen, und er war offensichtlich ungeduldig. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. „Na ja, wie Sie wissen, geht es Lady Katherine nicht besonders. Ganz im Gegenteil.“

„Aber nicht schlecht genug, um keine Party zu schmeißen.“

„Das nicht, aber …“ Libby stockte.

„Aber?“

Sie beschloss, an sein Gewissen zu appellieren. „Na ja, es wird vielleicht keinen einundvierzigsten Hochzeitstag geben.“

Daniil blieb ungerührt. „Ist das alles?“

„Wie bitte?“

„Ist das Ihr einziges Argument, um mich zu überzeugen?“

Libby schluckte. Sie hatte eigentlich noch etwas in petto. Zum einen gab es da einen Brief, den Daniil ausgehändigt bekommen würde, wenn er sich bereiterklärte, zur Party zu kommen. Außerdem wollte Sir Richard in diesem Fall Daniils Erbe doch nicht an dessen Cousin übergeben. Das fand Libby aber alles so abgeschmackt, dass sie nichts davon erwähnte. Sie seufzte resigniert. „Nein, das wars. Ich bin anscheinend nicht gut darin, Menschen zu überzeugen.“

„Na ja, Sie sollten zumindest an Ihrer Technik feilen. Sie hätten schon gleich am Anfang die Karten offen auf den Tisch legen sollen.“

„Inwiefern?“

„Sie hätten mir ganz klar sagen sollen, dass ich als Daniel Thomas hingehen soll und dass man von mir erwartet, eine Rede zu halten …“

Libby klappte die Kinnlade nach unten, als ihr bewusst wurde, dass er ihr meilenweit voraus war.

„Erst nach meiner höflichen Ablehnung hätten sie versuchen müssen, mich zu überreden, indem sie auf den kritischen Zustand meiner Mutter hinweisen.“

„Hätte das denn geklappt?“

„Nein. Ich wollte Ihnen nur klarmachen, dass Sie das Pferd falsch herum aufgezäumt haben. Sie haben zu früh auf die Tränendrüse gedrückt.“

„Na ja, normalerweise mache ich so etwa auch nicht“, gestand Libby kleinlaut. Sie konnte den Blick gar nicht von Daniil losreißen. Sie fand ihn total faszinierend. Eine aufregende Mischung aus arrogant, abweisend und zugänglich.

„Richten Sie Ihrem Vater aus, dass meine Antwort Nein lautet. Ich werde nicht zur Feier meiner Eltern kommen.“

„Warum?“

„Ich sehe weder die Veranlassung noch habe ich das Bedürfnis, Ihnen meine Entscheidung zu erklären.“

„War es von Anfang an Ihre Absicht, Nein zu sagen?“

„Ja.“

„Warum haben Sie sich dann bereiterklärt, meinen Vater zu treffen?“

„Na ja, er hat angedeutet, etwas zu sagen zu haben, das meine Meinung ändern könnte. Ich kann mir vorstellen, dass es um mein Erbe geht, das an meinen Cousin George gehen soll. Von der Erbgeschichte haben Sie übrigens gar nicht gesprochen. Warum nicht?“

„Ich sehe weder die Veranlassung noch habe ich das Bedürfnis, Ihnen meine Entscheidung zu erklären“, zitierte ihn Libby provozierend, doch er lächelte nur.

„Sie wissen genau, dass das nicht stimmt.“

Leider hatte er recht. „Na ja …“, Libby veränderte ihre Sitzposition. „Das hat sich für mich ziemlich nach Erpressung angehört!“

„Erpressung ist der Lieblingssport meiner Eltern. Wie dem auch sei, ich kann sowieso kein zugiges Herrenhaus gebrauchen. Ich hasse den alten Kasten und verspüre nicht den geringsten Wunsch, ihn zu besitzen.“

Libby beschloss, Daniil endlich in Ruhe zu lassen. Es war ihr immer noch unangenehm, überhaupt hergekommen zu sein. „Okay. Es tut mir leid, Sie bei der Arbeit gestört zu haben, Mr. Zverev.“

„Tut es das?“

„Ja“, bestätigte Libby lächelnd. „Ich werde meinem Vater ausrichten, dass Sie nicht kommen.“

„Sollte er Ihnen Vorwürfe machen, können Sie ihm gern ausrichten, dass Sie sich gut geschlagen haben. Ihn hätte ich schon nach einer Minute rausgeworfen.“

„Warum nicht mich?“

„Weil es mir Spaß gemacht hat, Ihren Mund zu betrachten.“

Libby war schockiert. „So etwas können Sie doch nicht sagen!“

„Warum nicht? Sie können mir keine Vorschriften machen, wie ich mich hier in meinem Büro zu benehmen habe.“

Als Daniil aufstand, hätte sie sich fast geduckt, so groß war er. Geschmeidig durchquerte er den Raum, nahm sein Jackett von einem Garderobenständer und streifte es über.

„Auf dem Tisch steht Wasser“, sagte Daniil, „und da drüben steht ein gut gefüllter Kühlschrank. Das Bad ist hier entlang …“

„Wie bitte?“, fragte sie verwirrt.

„Sie sitzen immer noch, und ich bin eindeutig auf dem Weg nach draußen. Also gehe ich davon aus, dass Sie bleiben wollen.“

„Oh!“

Aufzustehen war eine echte Herausforderung. Libbys Beine wollten ihr irgendwie nicht gehorchen. Genauso wenig ihr Kopf, denn sie bückte sich nach einer Handtasche, die gar nicht da war. „Ach ja, ich habe meine Tasche draußen gelassen.“

Hoffentlich hielt er sie jetzt nicht für völlig irre.

Sie kam sich nämlich so vor.

Als sie Daniils Büro verließ, kam die Umgebung ihr irgendwie surreal vor – so als habe sie gerade zehn Stunden im Kino gesessen und müsse sich erst wieder an die Realität gewöhnen.

Libby nahm ihre Tasche, lächelte Daniils arroganter Sekretärin zu und ging zum Fahrstuhl. Als sie kurz darauf merkte, dass Daniil direkt hinter ihr stand, zuckte sie erschrocken zusammen. Das konnte ja heiter werden! Bestimmt würden sie sich jetzt im Fahrstuhl verlegen anschweigen.

Doch es kam ganz anders.

Daniil checkte sein Handy, dann warf er Libby einen fragenden Blick zu. Sie lehnte gegen eine Wand und betrachtete fasziniert seine Narbe.

„Haben Sie Lust auf ein frühes Abendessen?“, fragte er zu ihrer Verblüffung.

„Abendessen?“

„Ja. Ich habe Hunger, und ich nehme an, Sie hatten noch keine Zeit, zu Mittag zu essen, weil Sie ja zu Ihrem schwer verletzten Vater ins Krankenhaus eilen mussten.“

Libbys Lippen zuckten.

„Und noch dazu kamen der Schock und die Erleichterung zu erfahren, dass er nur eine leichte Gehirnerschütterung hat.“

Sie lachte. „Stimmt, ich habe noch nichts gegessen.“

„Dann lassen Sie uns gehen. Allerdings habe ich eine Bedingung.“

Sie verließen den Fahrstuhl und durchquerten das Foyer. Als Libby die abweisende Empfangsdame sah, unterdrückte sie den Impuls, ihr die Zunge herauszustrecken.

„Welche Bedingung?“

„Sie dürfen nicht versuchen, mich doch noch umzustimmen.“

„Umstimmen?“, fragte Libby stirnrunzelnd, bis ihr wieder der Grund ihres Kommens einfiel. „Ach so. Nein, ich kann Ihre Entscheidung gut verstehen.“

Als sie das Hotel verließen, stand schon ein Wagen mit Chauffeur bereit.

„Woher wusste Ihr Chauffeur, dass sie jetzt rauskommen?“

„Cindy wird ihm Bescheid gesagt haben, als ich das Büro verließ.“

Cindy hieß seine Sekretärin also. Tja, der Name passte irgendwie zu ihr.

Als Libby in den Wagen stieg, überschlug sie im Kopf, wie viel Geld sie bei sich hatte und wie hoch sie ihre Kreditkarte belasten konnte. Sie hatte nämlich vorhin recherchiert, dass Daniil während eines Essens, eines Urlaubs oder eines Fotoshootings oft einfach aufstand und ging, wenn er sich langweilte. Also musste sie damit rechnen, dass sie schlimmstenfalls allein mit der Rechnung dastand.

Trotzdem würde sie sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen.

2. KAPITEL

Im beschränkten Raum der Limousine wirkte Daniil Zverev auf Libby sogar noch größer als vorhin in seinem riesigen Büro. Außerdem fiel ihr auf, dass er trotz seiner schlanken Figur ganz schön kräftig und muskulös war. Neben ihm kam sie sich winzig klein vor.

„Wo fahren wir hin?“

„Irgendwohin, wo es nett ist.“

„Nett“ war ein exklusiver Club mit Türstehern, vor dem sogar an einem Montagabend eine Menschenschlange stand. Es war ein angenehmes Gefühl, sich nicht anstellen zu müssen.

„Haben Sie hier reserviert?“, fragte Libby, als man sie sofort hineinließ.

„Nein, ich reserviere grundsätzlich nirgendwo“, antwortete Daniil, als sie an einem Tisch im Restaurant Platz nahmen. Libby legte ihre Tasche auf den Fußboden und ihr Handy auf den Tisch. „Woher soll ich morgens schon wissen, worauf ich abends Appetit habe?“, ergänzte Daniil leise.

Zweite Warnung …

Libby sah sich im Restaurant um. Als sie die neugierigen Blicke der anderen Gäste bemerkte, kam sie sich vor wie bei ihrem Praktikum in der Bibliothek, als die Bibliothekarin weg gewesen und ihr jemand eine Frage gestellt hatte. „Ich arbeite hier nicht wirklich“, hatte Libby damals sofort gesagt.

„Ich bin nicht wirklich mit ihm zusammen!“, wollte sie die neugierigen Zuschauer am liebsten korrigieren.

Aber irgendwie war sie das schon. Zumindest heute Abend!

Natürlich war ihr bewusst, dass das hier nur eine einmalige Sache war, eher ein Zufall, aber das Ganze war so aufregend, dass sie es aus vollen Zügen genießen würde.

„Was möchten Sie trinken?“, fragte Daniil, als sie einen Blick in die Cocktailkarte warf. Das Angebot war überwältigend.

Genauso wie er.

In seiner Gegenwart fiel es ihr schwer, auch nur gleichmäßig zu atmen.

Sie schüttelte den Kopf, was er vermutlich schrecklich unkultiviert fand, aber sie war einfach überfordert.

„Champagner?“

Sie nickte, aber als er die Bestellung aufgab und sie hörte, welchen Champagner er aussuchte, nahm sie sich vor, ihn auf keinen Fall zu langweilen. Ihre Kreditkarte würde den Betrag nämlich nie abdecken.

Der Champagner wurde eingeschenkt. Das Klingeln von Libbys Handy durchbrach das Schweigen.

Daniil warf einen Blick auf das Display und sah, dass ihr Vater am Apparat war. „Gehen Sie ruhig ran.“

Libby folgte seiner Aufforderung. „Tut mir leid, Dad, ich habe mit ihm gesprochen, aber seine Antwort lautet immer noch Nein.“

Daniil beobachtete Libby beim Telefonieren. Dass er sie zum Essen eingeladen hatte, war für ihn selbst überraschend gekommen. Libby war eigentlich nicht sein Typ. Er stand auf vornehme, großgewachsene Frauen, die in einem Restaurant still auf ihrem Platz saßen und denen es reichte, mit ihm zusammen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden.

Libby Tennent hingegen saß nicht still. Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, während sie telefonierte, fummelte an ihrem Haar herum und hatte eine sehr lebhafte und ausdrucksstarke Mimik. „Nein, es sieht nicht so aus, er würde er seine Meinung noch ändern.“

Daniil beobachtete sie fasziniert.

„Nein, ich würde nicht versuchen, ihn noch mal anzurufen, Dad“, antwortete Libby und zwinkerte Daniil verschwörerisch zu. „Er ist eiskalt.“

Lächelnd trank Daniil einen Schluck Champagner.

„Nein, ich fürchte, du wirst sein Nein akzeptieren müssen. Wie geht es d…?“, schob sie hinterher, doch ihr Vater hatte bereits aufgelegt.

Sie legte ihr Handy auf den Tisch zurück und zuckte hilflos die Achseln.

„Eins“, sagte er. Libby runzelte verwirrt die Stirn. „Zwei …“ Als sie gerade fragen wollte, was er machte, klingelte sein Handy. „Ich weiß beim besten Willen nicht, woher er meine Privatnummer hat.“

Als Daniil ranging, wollte er Lindsey Tennent eigentlich eiskalt abservieren, brachte das aber doch nicht fertig. Was vielleicht daran lag, dass er in ungefähr einer Stunde mit Lindseys Tochter schlafen würde. „Lindsey, das mit dem Unfall tut mir leid. Trotzdem werde ich Ihre Nummer jetzt blockieren. Versuchen Sie nie wieder, mich anzurufen.“ Er legte auf.

„Mein Vater tut mir irgendwie leid“, sagte Libby kleinlaut. „Dabei war ich total sauer auf ihn, weil er mich zu Ihnen geschickt hat.“

„Warum sind Sie dann gekommen?“

Libby zuckte wieder die Achseln. „Er hat mich darauf hingewiesen, dass ich im Gegensatz zu meiner Schwester June nichts für die Firma tue.“

„Und was macht June?“

„Sie ist Köchin.“ Libby seufzte. „Und mit einem Koch verheiratet.“

„Wie praktisch für einen Eventplaner.“

Libby nickte düster. „Anders als ich.“

„Was ist mit Ihrer Mutter?“

„Sie arbeitet auch für meinen Vater.“

„Verstehen Sie sich gut mit Ihren Eltern?“

„Ja, schon, aber …“ Wieder ein Achselzucken. „Ich bin meiner Familie oft zu direkt. Manchmal hab ich schon gedacht, ich bin adop…“ Sie schluckte ihren Fauxpas hinunter, doch Daniil lächelte nur ironisch. Sie verzog das Gesicht. „Sorry, das war ungeschickt von mir.“

„Warum habt ihr Engländer eigentlich ständig Schuldgefühle? Sie haben keinen Grund, wegen Ihres Vaters ein schlechtes Gewissen zu haben – es ist nicht Ihre Schuld, dass seine Firma fast pleite ist.“

Libby sah ihn verblüfft an. „Woher wissen Sie das?“

„Ist er immer so eifrig hinter Gästen her, die nicht erscheinen wollen?“

„Nein.“

„Dann hängt von dieser Party offensichtlich eine Menge ab.“

„Das stimmt.“

„Schuldgefühle sind nicht nur völlig überflüssig, sondern machen einen auch manipulierbar. Meine Eltern scheinen zu wissen, dass Ihr Vater in einer verzweifelten Lage ist, sonst würden sie ihn nicht dafür benutzen, an mich ranzukommen. Und er wiederum vermittelt Ihnen Schuldgefühle, damit Sie mit mir reden – in der Hoffnung, dass ich dem Charme Ihrer schönen blauen Augen erliege und nicht Nein sagen kann.“ Er drohte ihr mit einem Zeigefinger.

„Bedeuten Ihre Eltern Ihnen denn gar nichts?“, fragte Libby.

Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, bot jedoch keine weiteren Erklärungen.

„Standen Sie ihnen früher mal nahe?“

„Nein. Ich lasse grundsätzlich niemanden an mich heran.“

Sie runzelte irritiert die Stirn, sagte jedoch nichts. Es stand ihr nicht zu, ihn zu belehren und ihm zu sagen, dass seine Einstellung falsch war. „Warum?“, fragte sie dann aber doch – und errötete prompt, weil sie bei ihrer Frage nicht unbedingt an die Beziehung zu seinen Eltern gedacht hatte.

„Weil das nur falsche Erwartungen weckt, und Beziehungen sind nie von langer Dauer, Libby“, erwiderte Daniil. „Ihnen ist doch bewusst, dass nichts, was heute Abend passiert, meine Meinung ändern wird, was die Party meiner Eltern angeht?“

„Ja.“

Er glaubte ihr kein Wort. „Ganz sicher?“

Sie nickte.

„Alles andere wäre auch sehr dumm von Ihnen“, warnte er sie.

„Ich weiß. Und ich hoffe, Ihnen ist bewusst, dass Sie mich nicht mit Ihrem teuren Champagner kaufen können.“

„Klar.“

„Sind Sie sicher?“

Daniil nickte grinsend. „Aber vielleicht kriege ich Sie ja mit meinem Charme rum.“

Libby musste lachen. Er war wirklich böse, aber seine Offenheit war irgendwie erfrischend.

„Wie sieht es bei Ihnen aus?“, fragte er. „Sie wissen ja schon von meinem Zwei-Wochen-Rekord. Wie hoch ist Ihrer, was Beziehungen angeht?“

Libby dachte kurz nach. „Achtzehn Monate. Obwohl die letzten sechs Monate davon nicht wirklich zählen.“

„Warum nicht?“

„Es lief da nicht mehr so toll.“ Sie musste an die damalige Zeit zurückdenken – ihre permanente innere Anspannung, weil sie ständig zwischen den Stühlen stand. Es war eine Erleichterung gewesen, als die Beziehung endlich vorbei gewesen war und sie sich wieder ganz auf das Tanzen hatte konzentrieren können. „Anscheinend war ich ihm zu sehr auf meine Karriere fixiert.“

„Statt auf ihn?“, fragte Daniil. Als Libby nickte, fügte er hinzu: „Dann war das sein Problem.“

„Mag sein“, sagte Libby seufzend. „Zumindest versuche ich, mir das einzureden.“

„Glauben Sie es ruhig.“

Als der Kellner kam, bestellte Libby Zwiebelsuppe und Daniil zwei Steaks und einen Salat.

„Zwei?“, fragte sie überrascht.

„Ich habe eben einen großen Appetit. Ich bin überrascht, dass sie den Kellner nicht gebeten haben, den Käse und das Brot wegzulassen. Machen das nicht die meisten Balletttänzer?“

„Ha!“ Libby lächelte schief. „Ich verliere meinen Appetit leider nur, wenn ich Stress habe. Ansonsten habe ich immer Hunger. Woher wissen Sie eigentlich, dass ich Tänzerin bin?“

„Sie haben sich große Mühe gegeben, Ihre Beine parallel zu halten und nicht wie eine Ente zu laufen, als sie mein Büro betreten haben.“

Oh. Ihre Schenkel waren gerade parallel – weil sie sie lustvoll zusammenpresste. Seine Knie streiften ihre nämlich öfter wie zufällig.

„Tanzen Sie professionell?“, fragte Daniil.

„Bis vor Kurzem habe ich das, ja.“ Zum ersten Mal erlosch ihr Lächeln. „Na ja, ich werde bald wieder beruflich tanzen, aber anders … Ich will mir morgen zwei Studios ansehen, weil ich eine eigene Tanzschule eröffnen will. Sie kennen ja das Sprichwort – wer nichts kann, unterrichtet.“

„Das klingt nicht wie etwas, das Sie zu jemand anderem sagen würden.“

„Nein“, gab Libby zu.

„Warum sagen Sie es dann zu sich selbst?“

„Ich schätze, weil ich nicht so weit gekommen bin, wie ich mir erhofft habe.“

„Und wie weit wäre das gewesen?“

Zum ersten Mal kam das Gespräch ins Stocken.

Libby trank einen großen Schluck Champagner. „Ich war immer nur die Zweitbesetzung. Kennen Sie es, wenn man jemandem Hals- und Beinbruch wünscht? Tja, ich habe das der Erstbesetzung insgeheim öfters gewünscht. Aber sie hat sich natürlich nichts getan.“

„Sie haben das nicht ernst gemeint.“

„Nein“, räumte sie ein. „Aber es hätte mich gefreut, wenn sie zumindest einmal Migräne bekommen hätte.“ Sie erwiderte Daniils Lächeln. „Irgendwann habe ich akzeptiert, dass die kleinen Rollen nie zu etwas Größerem führen werden. Ich liebe das Ballett, ehrlich, aber es ist nicht alles. Na ja, fast alles, aber irgendwann war die Grenze erreicht. Ich hatte auch ein paar Verletzungen, von denen ich mich nie vollständig erholt habe …“

„Zum Beispiel?“

„Sie würden meine Füße nicht sehen wollen.“

„Oh doch, das würde ich.“

Besagte Füße krümmten sich, als er wieder ihre Knie streifte. Sie unterdrückte den Impuls, ihre Schuhe abzustreifen und die Füße auf seinen Schoß zu legen.

Hilfe!

„Wie dem auch sei, nach meiner letzten Verletzung hätte ich mich eigentlich schonen müssen, und so etwas geht beim Ballett nun mal nicht. Irgendwann beschloss ich, mir das alles nicht länger anzutun. Ich fand mich damit ab, dass ich nie weiterkommen werde, und habe eine Ausbildung zur Lehrerin gemacht. Inzwischen freue ich mich richtig auf mein Studio. Eine Zeitlang war ich aber ganz schön deprimiert.“

„Sie haben bestimmt geglaubt, Ihr Leben sei vorbei, oder?“

„Allerdings“, gestand sie bereitwillig. Monatelang hatte sie ihrem Traum von der großen Solokarriere hinterhergetrauert, aber inzwischen war sie stolz auf das, was sie erreicht hatte. Und freute sich auf die Zukunft.

Na ja, fast.

Ein bisschen trauerte sie immer noch, aber meistens gelang es ihr, nicht über ihre geplatzte Karriere nachzudenken.

„Und morgen sehen Sie sich Studios an, um eine eigene Tanzschule zu eröffnen?“

„Ja.“

„Viel Glück!“ Er hob sein Glas und stieß mit ihr an.

Die Suppe duftete köstlich. Libby bohrte mit dem Löffel ein Loch in die perfekte Kruste, um an die duftende braune Brühe darunter zu kommen.

„Erzählen Sie mir mehr über die Studios!“, forderte er sie auf.

„Tja, eins ist in der Nähe Ihres Büros und entsprechend teuer. Dann gibt es da noch eins am East End, das ich mir leisten könnte. Und es hat schon Spiegel …“

„Dann war es also vorher schon ein Tanzstudio?“

„Ja.“

„Warum musste es schließen?“

Libby, die gerade ihren Löffel zum Mund führte, erstarrte in der Bewegung. „Wollen Sie mir den Appetit verderben?“

„Solche Fragen sollten Sie sich unbedingt stellen. Glauben Sie mir, ich kenne mich mit diesen Dingen aus.“

Sie lächelte verkrampft. „Ich bezweifle, dass Sie ein Fachmann für unbedeutende Ballettstudios sind …“

„Geschäft ist Geschäft.“

„Mag sein, aber für mich geht es um mehr als das.“

„Daran ist auch nichts verkehrt.“ Seine Knie berührten ihre Knie nun ganz direkt. Ja, inzwischen flirtete er eindeutig mit ihr.

„Woher haben Sie Ihre Narbe?“, fragte Libby mit pochendem Herzen.

Er schüttelte nur den Kopf. Keine ausweichende Erklärung, nur ein leichtes Kopfschütteln, das ihr ganz klar signalisierte, nicht weiterzufragen.

Was ihre Neugier natürlich nur umso mehr anstachelte.

Seine Narbe war ziemlich markant. Libby wunderte sich, dass er sie nicht kosmetisch hatte glätten lassen. Schließlich besaß er Milliarden.

Seine Zähne sahen genauso makellos aus wie sein Haar und sein teurer Anzug. Daniil legte eindeutig Wert auf sein Erscheinungsbild.

Abgesehen von der Narbe.

Sie unterhielten sich weiter, oder vielmehr Libby redete. Daniil war sehr geschickt darin, Informationen aus ihr herauszulocken. Wo sie wohnte, wo sie zur Schule gegangen war, wo sie tanzte.

Als er ihr Glas nachfüllen wollte, aber nur noch ein paar Tropfen aus der Flasche herauskamen, hatten sie fast nur über sie gesprochen.

„Ich bestelle noch eine Flasche.“ Er machte Anstalten, einen Kellner zu rufen, doch Libby hielt ihn davon ab.

„Nicht für mich – ich würde umkippen.“

„Dessert?“

Er sah ihr an, dass sie innerlich hin- und hergerissen war. Ihre Zeit war abgelaufen, aber sie wollte noch nicht gehen.

„Ja, bitte.“

Die Speisekarten wurden gebracht, und sie spielte mit dem Gedanken, das Schokoladensoufflé zu nehmen, um das unvermeidliche Ende noch weiter hinauszuzögern, entschied sich jedoch für eine Crème brûlée. „Und Sie?“

„Ich nehme nur einen Kaffee.“

Es war kurz vor halb neun, als ihr Dessert serviert wurde.

„Und? Schmeckt es?“, fragte Daniil.

„Sehr gut“, bestätigte Libby nickend. Ihr fiel auf, dass er zerstreut wirkte. Immer wieder warf er einen Blick auf die Uhr.

Bedank dich für das Abendessen und geh nach Hause! befahl sie sich, doch stattdessen zögerte sie den Abschied noch ein bisschen hinaus, indem sie auf die Toilette ging. Dann bestellte sie sich auch einen Kaffee, doch nur allzu schnell hatten sie ihre Getränke geleert. Also blieb ihr nur noch, zur Erinnerung unauffällig eine Serviette in ihre Handtasche zu stecken.

Kurz darauf verließen sie das Restaurant. Daniils Chauffeur wartete schon auf sie.

„Ich nehme ein Taxi“, sagte Libby.

„Warum sollten Sie das tun, wenn ich einen Wagen habe?“

Sie hob den Blick zu ihm. „Ich glaube, das wissen Sie so gut wie ich.“

„Also, es war sehr unterhaltsam, Sie kennenzulernen, Miss Tennent.“

„Ich fand es eher einschüchternd, Sie kennenzulernen.“ Libby lächelte. „Na ja, zumindest am Anfang.“

„Und jetzt?“ Mit einer verführerischen Geste legte er ihr die Hände auf die Hüften.

Libby verspürte das plötzliche Verlangen, sich ihm in die Arme zu werfen und ihm die Beine um die Hüften zu schlingen. „Ich bin immer noch ziemlich eingeschüchtert“, gab sie zu. „Obwohl es zwischendurch sehr amüsant war.“

Kein Wunder, dass sie eingeschüchtert war – sie war kurz davor, sich vom Teufel küssen zu lassen. Warum zum Teufel habe ich mir Zwiebelsuppe bestellt? fragte sie sich verzweifelt. Am liebsten hätte sie bei Daniil auf Pause gedrückt und kurz ein Pfefferminzbonbon aus ihrer Handtasche genommen.

„Was denken Sie gerade?“, sagte Daniil.

„Das verrate ich Ihnen nicht.“

Daniil ließ es nicht langsam angehen, sondern kam direkt zur Sache. Er küsste sie so gründlich, wie sie noch nie geküsst worden war. Fast gewaltsam öffnete er ihre Lippen und erforschte ihren Mund. Sein Kinn fühlte sich erregend rau an, und als sie seinen Kuss erwidern wollte, ließ er das nicht zu.

Das ist mein Kuss, schien er mit den Lippen sagen zu wollen. Es war kein Tanz. Er übernahm nicht die Führung, sondern ergriff einfach Besitz von Libby und versetzte sie in Flammen. Sein Körper war so hart …

Sein Kuss machte sie binnen Sekunden so scharf, dass er sie hier und jetzt auf der Straße hätte nehmen können. Hungrig fuhr sie mit ihren Händen über seinen Oberkörper. Sie spürte den kühlen glatten Stoff seines Hemds, die heiße Haut darunter und eine harte Brustwarze. Ja, sie war total scharf auf ihn.

Als sie sich enger an ihn presste, löste er abrupt die Lippen von ihren und ließ sie los. Sie vermisste seinen Kuss sofort.

„Bett“, sagte er heiser.

„Ich …“, begann Libby, stockte dann jedoch. Hatte sie etwa gerade sagen wollen, dass sie nicht wollte?

Denn das stimmte nicht.

Seitdem sie acht Jahre alt gewesen war, hatte Tanzen für sie immer an erster Stelle gestanden. Das hatte große Selbstdisziplin erfordert.

In jeder Hinsicht.

Es war herrlich, endlich mal spontan sein zu dürfen – sich nur von ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen lenken zu lassen.

Und sie wollte das hier. Also sagte sie Ja, obwohl es vermutlich klüger gewesen wäre, Nein zu sagen.

„Bett“, sagte Libby nickend, verzog jedoch schuldbewusst das Gesicht. „Ich werde das hier morgen bestimmt so was von bereuen.“

„Nur wenn du von mir erwartest, mich unsterblich in dich zu verlieben.“

Dritte Warnung …

Noch bestand die Chance, einen Rückzieher zu machen.

„Auf keinen Fall!“, versicherte Libby. Ein bisschen Verstand hatte sie sich immerhin noch bewahrt.

Daniil schaute ihr tief in die Augen. „Dann wirst du es auch nicht bereuen!“

3. KAPITEL

Die Sicherheitsvorkehrungen für den Zutritt zu Daniils Penthouse machten denen in seinem Büro alle Ehre.

Zuerst musste der Chauffeur in eine Gegensprechanlage sprechen, woraufhin sich das Tor zur Tiefgarage öffnete. Von dort aus gingen sie zu einem Fahrstuhl, dessen Tür erst aufging, nachdem Daniil einen Zahlencode eingab und mit seiner tiefen sexy Stimme seinen Namen sagte.

Kurz darauf wurden sie in einem Foyer im Erdgeschoss in Empfang genommen und stiegen in einen weiteren Fahrstuhl, der zu seinem Apartment führte.

In seiner Wohnung warf Daniil sein Jackett über eine Couch, schenkte zwei Drinks ein und nahm auf einem der großen Sofas Platz, während Libby sich erstmal umsah.

Daniil hatte oft Frauenbesuch, da er nur ungern woanders übernachtete. Hier hatte er die Kontrolle.

Woran er jedoch nicht gewöhnt war, waren Frauen wie Libby. Ihre flachen Schuhe hinterließen kein Geräusch auf seinem Marmorfußboden, als sie zum Panoramafenster ging und die Aussicht betrachtete. So wie sie aussah, debattierte sie mal wieder innerlich mit sich selbst.

Er wohnt direkt über den Wolken, dachte Libby.

„Keine klappernden Absätze! Du klingst ja gar nicht wie ein Pony“, stellte er fest.

„Ach ja, richtig, laute Geräusche nerven dich.“ Lächelnd betrachtete Libby das dunstige London unter dem orangeroten Abendhimmel, der einen weiteren heißen Tag ankündigte. „Es hat mich ganz schön in den Fingern gejuckt, an deine Bürotür zu klopfen, nur um dich zu nerven.“

„Hast du deshalb so vor dich hingelächelt?“, fragte Daniil. Er hatte doch gleich den Eindruck gehabt, dass sie sich über irgendetwas amüsierte.

„Ja.“ Libby richtete die Aufmerksamkeit von der tollen Aussicht auf einen anderen köstlichen Anblick. Daniil. Sie musste lachen. „Ich bin heute irgendwie nicht ich selbst“, gestand sie.

„Inwiefern?“

Sie wusste nicht, wie sie das aufregende Gefühl beschreiben sollte, ihr Leben endlich genießen zu können, nachdem sie sich bisher immer so viel versagt hatte. Doch anstatt ihm das zu sagen, schüttelte sie den Kopf. So wie Daniil, wenn er über etwas nicht reden wollte.

Er akzeptierte ihr Schweigen. „Ich bin heute auch irgendwie nicht ich selbst.“

Normalerweise würde das hier anders laufen. Normalerweise hätten sie sich schon im Fahrstuhl geküsst und wären jetzt bereits im Bett. Doch stattdessen spazierte Libby in seiner Wohnung herum, als hätten sie alle Zeit der Welt. Und er ließ sie gewähren.

Seine Wohnung war riesig. Die gemauerten Wände zu beiden Seiten des Panoramafensters leuchteten im Abendrot. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen. Mit jedem Blitz leuchtete der Himmel rot auf. Man spürte den Donner eher, als dass man ihn hörte. Libby hatte das Gefühl, frei zu schweben – irgendwie surreal.

Sie trat vom Fenster zurück. „Deine Wohnung ist der Wahnsinn.“

Die dunklen Ledersofas waren ungemein groß und einladend, und natürlich gab es auch sonst jeden Komfort.

Aber irgendetwas fehlte.

Sie vermisste Bilder an den Wänden und Fotos in den Regalen. Und …„Du hast ja gar keine Bücher!“

„Ich lese online.“

„Und was ist mit deinen alten Büchern?“

„Die habe ich weggeworfen“, antwortete Daniil achselzuckend.

Libby starrte ihn entsetzt an. Wie konnte man nur so gefühllos sein?

Daraus solltest du vielleicht eine Lehre ziehen, ermahnte sie sich selbst. Schon morgen würde auch sie vermutlich auf dem Müll landen, und nichts mehr hier würde darauf schließen lassen, dass sie je hier gewesen war.

Ja, Daniils Wohnung hatte etwas Unpersönliches, so schön sie auch war.

Sie warf einen Blick in die Küche, die den Neid jedes Koches erregen würde, der etwas auf sich hielt, aber anders als ihre Schwester konnte Libby noch nicht mal annähernd kochen. Also ging sie schnell weiter.

„Gefällt dir die Küche nicht?“, rief Daniil ihr zu.

„Na ja. Es ist eben eine Küche.“ Zögernd näherte sie sich seinem Schlafzimmer. Sie wunderte sich, dass sie gar kein Lampenfieber hatte. Am liebsten hätte sie sich sofort auf Daniil gestürzt und ihn direkt auf dem Sofa vernascht. Sie konnte seinen hungrigen Blick auf sich spüren. Er wirkte wie ein Raubtier auf dem Sprung.

Wow, dachte sie, als sie in der Tür seines Schlafzimmers stand. Die Möblierung bestand nur aus einem Bett und weiter nichts. Einem wundervollen, großen Himmelbett mit weißen Vorhängen.

Auch hier fehlten Bilder und Spiegel, und trotzdem war das Zimmer in seiner Schlichtheit auf eine seltsame Art schön. Und sexy. „Wo hast du deine Kleidung?“, rief sie.

„Hinter der Wand zu deiner Rechten ist das Ankleidezimmer.“

Sie vermisste einen Nachttisch. „Und wo stellst du dein Wasserglas ab?“

„Ich stehe auf, wenn ich etwas trinken will.“

„Und wo sind die Kondome?“

Er musste über ihre Direktheit lachen. „Ich habe eine Magd, die mir im passenden Augenblick eins reicht …“

Libby drehte sich zu ihm um und verdrehte genervt die Augen.

„Sie liegen unter den Kissen“, gab Daniil zu.

„Ach.“ Libby war fast enttäuscht. „Ich dachte, man muss mindestens auf einen Knopf drücken oder so.“

Libby sehnte sich fast schmerzlich danach, dass Daniil zu ihr kam, denn er saß immer noch auf dem Sofa und beobachtete sie.

Seufzend beschloss sie, auf eine nähere Inspektion des Ankleidezimmers zu verzichten. Stattdessen ging sie weiter zu einem großen, sehr ordentlichen Arbeitszimmer – auch das ohne Bücher, Fotos oder sonstige Gegenstände.

Ja, es war alles wunderschön, aber irgendwie tot.

Sie öffnete eine weitere Tür.

„Libby!“

Sie drehte sich zu Daniil um und sah ihn den Kopf schütteln. So wie in dem Augenblick, als sie ihn nach seiner Narbe gefragt hatte. Er entschuldigte sich nicht und gab ihr auch keine Erklärung. Er warnte sie nur davor weiterzugehen.

Jetzt stand Daniil auf und kam auf sie zu, wobei er sich mit der gleichen anmutigen Geschmeidigkeit bewegte wie vorhin in seinem Büro. Sie schluckte, als er seine Krawatte lockerte.

Ihre Erregung breitete sich von ihrer Körpermitte bis in sämtliche Gliedmaßen aus – so heftig, dass ihr die Hitze ins Gesicht schoss.

„Komm!“, sagte er und zog sie ins Schlafzimmer.

Kein Kuss, kein „Huch, wie sind wir denn hier gelandet?“, kein Kosename.

Das hier war Sex – nackter, primitiver Sex. Libby wusste, dass es klüger wäre zu verschwinden, doch irgendwie machten Daniils Kälte und seine Dominanz sie an. Noch nie hatte sie sich zu einem Mann so hingezogen gefühlt. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl und aufgeregt zugleich – eine schwindelerregende Mischung.

Sie war so scharf auf ihn, dass sie ihm überallhin gefolgt wäre. Wie konnte sie Nein zu ihm sagen?

„Kann hier jemand reinsehen?“, fragte sie und zeigte auf das Fenster, vor denen weder Vorhänge noch Rollos hingen.

„Nein.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher.“ Daniil winkte sie zu sich und zeigte nach draußen. „Sieh mal da drüben.“ Er erzählte ihr, dass hinter einem großen erhellten Fenster links ein ziemlich promiskuitiver Thronfolger lebte und ein Stockwerk darüber ein Filmstar. „Es ist wie in einem Krankenwagen“, erklärte er. „Man kann rausgucken, aber niemand kann hineinsehen.“

„Warst du schon mal in einem Krankenwagen?“

„Ein paarmal.“

Libby drehte sich zu ihm um und betrachtete wieder seine Narbe. Ob er ihr jetzt verraten würde, wie er sie bekommen hatte? „Weshalb?“

„Wegen …“ Daniil senkte den Kopf zu ihrem rechten Ohr, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten. Libby wartete angespannt, doch anstatt seine Stimme zu hören, spürte sie erst seinen heißen Atem und dann seine Lippen an ihrem Ohrläppchen. Als er dann mit seinen Lippen ihren Hals berührte, lief ihr ein wollüstiger Schauer über den Rücken. Doch es frustrierte sie, dass er sich ihr nicht anvertraute. Sie trat einen Schritt zurück.

Daniil hob den Kopf und sah sie an. „Du brauchst meine Lebensgeschichte nicht zu kennen, Libby.“

Aber sie wollte so gern mehr über ihn erfahren.

Libby ging zum Bett, setzte sich auf die Kante und versuchte, nicht beleidigt zu sein. Es ist nur eine Nacht, rief sie sich ins Gedächtnis, obwohl sie schon jetzt viel zu sehr in das alles hier verstrickt war. Wie sollte ihr eine Nacht mit diesem Mann je reichen?

Als sie beobachtete, wie er sich sein Hemd auszog, biss sie sich auf die Unterlippe. Sie kannte sich mit Körpern aus, das war ihr Job.

Daniil war unglaublich schön – sein Bauch muskulös und fest und seine Brust so breit und durchtrainiert, dass sie Libby an einen riesigen Schmetterling erinnerte, der die Flügel ausbreitete. Seine Arme waren kräftig, aber lang und schmal. Sie runzelte die Stirn, als sie einen blauen Fleck auf seinen Rippen sah. Es lag ihr auf der Zunge, ihn darauf anzusprechen, aber sie wollte nicht schon wieder eine Abfuhr riskieren.

Stattdessen gab sie eine Anweisung. „Dreh dich um“, sagte sie, überrascht über ihre eigene Kühnheit. Als er gehorchte, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

Sein Rücken sah aus wie ein Kunstwerk. Sie sah die Muskeln unter der hellen Haut spielen. Ihre ehemaligen Kolleginnen wären bei dem Anblick verzückt in Ohnmacht gefallen.

Libby beobachtete fasziniert, wie er seine restlichen Kleidungsstücke auszog. Als er sich wieder umdrehte und sie ihn nackt vor sich stehen sah, musste sie beim Anblick seiner riesigen Erektion schlucken – sie sah so gefährlich und schön aus wie er selbst.

Und das alles würde heute Nacht ihr gehören.

Er zog sie an einer Hand hoch und nahm sie in die Arme. Sie presste eine Wange auf seine Brust und atmete genießerisch seinen Duft ein, während sie mit ihren Händen über seine Hüften und seinen Po strich.

Seinen Rücken würde sie sich später vornehmen …

Als Daniil sie losließ, begann sie, die Schnur ihrer elfenbeinfarbenen Wickelbluse zu lösen.

„Warte.“

Er legte sich aufs Bett und nickte ihr zu.

Sie hatte ein kleines Problem mit dem Knoten, weil sie ihn dabei beobachtete, wie er ihr beim Entkleiden zusah. Sie war zu zierlich gebaut für einen BH, aber ihre Brüste fühlten sich gerade extrem schwer an, und ihre Knospen zeichneten sich hart unter dem hellen Stoff ab.

Nachdem sie sich ihrer Bluse entledigt hatte und nur noch in Rock und Tanztrikot vor ihm stand, machte Libby sich daran, ihren Rock auszuziehen.

„Langsam“, sagte Daniil. „Dreh dich vorher um.“

Libby gehorchte.

Zuerst streifte sie ihre Schuhe ab, dann schob sie langsam ihren Rock über ihre Hüften. Als sie Daniil hinter sich stöhnen hörte, wusste sie, dass er sich selbst berührte.

Libby widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und schob sachte einen Träger ihres Tanztrikots über die Schulter. Sie streifte den anderen Träger ab und schob das Trikot über ihre zitternden Schenkel und dann über ihre Füße. Auch ohne seine Instruktion blieb sie ein bisschen länger in dieser gebückten Haltung als nötig, bevor sie sich anmutig wieder aufrichtete.

„Dreh dich um!“, forderte er heiser.

Vollkommen nackt wandte Libby sich zu ihm. Sie genoss seinen begehrlichen Blick, als er ihre winzigen Brüste, ihren flachen Bauch und ihr blondes Schamhaar betrachtete.

Gut, dass sie sich heute Morgen die Beine rasiert hatte. Instinktiv überkreuzte sie die Knöchel und stellte einen Fuß auf den anderen, als sein Blick tiefer glitt.

„Deine Füße gefallen mir“, sagt er. „Du weißt, was Schmerz ist.“

„Stehst du etwa auf so etwas?“

„Nein, aber deine Füße verraten, dass du Selbstdisziplin hast. Du brauchst dich ihrer nicht zu schämen.“

„Uff!“

„Hattest du etwa Angst, dass ich dich schlagen will?“

„Nein.“

Sie sagte nicht ganz die Wahrheit. Libby hätte nämlich nichts dagegen, von ihm übers Knie gelegt zu werden … und das machte ihr Angst. Solche Gelüste hatte sie noch nie verspürt.

Oh ja, sie war heute eindeutig nicht sie selbst!

Doch als er sie zu sich rief, fühlte sie sich authentischer als je zuvor in ihrem Leben. Das hier war genau das, was sie wollte.

Sie kletterte aufs Bett. Ohne weitere Anweisungen abzuwarten, kniete sie sich über Daniil und küsste ihn. Als er Anstalten machte, den Kopf zu heben, presste sie die Lippen fester auf seinen Mund. Jetzt war sie dran.

Sanft erkundete sie mit ihrer Zunge seinen Mund, während er ihre vor Erregung fast schmerzhaft angespannten Brüste liebkoste.

Normalerweise ließ Daniil es nie langsam angehen, aber diesmal schon.

Für sie beide war es heute ein erstes Mal. Für Libby das erste Mal, dass sie sich völlig gehenließ, und für Daniil eine Auszeit von seiner inneren Abwehr gegen jegliche Intimität. Heute genoss er bewusst – Libbys weiche Lippen, ihren süßen Atem, ihr lustvolles Stöhnen und ihre weichen, runden Brüste unter seinen Händen.

Ja, es war eine Nacht des Sichgehenlassens. Ihn unverwandt küssend setzte Libby sich rittlings auf Daniil und vertiefte ihren Kuss. Er schob seine Hände von ihren Brüsten zu ihrer Taille, aber nur, um Libby dichter an sich heranzuziehen und eine ihrer Brüste in den Mund zu nehmen.

Sie rutschte ein Stück vor, damit er besser an ihre Brüste und ihren Po herankam.

Für Daniil fühlte sie sich unglaublich gut an – kein Silikon, keine schlaffen Partien, nur harte Muskeln. Lustvoll massierte er ihren knackigen Po, während er an ihren Brüsten saugte.

Als er lange kalte Finger in sie gleiten ließ, keuchte sie erschrocken auf. „Kalte Hände“, flüsterte sie.

„Kaltes Herz“, murmelte er an ihrer Brust.

Sie war so erregt, dass sie es ihm viel zu leicht machte. Sie musste sich beherrschen, nicht sofort zu kommen.

Daniil mochte Zweikämpfe. Er reizte Libby, immer intensiver und kundiger, bis sie zuckend um seine Finger kam.

„Ich wäre ein schrecklicher Liebhaber“, sagte sie schwer atmend. „Es wäre immer viel zu schnell vorbei …“

„Du würdest hinterher bestimmt auch schnarchen“, sagte er grinsend. „Und ich würde total frustriert neben dir liegen.“ Er musste lachen, obwohl er sonst immer ernst beim Sex war.

Das hier machte ihm so viel Spaß, dass er Lust auf eine nächste Runde hatte. Er setzte Libby rittlings auf seinen Schoß, legte ihre Beine über seine Schultern und richtete sich mühelos mit ihr auf.

Erschrocken riss sie die Augen auf. „Was …?“ Himmel, war er stark!

Sie brauchte ein paar Sekunden, um ihr Gleichgewicht zu finden, aber dann … oh Gott! Sie hatte keinen Halt außer seinen Händen auf ihren Hüften und seinen herrlichen Lippen zwischen ihren Beinen. Sie hemmungslos leckend entlockte er ihr Worte, die ihr noch nie zuvor über die Lippen gekommen waren.

„Hör nie wieder auf“, flehte Libby, als sie explosionsartig kam. Es war unglaublich.

Daniil wäre um ein Haar selbst gekommen. Eigentlich mochte er Sex wegen seiner eigenen Befriedigung, doch zu spüren, wie Libby unter seinem Mund kam, ihren schwindelerregenden Duft einzuatmen, war unglaublich befriedigend.

Plötzlich fand sich Libby auf der Matratze wieder. Statt sie vorsichtig herunterzulassen, hatte Daniil sie äußerst unsanft aus seinen Armen gleiten lassen! Und Libby liebte es …

„Ich muss dich warnen …“

Das war völlig überflüssig. Libby sah auch so, dass Daniil mehr als bereit für sie war, als er sich nun mit zitternden Händen ein Kondom über seine Härte streifte. Aber selbst wenn er jetzt sofort kam, wäre er der beste Liebhaber, den sie je gehabt hatte.

Seine Lippen glänzten von den Spuren ihrer Lust, als er sich auf sie legte und sie küsste. Statt brav die zu Beine spreizen, wartete Libby darauf, dass Daniil die Initiative ergriff. Sie genoss das Gefühl, als er seinen harten Oberschenkel zwischen ihre Beine schob …

Träge und trunken vor Lust nach zwei Orgasmen lag sie da, doch er gönnte ihr keine Erholung. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie in seine eisgrauen Augen sah. Jetzt würde sie erfahren, wie es war, von diesem Mann genommen zu werden.

„Oh“, stöhnte Libby, als er in sie eindrang. Ganz im Bann seines Blicks brauchte sie keine Küsse, sondern genoss einfach nur seine Lust, die sie noch steigerte, indem sie sich am Fußende des Betts festhielt.

Er versuchte, sie runterzuziehen, doch sie ließ nicht los.

„Libby“, sagte er und zog wieder an ihr, aber sie hielt fest, während er sich rhythmisch in ihr bewegte. Es war himmlisch.

Oh, eine Nacht ist noch lange nicht genug, dachte sie, als sie ihn in sich anschwellen spürte, doch noch immer gab er nicht nach.

„Komm …“, stöhnte sie, weil sie schon wieder selbst so weit war. Er bewegte sich wie ein Rasender in ihr, aber noch verlor er nicht die Kontrolle. Als er sein Tempo sogar wieder verlangsamte, spannte sie die Muskeln um ihn an – hielt ihn fest und ließ ihn wieder los. Er öffnete die Lippen, während sie ihr Spiel mit ihm trieb – ein Spiel, bei dem beide gewannen, denn jetzt drang er wieder ganz in sie ein, um sie dafür zu bestrafen, ihn aufzustacheln. Es war ein köstlicher Zweikampf um die Führung.

Sich unaufhörlich in ihr bewegend umklammerte er ihre Schenkel mit seinen und erstickte ihren Protest mit seinen Lippen. Unbeweglich lag sie da, während er sie erbarmungslos festnagelte und etwas auf Russisch sagte – vermutlich etwas sehr Schmutziges – bevor er sich heftig in ihr entlud.

„Oh …“, war alles, was sie hervorbrachte.

Ihr Orgasmus war so intensiv, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

Echte Tränen.

Und Libby war keine Frau, die schnell weinte!

Zum Glück machte Daniil keine Anstalten, sie zu trösten. Er ließ sie einfach so reagieren, wie sie es tat, ohne über sie zu urteilen.

Was für eine außergewöhnliche Erfahrung!

4. KAPITEL

„Njet!“, murmelte Daniil im Halbschlaf, als Libby anfing, ihm den Rücken zu massieren.

„Halt den Mund! Das ist auch mein One-Night-Stand.“

Er runzelte die Stirn. Die meisten Frauen waren nur allzu bereit, ihm zu Gefallen zu sein, doch Libby hörte sich an, als massierte sie ihn zu ihrem eigenen Vergnügen.

Er drehte sich auf den Bauch. Libby setzte sich rittlings auf ihn und genoss den Anblick seines Rückens.

Daniil war wirklich wunderschön, und seine Schultern waren so breit, das sie ihn stundenlang hätte massieren können, ohne sämtliche Verspannungen zu lösen, aber sie machte trotzdem weiter.

„Was machst du da eigentlich?“, fragte er eine Minute später, als sie die Finger in seinem Deltamuskel vergrub. Das hier war keine erotische Massage.

„Ich lockere deine Muskeln“, sagte Libby. „Übermorgen wirst du schreckliche Schmerzen haben und am Tag danach vermutlich auch, aber spätestens Freitag wirst du mir dankbar sein.“

Daniil stand nicht auf Massagen, aber Libby war so geschickt mit den Händen, dass er ihre Berührungen nicht nur zuließ, sondern sogar genoss.

Libby spürte, wie sich sein Nacken lockerte. Manchmal stöhnte er halb lustvoll, halb vor Schmerz auf, wenn sie eine besonders harte Verspannung löste. Als sie die Hände zu seinem Po führte und die Daumen in seine Muskeln presste, stieß er einen leisen Fluch aus, bat sie jedoch nicht, damit aufzuhören.

Offensichtlich hatte er Vertrauen in ihre Fähigkeiten, denn er begann, mit ihr zu reden. „Vorhin hast du einmal gesagt, du bist heute nicht du selbst. Warum?“

Sie hörte einen Moment mit der Massage auf und runzelte nachdenklich die Stirn. „Keine Ahnung. Vielleicht versuche ich gerade herauszufinden, wer ich bin, wenn ich nicht …“

Es war nicht nötig, den Satz zu vollenden. Sie wussten beide, dass Libby sehr lange Zeit ausschließlich für den Tanz gelebt hatte und dass ihr nun eine große Veränderung bevorstand. Sie presste die Handflächen neben Daniils Lendenwirbelsäule. „Und du? Warum bist du heute nicht du selbst?“

Daniil lachte. „Weil ich immer noch wach bin.“

Libby versetzte ihm einen leichten Klaps auf den Po, musste jedoch selbst lachen.

Sie schwiegen eine Weile einvernehmlich. Als er seine Position unter ihr veränderte, um bequemer zu liegen, flammte wieder ihr Verlangen auf, aber es war nicht der Sex, was sie in diesem Augenblick magisch zu ihm hinzog – es war ihr gemeinsames Lachen.

Und das Gefühl, sich nicht verstellen zu müssen.

Sie wandte den Kopf zum Fenster und sah hinaus. Vermutlich würde sie nie wieder ein Foto von Big Ben sehen, ohne an Daniil und ihre gemeinsame Nacht hier in seinem Apartment zu denken.

Wer hätte gedacht, dass dieser Tag sich so entwickeln würde? Sie hatte sich zu Hause gerade aufgewärmt, als ihr Vater sie angerufen hatte. Es war ihr erster Tag gewesen, an dem sie ganz auf sich gestellt war. Ohne Ballettensemble. Ohne ihren Ausbildungskurs zur Tanzlehrerin.

Erst jetzt, wo der ganze Stress der letzten Wochen und Monate vorbei war, konnte sie sich endlich eingestehen, dass sie ihrer Familie, ihrer Mitbewohnerin Rachel, ihren Kollegen, ihren Freunden und sogar sich selbst nur etwas vorgemacht hatte. In diesem Augenblick – zwanzig Minuten vor Mitternacht –, während der Regen über die Fensterscheiben strömte, verriet sie Daniil den wahren Grund, warum sie ihr geliebtes Ballettensemble verlassen hatte.

„Ich bin gerade noch rechtzeitig abgesprungen, bevor sie mich rausgeworfen haben. Am Schluss habe ich noch nicht mal mehr kleine Rollen bekommen.“

Er drehte sich nicht um, um sie zu küssen oder ihren Schmerz mit Sex zu betäuben. „Wenigstens hast du den Absprung geschafft. Die meisten Menschen würden sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, etwas loszulassen, das ihnen so viel bedeutet.“

„Das wäre mir auch fast passiert“, gab Libby zu. „Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich mir mein Scheitern eingestanden habe. Ich hätte schon Monate, vielleicht sogar ein Jahr früher gehen sollen, aber ich habe bis zum bitteren Ende ausgeharrt. Würdevolle Abgänge sind irgendwie nicht mein Ding.“

„Der Abschied muss dir sehr schwergefallen sein.“

Er hatte recht. Es hatte schrecklich wehgetan.

Daniil hörte Libby schniefen und spürte ihre Tränen auf seinen Rücken fallen. Er ließ sie weinen. „Also machst du dich jetzt selbstständig?“

„Ja. Obwohl ich das eigentlich gar nicht will.“

„Manchmal bleibt einem eben keine andere Wahl.“

Libby war froh, dass er nicht mit billigen Plattitüden kam, wie dass sich immer eine andere Tür öffnete, wenn sich eine schloss. Oder dass Krisen auch Chancen bargen.

Zu einem Ballettensemble zu gehören, war immer ihr Traum gewesen, aber jetzt war dieser Traum unwiderruflich vorbei.

Schweigend massierte sie seinen Rücken weiter. Daniil genoss die Stille, die er sonst nur hatte, wenn er allein zu Hause war. Seine Gedanken schweiften zu seiner Kindheit und Jugend ab – etwas, das ihm nur sehr selten passierte.

Er hatte nie aus dem Waisenhaus weg gewollt. Es hatte ihn todunglücklich gemacht, von seinen Freunden und seinem Zwillingsbruder getrennt in eine Welt gedrängt zu werden, die ihn nie interessiert hatte.

„Ich will etwas aus dem machen, was ich mir so hart erarbeitet hatte“, sagte Libby irgendwann in die Stille hinein.

Daniil verstand sie sofort. Sie waren beide zu einer Veränderung gezwungen worden, gegen die sie sich erbittert gewehrt hatten. Daniil hatte sich schmerzlich nach seinem Bruder und seinen Freunden zurückgesehnt – nach einer Welt, die er angeblich voller Dankbarkeit hätte hinter sich lassen sollen.

Er musste an Sergio denken und wie er und die anderen Jungs nach der Schule immer zur provisorischen Turnhalle gelaufen waren. An Katya, ihren starken gesüßten Tee und ihre große Küche, in der es immer warm gewesen war. An die nächtlichen Gespräche in der Dunkelheit.

Stattdessen hatte man von ihm verlangt, sich in eine Familie einzufügen, die ihm immer fremd geblieben war, sich einem Schulleiter zu fügen, der blinden Gehorsam verlangte, und sich mit einem Cousin zu arrangieren, der ihn immer nur tyrannisierte.

Auch er hatte diese Veränderungen nie gewollt.

„Sich arrangieren zu müssen, ist scheiße“, sagte er schläfrig.

Seine Bemerkung traf den Nagel auf den Kopf. „Allerdings“, bestätigte Libby lächelnd.

Sie massierte ihm den Nacken, bis er locker war, und strich mit ihren Händen über seine Wirbelsäule. Plötzlich müde geworden küsste sie ihn auf eine Schulter und legte sich neben ihn. Daniil zog sie an sich.

Sie rührten sich die ganze Nacht nicht. Libby wachte genauso auf, wie sie eingeschlafen war – auf dem Rücken und mit Daniils rechtem Arm über der Brust. Sie wandte ihm das Gesicht zu und sah, dass auch er kurz vor dem Aufwachen war. Er war unrasiert, aber unglaublich schön.

Bereute sie die letzte Nacht inzwischen?

Oh nein!

Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie elektrisiert.

Als sie sich lächelnd reckte, wachte er auf.

„Böses Mädchen.“

„Ich weiß. Was musst du jetzt nur von mir halten?“, witzelte sie.

„Nur das Beste.“

Es gefiel ihm, dass sie sich ihrer Nacktheit nicht schämte … und auch nicht ihrer Lüsternheit.

Libby war froh, dass er ihre große Enthüllung über das Ende ihrer Karriere und ihre womöglich noch geröteten Augen nicht erwähnte.

Als Daniil nach seinem Handy griff, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es schon nach acht war. Normalerweise wäre er jetzt längst im Büro. „Ich habe verschlafen.“

„Tja, nur gut, dass du der Chef bist.“

Er richtete den Blick auf Libby. „Musst du dich nicht beeilen?“

„Nein, ich habe erst um zehn den ersten Maklertermin.“

„Hier in der Nähe?“

„Der ist erst um eins.“

„Du hättest die Termine andersherum legen sollen.“

„Da wusste ich ja noch nicht, dass ich bei dir übernachten würde.“ Sie lächelte. „Wie Goldlöckchen bei den drei Bären.“

„Ich kenne das Märchen nicht sehr gut.“

„Na ja, du kennst vermutlich eher die russischen Märchen.“

Daniil nickte. Sev hatte sie ihnen vorgelesen. Auch Katya hatte ihnen manchmal Geschichten erzählt, als sie noch kleiner gewesen waren.

Schöne Erinnerungen.

„Stimmt. Bei uns ist der Wolf der Gute.“

„Echt?“

„Hast du den ‚Feuervogel‘ gesehen?“

„Ich habe von dem Ballett natürlich gehört, aber es noch nie auf der Bühne gesehen.“

„Es läuft gerade in London.“ Daniil wartete, dass Libby auf diesen Wink ansprang, so wie die meisten Frauen es tun würden. Doch sie schwieg.

Verkrampft lag sie da. Rachel, ihre Mitbewohnerin, war schon zwei Mal in der Vorstellung gewesen und hatte Libby so oft in den Ohren gelegen, sie zu begleiten, dass Libby ihr irgendwann gestanden hatte, sich noch keine Ballettaufführung ansehen zu können. Es wäre einfach zu schmerzhaft, im Publikum zu sitzen, und bei etwas zuzusehen, wovon sie nie wieder ein Teil sein würde.

Daniil war insgeheim erleichtert, als sie nicht auf seine Anspielung reagierte. Ihm war zwar flüchtig durch den Kopf geschossen, mit ihr ins Ballett zu gehen, aber im Grunde wollte er das gar nicht. Sie durfte gar nicht erst den Eindruck bekommen, dass es hier um etwas anderes als Sex ging.

Dass er überhaupt mit dem Gedanken gespielt hatte, mit ihr auszugehen, war so verstörend, dass er das Thema wechselte: „Erzähl mir mehr über die Studios.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

„Hast du schon mit der Bank gesprochen?“

Libby verzog reumütig das Gesicht. „Nein, den Termin habe ich heute Nachmittag.“

„Bist du gut vorbereitet?“

Sie errötete. „Ich glaube schon. Eigentlich wollte ich mich gestern Abend noch hinsetzen und an meinen Zahlen feilen.“ Sie seufzte niedergeschlagen. „Ich würde ehrlich gesagt lieber über Wölfe reden.“

„Klar, aber das hier ist wichtiger.“

„Unterhältst du dich mit deinen Liebhaberinnen am Morgen danach immer über Geschäftliches?“

„Mit den Desorganisierten schon.“ Daniil verschwieg ihr, dass er sich am Morgen danach eigentlich grundsätzlich nicht unterhielt. „Du bist nicht gut vorbereitet. Außerdem habe ich den Eindruck, dass du zu dem Studio im East End neigst, und das wäre ein Fehler.“

„Wieso? Ich habe alles gründlich durchgerechnet. Bei dem hier in der Nähe ist die Miete viermal so hoch, und ich kann meine Preise ja wohl kaum vervierfachen.“

„Nein, aber du kannst die Anzahl deiner Schüler und die Preise verdoppeln. Das ist reine Mathematik.“

„Mag sein, aber ich bin allein.“

„Du könntest eine der älteren Schülerinnen bitten, die Jüngsten zu übernehmen.“

„Seit wann bist du ein Ballettexperte?“, fragte sie sarkastisch.

„Ich bin Businessexperte“, erwiderte er ruhig.

Libby runzelte irritiert die Stirn. Sie hatte geglaubt, dass er sich nur mit riesigen Firmenimperien auskannte, aber je länger sie sich unterhielten, desto mehr wurde ihr bewusst, dass er genau wusste, wovon er sprach.

„Ich bezweifle, dass die Leute im East End viel Geld für Tanzkurse und Kleidung übrig haben.“

„Ballett sollte für alle bezahlbar sein.“

„Ich bitte dich!“ Jetzt war Daniil derjenige, der die Augen verdrehte. „Wenn das dein Ziel ist, kannst du genauso gut gleich umsonst unterrichten. Was ist, wenn du eine Schülerin mit echtem Talent bekommst, dessen Eltern sich die Extrastunden nicht leisten können?“

Libby schwieg. Es war überflüssig, diese Frage zu beantworten. Natürlich würde sie dieses Kind umsonst unterrichten. Wie auch nicht?

„In diesem Stadtteil sind die Eltern solvent“, fuhr Daniil fort. „Sie bezahlen den Unterricht sogar für ihre fette und völlig untalentierte Tochter.“

Daniil war schockierend direkt, aber er hatte leider recht.

„Hier könntest du tagsüber Kurse für Erwachsene geben. Um die Mittagszeit herum zum Beispiel, da wollen viele Leute die Pause nutzen. Wofür wurden die Studios vorher genutzt?“

„Das hier in der Nähe für Yoga und das andere für Ballett und Jazzdance.“

„Frag die Makler, warum sie aufgehört haben. Ich weiß, dass du das gestern für überflüssig gehalten hast, aber das ist wichtig. Und hör bei den Antworten gut zu.“

„Okay, mach ich.“

„Hast du Ersparnisse?“

Libby schnaubte. „Nein, nur mein Talent und meinen Enthusiasmus …“ Sie seufzte. „Ich habe keine Chance bei der Bank, oder?“

„Geh schon mal duschen“, sagte Daniil nur. „Ich mach uns etwas Heißes zu trinken.“

Er leistete ihr nicht Gesellschaft unter der Dusche.

Bewusst nicht.

Sex am Morgen war ihm einfach zu intim, obwohl er in Versuchung kam, seine Regel zu brechen, als Libby aufstand und sich wieder reckte.

Sogar sein Bad ist sexy, dachte Libby beim Eintreten. Es war warm, einladend und total luxuriös. Eine ganze Wand bestand aus einem riesigen Spiegel, der seitlich so gebogen war, dass man sich aus allen Winkeln betrachten konnte. Gut für Ballettübungen, aber noch viel besser für ein erotisches Stelldichein mit Daniil …

Hinter einer Glaswand lagen dicke, flauschige Handtücher. Daniil hatte unglaublich viele Toilettenartikel, sodass Libby mehrere Minuten damit verbrachte, Verschlüsse zu öffnen und zu schnuppern. Zuerst wusste sie nicht, wie die Dusche anging, doch als sie einen Schalter drückte, begann perfekt temperiertes Wasser aus allen möglichen Richtungen auf sie zu spritzen.

Es war so herrlich, dass sie etwas länger duschte als normal. Sie drehte das Wasser ab und hüllte sich in ein weiches Handtuch. Am liebsten wäre sie gleich wieder in Daniils Bett zurückgekehrt.

Stattdessen probierte sie sämtliche Lotionen aus – nicht nur, um ihre Haut und ihr Haar zu pflegen, sondern um etwas länger etwas von Daniils Duft zu haben.

„Das war das beste Duschbad, die ich ja hatte“, sagte sie, als sie kurz darauf angekleidet und rosig die Küche betrat.

„Gut.“ Daniil reichte ihr einen Kaffee mit Milchschaum, und Libby gab etwas Zucker hinzu. Daniil trank schwarzen Tee – mit dem Beutel noch im Becher.

Als sie auf einem Barhocker Platz nahm, lehnte er sich gegen die Arbeitsfläche. Zum ersten Mal breitete sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen aus.

„Du solltest dir To-Go-Becher zulegen, um Smalltalk zu vermeiden“, versuchte Libby zu witzeln.

Er lächelte schwach. „Normalerweise mache ich am Morgen danach keinen Kaffee.“

„Na dann betrachte ich das mal als Kompliment.“ Sie hatte erst halb ausgetrunken, aber Daniils Schweigen erdrückte sie. „Wenn ich pünktlich bei meinem ersten Termin sein will, sollte ich lieber aufbrechen.“

Daniil wartete, dass sie ihn auf den Hochzeitstag seiner Eltern ansprach.

Oder ihn fragte, ob sie sich wiedersehen würden.

„Ich kann dich hinfahren lassen oder dir ein Taxi rufen“, bot er ihr an.

„Nein danke.“ Dann würde sie noch bleiben müssen, und die Stimmung war auch so schon verkrampft genug.

Warum muss es so enden? fragte sie sich.

Tja, sie würde sich wohl damit abfinden müssen.

Sie hatte bisher sämtliche Warnsignale ignoriert und sich sehenden Auges auf ihn eingelassen … na ja, und ein bisschen von Lust getrieben. Also erwartete sie nicht gerade von ihm, sie auf Knien anzuflehen zu bleiben, aber das hier war trotzdem eine Enttäuschung. „Danke für den schönen Abend.“ Sie ging um die Kücheninsel herum, um ihm einen Wagenkuss zu geben – ob es ihm passte oder nicht.

Sogar wenn er so distanziert ist wie jetzt, ist er schön, dachte sie. Am liebsten hätte sie mit ihren Lippen noch ein letztes Mal sein raues Kinn gestreift, riss sich jedoch zusammen.

Warum kann ich nicht auf seinem Schoß sitzen? dachte sie, als sie seinen Duft einatmete. Sie würde ihn auch nicht stören. Er könnte sie den ganzen Tag mit sich herumtragen und müsste ihr nur ab und zu ein Glas Wasser und einen Schokoriegel geben.

„Was ist so witzig?“, fragte Daniil, als sie schmunzelte.

„Ach, mir schießen wieder so alberne Dinge durch den Kopf.“

Sie verließ die Küche fast geräuschlos und winkte ihm kurz zu, bevor sie die Wohnungstür öffnete. Daniil wartete darauf, dass sie sich noch mal zu ihm umdrehte.

Ach, mir fällt gerade ein … Hast du noch mal darüber nachgedacht …

Aber nichts dergleichen kam.

Du hast doch dieses Ballett erwähnt. Na ja, wir können doch vielleicht …

Sie schlug ihm auch kein Wiedersehen vor.

Als die Tür ins Schloss fiel, war es viertel vor neun – knapp fünfzehn Stunden nach ihrer ersten Begegnung.

Und Libby Tennent war fort.

Libby saß in der U-Bahn-Station und wartete auf die nächste Bahn, um zu ihrem Maklertermin zu kommen. Sie war inzwischen wieder in der Realität angekommen, aber trotzdem war nichts mehr wie vorher. Kein Zweifel, die letzte Nacht hatte sie unwiderruflich verwandelt.

Ihre Mutter würde in Ohnmacht fallen, wenn sie wüsste, was Libby getan hatte, und ihre vernünftige ältere Schwester vermutlich auch. Andererseits hatten sie sie immer schon für ziemlich impulsiv und unüberlegt gehalten.

Und Libbys Vater?

Tja, er würde ihr Verhalten natürlich aufs Schärfste verurteilen, sich nach zehn Minuten jedoch fragen, ob die Firma nicht davon profitieren konnte.

Sie hatte das alles so satt!

Aber leider hatte sie auch Schuldgefühle.

Ja, sie hatte früher nach Privatstunden gebettelt, die natürlich mit den Gewinnen der Firma finanziert worden waren, aber musste sie deshalb etwas tun, das ihr nicht lag? Lohnte sich der finanzielle Aufwand nur dann, wenn sie es an die Spitze schaffte?

Reichte es nicht, dass sie Ballett liebte?

Als sie aus der U-Bahn kam, klingelte ihr Handy. Es war ihr Vater. Sie spielte mit dem Gedanken, nicht ranzugehen, aber wegen seines Unfalls gestern fühlte sie sich irgendwie dazu verpflichtet. „Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich.

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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