Julia Ärzte Spezial Band 8

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SCHNEEFLOCKEN UND HEISSE KÜSSE von SUSAN CARLISLE
Dr. Kyle Campbell ist arrogant, irritierend – und total faszinierend! Ungewollt fühlt Baylie sich immer mehr zu dem Arzt hingezogen, der sie über Weihnachten bei der Pistenwacht unterstützt. Aber je näher sie ihm kommt, desto stärker spürt sie, dass er etwas verbirgt …

GINAS KLEINES GEHEIMNIS von JENNIFER TAYLOR
Der neue Patient mit Amnesie heißt Marco Andretti! Schwester Ginas Herz bleibt fast stehen, als sie die Akte liest. Weihnachten vor drei Jahren hatte sie in Florenz eine heiße Affäre mit dem sexy Arzt. Doch plötzlich machte er Schluss – und sie erwartete sein Baby …

EIN BALLKLEID FÜR SCHWESTER LIV von SARAH MORGAN
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  • Erscheinungstag 25.11.2022
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508667
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Carlisle, Jennifer Taylor, Sarah Morgan

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 8

1. KAPITEL

Widerwillig betrat Dr. Kyle Campbell das Gebäude und landete mitten im Chaos. Die Geräusche von Skiern, die auf den Boden knallten oder aneinanderstießen, wenn sie an die Wand gelehnt wurden – all das war ihm schmerzlich vertraut.

Das Wochenende vor Weihnachten, und er stand in der Tür der freiwilligen Pistenwacht des Snow Mountain Resorts in West Virginia. Warum nur hatte er sich dazu breitschlagen lassen?

In dem kleinen Raum drängten sich Menschen aller Altersstufen, und alle trugen schwarze Skihosen und rote Jacken mit einem großen weißen Kreuz auf dem Rücken. Vorsichtig sah sich Kyle nach dem Verantwortlichen um. Es war so laut, dass man beinahe schreien musste, um gehört zu werden.

„Seid leise! Ihr wisst doch, wie Baylie reagiert, wenn wir so laut sind“, ertönte eine Stimme.

Sofort wurde es ruhiger.

„Können Sie mir sagen, wo ich den Leiter der Pistenwacht finde?“, fragte Kyle eine Frau um die dreißig.

„Das ist Baylie. Sie steht dort drüben am Aufgabenbrett.“ Sie deutete quer durch den langen, schmalen Raum.

„Danke.“ Schnee und Wind trafen ihn im Rücken, als die Frau die Tür öffnete und nach draußen verschwand. Langsam ging Kyle auf eine Gruppe zu, die in der beschriebenen Ecke stand. Als er näher kam, hörte er, wie eine sehr angenehme weibliche Stimme Anweisungen mit der Effizienz eines Feldwebels gab.

„Roger, Mark und Sue, ihr übernehmt die blaue ‚Schneetraum‘-Piste. Heute soll es voll werden, achtet also besonders auf die Kinder.“

Kyle gefiel ihre effiziente Art. Als die drei Benannten gingen, konnte er auch endlich einen Blick auf die Frau werfen, der die Stimme gehörte. Ihr glattes dunkelbraunes Haar streifte leicht ihre Schultern, als sie sich wieder zum Brett umdrehte. Sie wirkte zu jung, um für das Wohlergehen von unzähligen Skifahrern in einem großen Resort verantwortlich zu sein. Vielleicht vertrat sie auch nur jemanden, so wie er.

Sie gab weitere Anweisungen, und wieder machten Leute Platz, gewährten ihm einen besseren Blick. Obwohl sie die gleichen formlosen schwarzen Skihosen wie alle trug, konnte er darunter ihre schlanke Figur erahnen. Ihr weißer Rollkragenpullover betonte ihre zarten Handgelenke und den Hals. Als sie sich das nächste Mal umdrehte, bemerkte sie ihn. Fragend sah sie ihn an, bevor ihr ein Licht aufzugehen schien.

„Sie müssen Dr. Metcalf von der Praxis für Sportmedizin in Pittsburgh sein. Ich bin Baylie Walker. Wir sind sehr dankbar für Ihre Hilfe.“

„Ich komme zwar aus der Praxis, aber ich fürchte, Dr. Metcalf hat es nicht geschafft. Er schickt mich an diesem Wochenende als Ersatz, Kyle Campbell.“

Ihr Lächeln verblasste. „Oh, das ist gar nicht gut.“

Verwirrt zog Kyle eine Augenbraue hoch. Soweit es ihn betraf, war an dieser Situation absolut nichts gut. Dabei war Schnee einmal seine erste große Liebe gewesen, sein Lebensinhalt …

Doch schon auf der Herfahrt war ihm der kalte Schweiß ausgebrochen, je näher er den Pisten kam. Vielleicht wurde er ja gar nicht gebraucht?! Nur zu gerne würde er nach Pittsburgh zurückfahren.

„Hier gibt es Regeln, Sie können nicht einfach auftauchen und erwarten, dass Sie hier ohne Einweisung arbeiten können. Ich muss wissen, dass Sie qualifiziert sind.“

Dass sie seine Erfahrung infrage stellte, wurmte ihn. Früher hatte ihm auf Skiern niemand etwas vorgemacht, nicht auf diesem Berg und auch nicht auf den meisten anderen. Bis eine kleine Unachtsamkeit und ein stümperhafter Rettungssanitäter alles beendet hatten.

„Ich bin nicht ‚einfach aufgetaucht‘. Mir wurde gesagt, dass Sie über den Wechsel informiert wurden. So, wie ich das verstanden habe, soll ich entweder in der Skischule unterrichten oder die Anfängerpiste beaufsichtigen. Dazu bin ich durchaus qualifiziert“, entgegnete er barsch.

Überrascht blinzelte sie, straffte dann jedoch die Schultern. „Das mag sein, aber ich muss es selbst sehen. Die Regeln gibt es schließlich aus gutem Grund.“

Das könnte sein Ausweg sein, wenn diese zierliche Frau seinen Stolz nicht verletzt hätte. Wie konnte sie andeuten, er könnte nicht gut genug sein? Schließlich hatte er sich entschieden, seine Skier an den Nagel zu hängen, und das bestimmt nicht, weil er nicht Ski fahren konnte, sondern weil er nicht mehr wollte.

„Ich brauche wohl kaum eine Einweisung, um auf der Anfängerpiste zu fahren.“ Kyle bemühte sich erst gar nicht, höflich zu klingen. So langsam ging ihm diese Situation auf seine bereits angespannten Nerven.

Und alles nur, weil die Partner seiner Arztpraxis, Kyle eingeschlossen, beschlossen hatten, der Gemeinde etwas zurückzugeben. Kyle hatte sich für ein Gemeindekrankenhaus im Stadtzentrum von Pittsburgh gemeldet, nicht für die freiwillige Pistenwacht am Snow Mountain. Und er hatte nur zugestimmt, für Metcalf einzuspringen, weil er nichts Schwierigeres als die Anfängerpiste fahren musste.

Ihm ging es jetzt gut. Er war ein erfolgreicher Arzt und hatte gelernt, mit seinem Verlust umzugehen. Hätte Metcalf nicht seine Termine durcheinandergebracht und seine Frau nicht gerade über dieses Wochenende eine Fahrt zu ihren Eltern geplant, hätte Kyle nie nachgegeben. Sein Kollege hatte den Leuten im Resort erzählt, dass er wenig Erfahrung hatte, darum hatten sie zugestimmt, ihm nur die einfachsten Pisten zur Beaufsichtigung zu geben. So hatte Kyle das Gefühl gehabt, dass er die zwei Tage durchstehen konnte. Von seiner Angst würde er auf keinen Fall erzählen.

„Sind Sie mit dem Berg vertraut?“, fragte Baylie weiter, während sie auf das Aufgabenbrett schaute.

„Nein.“

„Fantastisch.“ Sie wirkte nicht unbedingt begeistert, drehte sich dann aber zu ihm um. „Erst mal statten wir Sie aus, und wenn ich hier fertig bin, weise ich Sie ein.“ Ein Schmunzeln umspielte ihren Mund.

Wäre er nicht so schlecht gelaunt gewesen, weil er nach zehn Jahren seine Skier wieder anziehen sollte, hätte er das vielleicht sogar erwidert.

„Tiffani“, rief Baylie. Eine Frau, die wie ein sprichwörtliches Skihäschen aussah, drehte sich zu ihnen um. „Zeigst du …?“

„Kyle“, half er ihr aus.

„Kyle, wo er eine Patrouillenjacke bekommt?“

„Klar.“ Tiffani schenkte ihm ein Lächeln, das viele Erinnerungen weckte. Zu seiner aktiven Zeit hatten ihn die Schneegroupies genauso interessiert angesehen, was seinem Ego damals sehr geschmeichelt hatte.

Er erwiderte das Lächeln, wenn auch deutlich kühler, bevor er sich wieder Baylie zuwandte. Sie hatte die Lippen zusammengepresst. Also hatte sie das Zwischenspiel zwischen ihm und Tiffani bemerkt. Er zuckte die Schultern. Sollte sie doch denken, was sie wollte.

„Kommen Sie wieder her, wenn Sie fertig sind. Sie haben eigene Schuhe und Skier?“

„Im Auto.“ Widerwillig hatte er seine Ausrüstung aus den Tiefen seines Schrankes gefischt und sich dabei gefragt, warum er sie nicht schon längst entsorgt hatte. Er nickte ihr zu und folgte Tiffani in ein Hinterzimmer.

Baylie musterte die breiten Schultern des Neuen deutlich länger, als ihr lieb war. Seine Haltung zeigte deutlich, dass es ihm überhaupt nicht passte, von ihr Anweisungen zu bekommen. Sein Pech. Damit musste er sich wohl oder übel arrangieren. Soweit es die Pistenwacht betraf, hatte sie das Sagen.

Bei seinem Aussehen war er es gewohnt, im Zentrum des Interesses zu stehen. Würden ihr nicht so viele Freiwillige fehlen, hätte sie ihn weiter ausgefragt, so musste sie auf seine Worte vertrauen. Aber sie würde ihn im Auge behalten.

Es dauerte nicht lange, bis Kyle mit einer roten Jacke zurückkam, die seine markanten Gesichtszüge noch betonte. Jetzt trug er Skischuhe, hatte die Schnallen aber noch nicht geschlossen, und hielt in der Hand ein Paar hochwertige Skier, die sich kaum jemand leisten konnte. Wer war er nur?

Baylie kam hinter dem Empfangstresen hervor und nahm dabei ihre Jacke vom Haken. Als sie mit dem Arm in einen Ärmel fuhr, wurde die Jacke plötzlich leichter. Überrascht sah sie hinter sich. Kyle half ihr hinein. Schnell zog sie sich fertig an, schloss den Reißverschluss und murmelte: „Danke.“

„Gern geschehen.“

Ein Gentleman. Seine tiefe Stimme klang so unglaublich beruhigend. Sie schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Auch ohne diesen mürrischen Freiwilligen hatte sie genug Probleme, um die sie sich kümmern musste. Und wenn er noch so attraktiv war. Entschlossen ging Baylie zur Tür, nahm auf dem Weg ein tragbares Funkgerät von der Ladestation und reichte es ihm. „Hier, das wirst du brauchen. Wir duzen uns hier übrigens alle.“

Als seine langen Finger ihre Hand streiften, ließ sie beinahe das Funkgerät fallen. Zum Glück griff er rechtzeitig zu. Erleichtert, wenn auch nervös, atmete sie auf. Dann nahm sie ihre Skier vom Haken. „Bist du ein fortgeschrittener oder erfahrener Skifahrer?“

„Ich bin durchaus fähig, den Anfängerhügel zu befahren.“

Was sollte denn das? Warum gab er ihr keine direkte Antwort? Allzu selbstsichere Männer waren nicht gerade ihr Ding. Ihre Kameraden im Nahen Osten hatten sich auch jedes Mal so aufgeführt, wenn sie auf eine Mission geschickt wurden. Besonders Ben. Als ob er sich für unverwundbar hielt. Leider hatte er sich da geirrt. „Eine direkte Antwort auf meine Frage wäre schön.“

„Dann ja, ich bin ein erfahrener Skifahrer.“

„Gut. Der Anfängerhügel ist dort drüben.“

Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben.

Baylie nahm ihre Skier auf die Schulter und stieg eine flache, schneebedeckte Erhebung hinauf. Dort lag vor ihnen auf der Anhöhe die Skischule.

Nachdem sie ein gutes Stück gelaufen waren, hielt Baylie an und legte ihre Skier in den Schnee. „Wir fahren auf Skiern runter und mit dem Lift wieder hoch.“

„Nicht mit dem Lift hoch und dann auf Skiern runter?“

„Nein. Ich weiß, bei allen anderen Resorts bleibt man am Fuß des Berges und fährt mit dem Lift hoch. Bei uns ist es genau andersherum.“ Sie schob ihren Schuh in die Skibindung und trat den Hacken runter, bis ein Klicken zu hören war, das anzeigte, dass er eingerastet war. Kyle dagegen rührte sich nicht.

Seine Skier steckten aufrecht neben ihm im Schnee, und er umfasste sie so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er machte keine Anstalten, sie anzuziehen, sondern starrte wie hypnotisiert in die Landschaft.

„Gibt es ein Problem?“ Baylie folgte seinem Blick, konnte aber nichts entdecken.

„Nein“, antwortete er beinahe scharf. „Ich habe nur die Aussicht bewundert.“ Vorsichtig legte er die Skier auf den Boden, bevor er seine Schuhschnallen schloss.

Schnell zog Baylie ihren anderen Ski an, bevor sie erneut zu ihm sah. Er zögerte kurz, bevor er seine Skier einrasten ließ.

„Ich folge dir!“, sagte er.

Da stieß sie sich mit ihren Stöcken ab.

Seine Nerven waren gespannt wie Drahtseile. Aber erleichtert spürte Kyle, wie alles wiederkam. Für ihn war es sprichwörtlich wie Fahrrad fahren.

Zuerst noch unsicher folgte er der Schneeelfe vor sich und hielt dann neben ihr in der Schlange für den Lift.

„Wieder sicher auf Skiern? Gut. Der Anfängerhügel mag die einfachste Piste sein, aber auf ihr ist auch am meisten los.“

War ihr sein Zögern aufgefallen? Das konnte er nicht, nein, das würde er nicht zulassen. Sie wirkte, als würde sie Schwäche bei anderen genauso wenig wie an sich selbst akzeptieren. Und auf keinen Fall würde er seine zeigen. Es durfte keinen Grund für Fragen geben. Darum sah er ihr direkt in die Augen. „Ich weiß, welche Skifahrer auf dem Anfängerhügel unterwegs sind. Ich komme mit meiner Aufgabe klar.“

„Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Resortbesucher Spaß haben und dabei sicher sind. Das nehme ich sehr ernst, und du solltest das auch.“

„Zu Befehl!“ Sein Tonfall verriet, dass er sich ihr nicht einfach unterordnen würde.

Sie gingen in Position und nahmen den nächsten Liftsessel, der auf sie zukam.

Trotz ihres Größenunterschieds streifte ihn Baylies Bein von der Hüfte bis zum Knie. Sogar durch die dicken Skiklamotten spürte er ihre weiblichen Kurven. Ihre Persönlichkeit war vielleicht stachlig, aber ihr Körper ganz das Gegenteil.

Baylie wollte von ihm wegrücken, aber durch den begrenzten Platz klappte das nicht.

Tief atmete sie ein und aus. „Von dir wird erwartet, dass du diesen Bereich beaufsichtigst und eingreifst, wenn Hilfe gebraucht wird. Achte bitte besonders auf die Erwachsenen. Die Kinder lernen schnell, wie man den Lift benutzt, aber die Erwachsenen können eine Gruppe von Skifahrern, die in der Schlange steht, schneller umwerfen als eine Lawine.“

Kyle musste schmunzeln. Das hatte er schon oft gesehen. Sie grinsten sich an. Das veränderte sie total. Mit ernstem Gesicht wirkte sie nur durchschnittlich, mit einem Lächeln dagegen erstaunlich attraktiv.

Dann berührten ihre Skier wieder Schnee. Nach einem unsicheren Wackler fuhr er neben ihr. Geschafft! Baylies professionelle Art auf Skiern führte ihm nur allzu deutlich sein fehlendes Selbstvertrauen vor Augen.

„Du hast dein Funkgerät. Wenn du irgendetwas brauchst, gib Bescheid, und es kommt jemand zu Hilfe.“

Nach diesen letzten Worten fuhr sie die blaue Piste wieder hinunter und wechselte, ohne anzuhalten, über die Bergseite. Kyle sah ihr nach. Sie schien sehr selbstbewusst auf dem Schnee und in ihrer Arbeit. Damals war er auch so gewesen. Er atmete tief durch. Wenn er die nächsten zwei Tage heil überstand, konnte er danach seine Skier für immer an den Nagel hängen.

Baylie wusste nicht so recht, was sie von dem Neuen halten sollte.

Für einen Moment hatte er unsicher gewirkt, als sie ihre Skier angezogen hatten, aber auf dem Weg zum Lift wirkte er selbstbewusst, als ob er alles konnte. Es war eine Sache, unabhängig zu sein, eine ganz andere, leichtsinnig zu sein. Am besten sah sie regelmäßig nach ihm. Die Freiwilligen der Pistenwacht sollten selbstbewusst auf den Pisten auftreten, aber nicht überheblich.

Gegen Mittag verließ Baylie den Lift, der am Berggipfel anhielt. Während ihrer Runden hatte sie einmal gesehen, wie der Neue einem Mädchen aufgeholfen und später einen erfahrenen Skifahrer angehalten hatte, um ihn darauf hinzuweisen, dass er nicht so schnell durch den Anfängerbereich fahren sollte.

Diesmal hielt Baylie neben ihm an. „Du scheinst dich schnell reingefunden zu haben.“

„Das meiste ist einfach gesunder Menschenverstand“, erwiderte er lächelnd.

Ein schönes Lächeln, eingerahmt von Grübchen. Ob es seine Augen erreichte, konnte sie wegen seiner Sonnenbrille nicht sehen, aber sie hoffte es.

„Besteht die gesamte Pistenwacht aus Freiwilligen?“

„Ja, die meisten von ihnen genießen einfach einen Tag kostenloses Skifahren im Austausch für ihre Hilfe. Sie sind Schneejunkies, die froh sind, wenn sie auf Skiern stehen können.“

„Du bist als Einzige fest angestellt?“

„Genau. Das Management denkt, dass es für eine freundlichere Atmosphäre sorgt, wenn die Pistenwacht mit Freiwilligen besetzt ist. Angestellte könnten denken, dass sie Macht über die Skifahrer haben. So sind wir Partner beim Skispaß. Ein feiner, aber bedeutender Unterschied.“

Er grinste. „Interessante Art, die Dinge zu sehen. Und marketingtechnisch auf jeden Fall wertvoll.“

Sie war froh, ihn so entspannt zu erleben. Sein Lächeln allein würde den Resortbesuchern gefallen – ganz besonders den Frauen.

„Macht es Spaß?“, fragte sie.

„Es war nicht schlecht. Ich hatte gut zu tun.“

„Habe ich doch gesagt.“ Sie lächelte ihn an. „Es wird dich jemand ablösen, damit du etwas essen kannst. Weißt du, wo?“

„Nein, aber ich habe mir etwas mitgebracht.“

Hatte er das selbst gemacht oder wartete zu Hause jemand auf ihn? Egal, das ging sie nichts an.

„Gut, dann bis später.“ Sie verlagerte ihr Gewicht, um weiterzufahren.

„Auf mich muss niemand aufpassen.“

Mit einer schnellen Hüftbewegung stoppte sie. „Es gehört zu meinen Aufgaben nachzusehen, wie es meinen Freiwilligen geht.“

„Stündlich?“

„So oft ich es für nötig erachte.“

„Und ich dachte, du beobachtest mich einfach gern.“

So ein aufgeblasener Kerl!

So, wie er grinste, wusste er genau, was sie jetzt dachte. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, wurde in der Ferne ein Schuss abgefeuert. Sie zuckte zusammen, geriet ins Straucheln und suchte mit den Stöcken Halt, um nicht zu fallen. Es war beinahe ein Jahr her, und noch immer erschreckten sie laute Geräusche. Sie wollte vor ihren Freiwilligen nicht schwach erscheinen – und besonders nicht vor diesem. Kyle schien kaum etwas zu entgehen. Sie musste wirklich lernen, ihre Angst zu kontrollieren.

Eine große Hand umfasste ihren Oberarm und hielt sie fest. Die Kraft spürte sie sogar durch ihre gepolsterte Jacke.

„Alles okay?“ Kyle klang besorgt.

Sie hatte das Gefühl, dass er sie hinter seiner Sonnenbrille genau beobachtete. „Ja.“ Hastig entzog sie ihm ihren Arm. „Mir geht es gut.“ Trotz des Wetters stieg ihr Hitze in die Wangen. „Es hat mich nur überrascht.“

„Sicher?“

Baylie brachte ihre zitternden Hände unter Kontrolle, stach ihre Skistöcke entschlossen in den Schnee und stieß sich ab. „Ja.“ Aber ihre Antwort ging im Wind unter. Als sie den Übergang zu einer mittelschweren Piste erreichte, hielt sie an und drehte sich noch einmal zu ihm um. Sogar aus der Entfernung sah sie seine Verwirrung.

Stunden später knackte das Funkgerät an Baylies Hüfte: „Verletztes Kind auf dem Anfängerhügel.“ Das war nicht die Stimme des Neuen, seltsamerweise hätte sie die erkannt.

„Bin in fünf Minuten da“, antwortete sie.

Schnell fuhr sie zum nächsten Lift. Auf dem Weg nach oben gab sie per Funk Anweisungen an den Freiwilligen durch, der sie benachrichtigt hatte. Der Mann stockte kurz und sagte dann: „Der Neue hat sie in die Klinik gebracht.“

Was?

„Er sagte, er wäre Arzt und würde sich um sie kümmern.“

Arzt? Warum hatte er sich dann nicht mit seinem Titel vorgestellt?

Hitze erfüllte sie von Kopf bis Fuß, und sie biss die Zähne zusammen, um über das Funkgerät nicht so zu antworten, wie sie gern wollte. Auch wenn es ihr schwerfiel, sagte Baylie locker: „Danke. Ich treffe ihn dann dort. Bitte beaufsichtige den Anfängerhügel, während wir in der Klinik sind.“

„Verstanden.“

Baylie würde diesem aufgeblasenen Kerl sehr deutlich erklären, wo sein Platz war. Sie traf hier die Entscheidungen. Die Versorgung der Skifahrer lag in ihrer Verantwortung. Es könnte Haftungsprobleme geben, wenn jemand durch die Pistenwacht noch weiter verletzt wurde.

Kaum war sie vom Lift runter, öffnete sie schon ihre Skibindungen und stürmte wütend in die Klinik. Mühsam rief sie sich in Erinnerung, dass der Patient an erster Stelle kam. Das letzte Mal war sie so wütend gewesen, als sie in einem Krankenhausbett aufwachte und ihr niemand sagen wollte, was mit ihren Kameraden passiert war.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, bevor sie durch den winzigen Empfangsbereich der Pistenwachtdienststelle ging. Eine tiefe Stimme und das schüchterne Kichern eines kleinen Kindes ertönten aus Richtung der Untersuchungsräume. Als Baylie eintrat, beugte sich Kyle über ein kleines Mädchen von vielleicht sechs Jahren, mit engelsgleichem Gesicht und flachsblonden Locken. Er überprüfte ihre Augen mit einer kleinen Stiftleuchte, während am Kopfende ein anderes Langzeitmitglied der Pistenwacht stand. Durchdringend sah ihn Baylie an. Er presste seine Lippen fest zusammen, zuckte jedoch die Schultern. „Er hat darauf bestanden.“

„Das habe ich“, ertönte die tiefe Stimme des Mannes, der das Mädchen untersuchte.

Sie wandte sich an den Freiwilligen: „Bitte versuch, ihre Eltern zu finden.“

Er nickte und ging sofort.

„Erzähl mir, was passiert ist.“

Kurz sah Kyle sie an, bevor er weiter sanft den Kopf des Mädchens streichelte. Trotz ihres Ärgers musste sie zugeben, dass er eine sehr angenehme Art an sich hatte. Trotzdem gehörte er hier nicht zum medizinischen Personal. Sie dagegen schon. Er durfte das Kind nicht ohne ihre Erlaubnis von der Piste entfernen.

„Cassie kam nicht rechtzeitig vom Lift weg, und der hat sie dann am Hinterkopf getroffen.“ Er untersuchte das Mädchen weiter und sah lächelnd auf sie hinunter. Sie lächelte schüchtern zurück.

Der Mann war ein unverschämter Charmeur. Baylie befürchtete, dass es selbst ihr schwerfallen würde, nicht darauf zu reagieren, wenn er sie jemals so anlächelte.

„Der Liftsitz hat sie umgeworfen, aber hauptsächlich erschreckt“, beendete Kyle seinen Bericht, ohne Baylie anzusehen.

Sie trat an den Untersuchungstisch. „Du kannst wieder auf die Piste zurückkehren. Ich kümmere mich ab jetzt darum“, sagte sie so nachdrücklich wie möglich.

Kyle presste die Lippen zusammen, als er zurücktrat, aber sie spürte ihn noch hinter sich. Er blieb? Weil sie nicht vor einem Patienten, besonders nicht vor einem verängstigten Kind, eine hässliche Diskussion führen wollte, schwieg sie. Später würde sie ihm dafür die Regeln auf diesem Berg sehr ausführlich erklären.

„Na du, ich bin Baylie“, stellte sie sich dem Kind vor und lächelte beruhigend. „Cassie, kannst du mir sagen, wo es wehtut?“

Das Mädchen deutete mit der Hand auf ihren Hinterkopf.

„Ich habe hinten links eine Beule gefunden“, mischte sich Kyle ein.

Vorsichtig tastete Baylie den Hinterkopf des Mädchens ab und fand die Beule. „Das wird ein paar Tage wehtun“, erklärte Baylie dem Kind. „Darf ich dein Herz abhören und noch ein paar Dinge überprüfen?“

„Das habe ich bereits getan, und es ist alles in Ordnung“, protestierte Kyle und kam zur anderen Seite der Untersuchungsliege.

Er konnte es einfach nicht lassen.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich das noch einmal tue?“, fragte sie das Mädchen.

Die Kleine schüttelte den Kopf.

„Gut. Deine Eltern sind bestimmt bald hier.“

„Mein Vater. Meine Mum lebt nicht mehr bei uns“, erzählte sie traurig.

„Nun, dann sorgen wir dafür, dass bei dir alles in Ordnung ist, bevor dein Dad herkommt, ja?“ Baylie lächelte sie an und zog ihr Stethoskop hervor. Sie begann, das Mädchen zu untersuchen, und wurde gerade fertig, als ein Mann aus dem Empfangsbereich ängstlich rief: „Cassie?“

Mit schnellen Schritten ging Kyle zu ihm.

„Sie müssen Cassies Vater sein.“ Kyles raue Stimme reichte bis in den Untersuchungsraum, wo Baylie und Cassie warteten. „Es geht ihr gut. Sie hat nur eine kleine Beule am Kopf. Kommen Sie hier lang.“

Kyle hatte den Vater effektiv beruhigt, das musste Baylie widerwillig zugeben. Kurze Zeit später betraten die Männer den Raum.

Sofort eilte der Vater an die Seite seiner Tochter. „Liebling, geht es dir gut?“

„Ja, aber ich habe mir den Kopf gestoßen.“

„Hallo, ich bin Baylie Walker, die Leiterin der Pistenwacht.“

Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf seine Tochter konzentrierte.

„Cassie geht es gut. Sie sollten nur die Beule kühlen, bis die Schwellung zurückgeht“, sprach Baylie weiter und drückte dem Mädchen die Hand.

„Das hat mir Dr. Campbell gerade gesagt.“

Sie presste die Lippen fest zusammen und sah wütend zu Kyle. Der hob eine Schulter und senkte sie wieder.

„Ich habe Cassie gründlich untersucht. Außer der Beule geht es ihr gut. Sie können sie mitnehmen, aber Sie sollten sie aufmerksam beobachten. Wir geben Ihnen gern ein Kühlkissen mit. Wenn Sie sonst etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“ Sie ging zum Tresen, holte eine Karte und reichte sie dem Vater. „Sie können mich jederzeit erreichen.“

„Danke, das weiß ich zu schätzen“, antwortete der Vater und umarmte Cassie.

„Ich wette, nach einer Tasse heißer Schokolade geht es dem Kopf gleich wieder besser“, schlug Kyle vor. Sein Augenzwinkern löste in Baylie etwas aus, das ihr gar nicht gefiel.

„Oh ja.“ Bettelnd sah Cassie zu ihrem Vater auf. „Kann ich eine heiße Schokolade haben, Daddy?“

Ihr Vater nahm sie auf den Arm. „Aber sicher, Süße.“

Gut, Kyle mochte einige andere nervende Persönlichkeitsprobleme haben, aber Baylie hatte noch keinen besseren Umgang mit Patienten erlebt. Trotzdem konnte er nicht einfach Entscheidungen treffen, die sie treffen sollte.

„Die beste Schokolade hier oben gibt es im ‚Snow Mountain Café‘“, erklärte Baylie. „Wissen Sie, wo das ist?“

„Sicher. Noch einmal vielen Dank.“ Der Vater lächelte sie an und reichte Kyle die Hand. „Danke, Dr. Campbell, dass Sie sich um mein kleines Mädchen gekümmert haben.“

„Gern geschehen.“ Kyle zerzauste Cassie liebevoll die Haare. „Ich sehe dich dann auf der Piste.“

Schüchtern grinste sie ihn an.

Als sich die Tür hinter den beiden schloss, wandte sich Baylie an Kyle. „Du hast mir nicht gesagt, dass du Arzt bist.“

„Spielt es denn eine Rolle?“

„Ja, denn dann hätte ich dir erklärt, dass du ohne meine Zustimmung keine Entscheidungen über Verletzungen triffst.“

„Also geht es hier um markiertes Territorium?“

Empört stemmte Baylie die Hände in die Hüften. „Damit hat das überhaupt nichts zu tun.“

„Was ist dann das Problem? Ich habe gesehen, wie das Mädchen vom Lift getroffen wurde, und habe geholfen. Dazu bin ich laut der American Medical Association, der amerikanischen Ärztekammer, qualifiziert.“

„Das mag sein, aber hier im Resort treffe ich diese Entscheidungen. Wenn ein Verletzter nicht richtig versorgt wird, könnte es Probleme geben.“

„Verstehe. Ich entschuldige mich“, erwiderte er tonlos.

Dachte er, dass sie überreagierte? „Das Resort kann sonst haftbar gemacht werden. Darum wollte ich, dass du gründlich eingewiesen wirst.“

„Und wieder muss ich zustimmen.“ Diesmal klang er sogar, als würde er es auch meinen.

Für den Moment würde sie es ihm glauben. „Da du Cassie hergebracht hast, musst du auch den Bericht ausfüllen.“

Kyle stöhnte. „Sogar hier gibt es Papierkram?“

„Ich fürchte, ja.“ Baylie freute sich diebisch darüber, dass er für seine selbstherrliche Aktion jetzt die Konsequenzen tragen musste. Sie trat an den Tisch heran und schaltete den Computer an. „Besser jetzt als später. Du willst das bestimmt nicht machen müssen, wenn wir schließen.“

„Wenn du darauf bestehst.“

„Das tue ich.“ Baylie meldete sich an und rief die entsprechende Seite auf, dann stand sie auf und überließ ihm den Stuhl.

Sogar in schweren Skischuhen bewegte er sich grazil und athletisch, wo andere unsicher herumstaksten. Er wirkte entspannt, und an seinem Kinn zeigten sich leichte Stoppeln. Manche Männer ließen sich gegen die Kälte einen Bart wachsen, aber es wäre eine Schande, das kräftige Kinn zu bedecken oder seinen ausdrucksstarken Mund mit Barthaaren zu umgeben.

Was war nur in sie gefahren? Sie war schließlich kein Skihäschen auf der Suche nach einem Après-Ski-Abenteuer. Außerdem war sie nicht bereit, sich wieder auf einen Mann einzulassen – nicht, dass das zur Debatte stand. Die Erinnerung an Ben war noch zu frisch, schmerzte noch zu sehr. So leicht konnte sie ihr Herz nicht wieder verschenken.

Sie und Ben hatten in derselben Kompanie gedient, er als Captain, sie als Sanitäterin. Ihnen war bewusst gewesen, dass sie wegen ihrer Beziehung große Schwierigkeiten bekommen konnten, aber das hatte sie nicht gestört. Dann kam die Patrouille in einer friedlichen Region im Nahen Osten – alles reine Routine. Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Die Sprengfalle explodierte, und sie wurde aus dem Fahrzeug geschleudert, der heftige Schmerz der Granatsplitter in ihrer Seite und Ben, der neben ihr starb. Sie biss sich auf die Unterlippe, damit sie nicht gequält aufstöhnte.

„Fertig“, verkündete Kyle, drückte dramatisch eine Taste und rollte schwungvoll mit dem Stuhl zurück. Dabei trafen die Räder des Stuhles einen leeren Edelstahltisch, der krachend umfiel.

Baylie schrie auf und kauerte sich zusammen. Ihr Herz raste, und Schweiß perlte auf ihrer Oberlippe.

Verlegen lachte Kyle. Schnell stand er auf und ging zu dem umgefallenen Tisch, blieb aber abrupt stehen, als er sie sah. „Baylie, was ist los?“ Er sah sich um. „Bist du verletzt?“

Langsam richtete sie sich auf, vermied es aber, ihm in die Augen zu sehen. Dann schob sie sich an ihm vorbei und stellte den Tisch wieder auf.

Das laute statische Knistern ihrer Funkgeräte war wie eine Erlösung für sie. „Baylie, ist jemand für meine Piste eingeteilt, während ich etwas esse?“

Innerlich noch immer zitternd antwortete Baylie: „Ich bin auf dem Weg.“ Sorgsam befestigte sie das Funkgerät an ihrer Hüfte. „Wir gehen besser wieder an die Arbeit.“

Dann warf sie ihm einen kurzen Blick zu und bemerkte, dass er sie noch immer intensiv musterte. So schnell wie möglich zog Baylie ihre Jacke an. Wenn sie sich beeilte, konnte er keine Fragen mehr stellen. Sie setzte ihre Strickmütze auf und öffnete die Tür. Doch Kyle war direkt hinter ihr.

Als wüsste er, dass er zu dem Vorfall eben keine weiteren Fragen stellen sollte, fragte er stattdessen: „Welche medizinische Ausbildung hast du, um die Pistenwacht zu leiten?“

„Ich bin Rettungssanitäterin.“

„Wirklich? Das ist alles?“

Warum klang er so verächtlich?

„Ja, wirklich.“

„Ich hätte gedacht, dass für die Leitungsposition in einem so großen Resort wenigstens ein Doktortitel nötig wäre.“

Aber das Management hatte sie eingestellt, und bis jetzt hatte sie für ihre Bemühungen nur positives Feedback bekommen. Sie stockte, als sie nach ihren Skiern griff, und schenkte ihm einen Blick, der ihm hoffentlich deutlich zeigte, dass er in ihrer Achtung ganz unten angekommen war. „Außerdem bin ich in der Bergrettung ausgebildet. Ich kann dir also versichern, dass ich durchaus qualifiziert bin.“

Trotzdem blieb das vertraute, ungute Gefühl. Als Ben verletzt worden war, hatte sie auch gewusst, was zu tun war, nur hatte sie ihn nicht erreichen können. Egal, wie gut ihre Ausbildung gewesen war, es hatte nicht gereicht. Sie hatte ihn im Stich gelassen …

„Ich bilde mir mein eigenes Urteil.“

Baylies Blick verdüsterte sich. „Bist du eigentlich immer so unverschämt und selbstgerecht, wenn du Leute kennenlernst, oder bin ich da die Ausnahme?“ Sie holte tief Luft und atmete beleidigt aus. „Weißt du was, es ist mir egal. Ich muss mich nicht vor einem aufgeblasenen Arzt beweisen. Dafür habe ich keine Zeit.“ Sie nahm ihre Skier. „John wartet auf dich, damit er Pause machen kann“, rief sie ihm noch zu, bevor sie davonstürmte.

Von allen arroganten, selbstherrlichen Männern, die sie jemals getroffen hatte, war Dr. Kyle Campbell der Schlimmste. Und das wollte etwas heißen. Weder die Ärzte in der Army noch die Adrenalinjunkies, mit denen sie auf Patrouille gewesen war, hatten sie beeindruckt. Coole Sprüche kannte sie vom Militär zur Genüge. Aber dieser Arzt übertraf alles. Nicht einmal die kalte Luft konnte ihre Wut abkühlen. Wenn er in zwei Tagen zurückfuhr, würde sie ihm fröhlich hinterherwinken.

In schnellen, scharfen S-Kurven fuhr sie eine Piste, die nur für erfahrene Skifahrer freigegeben war, hinunter. Plötzlich trafen ihre Skier auf eine vereiste Stelle, und sie hatte Mühe, ihre Bewegung zu korrigieren. Dieser Mann brachte sie so in Rage, dass sie leichtsinnig fuhr. Abrupt hielt sie an der Seite der Piste an.

Aufgewühlt sah sie über die weiße Fläche hinauf zu den schneebedeckten Bäumen bis zum strahlend blauen Himmel. Sie genoss die Sonnenstrahlen und atmete langsam die kalte Luft ein. Die Berge von West Virginia schafften es immer, ihre Seele zu beruhigen. Deswegen war sie hierher zurückgekehrt. Um sich zu verstecken und zu überleben.

2. KAPITEL

Kyle war übel geworden, als er Baylie stolz sagen hörte, dass sie Rettungssanitäterin sei. Und dabei fing er gerade an, diese Frau interessant zu finden. Rettungssanitäter hatten ihren Platz, und in seinem Beruf musste Kyle mit ihnen arbeiten, aber nach seiner persönlichen Erfahrung war ein Rettungssanitäter mit einer „Ich-weiß-alles“-Einstellung gefährlich. Wie der Mann, der ihn nach seinem Sturz behandelt hatte.

Baylie schien genauso zu sein – sie musste die Kontrolle haben, jede Entscheidung selbst treffen, selbst wenn andere genauso qualifiziert dafür waren.

Wenn er sich an seinen Unfall erinnerte, versetzte es ihm jedes Mal aufs Neue einen schmerzhaften Stich. Es war ein perfekter Tag zum Skifahren gewesen – und seine Familie war gekommen, um ihn anzufeuern. Durch seine Reisen zu Wettkämpfen auf der ganzen Welt sah er sie nur selten. Und als einfache Arbeiter aus der Mittelschicht konnten es sich seine Eltern nicht leisten, ihn ständig zu begleiten.

Aber dieser Wettkampf fand in den USA statt. Er hatte mit seinen Sponsoren eine Unterkunft für sie arrangiert, und sie waren einen ganzen Tag gefahren, nur um dabei zu sein. Alle hatten darauf gewettet, dass er groß abräumte, und er hatte seine Familie dabeihaben wollen.

Der Lauf war beinahe zu Ende, als er sich mit einem Ski den Bruchteil eines Millimeters zu weit bewegte, und dann lag er auch schon im Begrenzungszaun. Obwohl die Menge aufgeschrien hatte, war um ihn herum plötzlich nur Stille gewesen. Sein Knie hatte bei dem Sturz das meiste abbekommen. Und dann hatte der Rettungssanitäter seinen Fuß nicht richtig auf der Trage gesichert, obwohl ihn sein Kollege noch darauf hingewiesen hatte. Sein Fuß war von der Trage gerutscht, und damit war das Ende seiner glorreichen Zeiten als Skifahrer besiegelt gewesen.

Aber das war Schnee von gestern.

Für Kyle verging der Nachmittag ohne weitere Zwischenfälle. Er musste lediglich einige erfahrene Skifahrer darauf hinweisen, nicht so schnell zu fahren. Bei einem großspurigen Snowboarder hatte allerdings erst die Drohung, seinen Skipass einzuziehen, geholfen.

Die meiste Zeit beobachtete er Kinder, die begeistert übten, was sie gerade in der Skischule gelernt hatten. Wie er sie beneidete. Auch für ihn war es aufregend gewesen, Skifahren zu lernen. Und ihm war oft gesagt worden, dass er ein Naturtalent sei.

Kyle bemerkte Baylie, als sie sich gerade mit einem anderen Helfer der Pistenwacht unterhielt. Sie musste bemerkt haben, dass er sie ansah, denn sie kam zu ihm herübergefahren.

„Alles okay?“, fragte sie kurz angebunden. Offensichtlich hatte sie ihr Gespräch von vorhin noch nicht verdaut.

„Es war ganz ruhig“, antwortete er sachlich.

„Gut. Die Pisten schließen 16.30 Uhr. Sorg bitte dafür, dass dann alle vom Lift runter und auf dem Weg hinein sind.“

„Sicher.“ Weil ihm die Spannung zwischen ihnen nicht gefiel, sagte er versöhnlich: „Hey, ich wollte dich vorhin nicht beleidigen.“

„Ist das eine Entschuldigung?“

Sie schien ihm nicht entgegenkommen zu wollen.

Da ertönte aus dem Funkgerät: „Baylie, du wirst in der Klinik gebraucht.“

Zum Glück musste er so ihre Frage nicht beantworten. Er war immer noch der Meinung, dass ein Arzt die wichtigen Entscheidungen im Resort treffen sollte. Wäre bei seinem Unfall einer anwesend gewesen, hätte er seinen Sport vielleicht weiter ausüben können.

Baylie hob das Funkgerät an ihren Mund und antwortete: „Verstanden.“ Zu Kyle sagte sie: „Behalt die Jacke über Nacht und sei morgen um acht Uhr da. Die Pisten öffnen um neun.“

Kyle sah ihr nach, als sie die Piste hinab zum Gebäude der Pistenwacht fuhr. Anmutig bewegte sie ihre Hüften und flog beinahe über den Schnee.

Normalerweise zogen ihn große, gertenschlanke Blondinen mit hilflosem Blick an, aber aus irgendeinem Grund gefiel ihm Baylies kleiner, beweglicher Körper. Die Skihose konnte ihre weiblichen Kurven nicht komplett verstecken. In vielerlei Hinsicht war sie ein Widerspruch – äußerlich ganz frisch und natürlich, aber innerlich stahlhart und unnachgiebig. Das reizte ihn, er wollte mehr über sie wissen.

Nur ihre übertriebene Reaktion auf den umgefallenen Tisch verstand er nicht.

Baylie wollte einfach nur eine Pizza, dann nach Hause gehen und die Füße hochlegen. Leider tummelten sich in der Pizzeria mit angeschlossener Bar die jungen Leute, die nach dem Skifahren Spaß haben wollten. Sie trat ein und öffnete ihre Jacke, bevor sie sich durch die Menge zum Tresen drängte. Hier und da sprach sie mit ein paar Leuten, die sie kannte. Hier trafen sich auch die meisten Helfer der Pistenwacht nach Feierabend.

Während sie um eine Gruppe Leute herumging, entdeckte sie Kyle Campbell, der im hinteren Teil des Raumes auf einer tiefen Couch neben dem Steinkamin saß, mit dem riesigen Weihnachtsgebinde darüber. Weihnachtliche Atmosphäre durchzog die Pizzeria. Neben ihm saß Tiffani und himmelte ihn an. Was auch immer er sagte, es schien faszinierend zu sein.

Bei ihrem Streit vorhin war der Ausdruck in seinen blauen Augen düster geworden, als würde er sich an etwas sehr Unangenehmes erinnern. Für seine negative Reaktion auf sie und ihre Qualifikation gab es einfach keinen vernünftigen Grund. Sie verstand es nicht, aber was er dachte, interessierte sie auch nicht.

Ruckartig wandte sie den Blick ab und ging zum Tresen. Dort bestellte sie ihre Pizza und lehnte sich dann an die Wand, damit sie nicht im Weg stand, während sie wartete. Es ging sie nichts an, was zwischen Tiffani und Kyle war, trotzdem konnte sie nicht widerstehen und riskierte einen Blick. In dem Moment warf Tiffani gerade den Kopf in den Nacken und lachte, als hätte sie noch nie etwas so Lustiges gehört. Angewidert verzog Baylie das Gesicht. Sie konnte sich gut vorstellen, wo der Abend der beiden endete.

War das jetzt Abscheu oder Eifersucht? Abscheu. Definitiv Abscheu. Männer interessierten sie nicht, und ganz besonders nicht so ein Arzt mit aufgeblasenem Ego.

Als sie sich wieder zum Tresen umdrehte, sah sie, dass ihre Pizza fertig war. Schnell bezahlte sie und nahm den Karton. Wieder drängte sie sich durch die Menge zum Ausgang. Draußen drang die eiskalte Luft sofort durch die drei Lagen an Kleidung, die ihre Brust bedeckten. Darum legte sie die Pizza auf einer Bank ab und schloss den Reißverschluss ihrer Jacke. Hinter ihr wurde die Tür der Pizzeria geöffnet, und als sie sich umdrehte, kam Kyle heraus.

Bekleidet mit einem dunkelblauen Pullover und darüber einer schwarzen Allwetterjacke, abgetragenen Jeans und Skischuhen wirkte er wie jemand, der auf den Pisten zu Hause war.

„Hallo.“ Sein Atem bildete weiße Nebelwolken in der kalten Luft.

„Hey“, erwiderte sie und nahm ihren Pizzakarton.

„Ich hoffe, deine Wohnung ist nicht weit von hier, sonst ist die Pizza gefroren, wenn du ankommst.“

„Dann sollte ich wohl besser losgehen.“ Damit drehte sich Baylie um und ging über die mit Backsteinen gepflasterte Fußgängerzone mit ihren Geschäften, über denen die Urlauber wohnten. Kleine weiße Lichter hingen von den Regenrinnen, und Kränze schmückten die Türen – als wäre ein Weihnachtsdorf zum Leben erweckt worden. Sogar die Laternen zierten Kränze und Schleifen. Sie atmete die eisige Luft ein und genoss, wie sie ihr scharf in die Lunge fuhr.

Als sie hinter sich schwere Schritte hörte, sah Baylie über ihre Schulter. Kyle folgte ihr mit etwas Abstand. Die Hände hatte er in die Jackentaschen geschoben und die Schultern gegen den Wind hochgezogen. Verfolgte er sie?

Irritiert blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Was wird das?“

Das gedämpfte Licht der Straßenlaternen erhellte sein überraschtes Gesicht. Dann hob er fragend das Kinn. „Ich gehe zum Wohnheim. Warum? Was dachtest du denn?“ Er trat etwas näher, aber nicht zu nah. „Dass ich dich verfolge?“

„Ich … äh … nein.“

„Doch, das hast du“, neckte er sie.

„Vielleicht habe ich gedacht, dass du mir folgst.“

„Das bin ich auch, aber nicht aus dem Grund, den du gerade im Kopf hattest.“

Zum Glück konnte er in dem spärlichen Licht nicht das schlechte Gewissen sehen, das sich auf Baylies Gesicht spiegelte.

Er grinste breiter. „Da wir in dieselbe Richtung müssen, können wir doch zusammen gehen. So kannst du ein Auge auf mich haben.“

Wie könnte sie diesem lächelnden Mund etwas abschlagen? „Ich schätze, das wäre sicherer.“ Sie ging weiter, und er blieb neben ihr.

„Wohnst du auch im Wohnheim? Ooh, das klingt jetzt wirklich, als ob ich dich verfolge.“

Sie lachte. Etwas, das sie in letzter Zeit viel zu selten tat. „Nein, da ich Vollzeit hier bin, habe ich eine kleine Wohnung nebenan.“

„Ich habe einfach nur meine Reisetasche auf ein Bett geworfen und bin dann raus, um einen Burger zu essen. Der Raum erinnert mich ans College – schmutzige Socken, lautes Schnarchen und überall Bierdosen.“

Leise kicherte sie. „Ja, ich weiß, was du meinst. Eine Armeebaracke ist auch nicht besser.“

„Du warst beim Militär?“, fragte er erstaunt.

„Ja, dort habe ich meine Ausbildung gemacht.“

Er schwieg, und darüber war sie sehr erleichtert. Sie wollte den Waffenstillstand zwischen ihnen nicht gefährden.

Sie überquerten die asphaltierte Hauptstraße und umrundeten einen Schneehaufen, den der Straßenräumdienst vergessen hatte. Der Asphalt trennte das Skidorf, wo die Urlauber untergebracht waren, von der anderen Seite des Berges, wo die Angestellten deutlich weniger luxuriös wohnten.

Ohne das Licht der vielen Straßenlaternen wurde es deutlich schwieriger, auf der unbefestigten Schotterstraße Halt zu finden. Da es auch angefangen hatte zu schneien, ging Baylie langsamer.

„Was kann man hier tun, nachdem die Pisten schließen?“

Mit ihm allein in der Dunkelheit und seine tiefe, weiche Stimme – das fühlte sich viel zu intim an. Mit Romantik hatte Baylie nichts am Hut. Nicht jetzt und nie wieder. Sie könnte es nicht ertragen, noch einen Mann im Stich zu lassen. „Das Übliche, schätze ich. Essen, Bars. Manche Leute nutzen die Indoorpools.“

„Du bist nicht so für die Après-Ski-Szene?“

„Kennst du den Spruch: Wer den ganzen Tag Ski fährt, fällt abends ins Bett?“

„Das stimmt, oder?“

Seine Stimme klang rau, zweideutig und ließ sie an ein großes Bett, prasselndes Kaminfeuer und nackte Haut denken. Was war nur mit ihr los? Sie ließ zu, dass ihr dieser Fremde unter die Haut ging. Verrückt. Dabei mochten sie sich nicht einmal. Wieder war sie froh über die Dunkelheit. Sie sollte schleunigst nach Hause. „Du weißt, was ich meine.“

Er lachte leise. „Ja. Wenn man den ganzen Tag auf Skiern unterwegs ist, schafft man es nicht, die ganze Nacht zu feiern. Dann will man nur schlafen.“

„Du und Tiffani, ihr schient euch gut zu amüsieren.“ Am liebsten hätte Baylie die Worte sofort zurückgenommen. Es ging sie nichts an, mit wem er seine Freizeit verbrachte.

„Also hast du uns gesehen.“ So, wie Kyle das sagte, klang es, als hätte es eine größere Bedeutung. Sie musste wirklich dringend auf Abstand gehen, sie hatte bereits jetzt zu viel gesagt. „So, du bist da.“ Das funktionelle dreistöckige Wohnheim ragte vor ihnen auf. „Ich geh noch ein Stück weiter. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Baylie.“

Bei der Art, wie er ihren Namen aussprach, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Am nächsten Morgen betrat Kyle pünktlich das Gebäude der Pistenwacht. Genau wie gestern war er nicht gerade begeistert von der Aussicht, den Tag auf den Pisten zu verbringen, aber er freute sich darauf, Baylie zu sehen. Das mutige kleine Energiebündel bot ihm Paroli und weckte seine Neugier.

Er mochte ihre Intelligenz und ihre praktische Art. Würde er länger bleiben, was er definitiv nicht tat, und wäre sie nicht so ein Kontrollfreak, was sie aber definitiv war, und wenn er wieder Ski fahren wollen würde, was nicht der Fall war … Ach verdammt, wem wollte er etwas vormachen? Sie hatten wirklich nichts gemeinsam.

Kyle ging tiefer in den Raum. Baylie stand hinter dem Tresen und teilte lächelnd die Aufgaben zu.

„Morgen, Baylie“, begrüßte er sie freundlich.

Ihr Lächeln dagegen verblasste. „Du bist heute wieder auf dem Anfängerhügel. Würde es dir was ausmachen, eine Gruppe in der Skischule zu unterrichten?“

Hatte er ihr Verhalten gestern Abend falsch verstanden? Warum behandelte sie ihn kühler als die anderen? „Was genau beinhaltet das?“

„Du hast ungefähr sechs Schüler und zeigst ihnen die Grundlagen, lässt sie ein paar Mal die Piste runterfahren und gehst dann mit ihnen eine heiße Schokolade trinken.“

Er antwortete nicht sofort.

„Mir fehlen heute Leute.“ In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Verzweiflung mit.

„Das schaffe ich.“ Er schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln. Gestern wäre er nicht halb so zuversichtlich gewesen.

Baylie blinzelte, als wäre sie nicht sicher, ob sie richtig gesehen oder gehört hatte. Wenigstens hatte sie ihm nicht die Hauptpisten zugeteilt. Sie würde bestimmt eine Erklärung verlangen, wenn er sich weigerte. Nur konnte er ihr die nicht geben. Auf keinen Fall würde er eingestehen, dass er Angst hatte.

Plötzlich sah Baylie über seine Schulter, jauchzte überrascht und lief auf einen großen, schlaksigen Mann zu, den sie freudestrahlend umarmte. Er hob sie hoch und schwang sie herum, bevor er sie wieder auf die Füße stellte. Andere kamen hinzu und klopften ihm auf die Schulter, riefen: „Glückwunsch!“ Kurze Zeit später war von Baylie durch die Menschenmenge nichts mehr zu sehen.

Wer ist der Kerl?

Als ein Freiwilliger hinzukam, der im Hinterzimmer gewesen war, fragte Kyle ihn: „Was ist hier eigentlich los?“

„Ach, das ist Derek Lingerfelt. Er hat gerade den Nationalen Abfahrtslauf in Colorado gewonnen. Die Leute hier hoffen, dass er es noch weit schafft, vielleicht sogar zu den World Games.“

Die altbekannte Enttäuschung versetzte ihm einen Stich. „Was macht er dann hier?“

„Ach, Derek ist süchtig nach den Pisten, also hilft er bei uns aus, wenn er hier seine Eltern besucht. Er gibt sogar ein paar Kurse für Urlauber. Er meint, das ist gute PR.“

Kyles Sponsoren hatten ihm damals auch nahegelegt, so viel PR wie nur möglich zu machen. Die Leute wollten ihn auf den Pisten begleiten – hauptsächlich Frauen. Wenn er zurückschaute, hatte es ihm wirklich gefallen, wie sein Ego gestreichelt wurde. Jetzt fand er es genauso befriedigend, wenn er einem Patienten half, gesund zu werden, der dann den Sport, den er so liebte, weiter ausüben konnte.

Derek hatte noch immer einen Arm um Baylies Schultern gelegt. Sie strahlte übers ganze Gesicht und sah zu ihm auf. Angewidert schüttelte Kyle den Kopf. Wäre es nicht schön, wenn sie ihn genauso anlächeln würde? Was für eine abstruse Idee. Baylie bedeutete ihm gar nichts. Sollte sie doch bewundernd anlächeln, wen sie wollte.

Die ganze Szene ging Kyle gegen den Strich, darum drehte er ihr den Rücken zu und nahm seine Jacke. Es war Zeit zu gehen.

„Leute, wir müssen an die Arbeit“, rief Baylie, und sofort verstreute sich die Gruppe von Gratulanten.

Als Kyle auf dem Weg nach draußen an ihr vorbeiging, sah sie ihn verwirrt an. War seine Abneigung so offensichtlich?

Später war er so damit beschäftigt, kleinen Kindern das Skifahren beizubringen, dass gar kein Gedanke an Baylie aufkam. Während er mit den Kindern arbeitete, ihnen zeigte, wie man anhielt, losfuhr und auf den Lift zufuhr, erinnerte er sich daran, wie begeistert er in dem Alter geübt hatte. Was würde er nicht dafür geben, das noch einmal zu spüren. Zuerst hatte er das beim Abfahrtslauf erlebt, und als das nicht mehr möglich war, hatte er sich mit der gleichen Entschlossenheit der Medizin zugewandt. Er liebte die Medizin und war jetzt einer der Besten auf seinem Gebiet.

„Laura, fahr Mikey hinterher“, forderte er ein Mädchen in einem rosa- und lilafarbenen Skianzug auf. „Vor und zurück wie eine Schlange.“

Entschlossen stieß sich das Mädchen ab. Als es dort anhielt, wo die Gruppe anhalten sollte, strahlte es ihn begeistert an.

Kyle erwiderte das Lächeln und zeigte ihm ein Daumen hoch.

„Du machst das gut“, sagte Baylie neben ihm.

Ihr Lob tat ihm gut, als hätte er etwas Herausragendes erreicht.

„Wir könnten dich jedes Wochenende gebrauchen.“ Zum ersten Mal schien sie wirklich beeindruckt zu sein.

„Danke. Beobachtest du mich mal wieder?“ Er wandte sich wieder seiner Gruppe zu. „Okay, Jimmy, jetzt bist du dran“, rief er dem letzten Jungen der Gruppe zu.

„Nur ein bisschen, also lass es dir nicht zu Kopf steigen. Das gehört zu meinem Job“, antwortete Baylie, bevor sie zu einer anderen Gruppe Schüler und deren Lehrer fuhr.

Das war so klar. Sie machte ihm ein Kompliment, nur um es gleich wieder zurückzunehmen. Er wollte gerade seinen Schülern folgen, als ihn plötzlich ein etwa achtjähriges Kind beinahe umfuhr. Panisch wedelte der Junge mit den Armen. „Hilfe!“

Ohne nachzudenken, fuhr Kyle ihm hinterher. Als das Kind der Fortgeschrittenenpiste immer näher kam, beugte sich Kyle vor, um schneller zu fahren. Adrenalin schoss durch seinen Körper, als er sah, wie der Junge wackelte. Wenn er ihn nicht bald einholte, könnte sich das Kind ernsthaft verletzen. Kyle stieß sich hart ab, nahm noch mehr Geschwindigkeit auf. Dann streckte er den Arm aus, umfasste die Taille des Jungen und zog ihn an seine Brust. Gerade rechtzeitig, bevor die Piste zu steil wurde, bremste er. Erleichtert atmete er auf. Geschafft!

„Hey Kumpel, alles in Ordnung bei dir?“, fragte Kyle den Jungen in seinem Arm. „Warte kurz, dann stell ich dich ab.“ Er fuhr an den Rand der Piste, damit er die anderen Skifahrer nicht behinderte, und stellte den Jungen vorsichtig ab, hielt ihn aber noch fest, als Baylie kam.

„Bei euch alles okay?“ Ihre Stimme klang ruhig, aber sie wirkte aufgewühlt.

Sie hatte genauso Angst gehabt wie er, dass sich der Junge verletzte. Kyle lächelte ihn aufmunternd an, bevor er Baylie ansah. „Ich denke, uns geht es gut.“ Er trat aus seinen Skiern und kniete sich hin, damit er auf Augenhöhe mit dem Jungen war. „Geht es dir gut?“

Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und war kreidebleich. Aber er nickte schwach.

„Gut. Warum fahren wir nicht mit dem Lift wieder hoch und sehen, ob wir die Piste das nächste Mal etwas langsamer runterfahren können?“

„Ich weiß nicht …“, erwiderte der Junge ängstlich.

„Hey“, unterbrach Kyle ihn. „Wir fragen Baylie …“ Er deutete auf sie. „… ob sie uns zusieht, wie wir das machen.“

Zögernd murmelte der Junge: „Okay.“

„Ich glaube nicht …“, begann Baylie.

Aber Kyle warf ihr einen ernsten Blick zu und schüttelte den Kopf.

Zum ersten Mal gab Baylie ohne Widerspruch nach. Er nahm den Jungen an die Hand und zog ihn zu einer Stelle, wo er gut stehen konnte, ohne abzurutschen. Baylie folgte ihnen.

„Bleibst du bei …?“ Fragend sah Kyle den Jungen an. „Wie heißt du denn?“

„Levi.“

Kyle wandte sich wieder an Baylie. „Bei Levi, während ich meine Skier hole?“

„Natürlich.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, als hätte sie Angst, dass er verschwinden könnte.

Langsam ging Kyle zu seinen Skiern. Sein Knie würde morgen garantiert schmerzhaft protestieren, aber er kehrte mit seinen Skiern zu Baylie und Levi zurück und zog sie wieder an. „Ich bin so weit. Und du?“, fragte er den Jungen ermunternd.

Levi musterte ihn einen Moment, bevor er lustlos erwiderte: „Ich auch.“

„Gut, dann lass uns die Mädchen beeindrucken.“ Er zwinkerte Baylie zu. Überrascht riss sie die Augen auf, dann zuckten ihre Mundwinkel amüsiert.

Kyle nahm Levi an die Hand, und zusammen fuhren sie zum Lift. Oben an der Piste angekommen, zögerte der Junge und umklammerte Kyles Hand ganz fest.

Aufmunternd sah er zu dem Kind hinunter. „Du kannst das, Levi. Und ich passe auf, dass dir nichts passiert. Vertraust du mir?“

Kaum wahrnehmbar nickte Levi.

„Okay, dann los.“ Langsam begleitete Kyle ihn den Anfängerhügel hinunter, und Baylie feuerte sie kräftig an, als sie an ihr vorbeikamen. Dann fuhr sie ihnen nach, als sie anhielten, und klatschte Levi ab. Der Junge strahlte glücklich.

„Kann ich noch mal?“ Erwartungsvoll sah er zu Kyle auf.

„Na klar. Aber wir warten hier, bis dein Lehrer vorbeikommt, dann kannst du mit deinen Freunden zusammen fahren. Weißt du jetzt wieder, wie du langsamer fährst und anhältst?“

Levi nickte.

„Gut. Du musst kontrolliert fahren. Heb dir das Rasen auf, bis du ins Skiteam aufgenommen wirst.“

Der Junge strahlte und war kurze Zeit später wieder mit seiner Gruppe unterwegs.

Baylie musterte Kyle anerkennend. „Sie haben verborgene Qualitäten, Dr. Campbell. Das hast du super gemacht. Und du fährst deutlich besser Ski, als du zeigst. Wenige hätten ihn so abfangen können. Mich wundert, dass du bei deinem Können mit der Aufsicht über den Anfängerhügel zufrieden bist.“

„Die Entscheidung hast du getroffen.“ Und er würde nie verraten, wie froh er darüber gewesen war. „Wenn der Junge es nicht gleich noch einmal versucht hätte, würde er vielleicht nie wieder Ski fahren.“ So war es ihm gegangen.

„Ich bin dir sehr dankbar für das, was du getan hast, und für deine Hilfe an diesem Wochenende.“

„Gern geschehen. Jetzt gehe ich besser wieder an die Arbeit. Es war schön, dich kennengelernt zu haben.“ Zu seiner Überraschung stimmte das auch. Baylie brachte ihn zwar auf die Palme, aber das war auch erfrischend. Sie war jemand, den er so schnell nicht vergessen würde.

Verwirrt beobachtete Baylie, wie dieser irritierende, aufgeblasene Mann auf seinen Skiern wegfuhr, als gehörte ihm der Berg. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals so viel Zeit damit verbracht hatte, jemanden zu beschimpfen und gleichzeitig von ihm beeindruckt zu sein.

Was versteckte er nur? Etwas an ihm faszinierte sie, und das war überhaupt nicht gut. Zum Glück fuhr er heute wieder nach Hause. Dann war das Thema erledigt.

Der Nachmittag verging mit aufgeschlagenen Knien und Schrammen, die in der Klinik behandelt werden konnten. Kurz nachdem sie ihre letzte Runde über die Pisten gedreht hatte, bemerkte sie, dass Kyle seine Ausrüstung in seinem SUV verstaute, der neben dem Gebäude der Pistenwacht parkte. Er schien es gar nicht erwarten zu können, wieder wegzukommen. Sie würde ihn nicht wiedersehen.

Warum machte sie dieser Gedanke traurig?

„Hey, Baylie, kennst du jemanden, der Campbell heißt? Da ist ein Anruf für ihn. Der Mann sagte, dass er dringend mit ihm sprechen muss“, fragte einer der Freiwilligen über Funk.

„Ja, er ist hier draußen auf dem Parkplatz. Ich sage ihm Bescheid.“

Sie holte tief Luft und pfiff. Der schrille Ton hallte in der klaren Luft wider. Kyle sah in ihre Richtung, und sie winkte ihn heran. Er nickte und schloss den Kofferraum seines Autos, bevor er zu ihr kam.

Als er in Hörweite war, rief sie: „Du wirst am Telefon verlangt.“

Verwundert sah Kyle sie an und ging dann hinein.

„Hallo.“

„Campbell, bist du das? Hier ist Metcalf. Ich versuche schon seit Stunden, dich über Handy zu erreichen.“

„Das hatte ich nicht bei mir. Was ist denn los?“

„Ich werde es nicht schaffen, dich abzulösen. Hatte einen Autounfall. Totalschaden. Es geht allen gut, aber Robbie ist mit gebrochenem Arm im Krankenhaus.“

Kyle war froh zu hören, dass niemand ernsthaft verletzt war, aber er wusste, dass ihm nicht gefallen würde, was jetzt kam. „Du musst die restliche Woche für mich auch noch übernehmen. Price kümmert sich um deinen Bereitschaftsdienst, und da die Praxis über Weihnachten geschlossen ist, sollte das gut klappen. Ich würde dich wirklich nicht darum bitten, wenn ich nicht wüsste, dass du erst Mitte Januar zu deiner Schwester fahren willst.“

Noch weitere sieben Tage … Kyle umklammerte das Telefon. Himmel, er war nicht einmal sicher, ob er noch einen einzigen weiteren Tag überstand.

„Komm schon, bei deiner Vorgeschichte kann das nicht so schwer sein. Du weißt, dass ich kommen würde, wenn ich könnte“, sagte sein Partner für seinen Geschmack viel zu fröhlich.

Kyle holte tief Luft. Leider gab es keinen Ausweg, ohne total herzlos zu klingen.

„Das mit Robbie tut mir leid. Ich schätze, ich habe keine andere Wahl, wenn wir nicht wollen, dass es so aussieht, als würde die Praxis ihre Versprechen nicht halten. Ich schaffe das schon. Vielleicht braucht Baylie mich ja auch gar nicht.“

„Baylie? Hast du da oben eine Frau kennengelernt?“

„Sie ist die Leiterin der Pistenwacht.“ Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu zeigen, wie sehr ihm Metcalfs Andeutung gegen den Strich ging. Baylie war doch kein Skihäschen. „Kümmere du dich um deine Familie.“

„Werde ich. Danke, Kumpel.“

Am liebsten wollte Kyle den Hörer auf die Gabel knallen, legte jedoch ganz normal auf. Als er sich umdrehte, stand Baylie hinter ihm und sah ihn fragend an.

„Gibt es ein Problem?“

„Mein Partner, der morgen kommen sollte, wird es nicht schaffen.“

„Dabei habe ich mich darauf verlassen, dass er kommt“, murmelte sie leise.

„Ja, das habe ich mir schon gedacht.“

„Unter der Woche brauche ich sonst wenig Personal“, sprach sie weiter, „aber da Weihnachten vor der Tür steht, erwarten wir sehr viele Besucher.“

Baylie ahnte ja nicht, wie unangenehm es für ihn war hierzubleiben, aber er stellte sich Herausforderungen. Und nichts anderes war diese nächste Woche – eine Herausforderung, seine Angst unter Kontrolle zu halten und die Finger von Baylie zu lassen.

Baylie brauchte dringend Hilfe, selbst wenn sie von diesem selbstgefälligen Arzt kam. Er hatte nur zu deutlich gezeigt, dass er hier weg wollte. Trotzdem musste sie ihn überzeugen zu bleiben. Würde er sie betteln lassen?

„Macht einer mehr wirklich so einen großen Unterschied?“, fragte Kyle resigniert.

„Ich brauche deine Hilfe.“ Oh, wie sehr sie es hasste, das besonders vor diesem Mann zuzugeben. „Es sei denn, du hast Pläne mit der Familie.“

Die lange Pause überraschte sie nicht.

„Nein, erst nächsten Monat.“

„Also wirst du bleiben?“

„Ja.“

Noch lustloser konnte er gar nicht klingen.

„Wirklich? Äh … gut“, sagte sie, bevor er seine Meinung vielleicht noch änderte.

„Kümmere ich mich weiter um die Skischule?“

„Natürlich.“

Der arrogante, irritierende und überaus attraktive Mann blieb also noch sieben weitere Tage. Bedeutete das für sie mehr Ärger, als es wert war?

Am nächsten Morgen betrat Kyle das Gebäude der Pistenwacht selbstbewusster als die letzten beiden Tage. Suchend sah er sich nach Baylie um. Sein Herz schlug erwartungsvoll schneller. In ihrer Nähe fühlte er sich lebendiger. Vielleicht lag das nur daran, dass ihre Worte und Vorstellungen kollidierten, aber was es auch war, es war anregend.

Weil er Baylie nicht sofort sah, ging er zum Aufgabenbrett. Dort stand ein freiwilliger Helfer, den er vom Wochenende kannte, hinter dem Tresen.

„Weißt du, wo Baylie ist?“, fragte Kyle.

„Ja, sie musste sich um einen der Köche im ‚Always Snowing Grill‘ kümmern. Dr. Campbell, oder?“

Kyle nickte.

„Ich bin Mike und kümmere mich heute um die Pistenverteilung. Du bist auf dem Anfängerhügel. Danke für deine Unterstützung, Baylie würde sonst Panik bekommen. Ich kann gar nicht glauben, dass wir dieses Jahr so unterbesetzt sind.“ Kopfschüttelnd drehte er sich zum Brett um.

Kyle nahm das als Zeichen, dass er entlassen war, und ging zur Tür. Als er sie gerade aufdrücken wollte, wurde sie von der anderen Seite aufgezogen, und Baylie rannte in ihn hinein. Automatisch schlang er die Arme um sie, damit sie nicht fiel. Mit ihren schmalen Händen umfasste sie seine Hüfte. Selbst bei diesen eiskalten Temperaturen wünschte er, ihre Finger würden seine nackte Haut berühren.

Himmel, er war scharf auf diese Frau, und sie ließ ihn links liegen. Bis jetzt war es ihm nie schwergefallen, eine Frau für sich zu gewinnen. Damals als Skistar waren sie ihm in Scharen nachgelaufen. Als Arzt klappte das auch ganz gut. Aber nicht bei Baylie.

„Hey, ich dachte, du freust dich vielleicht, mich zu sehen, aber ich hatte keine Ahnung, dass du mir direkt um den Hals fällst“, witzelte er mit einem leichten Grinsen.

Sofort löste sie sich von ihm, und er wünschte plötzlich, er hätte nichts gesagt.

Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn finster an, bevor sie erwiderte: „Danke für deine Hilfe, Kyle.“

„Gerne geschehen.“

Jetzt wirkte sie nicht mehr so unwillig. „Du hast deine Aufgabe?“

Okay, sie war wieder ganz die geschäftige Baylie. „Ja, habe ich.“ Er wäre zu gern dabei, wenn sie etwas lockerer wurde. Bestimmt konnte man mit ihr viel Spaß haben, wenn sie sich entspannte.

„Dann sehe ich dich später auf der Piste.“ Sie ging an ihm vorbei ins Gebäude, als hätte sie keine Zeit für Spielchen.

Er war es überhaupt nicht gewohnt, wie ein notwendiges Übel behandelt zu werden. Und es gefiel ihm auch nicht. Vielleicht wurden die nächsten Tage doch nicht so schlimm, wie er sie sich vorstellte. Oder sie wurden schlimmer. Jetzt stand er vor der zusätzlichen Herausforderung, dieses kleine Energiebündel zu ergründen. Wenn sie ihn denn ließ.

Die Hitze, die durch ihren Körper schoss, als Kyle sie berührte, hatte Baylie geschockt. Das hatte sie seit Ben nicht mehr gespürt. Besonders, da sie seit ihrem Erlebnis im Nahen Osten nicht zugelassen hatte, dass ein Mann sie berührte. Innerlich freute es sie, dass die Berührung eines Mannes sie nicht kaltließ. Für einen kurzen Augenblick hatte sie sich lebendig gefühlt. Aber gleichzeitig war es so, als hätte sie Ben betrogen.

Weswegen war sie so kribbelig? Kyle Campbell mochte ja gut aussehen, aber was brachte das? Er hatte sehr deutlich gemacht, dass er nicht hier sein wollte, und in einer Woche war er wieder weg.

Hast du das nicht gestern auch schon gesagt?

Hastig schüttelte sie den Gedanken ab und kümmerte sich um die Verteilung der Aufgaben. An Samstagen verdoppelte sich gewöhnlich die Anzahl der Gäste im Resort, aber über die Feiertage konnte sie sich auch verdreifachen, und dann wurden aus Problemen oft Verletzungen. Zu behaupten, dass sie sich auf die nächsten Tage freute, wäre gelogen.

Nachmittags schaffte Baylie es endlich, von der Klinik wegzukommen. Die meiste Zeit hatte sie sich um kleinere Verletzungen kümmern müssen: Ein Kind hatte seine Finger in der Bindung geklemmt, eine Frau hatte sich das Knie verrenkt und so weiter.

Erleichtert nahm sie eine Piste für Fortgeschrittene und atmete dabei tief durch. An der frischen Luft fühlte sie sich immer besser. Allein ihre Muskeln zu bewegen, erfrischte sie, als sie über die Piste fuhr und dabei nach ihren Leuten sah. Obwohl es alle freiwillige Helfer waren, nahmen sie ihre Arbeit ernst. Dafür war Baylie sehr dankbar.

Absichtlich machte sie den Anfängerhügel zu ihrem letzten Halt, obwohl sie sich förmlich dazu zwingen musste. Warum zog es sie so zu Kyle?

Als sie den Lift oben am Berg verließ, ertönte ihr Name über das Funkgerät.

„Ja?“

„Wir brauchen Hilfe an der Kreuzung ‚Grünstreifen‘- und ‚Gute Fahrt‘-Piste.“

„Verstanden. Ich schicke sofort jemanden.“ Schnell fuhr sie zu Kyle, der in der Nähe des Liftes stand.

„Hey“, grüßte sie ihn. „Ich brauche dich weiter unten, um den Verkehr an einer Kreuzung zu regeln.“ Den Ausdruck in seinen Augen hätte man als Panik bezeichnen können, wäre er nicht so schnell wieder verschwunden.

„Ich würde lieber hierbleiben.“

Was? Sie brauchte ihn woanders. Und er fuhr gut genug, dass er die Aufgabe bewältigen konnte, warum also weigerte er sich?

„Ich habe sonst niemanden“, sagte sie so nachdrücklich, wie sie es sonst bei ihren Freiwilligen vermied.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass ich hier arbeite.“

„Das haben wir, aber ich brauche unten am Berg Verstärkung, und du bist der Einzige, den ich versetzen kann.“ Verwundert kräuselte sie die Nase. Wie kam er darauf, dass er mit ihr diskutieren konnte? Hatte er generell ein Problem damit, Anweisungen von einer Frau zu bekommen? Oder nur von ihr? Dabei machte es ihr nicht einmal Spaß, ihre Bitten wie Anweisungen klingen zu lassen. Aber Kyle schien diese Seite von ihr leicht hervorzukitzeln.

„Wer übernimmt dann diese Piste, wenn ich nicht mehr hier bin?“

„Lass das meine Sorge sein. Warum hast du ein Problem damit, den Berg runterzufahren?“

Kyle sah sie an, als wäre er mit seinen Gedanken sehr weit weg gewesen, und entgegnete tonlos: „Es gibt kein Problem. Zeig mir, wo ich gebraucht werde.“

3. KAPITEL

Kyle folgte Baylie die einfache Piste hinunter. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust, während er sich so vorsichtig wie ein Anfänger bewegte. Als er zurückfiel, wurde Baylie langsamer und wartete, bis er zu ihr aufschloss.

Wütend verzog er den Mund. Er hätte ablehnen sollen, aber er wollte auch nicht schwach erscheinen. Nicht vor ihr.

Als sie die Kreuzung erreichten, hielt Baylie in einiger Entfernung zu den anderen Skifahrern an.

Er stoppte neben ihr.

Kurz musterte sie ihn. „Stimmt etwas nicht?“

„Alles in bester Ordnung“, antwortete er schärfer als beabsichtigt. „Also, was muss ich tun?“

Überrascht riss sie die Augen auf, fing sich aber schnell wieder. „Du achtest darauf, dass die Skifahrer weiterfahren. Sie neigen dazu, auf der Kreuzung anzuhalten, aber ein Stau ist gefährlich. Wenn es noch voller wird, könnte es passieren, dass du eingreifen und den Verkehr regeln musst.“

Zögernd nickte er. Wie er den Rest des Berges hinunterkam, damit er mit dem Lift wieder hochfahren konnte, darüber würde er sich später Sorgen machen. Jetzt im Moment wollte er einfach nur, dass Baylie davon nichts mitbekam.

So intensiv, wie sie ihn musterte, schien sie zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Doch sie verabschiedete sich: „Dann bis später.“

Kyle nickte und wandte sich halb ab, um die Kreuzung zu überprüfen. Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er erleichtert, dass sie die Piste hinunterfuhr. Ein Skifahrer, der an ihm vorbeiraste, erinnerte ihn daran, dass er dafür sorgen sollte, dass sich niemand verletzte. Und Baylie würde garantiert nach ihm sehen.

Es wurde bereits langsam dunkel, als Baylie zurückkam und Kyle mit einer Gruppe Skifahrer sprechen sah.

„Wenn ich das noch einmal sehe, ziehe ich euren Skipass ein. Verstanden?“ Seine Stimme klang so ernst, dass sie beinahe wie die Gruppe brav genickt hätte. Kleinlaut fuhren sie weiter.

„Probleme?“, fragte Baylie, als sie ihn erreichte.

„Ach, das waren nur ein paar Collegestudenten, die unbedingt angeben mussten.“

„Ich glaube, das hast du ihnen ausgetrieben. Bist du bereit für den Feierabend? Wir müssen auf dem Weg nach unten noch die letzten Nachzügler einsammeln.“

Sie wartete, während Kyle seine Skier anzog.

„Du hast die Skier ausgezogen, während du den Verkehr geregelt hast?“, fragte sie erstaunt. Sie tat das nie, weil sie im Notfall sofort losfahren musste.

„Ja, und jetzt weiß ich, wie sich ein Verkehrspolizist auf den Bahamas fühlt“, erwiderte er.

„Dort war ich noch nie. Keine Ahnung, was du meinst.“

„Der Polizist steht in der Mitte der Kreuzung und dirigiert die Autos, die an jeder Seite von ihm vorbeisausen. Seit heute weiß ich, wie unsicher man sich dabei fühlt. Du warst noch nie auf den Bahamas?“

„Nein.“ Nicht jeder hatte das Geld und die Zeit dazu.

„Ich habe sogar ein Haus dort. Wunderschönes Wasser und fantastischer Sandstrand.“

Wie wäre es wohl, halb nackt neben diesem Mann an einem makellosen Strand zu liegen? Solche Gedanken könnten glatt den Schnee unter ihren Skiern zum Schmelzen bringen. „Muss schön sein“, murmelte sie.

Während der Abfahrt blieb Kyle hinter Baylie und fuhr deutlich langsamer. Warum blieb er zurück und zeigte nicht, was er konnte? Als sich die Piste gabelte, hielt sie an. „Du nimmst die rechte Abzweigung, ich die linke. Achte einfach darauf, dass du hinter dem letzten Skifahrer bleibst, und warte dort, wo sich die Pisten wieder treffen, dann fahren wir die Kaskade hinunter zum Schneepfluglift.“

„Du gibst von Natur aus gern den Ton an, oder?“, fragte er sie neckend.

Verblüfft drehte sie sich zu ihm um.

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich treffe dich da, Boss.“ Damit fuhr er los und übernahm zum ersten Mal die Führung.

Als Baylie den Treffpunkt erreichte, war von Kyle nichts zu sehen. Dabei hatte er den kürzeren Weg genommen. Hatte er Schwierigkeiten?

„Baylie, kommen“, ertönte es aus ihrem Funkgerät. „Hier spricht Kyle.“

Auch ohne diesen Hinweis hätte sie ihn an seiner rauen Stimme erkannt.

„Hier ist ein Snowboarder gestürzt und hat sich das Handgelenk gebrochen. Habe ich deine Erlaubnis, um mit ihm nach unten zu laufen? Sonst fehlt ihm nichts, allerdings hat er ziemliche Schmerzen.“

„Bist du hinter der scharfen Kurve?“

„Ja, genau dahinter.“

„Gut. Kommt runter, ich gehe euch entgegen.“

„Das ist nicht nötig. Wir treffen dich in ein paar Minuten unten.“

Verärgert drückte sie heftiger als nötig auf die Sprechtaste des Funkgerätes. „Ich treffe euch.“

Schnell zog sie ihre Skier aus und stieg die Piste hinauf. Zum Glück kühlte die Anstrengung ihren Ärger etwas ab, sonst hätte sie Kyle für seinen letzten Kommentar liebend gern ihre Skier um die Ohren gehauen. Egal, wie er die Situation einschätzte, sie entschied, wie die Patienten behandelt wurden.

Ein paar Minuten später entdeckte sie Kyle. Er stützte einen schlaksigen, blassen Teenager. Der Reißverschluss der Jacke des jungen Mannes war bis zum Hals geschlossen, und ein Ärmel hing leer an seiner Seite.

Baylie biss sich auf die Zunge, um Kyle nicht gründlich die Meinung zu geigen. Zuerst musste sie sich um einen Patienten kümmern.

Beruhigend lächelte sie den verletzten Teenager an. „Ich bin Baylie, die Sanitäterin der Pistenwacht. Wie heißt du?“

„Rod.“

„Hallo, Rod. Kyle und ich werden dich in die Mitte nehmen und auf dem Weg nach unten stützen. Das Schneemobil sollte in ein paar Minuten da sein, um dich hochzufahren.“

Dem Jungen war deutlich anzusehen, dass er starke Schmerzen hatte, trotzdem schenkte er ihr ein schwaches Lächeln.

Zu Kyle sagte sie: „Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht noch einmal fällt.“

„Offensichtlich“, gab er trocken zurück, aber sein Unmut war ihm deutlich anzuhören. Sie war seiner Anweisung nicht gefolgt, und das ärgerte ihn. Ihr hingegen machte es großen Spaß.

Als sie die Stelle erreichten, zu der sie den Schneemobilfahrer beordert hatte, zog Baylie ihre Jacke aus und legte sie auf den Schnee.

„Was machst du da? Müssen wir nicht weiter runter?“

Es war nicht zu überhören, wie frustriert Kyle war. Sie sah auf und sagte betont ruhig: „Nein, es ist zu gefährlich, zu Fuß weiterzugehen. Darum kommt das Schneemobil hierher. Bis es da ist, will ich das Handgelenk für die Fahrt stabilisieren.“

„Ja, aber …“

Ihr ernster Blick ließ ihn verstummen. Dann wandte sich Baylie an den jungen Mann: „Rod, setz dich hier hin, dann kann ich mir dein Handgelenk ansehen.“

Sie musste gar nichts weiter sagen. Erschöpft von den Schmerzen und vom Laufen ließ er sich mit Kyles Hilfe auf ihrer Jacke nieder. Vorsichtig öffnete sie den Reißverschluss seiner Jacke. Darunter wurde der Arm von einer Schlinge gestützt, die aus einem Strickhemd gemacht war. Sie sah zu Kyle. Sein Hals war ungeschützt und rot vor Kälte. Improvisieren konnte dieser nervtötende Mann – das musste sie ihm lassen.

Vorsichtig nahm sie Rods Hand aus der Schlinge und legte sie auf seinem Bein ab. Dann öffnete sie ihre Gürteltasche und holte ihre Schere heraus. „Ich muss den Ärmel aufschneiden.“

„Mann, das ist mein Lieblingshemd“, jammerte Rod, stimmte aber letztendlich zu.

Sorgsam schnitt Baylie in den Stoff. Der Bereich um sein Handgelenk war stark geschwollen.

„Wie ist das denn passiert?“

„Bin hingefallen und habe mich nach hinten mit den Händen abgestützt, um den Sturz zu bremsen.“

Sie nickte und sah zu Kyle, der wie ein Soldat über sie wachte und genauso freundlich aussah. „Die häufigste Verletzung hier.“

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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Jennifer Taylor
Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills &amp; Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...
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Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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