Julia Ärzte zum Verlieben Band 172

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DIE HEILENDE KRAFT DEINER KÜSSE von SUSAN CARLISLE
Zärtliche Küsse unterm Mistelzweig? Ein Tabu für Dr. Carter Jacobs! Zwar ist der Single-Dad bei der Weihnachtsfeier insgeheim von der hübschen Ärztin Liz bezaubert, doch nach seiner Scheidung hat er der Liebe abgeschworen. Wenn Liz ihn nur nicht so magisch anziehen würde …

KALTER SCHNEE – HEISSE LIEBE? von BECKY WICKS
Als Dr. Ophelia Lavelle über die Feiertage in einem Ski-Resort in Montana arbeitet, verliebt sie sich unsterblich in ihren sexy Kollegen Jax Clayborn. Ohne Zukunft? Plötzlich muss sie die Praxis ihres Vaters in New York übernehmen. Jax hingegen ist an Montana gebunden …

DAS ALLERSCHÖNSTE GESCHENK BIST DU von KATE HARDY
Dr. Alex Morgan ist so attraktiv wie abweisend. Als Danielle mit ihm die Weihnachtsfeier auf der Entbindungsstation organisieren muss, gesteht er ihr sein trauriges Geheimnis. Zutiefst berührt, verbringt sie spontan eine folgenreiche Nacht in seinen Armen …


  • Erscheinungstag 16.12.2022
  • Bandnummer 172
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511636
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Carlisle, Becky Wicks, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 172

1. KAPITEL

Dr. Liz Poole stand in einer Ecke des großen Raums und beobachtete die anderen Gäste der Veranstaltung. Ich habe hier nichts verloren. Ich bin nun mal keine Partymaus. Tatsächlich war sie immer noch so schlecht darin, mit anderen Menschen zu interagieren, wie als junges Mädchen. In Momenten wie diesen vermisste sie ihre Schwester Louisa am schmerzlichsten. Sie war stets diejenige gewesen, um die alle sich scharten, eine echte Stimmungskanone. Doch hierher wäre sie gar nicht erst mitgekommen. Es wäre ihr zu langweilig gewesen.

Eigentlich hatte Liz gar nicht herkommen wollen, sich dann aber doch von ihrer Sprechstundenhilfe Melissa dazu überreden lassen, an der Weihnachtsfeier teilzunehmen. Melissa predigte Liz ständig, sie müsse mehr ausgehen, geselliger sein, jemanden kennenlernen. Sonst würde sie noch zur Einsiedlerin werden, eine dieser Frauen, die niemanden hatten, außer einem Haus voller Katzen. Dabei hatte Liz nicht mal eine Katze. Um Melissa zumindest eine Zeit lang den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte sie sich dazu aufgerafft, die Party im Riverside Country Club in Decatur, Alabama zu besuchen. Bestimmt würde sie dort ein paar Leute von gemeinsamen Bereitschaftsdiensten irgendwelcher Veranstaltungen der Stadt kennen, oder?

Die Feier war von einem der örtlichen Unternehmen organisiert worden, als Dankeschön für alle Freiwilligen, die während des vergangenen Jahres bei Festivals und dergleichen ausgeholfen hatten. Liz arbeitete, so oft ihr Dienstplan es erlaubte, im Sanitätszelt. Ihr Privatleben war gewiss nicht so jämmerlich, wie ihre Mutter und Melissa glaubten.

Neben der ehrenamtlichen Tätigkeit war sie auch noch im Schach- und im Buchclub. Sie ging durchaus unter Leute!

Um etwas zu tun zu haben, nahm sie einen Schluck von ihrem sprudelnden rosafarbenen Drink. In ein paar Minuten sollte das Dinner serviert werden, und sobald das zu Ende war, würde sie sich davonstehlen. Bei der Vorstellung, sich beim Essen mit ihren Tischnachbarn unterhalten zu müssen, wurde ihr jetzt schon mulmig, und sie hielt verzweifelt nach jemandem Ausschau, den sie kannte und neben dem sie sitzen könnte. Warum hatte sie sich bloß breitschlagen lassen, herzukommen? Melissas Argumente dröhnten durch ihren Kopf. Weil es von Vorteil für deinen Job ist, für deine Stellung in der Gemeinschaft. Du musst mehr rauskommen. Zweifellos hatte sie recht, aber das war kein Trost.

Erst neulich hatte sie sich von ihrer Mutter anhören müssen, dass sie sich nicht so verkriechen sollte. Vielleicht würde es sie ja glücklich machen, dass Liz heute Abend hier war, das wäre immerhin etwas. Liz fand es zunehmend schwierig, ihrer Mutter, deren einziger Fokus im Leben sie war, irgendwas Recht zu machen.

Der Vorsitzende des Ortsverbands für ehrenamtliches Engagement klopfte an sein Glas, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Ich möchte allen danken, die heute Abend erschienen sind“, begann er. Dabei schaute er Liz direkt an.

Wahrscheinlich war er überrascht, sie hier zu sehen, da sie noch bei seinem Anruf am Vortag vehement abgelehnt hatte, wie so oft im Laufe der Jahre. „Wir bedanken uns für die Dienste, die Sie der Gemeinde im vergangenen Jahr geleistet haben und hoffen, dass Sie uns auch weiterhin hilfreich zur Seite stehen“, fuhr der Mann fort. „Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass in knapp zwei Wochen unsere traditionelle Christbaum-Flottille auf dem Fluss stattfindet und bitte diejenigen, die vorhaben, dabei zu helfen, nach dem Essen noch ein paar Minuten länger zu bleiben. So, und jetzt ist das Büfett eröffnet.“

Liz seufzte. Das war’s dann wohl mit meiner Chance, mich schnell abzuseilen. Sie hatte sich für den Sanitätsdienst während der Flottille eingetragen. Lustlos stellte sie sich in die Schlange vor dem Büfett, wo sie sich alsbald zwischen zwei Männern wiederfand. Der eine war ein älterer Herr mit stattlichem Bauch und roter Nase. Sie lächelte ihm kurz zu und warf dann einen Blick auf den hochgewachsenen Mann hinter sich, der sich gerade mit einem anderen Mann unterhielt. Er hatte eine nette Stimme. Warm und einladend.

Die runden Esstische waren mit roten Decken und grünen Tannenzweigen geschmückt, was Liz daran erinnerte, dass sie so langsam mit ihren eigenen Weihnachtsvorbereitungen beginnen sollte. Nach dem Tod ihres Vaters vor vier Jahren und dem ihrer Schwester vor etwas über einem Jahr waren die Feiertage nicht mehr so heiter wie früher. Doch diesmal wollte Liz wieder mehr Feststimmung. Das erste Weihnachtsfest ohne einen geliebten Menschen war immer das schwierigste.

Ein Stoß in ihren Rücken ließ sie taumeln, doch eine kräftige Hand packte sie am Arm, um sie zu stützen – ihr Körper reagierte auf die Berührung mit einem leichten Prickeln.

„Tut mir leid. Haben Sie sich wehgetan?“, hörte sie die tiefe Stimme, die ihr vor ein paar Sekunden so angenehm aufgefallen war.

Liz konnte die Wärme seiner Hand durch den Stoff ihrer Bluse hindurch spüren. „Nein, nein, alles in Ordnung.“

„Sind Sie sicher?“ Eindringlich schaute er sie mit seinen grünen Augen an. „Ich hatte wirklich nicht die Absicht, Sie beinahe zu Boden zu schlagen.“

„Mir geht es gut, ehrlich.“ Er schien ungefähr in ihrem Alter zu sein und überragte sie deutlich, was sie als überdurchschnittlich große Frau sehr zu schätzen wusste. Ausnahmsweise stand sie neben jemandem, der zu ihr passte. In der Schule hatte sie sich ständig Witze über ihre Größe anhören müssen, wusste auch, dass viele Jungs deshalb nicht mit ihr hatten ausgehen wollen. Außerdem hatte sie auch noch als Streberin gegolten – die Highschool war wirklich kein Spaß für sie gewesen. Damals hatte Louisa sie gerettet, aber die war jetzt nicht mehr da.

„Da bin ich aber froh. Offenbar kann ich nicht gleichzeitig reden und gehen. Oder ich gucke einfach nicht, wo ich hintrete.“ Er schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln, mit dem er zweifellos auch jede Polizistin dazu gebracht hätte, seinen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu zerreißen. Dass er gut aussah mit seinem welligen blonden Haar, das an den Seiten kürzer geschnitten war als oben, schadete natürlich auch nicht. Es waren Haare, die Frauen praktisch dazu aufforderten, ihre Finger hindurchgleiten zu lassen.

O Gott, sie hatte wirklich den Verstand verloren.

Er deutete nach vorn. „Wir sollten wohl besser weitergehen, sonst bewegt die Schlange sich um uns herum.“

„Ups“, japste sie. Während sie ihn anstarrte, hatte sich zwischen ihr und dem Mann vor ihr eine Lücke aufgetan. Hastig machte sie einen Schritt nach vorn.

Ihr Hintermann schloss zu ihr auf. „Ich heiße übrigens Carter Jacobs.“ Er streckte ihr die Hand hin.

„Liz Poole.“ Sie ergriff seine Hand, die sich groß und vertrauenerweckend um ihre schloss.

„Nett, Sie anzurempeln. Äh, ich meine, Sie kennenzulernen.“ Er grinste.

„Gleichfalls.“ Er war wirklich charmant. Sie ging weiter, um sicherzustellen, dass sich nicht wieder eine Lücke auftat, und schaute sich dann nach ihm um.

„Sind Sie oft auf dieser Art Veranstaltung?“, erkundigte er sich.

Unwillkürlich musste Liz grinsen. Die Frage konnte nur ernst gemeint sein, denn als Anmachmasche war sie nun wirklich so ziemlich das Abgedroschenste, was man sich vorstellen konnte. „Ehrlich gesagt, ist es die erste, zu der ich je gegangen bin.“

„Es ist auch meine erste. Ich bin noch ziemlich neu in der Stadt.“

Diesmal hatte sie Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Bestand sein gesamter Wortschatz aus Anmachsprüchen? „Willkommen in Decatur. Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier.“ Innerlich stöhnte Liz auf. Sie klang schon genauso lahm wie er.

„Meine Großeltern haben hier gewohnt, daher bin ich mit der Gegend vertraut.“

„Ich bin hier aufgewachsen.“

„Dann wissen Sie doch bestimmt alles, was hier abgeht.“ Er schaute ihr direkt in die Augen.

Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Flirtete er etwa mit ihr? Wenn ja, gefiel es ihr. „Ach, ich weiß nicht.“

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. „Arbeiten Sie oft ehrenamtlich?“

„Drei- oder viermal im Jahr. Normalerweise auf großen Veranstaltungen, wo Ärzte gebraucht werden.“

„Sie sind Ärztin?“ Er klang überrascht.

„Hals-Nasen-Ohren-Ärztin.“

„Eine HNO-Spezialistin. Mein Sohn verbringt reichlich Zeit bei Ihren Fachkollegen, obwohl sein Vater selbst Internist ist.“

„Sie sind auch Arzt! Die Welt ist doch klein.“ Jetzt fühlte sie sich in ihrem Element. „Als HNO kann man manchmal leider kaum mehr tun, als Schläuche einzuführen. Anders kommt man Infektionen oft nicht bei.“

„Das entspricht meiner Erfahrung. Aber wie die meisten Eltern will ich es nicht wahrhaben, trotzt meiner Ausbildung. Warum haben wir uns noch nie getroffen? Ich war hier schon auf einigen Veranstaltungen im Einsatz.“

„Das könnte daran liegen, dass ich bei den letzten beiden Events Bereitschaftsdienst hatte.“ Baggerte er sie an? Selbst wenn nicht, war es nett, von einem Mann beachtet zu werden. Das allein war es wert, heute Abend trotz aller Vorbehalte hergekommen zu sein.

Liz nahm einen Teller vom Stapel und schritt das Büfett ab. Carter folgte ihrem Beispiel, doch sie war lange vor ihm fertig. Da sie nicht den Eindruck erwecken wollte, sie ginge davon aus, dass er neben ihr sitzen wollte, hielt sie nach einem Platz Ausschau, ohne auf ihn zu warten. Eine Frau, die sie kannte, winkte sie an ihren Tisch, wo Liz sich auf den letzten freien Stuhl niederließ. Sie sah, dass Carter in ihre Richtung schaute, bevor er zu einem Tisch im hinteren Teil des Raums ging.

Carter zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, als er aus dem Gebäude trat. Durch die scharfe Brise vom nahen Tennessee River wirkte der kühle Dezemberabend noch kälter.

Der Parkplatz war beinahe leer, bis auf seinen SUV und einen Kleinwagen. Während er auf sein Auto zuging, sah er, dass die Frau mit dem hübschen Lächeln, die er in der Schlange vor dem Büfett angerempelt hatte, hinter dem Steuer des anderen Fahrzeugs saß. Sie wirkte ratlos.

Ein knirschendes Geräusch kam von ihrem Auto und Carter ging langsamer. Wieder dieses Geräusch. Er ging um den Wagen herum und näherte sich von vorn, damit sie ihn sehen konnte. Er hob eine Hand.

Ihre Augen weiteten sich. Er bedeutete ihr, das Fenster herunterzufahren, was sie nach kurzem Zögern auch tat. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Kann ich helfen?“

„Ich weiß nicht, was los ist. Es springt einfach nicht an“, sagte sie frustriert. „Vorhin war noch alles in Ordnung.“

„Versuchen Sie es noch mal“, bat Carter in der Hoffnung, dass er tatsächlich helfen konnte.

Dasselbe knirschende Geräusch vibrierte durchs Auto. Erwartungsvoll schaute Liz ihn an. Carter wünschte, er könnte ihr eine ermutigendere Auskunft geben, schüttelte aber den Kopf. „Die Batterie ist es nicht, aber mehr kann ich leider nicht sagen. Ich bin ein deutlich besserer Arzt als Mechaniker.“

„Trotzdem, danke für die Hilfe. Ich rufe den Abschleppdienst an.“

„Es ist zu kalt, um darauf zu warten.“

„Dann gehe ich wieder rein.“ Sie griff nach ihrer Handtasche.

„Beim Rausgehen habe ich gesehen, wie abgeschlossen wurde. Sogar die Leute vom Catering-Service sind schon weg. Ich kann Sie hier unmöglich allein zurücklassen.“

„Schon in Ordnung. Es sollte nicht allzu lange dauern, bis der Abschleppwagen hier ist.“

Hatte sie Angst vor ihm? Schließlich war er, abgesehen von ihrer kurzen Unterhaltung vorhin, ein Fremder für sie. „Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. Warum rufen Sie nicht einfach an, während ich warte?“ Er trat ein paar Schritte zurück, damit sie ungestört telefonieren konnte.

„Wirklich? So lange?“, sagte Liz in ihr Smartphone. Kurz darauf beendete sie das Gespräch.

Mitfühlend verzog er das Gesicht. „Das klang nicht gut.“

Sie warf das Handy in ihre Tasche. „War es auch nicht“, erwiderte sie genervt. „Es dauert über eine Stunde, bis sie hier sind.“ Beunruhigt starrte sie auf das dunkle Gebäude.

„Sie brauchen hier nicht allein zu warten. Es ist schon spät. Und weil morgen Schule ist, muss mein Babysitter demnächst aufbrechen. Ich weiß, dass wir einander nicht gut kennen, aber ich wünschte, Sie würden sich von mir nach Hause fahren lassen. Ich muss nur ganz kurz einen Zwischenstopp bei mir einlegen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich bleibe einfach hier im Auto und verriegele die Türen.“

„Und holen sich Frostbeulen.“ So furchterregend konnte er doch wohl nicht sein. „Nun kommen Sie schon, es ist viel zu kalt.“ Um sein Argument zu stützen, trampelte er ein paarmal mit den Füßen, um sich zu wärmen. „Ich schwöre, ich bin ein guter Mensch. Und Sie kennen mich zumindest besser als den Fahrer des Abschleppwagens.“

Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht.“

„Sie kennen also den Abschleppwagen-Fahrer?“

Sie bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, lächelte aber dann. „Nein, ich kenne ihn nicht.“

„Sehen Sie, mich kennen Sie besser. Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können und der in ein paar Minuten hier sein kann?“ Verstohlen warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Er musste dringend los.

„Nicht wirklich. Meine Mutter ist heute Abend unterwegs, und meine Sprechstundenhilfe wohnt dreißig Minuten entfernt.“ Ihre klägliche Miene rührte sein Herz.

„Dann kommen Sie schon. Sie haben keine andere Wahl. Ich muss sie nach Hause bringen. Wenn Sie sich damit besser fühlen, können Sie jemanden anrufen und durchgeben, wer ich bin, wohin wir fahren und was los ist. Lassen Sie das Handy die ganze Zeit an.“

Liz atmete tief durch und schaute noch einmal zu dem verschlossenen Gebäude. „Ich rufe meine Sprechstundenhilfe an.“

Carter hörte zu, während sie ihre Notlage erklärte.

„Melissa möchte Ihre Adresse haben.“

Er nannte sie ihr. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und senkte die Lider. „Ja“, sagte sie ins Telefon.

Wenn das Licht nicht so schlecht gewesen wäre, hätte er seinen Verdacht überprüfen können, dass sie errötet war. Was hatte Melissa sie gefragt?

„Ich rufe dich an, sobald ich zu Hause bin. Versprochen.“ Sie legte auf, griff nach ihrer Tasche, stieg aus und schloss ihr Auto ab. „Auf dem Weg rufe ich den Abschleppdienst und sage denen, wohin sie den Wagen bringen sollen. Ich wohne nicht weit entfernt, ungefähr zwanzig Minuten von hier.“

„Mein Haus liegt etwas weiter weg, aber ich halte den Zwischenstopp so kurz wie möglich.“ Er ging auf seinen SUV zu.

Sie zögerte. „Ich bin immer noch nicht sicher.“

„Entweder Sie kommen mit, oder ich rufe die Polizei.“ Er hasste es, sie zu erpressen, aber sein Gewissen ließ auch nicht zu, sie hier zurückzulassen. Er musste unbedingt nach Ryan sehen. Sein Sohn war von seiner Mutter schon viel zu oft im Stich gelassen worden, und Carter wollte auf keinen Fall, dass Ryan sich Sorgen machte, sein Vater könnte dasselbe tun. Seinem Sohn gegenüber Wort zu halten, war wichtiger als alles andere.

Ergeben ließ Liz die Schultern sinken. „Nicht nötig. Ich komme mit. Es ist mir nur furchtbar unangenehm, Ihnen zur Last zu fallen.“

„Kein Problem.“ Carter öffnete seinen Wagen und hielt ihr die Beifahrertür auf, bis sie einstieg. „Das kriegen wir schon hin.“

Wenige Minuten später waren sie auf dem Highway. Liz erledigte ihr Telefonat, danach entstand ein unbehagliches Schweigen. Carter schaute zu ihr herüber und sah, dass sie so angespannt dasaß, als wäre sie bereit, jeden Moment aus dem Wagen zu springen.

Bei ihrer ersten Begegnung war ihm ihre Größe aufgefallen. Sie hatte superlange Beine, die sich gewiss geschmeidig um einen Mann schlingen konnten. Ups, solche Gedanken sollte er nicht über eine Frau hegen, die er praktisch nicht kannte. Hatte er so lange keinen Sex mehr gehabt, dass ihm der Verstand flöten ging? Davon abgesehen, gefiel ihm, dass er sich nicht herunterbeugen musste, um mit ihr zu reden. Und obwohl sie einen gediegenen schwarzen Hosenanzug trug, erkannte er, dass sie über hübsche weibliche Kurven verfügte und sich unter ihrer roten Bluse anziehend volle Brüste verbargen.

Sie war ihm unsicher vorgekommen, als sie in der Schlange vorm Büfett zusammenstießen. Tatsächlich war er überrascht gewesen, dass sie sich überhaupt mit ihm unterhalten hatte. Er mochte die Art, wie sie kicherte. Wie ein junges Mädchen. Ansteckend. Er hatte viel zu lange nicht mehr mit einer Frau gelacht. „Wo genau wohnen Sie eigentlich?“

„In Ridgewood. Noch ein Stück weiter in diese Richtung, aber da vorn müssen Sie rechts abbiegen.“ Sie deutete nordwärts auf eine größere Ausfahrt.

„Dann sind wir gar nicht so weit auseinander. Ich wohne in Mooresville.“

„Davon habe ich gehört, war aber noch nie dort.“

Er spürte, dass sie ihn anschaute. „Es ist so klein, dass man es schnell verpasst. Auf der anderen Seite des Flusses und ein Stück abseits des Highways. Wir brauchen nicht lange bis dorthin. Ich bringe Sie schnell nach Hause, versprochen.“

Wieder verfiel Liz in Schweigen. Etwas an ihrem Verhalten ließ ihn vermuten, dass sie noch nie mit einem unbekannten Mann irgendwohin gegangen war. Sie kam ihm wirklich nicht wie eine Frau vor, die Typen in Bars abschleppte. Vielmehr hatte er das Gefühl, dass sie anderen gegenüber misstrauisch war. Als wäre sie schon zu oft verletzt worden.

Außerdem war ihm aufgefallen, dass sie dunkelbraunes Haar und dunkle, ausdrucksvolle Augen hatte. Soweit er sah, gab es keinen einzigen Grund, warum ein Mann nicht den Wunsch hegen sollte, sich an sie heranzumachen. Sogar er würde das wollen, wenn er denn auf der Suche wäre. Was er nicht war. Dafür hatte seine Ex-Frau gesorgt. Er sehnte sich nur noch nach Frieden und Sicherheit, und beides hatten er und Ryan gefunden, nur sie beide. Aber wäre es tatsächlich so schlimm, wieder mal Zeit mit jemandem zu verbringen, der sich über andere Dinge unterhalten konnte als die neuesten Comics?

Während sie die Brücke überquerten, konnte er sich den ein oder anderen Seitenblick nicht verkneifen. Dabei sollte er sich besser aufs Fahren konzentrieren. „Wo haben Sie denn Ihre Praxis?“

„In der Innenstadt, nahe dem Krankenhaus, in einem der älteren Backsteingebäude, die vor einiger Zeit renoviert wurden.“

„Die kenne ich. Meine Praxis ist im Medizinzentrum, ungefähr eine Meile entfernt. Kaum zu glauben, dass wir uns noch nie begegnet sind.“

„So was kommt vor.“ Wieder verfiel sie in Schweigen.

„Wir sind fast da.“ Er bog vom Highway ab, und kurz darauf kamen sie an dem historischen Hinweisschild für Mooresville vorbei. Wieder schaute er zu Liz hin und sah, dass sie sich interessiert vorbeugte und durch die Windschutzscheibe starrte. „Sie können nicht viel erkennen, weil wir hier keine Straßenbeleuchtung haben“, sagte er. „Sie müssen mal bei Tageslicht herkommen. Es lohnt sich.“

„Das sollte ich wohl mal tun. Aber warum leben Sie hier und nicht in der Stadt, wo Sie arbeiten?“

„Als meine Großeltern nach Florida zogen, habe ich ihnen das Haus abgekauft. Ich wollte, dass mein Sohn an einem Ort aufwächst, wo die Nachbarn einander kennen.“ Er lachte leise. „Dabei bin ich möglicherweise etwas übers Ziel hinausgeschossen. Der Ort ist wirklich winzig, aber man achtet definitiv aufeinander.“

„Es wirkt wie ein sicherer Hafen für eine Familie. Was wird Ihre Frau denken, wenn Sie mit einer fremden Frau auftauchen?“

„Ich bin geschieden. Seit vier Jahren.“ Und mit jedem Jahr wurde es einfacher, das auszusprechen.

„Tut mir leid.“

Ihm tat es nicht leid. Abgesehen von Ryan, war seine Ehe die Hölle gewesen. Ein Fehler, den er nicht wiederholen würde. Er umrundete den großen Marktplatz, bog erst nach rechts ab und dann sofort wieder nach links auf den Kieselparkplatz hinter seinem Haus.

„Wie schön!“ Liz verrenkte den Hals, um das zweistöckige Gebäude durchs Seitenfenster betrachten zu können.

Er grinste. „Ich bin selbst ganz begeistert davon. Auch wenn es um diese Jahreszeit manchmal ganz schön zieht und einiges daran zu machen ist. Mit zunehmendem Alter fiel es meinen Großeltern immer schwerer, den Kasten in Schuss zu halten. Aber nach und nach bringe ich alles wieder in Ordnung.“ Er öffnete die Tür. „Ich brauche nur ein paar Minuten. Wollen Sie kurz reinkommen oder lieber hier warten?“

„Ich warte hier.“

„Okay, bis gleich.“ Er stieg aus und schlug die Wagentür zu.

Liz beobachtete, wie Carter zur hinteren Treppe lief. Nur Verzweiflung konnte sie dazu bewogen haben, mit einem Fremden davonzufahren. Oder einem fast Fremden. Schließlich konnte Carter kein allzu schlechter Mensch sein, wenn er in diesem Ort lebte.

Wieder betrachtete sie das Haus, ein weiß gestrichenes Schindelgebäude, das ihrer Schätzung nach ungefähr hundert Jahre alt sein musste. Es hatte hohe Fenster, durch die Licht auf eine Veranda mit Holzgitter fiel, in deren Mitte sich eine Feuerstelle befand – umgeben von Stühlen, darunter einer in Kindergröße.

Wie versprochen kehrte Carter schnell zurück, einen kleinen Jungen im Arm, der in eine Decke gewickelt war. Ein junges Mädchen folgte ihm aus dem Haus. Liz drehte sich zur Rückbank um und sah zu, wie Carter den Kleinen in einen Kindersitz auf der Fahrerseite setzte. Der Junge, der jetzt schon vermuten ließ, dass er seinem Vater einmal sehr ähneln würde, musterte sie aufmerksam.

Carter schien die Neugier seines Sohns zu spüren, denn er schaute zu ihr hin. „Ryan, das ist Dr. Poole. Sie ist eine neue Freundin. Ihr Auto ist nicht angesprungen, deshalb bringen wir sie nach Hause.“

„Hallo, Ryan, schön, dich kennenzulernen.“ Liz schenkte ihm ihr beruhigendes Patienten-Lächeln.

„Hi“, erwiderte er nach kurzem Zögern.

„Schnall dich an, Ryan.“ Carter schloss die hintere Tür und setzte sich hinters Steuer.

Ryan gehorchte. Der Teenager stieg neben ihm ein. „Liz, das ist Betsy, meine Babysitterin“, sagte Carter.

Liz drehte sich in ihrem Sitz, um das Mädchen anschauen zu können. „Hallo.“

Betsy lächelte scheu.

Sie erinnerte Liz an sich selbst in dem Alter. Schmerzlich.

„Okay, sind alle drin? Betsy, dich liefere ich zuerst ab, danach Liz. Dann geht’s wieder ab ins Bett, Ryan.“

„Sie mussten ihn extra aus dem Bett holen?“, rief Liz unangenehm berührt. „Das tut mir leid. Ich hätte einfach in meinem Auto warten sollen.“

„Kein Problem.“ Er tätschelte kurz ihre Schulter, zog seine Hand aber schnell wieder zurück. Trotzdem löste die Berührung ein Prickeln bei ihr aus. „Er hat noch nicht geschlafen und hält das Ganze für ein Riesenabenteuer.“

„Daddy, können wir auf dem Rückweg ein Eis kaufen?“, fragte der Junge.

Carter lachte leise. Sie mochte den Klang. Er erinnerte sie an die Ausläufer eines Echos, sanft und beiläufig.

„Ich glaube, für Eis ist es schon ein bisschen spät. Wie wär’s mit einem heißen Kakao, bevor du wieder ins Bett gehst?“

Der Kleine schien sich den Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. „Okay“, sagte er dann. „Aber ich mag Eis lieber.“

Wieder lachte Carter auf diese wohltönende Art. „Ich auch“, gab er zu und bog in eine Seitenstraße ab. Vor der zweiten Auffahrt hielt er an. „Vielen Dank, Betsy. Ich rufe dich an, dann bereden wir, wann du während der Ferien auf Ryan aufpassen kannst.“

„Okay“, antwortete das Mädchen leise.

„Und denk dran, deinen Eltern zu sagen, dass sie bei unserer Gemeinde-Weihnachtsfeier am Samstagabend herzlich willkommen sind. Bis bald.“

„Tschüss, Betsy“, rief Ryan.

„Tschüss.“ Sie stieg aus dem SUV.

Carter wartete, bis sie im Haus war, und setzte dann zurück.

„Ich weiß Ihren Taxiservice wirklich zu schätzen“, versicherte Liz.

„Ich hätte Betsy ohnehin nach Hause bringen müssen. Sie sind diejenige, die Geduld aufbringen muss, bis sie endlich am Ziel ist.“

„Mir blieb ja keine andere Wahl.“ Betroffen hielt sie inne. Wie kam sie zu einer derart unhöflichen Bemerkung? „Tut mir leid. Das klang sehr undankbar.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Keine Angst, so kam es nicht bei mir an.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Rückspiegel. „Wie war’s heute Abend, Ryan?“

„Wir haben Fernsehen geguckt und Pizza gegessen. Magst du Pizza?“

„Das weißt du doch.“

„Nein, ich meine sie.“

Als Liz sich umdrehte, sah sie, dass er mit einem Finger in ihre Richtung deutete. „Ja, sehr sogar.“

„Was für eine Sorte?“, wollte der Junge wissen.

„Beinahe jede, aber am liebsten mit viel Salami. Und du?“

„Käse“, antwortete er so begeistert, dass sie lächeln musste.

„Ich unterbreche diese Unterhaltung nur ungern“, warf Carter belustigt ein, „aber ich muss wissen, wohin es geht.“ Sie fuhren wieder auf die Stadt zu.

„Biegen Sie an der dritten Ampel rechts ab.“

Zehn Minuten später hielten sie vor dem verschlossenen Tor ihrer Wohnanlage. Carter tippte den Code ein, den sie ihm nannte. Verglichen zu seinem Haus kam es ihr hier plötzlich merkwürdig steril vor. „Das dritte Gebäude auf der rechten Seite.“

Er hielt davor an und stellte den Motor aus. „Ich bringe Sie noch zur Tür.“

„Das ist nicht nötig. Sie sollten Ryan nicht allein lassen.“ Sie zog ihre Schlüssel aus der Handtasche. „Vielen Dank noch mal fürs Herbringen. Was schulde ich Ihnen für die Mühe?“

Er fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. „Nichts.“

„Ich muss etwas tun, um mich zu bedanken. Hätten Sie und Ryan Lust, am Samstag Pizza essen zu gehen? Ich lade Sie ein.“

„O ja“, kam es vom Rücksitz.

Doch Carter schüttelte den Kopf. „Das klingt nett, aber wir können leider nicht.“

Enttäuschung stieg in ihr auf. War ja klar. Da preschte sie einmal vor, und was passierte? Sie bekam einen Korb. Es sollte nicht so wehtun, tat es aber.

„Wir haben eine Gemeindeveranstaltung, auf der wir beide sein müssen. Hey, warum kommen Sie nicht mit? Ryan und ich hätten Sie gern als unseren Gast dabei.“

Das konnte sie nicht machen. Sie konnte unmöglich mit Carter zu einer Nachbarschaftsparty gehen. Was würden die Leute denken? Würden sie vermuten, dass sie mit Carter zusammen wäre? „Eigentlich wollte ich ja Ihnen etwas Gutes tun.“

„Es ist eine Art Weihnachts-Rundgang. Zuerst gibt’s ein Mitbring-Büfett und Grillen nur für die Nachbarn, dann darf jeder, der mag, einige historische Häuser und die Kirche besichtigen. Und Weihnachtslieder werden gesungen. Ich glaube, das würde Ihnen gefallen.“

Zumindest klang es besser als gedacht, und sie würde Mooresville wirklich gern bei Tageslicht sehen. „Ich weiß nicht recht. Ich möchte nicht im Weg sein.“

„Das werden Sie nicht, versprochen“, versicherte Carter ihr angelegentlich. „Es sind viele Leute dabei, die nicht in Mooresville leben. Kommen Sie auch. Sie werden es nicht bereuen.“

„Soll ich etwas mitbringen?“ Zog sie wirklich in Erwägung, an dieser Veranstaltung teilzunehmen?

„Wenn Sie sich damit besser fühlen, dann gern. Falls Sie sich entschließen zu kommen, sollten Sie gegen drei Uhr nachmittags da sein. Wir essen früh, damit wir, bevor es mit dem Programm losgeht, noch aufräumen können.“

„Ich überlege es mir. Aber vielleicht muss ich arbeiten. Noch mal vielen Dank, dass Sie mich gefahren haben.“ Sie stieg aus. „Tschüss.“

Während sie ins Haus ging, fuhr Carter los. Dieser Abend war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Überrascht stellte sie fest, dass ihr das gefiel.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen war sie immer noch ziemlich baff, dass sie Carter und Ryan in die Pizzeria eingeladen hatte. Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, fremde Menschen dazu zu animieren, mit ihr zu Abend zu essen. Aber sie wollte sich einfach irgendwie bei Carter bedanken, nachdem der sich solche Umstände gemacht hatte, um ihr zu helfen. Die impulsive Pizza-Einladung war ihr über die Lippen gekommen, ohne nachzudenken.

Noch seltsamer war, dass sie tatsächlich in Erwägung zog, zu diesem Dorffest zu gehen. Sie wollte Mooresville gerne wiedersehen. Und Carter. Es war schon lange her, seit sie einen Mann getroffen hatte, der sie interessierte.

Kaum hatte sie die Beifahrertür geöffnet, begann Melissa, die sich passend zu ihrem violetten Schwesternkittel eine pinkfarbene Strähne ins Haar gefärbt hatte, sie auszufragen. „Na also, da hast du dir ja einen edlen Ritter angelacht.“

Energisch den Kopf schüttelnd, stieg Liz in den Wagen ihrer Sprechstundenhilfe.

Melissa grinste. „Habe ich nicht gesagt, dass es dir guttun würde, zu der Party zu gehen? Los, raus mit den Details! Du hast gesagt, dass er gut aussieht. Wie gut genau?“

„Er ist groß …“

„Ach, komm schon. Das kannst du besser. Hat er träumerische Augen? Einen süßen Hintern?“ Sie warf ihr einen Seitenblick zu und wackelt vielsagend mit den Brauen. „Große Hände?“

Liz lachte.

„Nun?“

Hitze kroch ihren Nacken hoch. „Okay, ja, das alles.“

„Oh, wow! Das ganze Paket. Gut gemacht“, rief Melissa anerkennend.

„Da war gar nichts“, wiegelte Liz ab.

„Wer sagt, dass das so bleiben muss?“

„Er hat mich nur nach Hause gefahren, das ist alles. Und zu einem Nachbarschaftsfest nächsten Samstag eingeladen, aber ich weiß nicht, ob ich hingehe.“

Glücklicherweise hielten sie gerade an einer roten Ampel, denn Melissa funkelte Liz genervt an. „Spinnst du? Natürlich gehst du zu diesem Nachbarschafts-Dingsbums, und er erkennt, wie großartig du bist und eh du dichs versiehst, seid ihr verliebt.“ Melissas Begeisterung war regelrecht ansteckend.

„Du solltest damit aufhören, in der Mittagspause diese Liebesromane zu lesen“, erwiderte sie.

„Und du solltest endlich anfangen, daran zu glauben, dass es da draußen jemanden gibt, der dich glücklich machen kann. Zeig deiner Mutter, dass du genauso etwas Besonderes bist, wie deine Schwester es war.“

Das war natürlich Unsinn, dachte Liz pragmatisch. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie unsichtbar sie wurde, sobald Louisa in der Nähe war. Ihre Schwester hatte immer im Mittelpunk gestanden – oder verlässlich dafür gesorgt, dass dem so war. Liz hatte keine Probleme damit gehabt, weil Louisas Sog sie ebenfalls unter Leute brachte. Ohne ihre Schwester fiel es ihr unglaublich schwer, auf andere zuzugehen. Falls sie tatsächlich am Samstag zu diesem Fest ging, wäre sie ganz auf sich allein gestellt. Ein verstörender Gedanke.

Kurz vor der Mittagspause klingelte ihr Telefon. Ein Dr. Jacobs wolle sie sprechen, meldete die Zentrale.

Carter. Mit zitternden Fingern nahm Liz den Anruf an. „Dr. Poole.“

„Ich bin’s, Carter. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie problemlos zur Arbeit gekommen sind.“

Sie räusperte sich. Es war wirklich süß von ihm, sich danach zu erkundigen. „Danke, ja. Meine Sprechstundenhilfe hat mich heute Morgen eingesammelt.“

„Sehr gut. Und Ihr Auto ist sicher in der Werkstatt gelandet?“

„Ja, danke.“ Sie war nicht an diese Art Aufmerksamkeit gewöhnt. Es war nett, aber auch beunruhigend. „Meine Mom holt mich heute Nachmittag ab und fährt mich zur Autovermietung, dann hole ich mir für ein paar Tage einen Wagen.“

„Gut. Ich bin froh, dass Sie einen Menschen haben, auf den Sie sich verlassen können.“

Hatte ihn jemand enttäuscht?

„Außerdem wollte ich Sie noch mal zu unserer Veranstaltung am Samstag einladen. Es wäre eine tolle Gelegenheit, etwas über Mooresville zu erfahren.“

Warum legte er so viel Wert darauf, dass sie dabei war? Sie hatten einander gerade erst kennengelernt, und doch klang er, als sei es ihm wichtig, dass sie kam. „Ich versuche es.“

„Prima. Das Komitee könnte eine unvoreingenommene Meinung zu dem gebrauchen, was wir mit dem Ort vorhaben.“

Das war es also. Er interessierte sich für ihre Ideen. Hatte er nicht ebenso nachdrücklich darauf bestanden, dass Betsys Eltern an der Veranstaltung teilnahmen? Sie wusste nicht so genau, wie sie sich damit fühlen sollte. Offenbar wäre es ihr lieber gewesen, wenn er sie eingeladen hätte, weil er sie gern wiedersehen würde. Eine interessante Erkenntnis.

„Dann bis Samstag.“

Er machte es ihr wirklich schwer, nicht hinzugehen. Nach all den Umständen, die er sich gestern Abend ihretwegen gemacht hatte, fühlte sie sich verpflichtet, etwas Nettes für ihn zu tun. Also würde sie, sofern nichts dazwischenkam, hingehen. „Ja, wenn ich nicht in letzter Minute Bereitschaftsdienst aufgedrückt bekomme. So, und jetzt muss ich weitermachen, tut mir leid. Patienten warten.“

„Hier auch. Ich hoffe, wir sehen uns Samstag.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb Liz einen Augenblick gedankenverloren sitzen. Sie hatte den Großteil ihres Lebens in Louisas Schatten verbracht, unbemerkt, es sei denn, ihre Schwester hatte ausdrücklich auf ihre Existenz hingewiesen. Sie selbst hatte sich nie groß um Aufmerksamkeit bemüht, weil sie es schlicht nicht brauchte, solange Louisa da war und das für sie übernahm. Außerdem war Liz früh klar geworden, dass die meisten Leute ihre Intelligenz abschreckend fanden. Aber Carter schien sie wirklich zu sehen, warum auch immer, und es fühlte ich gut an. Und beunruhigend. Wollte er etwas von ihr, das ihr entgangen war? Könnte er einfach nur ein netter Typ sein? Vielleicht war er ja ein netter Typ. Was auch immer dahintersteckte, sie würde es genießen, solange es anhielt.

„Du musst hingehen“, rief Melissa, als sie ihr von dem Anruf erzählte. „Ich habe nie verstanden, warum du dich so abschottest. Du bist eine der attraktivsten und kompetentesten Frauen, die ich kenne.“

Liz wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. Versteckte sie sich wirklich? Eigentlich hatte sie gelebt wie immer, nur, dass es keine Louisa mehr gab, die sie mitzog. War es vielleicht einfach bequemer gewesen, gar nicht erst die Anstrengung zu unternehmen, neue Leute kennenzulernen?

„Ich weiß, was wir machen, um dieser Sache auf die Sprünge zu helfen“, fuhr Melissa fort. „Freitagnachmittag haben wir geschlossen, also gehen wir zum Friseur und zur Maniküre und kaufen dir danach irgendwas Heißes, das du zu deiner Jeans tragen kannst.“

„Ich muss jede Menge Papierkram erledigen“, wandte Liz ein.

„Papierkram kann warten. Wann bist du das letzte Mal mit einem Mann ausgegangen?“

Liz schämte sich ein bisschen, es zuzugeben. „Vor zwei Jahren.“

„Wow. Dann sollte das hier wirklich gut laufen. Du magst ihn, stimmt’s?“

Ja, sie mochte ihn. Mehr als sie gedacht – oder gewollt – hatte. Liz nickte.

„Dann gib dir Mühe. Gönn dir zur Abwechslung mal was. Du hilfst hier jeden Tag allen möglichen Leuten, bist jedes Wochenende freiwillig im Einsatz, spielst Schach mit Senioren und springst, wenn deine Mutter es dir befiehlt. Denk ausnahmsweise mal an dich.“ Melissa klang gleichzeitig flehend und verärgert.

Sie zog Liz vor einen Wandspiegel und schaute über ihre Schulter hinein. „Würde es dich umbringen, dir ein bisschen mehr Mühe zu geben? Nun komm schon, Liz. Riskier es! Sei einmal mutig. Du kannst das.“ Sie grinste. „Denk daran, wie nett du sein Lächeln findest.“

„Okay.“ Liz seufzte. „Dir zuliebe.“

„Nein. Dir zuliebe.“

„Na schön. Auch mir zuliebe.“ Sie trat vom Spiegel zurück.

„Du musst mehr an dich denken. Mehr rauskommen. Den Leuten eine Chance geben, dein wahres Ich kennenzulernen. Schlag dir deine Mutter aus dem Kopf. Geh auch mal ein Risiko ein. Leb ein bisschen.“

War Liz wirklich so wenig ansprechbar für Männer geworden, dass sie sich wie ein verschreckter Troll verkrochen hatte? Das war nicht ihre Absicht gewesen. Sie würde versuchen, sich zu ändern. Ernsthaft versuchen.

Den Rest der Woche verbrachte sie damit, ausreichend Mut zusammenzukratzen, um Carters Einladung anzunehmen.

Samstagnachmittag musste sie sich mehrfach in Erinnerung rufen, dass sie sich besser auf die Straße konzentrieren sollte als auf ihr Herz, das immer wilder hämmerte, je mehr sie sich Mooresville näherte. Sie machte das hier tatsächlich.

Wie Carter ganz richtig bemerkt hatte, sah Mooresville bei Tageslicht anders aus. Kaum war sie von der Hauptstraße abgefahren, fand sie sich einem ausgedehnten grasbewachsenen Platz gegenüber, auf dem sich ein großer Backsteinbau erhob. Aus dem Gedächtnis folgte sie den Abbiegungen zu Carters Haus, hinter dem sie parkte. Louisa hätte Mooresville langweilig gefunden, ihr Interesse galt neuen, aufregenden Dingen. Liz liebte die alten Häuser hier. Louisa hätte sie gehasst.

Nachdem niemand auf ihr Klopfen an der Hintertür reagierte, nahm Liz ihren Kuchenteller, ging um das Haus herum und blieb kurz stehen, um die Vorderseite näher in Augenschein zu nehmen. Die Veranda wirkte gemütlich und einladend, ein Ort, wo sich die Familie an sonnigen Nachmittagen versammeln und Freunde treffen konnte. Nichts hier konnte man als kühl oder durchschnittlich bezeichnen, ganz anders als ihre eigene Wohnung.

An der Haustür prangte ein Adventskranz mit riesiger roter Schleife, in den Fenstern rechts und links daneben hingen kleinere Kränze. Die Tür selbst wurde von zwei Kübeln voller grüner Zweige und Tannenzapfen flankiert. Kissen mit rotgrünem Weihnachtsmuster schmückten die Korbstühle auf der Veranda und sogar die Sitzfläche einer Schaukel. Carter hatte sich mit der Dekoration wirklich Mühe gegeben. Ein interessanter Charakterzug bei einem alleinerziehenden Vater, damit hätte sie nicht gerechnet.

Sie ging über den zentralen Platz auf ein braunes Schindelgebäude zu. Dort standen bereits einige Leute plaudernd zusammen, während andere dabei waren, das Büfett herzurichten. Ein paar Kinder, die Fangen spielten, rannten an ihr vorbei, unter ihnen Ryan, der stehen blieb, um sie einen Moment lang zu mustern. Lächelnd winkte sie ihm zu und setzte dann, ihrer Nervosität zum Trotz, weiter einen Schritt vor den anderen, auf die Gruppe der Erwachsenen zu.

Wenn sie jetzt umdrehte, würde Carter nie erfahren, dass sie hier gewesen war. Es sei denn, Ryan erzählte es ihm. Sie fühlte sich tatsächlich beklommener als bei den meisten medizinischen Notfällen, die sie bewältigt hatte. Energisch straffte sie die Schultern und marschierte weiter.

„Liz, wie schön, dass Sie es geschafft haben.“ Carter kam auf sie zu. Sein breites Lächeln deutete darauf hin, dass er gleichzeitig erfreut und ein wenig überrascht war, sie hier zu sehen. Über seinem grünen Fleece-Pullover und den Jeans trug er eine lange Schürze, die mit einem flammenden Grill bedruckt war und seine Augen sehr attraktiv zur Geltung brachte. Liz blinzelte. Ihr Herz raste. Carter sah glücklich, gesund und überaus männlich aus. Alles an ihm brachte sie dazu, von einem Was-wäre-wenn zu träumen.

„Ja.“ Sie schaute zu den anderen Leuten, die sie beobachteten. Alle hatten ein Lächeln im Gesicht, das Liz erwiderte.

Eine Frau in mittlerem Alter trat näher. „Ich nehme Ihnen das ab.“

Dankbar reichte Liz ihr den Kuchenteller.

„Sie sehen gut aus“, bemerkte Carter. „Haben Sie Ihre Haare schneiden lassen, seit wir uns zuletzt gesehen haben?“

„Ja.“ Jetzt war sie froh, dass sie sich die Zeit genommen hatte. Dass es Carter aufgefallen war, verlieh ihr neues Selbstvertrauen.

Aufmerksam betrachtete er sie. „Sie sehen wirklich gut aus.“

„Hey, Carter“, rief ein Mann, der einen der beiden Grills betreute. „Du solltest besser wieder hier antanzen, bevor diese Würstchen zu Briketts verkohlen.“

„Kommen Sie mit, dann können wir reden, während ich mich um den Grill kümmere.“ Grinsend wandte er sich zum Gehen.

Liz folgte ihm, auch wenn sie nicht wusste, worüber sie mit ihm reden sollte.

Er schnappte sich eine Grillzange und bezog wieder Stellung hinter dem Grill. „Hey, Leute, das ist Liz Poole. Ich habe sie eingeladen.“

Ein paar der Anwesenden riefen „Hallo“. Liz nickte ihnen zu und hielt so viel Blickkontakt wie möglich.

„Ich freue mich wirklich, dass Sie beschlossen haben, herzukommen.“ Carter drehte zwei Würstchen um, die er denen hinzugefügt hatte, die bereits auf dem Rost lagen. „Was für einen Kuchen haben Sie mitgebracht?“

„Apfel.“

„Oh, meine Lieblingssorte. Ein bisschen Vanilleeis dazu, und ich bin im Paradies.“ Er stieß einen genüsslichen Laut aus, den sie tief in ihrem Körper spürte.

„Für Männer geht’s am Ende immer ums Eis“, erwiderte Liz, ohne nachzudenken. Hoffentlich fasste er das nicht als Kritik auf. „Mein Vater konnte gar nicht genug davon kriegen.“

„Genauso gehört sich das“, scherzte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Grill zu.

Liz musterte das schmale, langgestreckte Holzgebäude, vor dem sie sich befanden. Neben einer der beiden rot verbrämten Türen war eine Stange befestigt, an der die US-Flagge wehte. Vor dem Haus gab es einen kleinen gepflasterten Bereich mit zwei einander gegenüberstehenden Bänken. „Das ist eine interessante Konstruktion.“

„Die Post. Eines von vier Original-Gebäuden aus dem Jahr 1818.“ Stolz schwang in seiner Antwort mit.

„Carter, haben wir noch einen zweiten Topf für die Hotdogs?“, fragte der Mann am anderen Grill.

Da er wieder anderweitig beschäftigt war, nahm Liz ihre Umgebung genauer in Augenschein und erkannte nun, dass das Städtchen nach einer Art Raster angelegt worden war. Es gab zwei zentrale Hauptplätze, die auf jeder Seite von zwei Straßen gerahmt wurden. Auf Carters Seite des Platzes standen nur vereinzelte Gebäude, während sich auf der gegenüberliegenden etliche Häuser hinter Lattenzäunen aneinanderreihten. Aber auch dort gab es noch freien Raum. Zweifellos waren die Gebäude, die einst auf diesen Grundstücken standen, im Laufe der Zeit verschwunden. Mooresville war wirklich ein ganz bezaubernder historischer Ort, fand Liz.

„Aua!“

Liz fuhr herum und sah, wie sich ein älterer Mann vor einem großen Topf zusammenkrümmte. Um ihn herum breitete sich eine Lache heißes Öl aus. Sie eilte zu ihm, jetzt nur noch auf den Mann fokussiert, und spürte, wie ihr im Rücken der Schweiß ausbrach. „Haben Sie sich verletzt?“

Andere drängten sich um sie. Der Mann riss an seinem Sweatshirt, versuchte es auszuziehen.

„Lass mich helfen.“ Carter streifte ihm den Pulli ab, darunter tauchte ein weiteres langärmeliges Oberteil auf. Der Verletzte begann, daran zu zerren.

„Lassen Sie das!“, warnte Liz. „Hat irgendwer ein Taschenmesser?“ Als jemand ihr eins reichte, drückte sie es Carter in die Hand. „Schneiden Sie es auf.“

Er nickte. „John“, sagte er zu dem Mann. „Ich schneide jetzt dein T-Shirt auf. Damit muss Karen leben.“

Liz hielt das Shirt weg von Johns Haut, und Carter setzte vorsichtig die Klinge an. „Ziehen Sie den Stoff ab, während ich schneide“, wies er sie an.

Sie tat wie geheißen, sorgsam darauf bedacht, die Wunde nicht zu berühren.

Als kalte Luft auf die Verbrennung traf, keuchte John und zuckte unwillkürlich zusammen.

„Halten Sie bitte still“, sagte Liz. „Ich muss mir das anschauen. Ich bin Ärztin“, informierte sie ihn.

Der Mann hörte auf, sich zu bewegen, griff aber mit der freien Hand nach der schmerzenden Stelle.

„Nicht anfassen“, rief Liz. „Die Haut darf sich nicht lösen, sie schützt die verletzte Stelle und sorgt dafür, dass sie sich nicht entzündet.“

Carter entfernte den kompletten Ärmel des Shirts, und Liz sah, dass sich eine tiefrote Brandwunde über Johns gesamten Unterarm zog. Mitfühlend verzog sie den Mund. „Da gehört sofort Eis drauf.“

„Ich hole einen Beutel“, erbot sich eine Frau.

Liz wandte sich an Carter. „Das muss gesäubert und versorgt werden. Wir brauchen Wasser und Seife. Und Verbandszeug.“

„Wir gehen zu mir.“ Carter wandte sich einem der Umstehenden zu. „Stan, kümmerst du dich um den Grill?“

Die Frau kehrte mit einem Eisbeutel zurück, der groß genug war, um die Brandwunde abzudecken.

Liz legte sie vorsichtig auf den verbrannten Arm. „Lassen Sie das drauf. Ich weiß, dass es unangenehm sein kann, aber es ist wichtig.“

Stoisch nickte der Mann und legte den verletzten Arm vor seine Brust.

„Okay, John, lass uns gehen und dich verarzten.“ Suchend schaute Carter sich um. „Wo ist Karen?“

„Im Haus, sie wollte noch irgendwas zubereiten.“ Johns Stimme klang gepresst vor Schmerz.

„Ich sage ihr, was passiert ist und wo du bist“, rief die Frau, die das Eis geholt hatte.

Flankiert von Liz und Carter, ging John auf Carters Haus zu.

„Ryan“, rief Carter. „Falls ich nicht rechtzeitig zum Essen zurück bin, geh zu Mrs. Wilson.“

Der Junge warf ihnen einen neugierigen Blick zu. „Ja, Sir.“

Sie betraten Carters Haus durch die unverschlossene Vordertür. Liz käme niemals auf den Gedanken, jedem jederzeit Zutritt zu ihrer Wohnung zu gestatten. Sie gingen durch einen schmalen Flur zum hinteren Teil des Hauses, wo sie schließlich vor einem weißen Keramikwaschbecken im Landhausstil stehen blieben.

„Wir brauchen Spülmittel, um das Fett zu entfernen, und ein Handtuch.“ Liz drehte das Wasser an, wobei sie darauf achtete, dass es so kalt wie möglich aus dem Hahn kam.

„John, darf ich dir Dr. Liz Poole vorstellen.“ Carter öffnete den Schrank neben der Spüle, entnahm ihm eine Plastikflasche mit blauer Flüssigkeit und stellte sie in Liz’ Reichweite auf die Arbeitsfläche.

„John“, sagte sie. „Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben, Sie haben sich ziemlich schlimm verbrannt. Carter und ich säubern die Wunde jetzt und verbinden sie dann. Bald fühlen Sie sich wieder besser. Carter, wir brauchen auch einen Erste-Hilfe-Kasten. Haben Sie so was?“

„Klar. Schließlich habe ich ein siebenjähriges Kind, da kommt man nicht ohne aus.“ Er ging aus dem Zimmer.

„John, ich muss das Öl von ihrem Arm entfernen. Das wird vermutlich wehtun, aber ich bemühe mich, so sanft wie möglich vorzugehen, und so schnell ich kann. Ich muss besonders vorsichtig sein, um diese Blase nicht zu öffnen, denn das will ich auf keinen Fall. Das Wichtigste bei Verbrennungen ist, eine Infektion zu vermeiden, darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen.“

Sie ließ Wasser auf Johns Arm laufen und tröpfelte etwas Spülmittel darüber, dann benutzte sie ihre flache Hand, um das Öl zu entfernen, ohne die Haut darunter noch mehr zu reizen. Carter kam mit dem Verbandskasten zurück und stellte sich auf Johns andere Seite.

Der Mann stöhnte.

„Tut mir leid, ich weiß, dass das kein Vergnügen ist, aber es ist nötig.“

„Ich sollte mich nicht so anstellen“, sagte John.

Sie lächelte ihm zu. „Das ist kein Anstellen. Brandwunden sind immer schmerzhaft, und Sie haben da eine ziemlich heftige.“

Sie konzentrierte sich wieder darauf, das Öl zu entfernen. Immer wieder ließ sie Wasser und Spülmittel über den verbrannten Arm laufen, bis sie schließlich mit dem Ergebnis zufrieden war.

Carter zog eine Schublade auf, holte ein Geschirrtuch heraus und reichte es ihr. Sie tupfte die Wunde vorsichtig trocken. Als sie damit fertig war, gab er etwas antibiotische Salbe auf ein quadratisches Stück Mull, das er anschließend auf einen Teil der Wunde drückte. Das wiederholte er so lange, bis der gesamte verbrannte Bereich abgedeckt war. Dann nahm er eine Rolle Verbandsmull und umwickelte damit Johns Unterarm.

Es klopfte an der Vordertür. „Herein“, rief Carter.

Aus dem Flur hörten sie schnelle Schritte, und dann kam eine kleine weißhaarige Frau mit hochroten Wangen in die Küche gestürmt. „John, was hast du bloß angestellt?“

„Es geht ihm gut, Karen. Er hat sich nur mit heißem Öl den Unterarm verbrannt“, versicherte Carter ihr. „Wir haben die Wunde versorgt, aber er sollte sie weiter mit Eis kühlen, bis die Schmerzen nachlassen.“

„Mary sagte, dass du Kleidung brauchst. Ich habe dir ein neues Shirt und eine Jacke mitgebracht.“ Karen musterte ihren Mann eindringlich, als wollte sie sich vergewissern, dass er keine anderen Verletzungen davongetragen hatte.

„Gut. Könntest du ihm beim Anziehen helfen? Liz und ich räumen hier auf.“ Carter lächelte dem älteren Ehepaar beruhigend zu. „Pass nur auf, dass du seinen Arm nicht mehr berührst als notwendig.“

John und Karen zogen sich an den Holzesstisch neben dem hinteren Fenster zurück.

„Sie brauchen ein paar Minuten allein miteinander“, flüsterte Carter ihr zu. „Sie sind seit fünfundvierzig Jahren verheiratet. Und einander innig verbunden.“

„Verstehe.“ Wie wäre es wohl, eine derart tiefe Beziehung zu jemandem zu haben? So etwas würde Liz sich sehr wünschen, doch bislang war es ihr nicht bestimmt gewesen. Nach einem kurzen Seitenblick auf Carter hob sie den triefenden Eisbeutel an und ließ ihn dann wieder ins Waschbecken fallen. „Wir brauchen was anderes.“

„Da habe ich genau das Richtige.“ Er öffnete das Gefrierfach des Kühlschranks und holte eine Tüte gefrorener Erbsen heraus. „Wenigstens erfüllen sie auf diese Weise einen guten Zweck, da Ryan sie nicht essen will.“

„Ich bin auch kein Fan von Erbsen. Wickeln Sie sie in ein Tuch, dann ist es ein perfekter Eisbeutel.“

Wieder öffnete er die Schublade und entnahm ihr ein frisches Geschirrtuch, das er ihr reichte. „Warum kümmern Sie sich nicht darum, während ich unser Chaos hier beseitige?“

Als sie das Tuch entgegennahm, berührten sich ihre Hände, und wieder durchzuckte sie dieses sehnsüchtige Prickeln. „Okay“, brachte sie mühsam heraus.

Kurz darauf gesellten sich John und Karen zu ihnen.

„John, Sie müssen den Arm weiter kühlen“, sagte Liz. „Das lindert den Schmerz und sorgt dafür, dass die Wunde nicht allzu sehr anschwillt.“ Sie legte den improvisierten Eisbeutel auf die verbrannte Stelle. „Außerdem schlage ich vor, dass Sie morgen noch einmal Carter den Verband wechseln lassen. Danach kann Karen das sicher erledigen.“ Sie lächelte. „Und fürs Erste keine weiteren Koch-Experimente.“

„Diesem ärztlichen Rat kann ich mich nur anschließen“, warf Carter ein. „Ich habe was für dich gegen die Schmerzen.“ Er gab dem Mann zwei weiße Pillen. „Nimm die jetzt.“ Er reichte ihm ein Glas Wasser. „Heute Abend solltest du noch mal was nehmen, bevor du zu Bett gehst. Es wird dir beim Schlafen helfen. Falls irgendwas ist, ruf an, und ich komme sofort angerannt.“

„Lieber Gott, wie schön, dass sich so gute Ärzte um John kümmern.“ Die Sorge war aus Karens Gesicht gewichen.

„Ich bin froh, dass ich helfen konnte“, sagte Liz.

„Dasselbe gilt für mich.“ Carter tätschelte Karens Schulter. „Ich glaube, du solltest John jetzt mitnehmen, dann könnt ihr was essen und John kann weiter Bürgermeister spielen.“

John schnaubte. „Ich bin der Bürgermeister.“ Langsam schien es ihm besser zu gehen.

Carter grinste. „Dann schlage ich vor, dass du das Beste draus machst und die Leute für den Rest des Tages herumkommandierst.“

„Ich achte darauf, dass er sich nicht übernimmt.“ Karen ergriff den unverletzten Arm ihres Mannes. „Schmeiß sein T-Shirt einfach weg, Carter. Ich glaube nicht, dass man es noch retten kann.“

„Mach ich. Tut mir leid.“ Carter nahm das ausrangierte Kleidungsstück und stopfte es in den Mülleimer.

„Kein Problem, du hattest einen guten Grund.“ Sie führte John über den Flur zur Haustür, und die beiden gingen nach draußen.

Carter lehnte sich mit der Hüfte an die Arbeitsfläche, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Liz. „Nun, Sie sind schon eine Nummer, Dr. Poole.“

Ihr Herz begann, unter seinem Blick wie wild zu hämmern. War das ein Kompliment oder eine Beschwerde? Ihre sozialen Antennen waren etwas eingerostet. Hastig machte sie sich daran, den alten Eisbeutel auszuleeren.

„Jetzt ist mir auch klar, warum Ihr medizinischer Einsatz bei Gemeindeveranstaltungen so gefragt ist.“

Erstaunt schaute sie ihn an. „Vielen Dank. Mit wem haben Sie denn darüber gesprochen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab mich ein bisschen über Sie umgehört.“

Liz war nicht sicher, wie sie diese Information aufnehmen sollte. „Sie haben sich über mich umgehört?“

„Ja.“

„Warum?“ Sie spürte, wie sie rot wurde.

„Weil ich mehr über Sie erfahren wollte. Ich wollte wissen, was für eine Art Mensch Sie sind.“

Sie sah weg, nicht in der Lage, seinem eindringlichen Blick weiter standzuhalten. „Warum?“, fragte sie wieder.

„Weil ich Sie mag und meiner Menschenkenntnis nicht traue, besonders dann nicht, wenn es um Frauen geht – vor allem nach meiner Ex.“

„Oh.“ Ihr Herz raste jetzt so schnell, dass es fast ins Stolpern geriet. Das war mal eine unverblümte Antwort. Auf die sie überhaupt nicht gefasst war. „War es so schlimm?“

„Ja. Noch schlimmer. Und ich kann niemanden in Ryans Nähe lassen, dem ich nicht vertrauen kann.“ Er ergriff ihren Arm. „Kommen Sie. Wir sollten zurückgehen. Das Essen ist bestimmt schon entweder aufgefuttert oder kalt. Und Ryan wird sich langsam fragen, wo wir bleiben.“

Carter hoffte, dass er nichts Falsches gesagt hatte. Nach seiner freimütigen Erklärung hatte Liz ziemlich schockiert gewirkt und ein bisschen verängstigt. Sie faszinierte ihn. Natürlich fand er sie attraktiv mit ihrer geschmeidigen und hochgewachsenen, langbeinigen Figur, ihrer selbstsicheren Ausstrahlung. Aber noch mehr gefiel ihm ihre Bereitschaft, sich um andere Menschen zu kümmern. Die Art, wie sie John zu Hilfe geeilt war, beeindruckte ihn. Carter hatte keine Sekunde des Zögerns bemerkt. Liz war eine gute Ärztin, und es war offensichtlich, dass das der Bereich ihres Lebens war, in dem sie sich vollkommen zu Hause fühlte. Außerdem war sie sehr einfühlsam mit ihrem Patienten umgegangen – was er nach den Erfahrungen mit seiner Ex-Frau, die sich ausschließlich für sich und ihre eigenen Bedürfnisse interessierte, als äußerst erfrischend empfand.

Er war froh, dass Liz heute hergekommen war.

Zusammen gingen sie über den Rasen auf die Tische zu, wo viele seiner Nachbarn inzwischen Platz genommen hatten und aßen.

„Das hier ist ein wirklich interessanter Ort“, bemerkte Liz, sich einmal mehr umschauend.

„Ja, ich musste nicht lange überlegen, als meine Großeltern mir anboten, ihr Haus zu kaufen. Ryan und ich sind hergezogen, um ein friedliches Leben zu führen. Mooresville hat uns das gegeben. Und Freunde.“

„Freut mich, dass Sie hier beide glücklich sind.“

Verstohlen musterte er sie, während sie weitergingen. War sie glücklich? Etwas in ihrer Stimme ließ ihn daran zweifeln.

Als sie bei den Tischen ankamen, wurden sie mit stehenden Ovationen empfangen. Grinsend winkte Carter ab. Liz lächelte scheu, als ob ihr die Aufmerksamkeit nicht behagte.

Wieder ergriff er ihren Arm. „Kommen Sie, wir holen uns was zu essen.“

Ihre Wangen glühten. Die Reaktion der Leute hatte sie anscheinend verlegen gemacht. „Sehen Sie, ich bin nicht der Einzige, der findet, dass Sie es gut gemacht haben.“

„Ich habe nur gemacht, wofür ich ausgebildet wurde. Keine große Sache.“

„Mag sein, aber Sie haben das mit John wirklich großartig gemacht.“

Während sie sich am Büfett bedienten, bedankten sich mehrere Leute bei ihnen. Carter blickte sich suchend um. „Ryan müsste bei den Wilsons sitzen. Ich glaube, ich habe sie da hinten gesehen.“ Er registrierte den Blick, den sie auf seinen übervollen Teller warf. „Ich esse nicht jeden Tag so üppig“, beteuerte er.

Liz grinste belustigt. „Wenn Sie meinen.“

„Sie klingen, als ob Sie mir nicht glauben.“

Jetzt lächelte sie ihn breit an. „Das habe ich nicht gesagt.“

„Machen Sie sich als Ärztin Sorgen um meine Ernährungsgewohnheiten oder als normale Bürgerin?“ Er flirtete mit ihr, und sie flirtete zurück.

„Es war nur eine Feststellung.“

„Dass ich eventuell auf mein Gewicht achten sollte?“

„Hey, das habe ich nicht gesagt. Sie wissen genau, dass Sie das nicht brauchen. Sie sehen gut aus.“ Ihre Augen weiteten sich kurz, dann wandte sie kopfschüttelnd den Blick ab.

Er lachte laut auf, außerstande, seine Heiterkeit zu unterdrücken. „Danke für die Blumen, Liz.“ Sie schaute ihn fragend an. „Keine Sorge, ich necke Sie nur ein bisschen.“

Das schien sie zu verblüffen. „Normalerweise necken die Leute mich nicht.“

„Das freut mich. Das macht mich zu etwas Besonderem. Und ich darf sehen, was nur wenige sehen – Ihr bezauberndes Erröten.“

„Jetzt versuchen Sie nur, mich noch mehr erröten zu lassen.“

„Da ist Ryan.“ Er führte sie an das Ende eines Tischs und stellte seinen Teller vor den Stuhl neben seinem Sohn. „Liz, Sie sitzen dort.“ Er deutete auf den Platz an seiner anderen Seite. „Ich hole uns was zu trinken. Ist Eistee in Ordnung oder wollen Sie was anderes?“

„Tee ist gut.“

„Ryan, stell Liz doch bitte Mr. und Mrs. Wilson vor, solange ich weg bin.“

Zwei Minuten später kam Carter mit zwei Plastikbechern zurück. „Mrs. Wilson, ich hoffe, dass das Ihr Nudelauflauf ist“, sagte er und ließ sich auf seinem Platz nieder.

Dabei streifte sein Knie das von Liz, was ein heißes Prickeln an seinem Bein auslöste, das ihn so ablenkte, dass er fast ins Stottern kam. „Sie macht den besten“, fügte er mühsam hinzu.

„Tatsächlich?“ Sie bedachte ihn mit einem besorgten Blick. „Dann bin ich froh, dass ich mir davon genommen habe.“

Er beobachtete, wie sie sich eine Gabel der saftigen Nudeln in den Mund schob und genüsslich die Augen schloss. Ihre beinahe entrückte Miene ließ seine Lenden zucken. Er musste sich zusammenreißen. Wie wäre es wohl, wenn sie mit solch offensichtlichem Vergnügen auf ihn reagieren würde?

Und woher kam plötzlich diese Fantasie? Er hatte eine fürchterliche Beziehung hinter sich und war nicht auf der Suche nach etwas anderem als Freundschaft. Liz wirkte auf ihn nicht wie eine Frau, der an einer flüchtigen Affäre gelegen war – aber nichts anderes könnte er ihr bieten. Er und Ryan hatten sich endlich ein ruhiges, stabiles Leben aufgebaut, und das wollte er auf gar keinen Fall gefährden. Und doch reizte ihn die Vorstellung, Liz zu berühren, sie zu küssen. Sie reizte ihn sogar sehr.

„Mrs. Wilson, Ihr Nudelauflauf ist wirklich wundervoll“, sagte Liz. „Der beste, den ich je gegessen habe.“

„Dad, ich kann diese Wurst nicht schneiden“, jammerte Ryan und zog Carters Aufmerksamkeit auf sich.

„Warte, ich helfe dir“, sagte er und drehte sich seinem Sohn zu. Dabei rieb seine Hüfte an Liz’ Oberschenkel, und sie erstarrte förmlich. Offensichtlich fühlte sie etwas Ähnliches wie er. Sofort reagierte sein Körper, und er blieb sich ihrer Nähe auch dann noch viel zu sehr bewusst, als er längst wieder seine alte Sitzposition eingenommen hatte.

In den nächsten Minuten unterhielt er sich mit den Wilsons, und Liz beteiligte sich hin und wieder mit einer klugen Bemerkung.

„Ryan, es wird Zeit für uns“, verkündete er schließlich.

Liz machte Anstalten, sich zu erheben. „Ich denke, ich breche auch langsam auf.“

Carter wandte sich ihr zu und ergriff ihre Hand. Die war kalt, und er ertappte sich bei dem Verlangen, Liz an sich zu ziehen und sie zu wärmen. Dieser verrückte Wunsch ließ ihn innehalten. Seit seiner Scheidung war er mit etlichen Frauen ausgegangen, aber keine hatte solche Empfindungen in ihm hervorgerufen. Liz brachte ihn dazu, Dinge zu denken, die er schon lange nicht mehr gedacht hatte.

„Bitte bleiben Sie. Die Festlichkeiten fangen jetzt erst richtig an. Ryan und ich haben eine Überraschung für Sie. Wir müssen uns nur rasch umziehen, es dauert nicht lange.“

Sie schaute ihn unsicher an, nickte aber.

„Hat Carter es Ihnen nicht erzählt?“ Mrs. Wilson blickte zwischen ihnen hin und her. „Er spielt heute Abend den Gründer von Mooresville, Robert Moore. Und Ryan spielt seinen kleinen Sohn.“

„Tatsächlich?“, fragte Liz staunend.

Carter straffte die Schultern. „Sie hatten wohl keine Ahnung, was für ein bedeutender Mann ich bin, was?“

Ihre Augen glitzerten amüsiert. „Nein, das wusste ich wirklich nicht.“

„Komm jetzt, Ryan, wir müssen unsere Kostüme anziehen.“ Er begann, die Teller zusammenzustellen.

Liz wedelte abwehrend mit den Händen. „Lassen Sie das, ich kümmere mich darum, Sie sind schließlich ein bedeutender Mann.“

Carter grinste. „Vielen Dank. Wir brauchen nicht lange. Mrs. Wilson leistet Ihnen sicher gern Gesellschaft. Bis gleich.“

3. KAPITEL

Liz stand auf, um ihre Pappteller und Becher abzuräumen.

„Lassen Sie das noch ein paar Minuten stehen“, schlug Mrs. Wilson vor. „Damit wir uns besser kennenlernen können, ohne ständig von den Männern unterbrochen zu werden.“ Mr. Wilson hatte sich zurückgezogen, kurz bevor Carter und Ryan aufgebrochen waren.

Worauf wollte sie hinaus? Forschend musterte Liz sie, doch angesichts des warmherzigen, neugierigen Blicks der älteren Frau legte sich ihre Nervosität. Langsam ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken.

„Ich weiß nicht, ob Carter es Ihnen gegenüber erwähnt hat, aber Leroy und ich sind die besten Freunde von Carters Großeltern, und Carter ist unser nächster Nachbar.“

„Nein, das hat er nicht.“ Noch immer wusste Liz nicht, was diese Unterhaltung sollte. Sie fürchtete, Mrs. Wilson glaubte, dass mehr zwischen ihr und Carter lief, als den Tatsachen entsprach. Oder würde sie versuchen, einen Keil zwischen sie zu treiben? Das wäre geradezu lachhaft. Liz betrachtete sich ganz gewiss nicht als Bedrohung.

„Wir haben immer noch Kontakt. Also, wie haben Sie und Carter sich kennengelernt?“

„Auf der Weihnachtsfeier für freiwillige Helfer diese Woche. Er half mir, als ich Probleme mit meinem Auto hatte.“

Mrs. Wilson grinste. „Wie süß. Eine Maid in Nöten. Klingt wie der Beginn einer romantischen Komödie.“

Liz unterdrückte ein Stöhnen. So hatte sie das ganz gewiss nicht empfunden.

„Er ist ein sehr guter Vater“, fuhr Mrs. Wilson fort und schaute Carter und seinem Sohn nach, die Seite an Seite auf ihr Zuhause zugingen. „Er tut wirklich alles für Ryan. Manchmal sogar zu viel, wenn Sie mich fragen.“ Sie seufzte leise. „Er versucht, dem Jungen gleichzeitig Vater und Mutter zu sein. Wir haben wahre Horrorgeschichten über Ryans Mutter gehört.“

„Das reicht jetzt, Mary.“ Mr. Wilson stand plötzlich hinter seiner Frau und klopfte ihr leicht auf die Schulter. „Carter gefällt es sicher nicht, wenn du aus dem Nähkästchen plauderst.“

Liz räusperte sich und stand auf. Es war ihr unangenehm, über Carter zu reden, wenn er nicht dabei war. „Er hat mich eingeladen, weil er an meiner Meinung über das heutige Programm interessiert ist, was immer das sein mag. Wir sind nur Freunde.“

„Die Blicke, die er Ihnen zuwirft, sagen etwas anderes“, murmelte Mrs. Wilson.

„Ich bringe das jetzt mal besser weg.“ Liz stapelte die Pappteller aufeinander und brachte sie zur nächsten Mülltonne. Unterwegs wurde sie von mehreren Leuten angesprochen. Wieder am Tisch, bot sie den Wilsons an, deren Abfall ebenfalls zu entsorgen und machte einen weiteren Ausflug zur Mülltonne. Und dann sah sie auch schon Carter und Ryan zurückkommen.

Ihr stockte der Atem, und sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Vielleicht war ja doch was dran an dem, was Mrs. Wilson zwischen ihr und Carter vermutete. Er sah so unglaublich männlich aus in dem weißen Hemd, der langen grauen Weste und dem marineblauen Gehrock, der sich förmlich an seine breiten Schultern schmiegte. Dunkelgraue Flanell-Kniehosen und weiße Strümpfe, die seine Waden wie eine zweite Haut umschlossen, vollendeten das Kostüm. Carter war die perfekte Verkörperung eines Gutsherrn aus dem 19. Jahrhundert. Ryan hätte sein Zwilling sein können, abgesehen davon, dass er keinen Gehrock trug, sondern eine geschnürte Lederweste. Die beiden waren wirklich ein beeindruckendes Paar. Vor allem der Vater.

„Nein, was für zwei hübsche Kerle“, schwärmte Mrs. Wilson.

Liz senkte den Blick, damit Carter nicht sah, wie sehr sie diesem Urteil zustimmte.

„Ich habe Probleme mit dem Krawattentuch“, beschwerte sich Carter und zog daran. „Es gelingt mir einfach nicht, es korrekt zu wickeln.“

„Warum helfen Sie ihm nicht dabei, Liz?“, fragte Mrs. Wilson.

Versuchte die ältere Frau etwa, sie zu verkuppeln? Da sie nicht wusste, wie sie mit Anstand aus der Nummer herauskommen sollte, ging Liz zu Carter.

„Ich verspreche, nicht zu beißen“, flüsterte er ihr zu.

Sie schaute ihm ins Gesicht. „Ich habe keine Angst.“

„Das sieht man Ihnen aber nicht an. Sie sehen aus wie ein fluchtbereites Kaninchen.“ Sie spürte seinen Atem an ihrer Schläfe, und ein Schauer überlief sie.

Mit zitternden Fingern packte sie die beiden Enden seines Tuchs. „Das muss einmal mehr herumgewickelt werden.“

Carter stand ganz still, als sie hinter seinen Hals griff. Er roch nach Rauch und etwas Zitrusartigem. Sein Haar strich über ihren Handrücken, weich und glatt. Liz war froh, dass ihre Finger anderweitig beschäftigt waren, denn das hinderte sie daran, dem übermächtigen Drang zu folgen, liebkosend über dieses Haar zu streichen.

Als sie sich anschickte, die Tuchenden unter Carters Kinn zum Knoten zu schlingen, trafen sich ihre Blicke, und es wurde klar, dass beide dasselbe spürten. Heißes Sehnen durchzuckte ihren Körper. Sie standen einfach nur da und starrten einander an, bis irgendwer sich räusperte und der Bann brach. Liz fokussierte sich wieder darauf, den einfachen Knoten zu binden, und zog die Enden vor seiner Kehle gerade. „So, das hätten wir.“

„Vielen Dank.“

Sie hob den Blick. Ihre Augen funkelten. „Man wird von Ihnen geblendet sein.“ Damit wandte sie sich Ryan zu, bei dem sie sich deutlich unbefangener fühlte, und verneigte sich leicht. „Sie sehen sehr gut aus, junger Herr.“

Er zerrte an seinem Oberteil. „Ich mag das Hemd nicht.“

Carter legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du musst es ja nicht ewig anbehalten.“

„Hoffentlich machen die anderen Jungs sich nicht über mich lustig“, quengelte Ryan.

Liz kniete sich neben ihn, damit sie auf Augenhöhe mit ihm reden konnte. „Ich verrate dir ein Geheimnis.“ Der Junge kam näher, offensichtlich interessiert. „Wenn sie dich hänseln, dann nur, weil sie neidisch sind – schließlich haben sie nicht so eine tolle Rolle wie du.“

„Glaubst du das wirklich?“, fragte Ryan eifrig.

„Aber klar doch. Die Leute haben mich früher auch gehänselt. Es hat eine Weile gedauert, aber dann merkte ich, dass sie einfach nur neidisch waren, weil ich Sachen konnte, die sie nicht konnten.“

„Echt?“

„Echt.“

Lächelnd schaute er zu Carter hoch. „Okay, Dad. Ich bin bereit.“

Über Ryans Kopf hinweg formte Carter ein „Danke“ mit den Lippen.

Eine Frau eilte auf sie zu. „Carter, Pam kann nicht Mrs. Moore spielen. Sie hängt auf der Brücke im Stau. Es hat einen Unfall gegeben.“

Carter stöhnte. „Dann müssen wir wohl ohne sie auskommen.“

„Könnte nicht jemand anders einspringen?“, schlug Mrs. Wilson vor. „Hat sie das Kleid bei sich zu Hause?“

„Wahrscheinlich schon. Richard ist da hinten.“ Die Frau, die die Hiobsbotschaft gebracht hatte, deutete mit dem Finger auf einen dunkelhaarigen Mann, der etwas weiter weg stand.

„Dann kann Liz es doch machen. Sie und Pam müssten ungefähr dieselbe Größe haben. Vielleicht ist das Kleid ein paar Zentimeter zu kurz, aber das wäre egal.“ Erwartungsvoll schaute Mrs. Wilson sie an.

Erschrocken schüttelte Liz den Kopf. Ihre Welt war der Hintergrund. Niemals das Rampenlicht. „Ich glaube nicht …“

„Sie wären perfekt.“ Carter gefiel die Idee offenbar. „Machen Sie es?“

„Ich weiß doch gar nicht, was ich zu tun hätte.“

„Einfach nur neben mir stehen. Ach bitte, würden Sie das machen?“

Wie könnte sie ihm das abschlagen? „In Ordnung.“

Carter bedankte sich mit einer kurzen Umarmung. „Klasse.“

Liz wünschte, die Berührung würde länger währen.

„Richard“, rief Carter und winkte. „Komm mal einem Moment her.“ Der Mann kam angelaufen. „Liz hat sich bereiterklärt, Pams Rolle zu übernehmen. Können wir das Kostüm holen?“

„Na klar.“

„Ryan, du bleibst bei Mrs. Wilson“, sagte Carter. „Wir sind gleich wieder da.“

Liz folgte den beiden Männern zu einem Haus auf der anderen Seite des Platzes. Eine Viertelstunde später fand sie sich in einem gestreiften Zwillichgewand wieder, stilecht mit Schultertuch und Bonnet. Carters Augen leuchteten auf, als sie ihm so verkleidet entgegentrat.

„Sie sehen großartig aus, eine exzellente Mrs. Moore.“

Verzagt schüttelte Liz den Kopf. „Ich weiß nicht so recht. Ich bin es nicht gewohnt, mich so vor anderen zu zeigen.“ Das war stets Louisas Part gewesen.

„Sie werden das ganz toll machen.“ Grinsend nahm er ihre Hand. „Dann mal los, Mrs. Moore. Unser Publikum wartet schon voller Spannung.“

„Ich wäre sehr gut ohne diesen Hinweis ausgekommen.“

Carter lachte leise. „Sie sind einfach nicht so eine Knallcharge wie ich.“

Vielleicht hatte sie bislang nur noch nicht die Chance bekommen, das herauszufinden, dachte Liz, während sie neben ihm über den Platz schritt.

Alle versicherten ihr, dass sie sensationell aussah.

Erwartungsvoll schaute Carter sie und Ryan an. „Fertig?“

Beide nickten.

Mrs. Wilson lächelte. „Und ich bin mehr als bereit, von der entzückenden Familie Moore alles über die Geschichte von Mooresville zu erfahren. Ihr drei gebt zusammen wirklich ein schönes Bild ab.“

Die in diesem Kompliment mitschwingende Andeutung trug nicht dazu bei, Liz’ Nerven zu beruhigen.

„Jeanie“, sagte Mr. Wilson warnend.

„Wir legen besser los, bevor die Sonne untergeht.“ Carter zwinkerte Liz zu, was ihr einen heißen Schauer den Rücken herunterjagte, dann nahm er ihre Hand, und sie gingen zusammen zum Postgebäude und stellten sich davor auf.

„Hallo, zusammen. Wir begrüßen Sie beim Mooresville Weihnachts-Rundgang mit Gesang.“ Mit seiner tragenden Stimme errang Carter mühelos die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

Liz bezog neben ihm Stellung und versuchte, dabei nicht allzu auffällig zu zittern oder ängstlich zu gucken. Die Menge sammelte sich um sie herum.

„Ich bin Robert Moore, das ist meine Frau Martha und der Junge ist unser kleiner Sohn Eli. Anfang des 19. Jahrhunderts haben mein Bruder William und ich uns hier am Tennessee River niedergelassen, eine ideale Gegend für uns als Baumwoll-Farmer. Ich hoffe, Sie sind bereit, eine kleine Zeitreise mit uns zu unternehmen.“

Mittlerweile waren sehr viel mehr Leute da als beim Essen, und alle lauschten fasziniert Carters Ausführungen. Er spielte seine Rolle großartig. Selbst Liz war so gebannt von seinen Worten und seiner Stimme, dass sie ihr Lampenfieber vergaß.

Während Carter sprach, machten zwei Fotografen Aufnahmen, was ihn jedoch nicht im Geringsten aus dem Konzept zu bringen schien. Es war offensichtlich, dass es ihm – im Unterschied zu Liz, die lieber im Hintergrund blieb –, nichts ausmachte, im Rampenlicht zu stehen.

„Im Laufe der Jahre dehnte sich Mooresville immer weiter aus“, fuhr er fort.

Zwei Frauen und drei Männer in historischen Kostümen gesellten sich zu ihnen.

„Wir bauten nicht nur neue Häuser, sondern auch ein Postamt und das Stagecoach Inn für Durchreisende.“ Carter ergriff ihre Hand, ein warmes und beruhigendes Gefühl, und führte Liz durch die Menge. Ryan und die anderen Mitglieder ihrer Gruppe folgten ihnen.

Vor einem einstöckigen Holzbau mit Veranda und umzäuntem Vorgarten blieb er stehen. Am Tor und an der Eingangstür hing je ein Kranz aus Fichtenzweigen und Äpfeln. Die Haustür wurde geöffnet, und ein Mann und eine Frau in historischer Kleidung traten heraus, um sich Carter anzuschließen. Der wandte sich erneut der Menge und dem Postamt zu.

„Von hier aus können Sie das Schild über der Tür des Postamts erkennen, das dokumentiert, dass Mooresville bereits am 16. November 1818 offiziell die Stadtrechte bekam, damit ist es die älteste Stadt in Alabama. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen.“

Carter war vollkommen in seinem Element. Während er die Geschichte von Mooresville erzählte, hörte Liz ihm ebenso gebannt zu wie die anderen. Während des Rundgangs schlossen sich ihnen immer mehr Leute an. Als Ryan, der vor ihnen lief, herumzuzappeln begann, nahm sie seine Hand, und er beruhigte sich wieder. Carter lächelte ihr kurz zu, bevor er seinen Vortrag wieder aufnahm.

„Zu der Zeit, als wir eine Stadt wurden, waren wir groß genug für zwei Kirchen. Dies hier“, er deutete auf das Gebäude vor ihnen, „ist die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Präsident James A. Garfield hat hier einmal gepredigt. So, und jetzt haben wir noch eine Station vor uns.“ Er schaute Liz an und grinste.

Wohlige Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus.

„Den Ort, an dem Mrs. Moore und ich getraut wurden“, fuhr Carter fort.

Jetzt wurde ihr regelrecht heiß und sie war froh, dass die einsetzende Dämmerung ihr Erröten verbarg. Carter führte seine kostümierte Gruppe, zu der mittlerweile auch die Wilsons gestoßen waren, über den Gemeindeplatz zu einem großen Backsteinbau mit zwei weißen Säulen. Die Kirche war von innen erleuchtet, und die Türen standen weit offen. In der Vorhalle warteten bereits einige Nachbarn, darunter Karen und John, der noch immer die Tiefkühlerbsen auf seinen Arm drückte. Auch sie trugen nun historische Gewänder.

Carter ließ sie und Ryan auf dem Rasenvorplatz zurück und stellte sich in die geöffnete Tür. Das Licht, das von hinten auf ihn fiel, ließ ihn noch eindrucksvoller aussehen. „Das hier ist die Brick Church und das letzte von vier erhaltenen Original-Gebäuden aus der Gründerzeit von Mooresville. Diese historischen Bauten werden von den Menschen, die hier leben, instand gehalten, um die Geschichte unserer Stadt zu bewahren. Wir möchten Sie jetzt dazu einladen, mit uns Weihnachtslieder zu singen und danach ein Glas Punsch zu trinken. Wir alle hier in Mooresville wünschen Ihnen frohe Festtage. Danke, dass Sie heute zu uns gekommen sind.“

Nachdem der Beifall verklungen war, streckte Carter ihr und Ryan seine Hände entgegen. Seine Hand umschloss ihre kalten Finger und hüllte sie in Wärme. Sie betraten die Kirche zusammen, und er führte sie durch den Altargang zur ersten Bankreihe. Sie war erstaunt, als Carter weiter ihre Hand hielt und noch überraschter, dass sie ihn gewähren ließ.

Er ließ sie erst los, als Mrs. Wilson ihnen ein Liederbuch reichte, und sofort vermisste sie seine Berührung. Als Erstes wurde Stille Nacht angekündigt, und Carter blätterte, bis er die richtige Seite fand. Er hatte eine schöne Stimme. Liz sang von jeher gern, doch ihre Mutter sagte immer, dass sie längst nicht so hübsch klang wie Louisa, daher vermied sie es meist, in der Öffentlichkeit zu singen.

Carter beugte sich zu ihr. „Da geht aber noch mehr“, flüsterte er.

Beim nächsten Lied sang sie schon freier, und am Ende war ihr egal, wer ihr zuhörte. Sie hatte die Musik genossen, in dem hohen Innenraum des Gotteshauses entfalteten die vereinten Stimmen ohne Instrumentalbegleitung eine geradezu magische Wirkung. Es war ein Weihnachtserlebnis, an das sie stets gern zurückdenken würde.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“, fragte Carter hinterher.

„Ich sollte wohl besser aufbrechen.“

„Daddy, ich will mich umziehen“, rief Ryan.

„Okay, du hast heute Abend auch echt gut mitgemacht.“ Carter zerzauste seinem Sohn das Haar. „Danke, dass du deine Rolle so gut gespielt hast.“ Er suchte ihren Blick. „Sie waren ebenfalls wunderbar. Vielen Dank, dass Sie eingesprungen sind.“ 

„Kein Problem.“ Sie wandte sich an den Jungen. „Ich kann mich deinem Dad nur anschließen. Du warst großartig.“ Sie schaute Carter an. „Und Sie ebenfalls. Das war eine sensationelle Präsentation. Ich war wirklich beeindruckt.“

Carter straffte die Schultern, warf sich in die Brust und beäugte sie von oben herab. „Das klingt ja, als hätten Sie mir keinerlei dramatisches Talent zugetraut.“

Er neckte sie schon wieder. „So habe ich das nicht gemeint. Außerdem gefiel mir, dass so viele Leute sich verkleidet und der Gruppe angeschlossen haben.“

„Danke. Wir hier in Mooresville nehmen unsere Geschichte sehr ernst.“

Autor

Susan Carlisle
Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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Becky Wicks
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Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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