Julia Ärzte zum Verlieben Band 82

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DER UNWIDERSTEHLICHE DR. MANOS von MARINELLI, CAROL
Das ist Dr. Manos? Isla ist alarmiert! Denn der neue Kinderarzt, mit dem sie als Hebamme im Victoria Hospital eng zusammenarbeiten wird, ist ein Traummann. Er gefährdet ihren Schwur, niemals der Leidenschaft nachzugeben! Um nicht zu enden wie damals ihre Schwester …

KÜSSE, DIE DAS HERZ ZUM SCHMELZEN BRINGEN von CARLISLE, SUSAN
Michelle weiß, wie man sie auf der Station nennt: die Eiskönigin. Aber als ihr Kollege Dr. Ty Smith sie auf seinem Motorrad nach Hause bringt, spürt sie plötzlich eine brennende Sehnsucht nach ihm, nach Liebe … Gefährlich, denn Ty bleibt niemals lange an einem Ort!

GESTERN FREUNDE, HEUTE MEHR? von TAYLOR, JENNIFER
Seine Umarmung änderte alles! Bis zu dem Moment waren Eve und Ryan allerbeste Freunde. Aber dann zerbrach ihre Freundschaft. Und nun wird ausgerechnet Dr. Ryan Sullivan ihr neuer Boss auf der Kinderstation. Eve weiß: Für ein zweites Nein reicht ihre Kraft nicht …


  • Erscheinungstag 15.01.2016
  • Bandnummer 0082
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702908
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Susan Carlisle, Jennifer Taylor

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 82

CAROL MARINELLI

Der unwiderstehliche Dr. Manos

Dr. Alessandro Manos ist überzeugt: Isla Delamere ist nur leitende Hebamme geworden, weil ihr Vater in der Verwaltung des Victoria Hospitals sitzt. Doch dann erkennt er: Isla kann wirklich etwas! Ein aufregendes Privatleben dagegen scheint diese blonde Schönheit nicht zu haben. Warum eigentlich nicht? Alessandro spürt, dass sie etwas verschweigt …

SUSAN CARLISLE

Küsse, die das Herz zum Schmelzen bringen

Sein Motorrad, seine Rock-‘n‘-Roll-Band und seine Arbeit als Chirurg: Das verleiht Tys Leben Sinn. Keinen Sinn dagegen hat diese verrückte Lust auf seine Kollegin Michelle. Man nennt sie die Eiskönigin – zu gern würde er ihr kaltes Herz zum Schmelzen bringen! Viel Zeit hat er nicht, denn er bleibt nie länger als ein paar Wochen an ein und demselben Ort …

JENNIFER TAYLOR

Gestern Freunde, heute mehr?

Egal, wozu er sie einlädt: Eves Antwort lautet Nein. Dr. Ryan Sullivan versteht es nicht. Dass er und Eve zusammen im Dalverston Krankenhaus arbeiten, findet er wunderbar. Schließlich kennen sie sich schon seit dem Studium, waren damals beste Freunde! Er ahnt nicht, warum Eve so reserviert ist: Nie hat sie den einen heißen Kuss vergessen …

VICTORIA HOSPITAL
MELBOURNE MATERNITY UNIT (MMU)

DAS TEAM:

 

Isla Delamere

Leitende Hebamme

Dr. Isabel Delamere

Gynäkologin und Geburtshelferin

Charles Delamere

Klinikdirektor und Islas und Isabels Vater

Dr. Alessandro Manos

Neoantologe

Emily Louise Evans

Hebamme

Dr. Sean Anderson

Gynäkologe und Geburtshelfer

Dr. Darcie Green

Gynäkologin und Geburtshelferin

Lucas Eliot

Pfleger

Sophia Toulson

Gemeinde-Hebamme

Amber

Hebammenschülerin

Flick

Hebammenschülerin

Jed

Neoantologe

Dr. Tristan Hamilton

Säuglingskardiologe

Dr. Heinz Zigler

Kinderneurologe

Aiden Harrison

Sanitäter

 

 

PATIENTEN

 

Cathy

 

Dan

Cathys Mann

Donna Reece

 

Elijah, Archie

Donnas Zwillinge

Tom Reece

Donnas Mann

Evie

Haushälterin der Delameres

Rupert

Islas Freund

Allegra

Alessandros Zwillingsschwester

Steve

Allegras Mann

Niko

ihr Sohn

Yolanda

Alessandros Mutter

Talia

Alessandros Exverlobte

Christine Adams

 

Blake

Christines Freund

Joel, Robbie

Christines Söhne

Jessica

ihre Tochter

Ruby Dowell

 

Harriet

 

Alison

 

Karina

 

PROLOG

„Isla?“ Cathy klang panisch. „Was bedeutet der Alarm?“

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Isla blickte zum Anästhesisten hinüber, froh darüber, dass er die Richtwerte neu einstellte, um die werdende Mutter nicht zu beunruhigen.

„Hat es mit meinem Baby zu tun?“

„Das Gerät hat nur angezeigt, dass Ihr Blutdruck leicht gesunken ist. Das ist völlig normal bei einer Rückenmarksnarkose.“

Isla saß am Kopfende des OP-Tischs und tat ihr Bestes, um die ängstliche Patientin zu beschwichtigen. Cathys Mann Dan machte sich gerade bereit, in den OP zu kommen, um seiner Frau beizustehen.

„Meinem Baby geht es wirklich gut?“

„Ja, alles in Ordnung.“

„Ich habe solche Angst, Isla.“

„Das weiß ich.“ Sie strich Cathy über die Wange. „Aber es ist alles gut.“

Und das sollte bei diesem Kaiserschnitt auch so bleiben!

Isla, leitende Hebamme der Melbourne Maternity Unit am Victoria Hospital, hatte Cathy und Dan durch schwere Zeiten begleitet. Mit mehreren Versuchen künstlicher Befruchtung, vier Fehlgeburten und zwei Totgeburten bezahlte das Paar einen hohen Preis für sein Elternglück. Heute, am späten Nachmittag des Valentinstags, hatte sich nun das innig ersehnte Baby auf den Weg gemacht.

Ursprünglich war am nächsten Donnerstag, in der siebenunddreißigsten Schwangerschaftswoche, ein Kaiserschnitt geplant gewesen. Vor zwei Stunden jedoch hatte Cathy in der MMU, wie die Entbindungsstation genannt wurde, angerufen, weil die Wehen eingesetzt hatten. Man riet ihr, sofort zu kommen.

Durch ihre leitende Funktion hatte Isla eigentlich einen Nine-to-five-Job, doch sie wusste schon lange, dass Babys sich nicht an Dienstpläne hielten.

Nach Cathys Anruf sagte sie ihre Teilnahme an der Budget-Besprechung heute Abend ab. Ob sie ihren zweiten Termin später in der Rooftop Garden Bar wahrnehmen konnte, würde sich zeigen. Dort wollte sie bei einem Umtrunk mit Kolleginnen und Kollegen den neuen Neonatologen Dr. Alessandro Manos willkommen heißen.

Doch die Party konnte warten.

Um nichts in der Welt wollte Isla diese Geburt verpassen.

Sie war achtundzwanzig, und nicht wenige nahmen an, dass sie die gehobene Position ihrem Vater Charles Delamere, dem Direktor des Victoria Hospitals, verdankte.

Womit sie völlig falschlagen.

Zwar stimmte es, dass Isla und ihre Schwester Isabel, die an diesem Abend bei Cathy den Kaiserschnitt durchführte, schon wegen ihrer Familie zu den prominenten Gesichtern der Melbourner High Society gehörten. Blond, schön und glamourös, erregten die Delamere-Töchter immer wieder die Aufmerksamkeit der Medien. Es gab genügend gesellschaftliche Anlässe, auf denen sie sich blicken ließen. Sie bewohnten zusammen ein Luxus-Penthouse, trugen Designerkleidung, und das Schaulaufen auf dem roten Teppich war eine ihrer leichtesten Übungen, die sie elegant und mit natürlicher Anmut absolvierten.

Und das war es auch für Isla: eine Pflicht, der sie nachkommen musste.

Ihr Herz schlug für etwas anderes. Sie liebte ihren Beruf und die Arbeit in der MMU. Dort war sie ganz sie selbst.

Also saß sie hier in OP-Kleidung, das lange blonde Haar unter einer rosa OP-Kappe und die vollen Lippen hinter dem Mundschutz verborgen. Niemand im Raum interessierte sich dafür, dass sie Isla Delamere war, Societyprinzessin von Melbourne und mit Rupert liiert, einem Hollywoodstar, den sie aus der Schulzeit kannte.

Im Victoria Hospital war sie schlicht und einfach Isla, eine tüchtige, tatkräftige Hebamme. Von ihrem Team erwartete sie die gleiche Konzentration und Aufmerksamkeit, die sie ihren Patienten schenkte, und im Allgemeinen bekam sie sie auch. Manche mochten sie kühl und unnahbar finden, aber die werdenden Mütter schätzten ihr ruhiges, professionelles Auftreten.

„Dan ist da.“ Isla lächelte, als Cathys Ehemann an den OP-Tisch trat. Ein großartiger Mann, der seine Frau in dunklen Stunden unterstützt hatte, wo er nur konnte. Wenn ihn der Kummer überwältigte, so verriet er Isla einmal, dann nicht vor Cathy. Er wollte stark sein für sie.

Isla verstand ihn sehr gut. Stärke zeigen bedeutete manchmal, dass man sich zurückhalten musste.

„Dan, ich bin sicher, da stimmt etwas nicht …“, begann Cathy und schien den Tränen nahe.

Als er daraufhin Isla anblickte, schüttelte sie kaum merklich beruhigend den Kopf.

„Es ist alles in Ordnung, mein Schatz“, sagte er zu seiner Frau. „Bleib ganz ruhig.“

„Cathy!“, ertönte Isabels Stimme, und Isla blickte auf. „Ihr Baby ist draußen, und es sieht wunderhübsch aus …“

„Warum schreit es nicht?“, hauchte Cathy zitternd.

„Hab Geduld, Liebes.“

Dan klang zuversichtlich, doch Isla ahnte, wie ihm zumute sein musste. Selbst sie, die solche Situationen unzählige Male erlebt hatte, hielt unwillkürlich den Atem an. Obwohl sie sich hütete, sich etwas anmerken zu lassen.

„Cathy, sehen Sie nur!“

Und da war er.

Isabel hielt einen kleinen dunkelhaarigen Jungen hoch, der jetzt den Mund weit aufriss und einen wütenden Schrei ausstieß, miserabel gelaunt, als hätte man ihn aus süßem Schlummer gerissen.

„Er ist wunderschön“, sagte Dan. „Cathy, ich bin so stolz auf dich.“

Das Neugeborene wurde rasch untersucht, und Isla ging hinüber, während Isabel die Operation zu Ende führte.

Was für ein süßer Winzling! Obwohl er vier Wochen zu früh zur Welt gekommen war, wirkte er wach und munter. Auch die Größe stimmte. Der Kinderarzt war sehr zufrieden mit ihm. Die Hebamme wickelte das Baby in eine helle Decke und setzte ihm ein Mützchen auf. Später würde man es gründlich untersuchen. Jetzt sollte es erst seine Eltern kennenlernen.

Isla nahm das warme, schreiende Bündel auf den Arm und wurde von Gefühlen überschwemmt, die ihr für einen Moment die Kehle zuschnürten. Natürlich hatte sie gewusst, dass diese Geburt ein emotionales Ereignis sein würde, aber es war trotzdem ein ganz besonderer Moment für sie, diesem bewundernswerten Paar endlich ein gesundes Kind in die Arme legen zu dürfen.

Sie hielt den Säugling so, dass Cathy den Kopf wenden und ihm einen Kuss geben konnte, und legte ihn ihr dann auf die Brust. Dan schlang den Arm um seine kleine Familie.

Ein OP-Saal bot nicht viel Privatsphäre, doch um diese erste Begegnung nicht zu stören, hielt Isla sich im Hintergrund, ohne etwas zu sagen. Und da konnte der junge Vater nicht mehr an sich halten. In Strömen liefen ihm die Tränen über die Wangen.

„Ich kann es nicht glauben, dass ich wirklich Mutter bin …“ Cathy blickte auf und sah Isla an. „Ich meine …“

„Sie sind schon lange Mutter“, antwortete Isla sanft. „Jetzt werden Sie dafür belohnt.“

Nicht dass Islas Betreuung damit geendet hätte. Später begleitete sie Cathy auf die Station. Erschöpft, aber glücklich wandte Cathy kaum den Blick von ihrem kleinen Jungen, und Dan war unbeschreiblich stolz auf seine Frau und seinen Sohn.

Sie waren Eltern geworden.

Vieles war zu bedenken und zu besprechen, und das wollte Isla auch tun, bevor Cathy entlassen wurde. Oft litten Mütter, die sehnsüchtig auf ein Kind gewartet hatten, unter Wochenbettdepressionen. Es war eine verwirrende Zeit, in der sie sich schuldig fühlten, während alle um sie herum ihnen immer wieder sagten, wie glücklich sie sein müssten, wie wundervoll alles wäre. Aber die Erschöpfung, die überstandene Anspannung, zusammen mit der Trauer um verlorene Babys und dem Gefühl, bei vorausgegangenen Schwangerschaften versagt zu haben – all das konnte die junge Mutter in ein tiefes dunkles Loch stürzen. Deshalb hielt Isla es für besonders wichtig, mit den Eltern noch ein langes Gespräch zu führen.

Allerdings nicht heute Abend.

Heute Abend durfte gefeiert werden!

„Ich werde nachher auf Sie und den Kleinen anstoßen“, versprach sie lächelnd, bevor sie das Zimmer verließ.

Vorn am Stationstresen verabschiedete Isla sich und eilte zu den Umkleideräumen.

Ein Blick in den Spind, und ihr fiel ein, was sie heute Morgen vor Dienstbeginn in der Eile zu Hause vergessen hatte: ihr Kleid. Das hing nun brav an der Schlafzimmertür.

Sie sah auf die Uhr. Nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen, dafür reichte die Zeit nicht mehr. Sie kam ja jetzt schon zu spät. Und da die meisten heute am Valentinstag schon andere Verabredungen hatten, war die Zahl der Gäste überschaubar. Ein Grund mehr, möglichst pünktlich zu erscheinen.

Isla stöberte in ihrem Schrank, in der Hoffnung, etwas Passables zum Anziehen zu finden. Die Ausbeute war mehr als mager. Sie fand eine Jeansshorts und Laufschuhe, mahnende Erinnerungen daran, dass sie sich vorgenommen hatte, in der Mittagspause walken zu gehen. Natürlich war es bei dem Vorsatz geblieben.

Die Vorstellung, in der noblen Rooftop Bar in Shorts, einem knappen T-Shirt und Sportschuhen aufzutauchen, gefiel ihr gar nicht.

Da entdeckte sie die cremefarbenen Espadrilles mit Keilabsatz, die sie einer Kollegin geliehen und vor einigen Tagen zurückbekommen hatte.

Isla zog die Sachen an und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die hochhackigen Wedges pimpten das Outfit von lässig zu aufreizend. Fast zu aufreizend.

Ach, was soll’s! Isla war es gewohnt, dass die Leute sie anstarrten. Sie fragte sich auch nicht, ob es eine Kleiderordnung gab. Darüber brauchte sie sich keine Gedanken zu machen – einer der Vorteile, wenn man eine Delamere war. Sie war überall willkommen, und Dresscodes galten für sie einfach nicht.

Sie kämmte sich ihr langes hellblondes Haar, trug Lipgloss und einen Hauch Rouge auf und verließ das Krankenhaus. Am Straßenrand die Hand gehoben, und das nächste Taxi war ihrs. Ein wenig atemlos lehnte sie sich in den Ledersitz zurück. Isla schwebte immer noch auf einer Wolke, erfüllt von einem freudigen Glücksgefühl nach der wundervollen Geburt.

In dieser Stimmung eilte sie die letzten Stufen zur Dachterrasse hinauf und betrat die Bar.

Und so sah Alessandro sie zum ersten Mal: eine große, schlanke junge Frau, blond, mit ellenlangen, von der Sonne geküssten Beinen. Selbstbewusst, als wäre sie hier zu Hause, tauchte sie in der Upperclass-Bar auf. Ihr klassisch schönes Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er konnte nicht sagen, woher. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie zu seiner Party wollte.

Eins wusste er jedoch genau – wer immer sie war, er wollte sie kennenlernen. Alessandro beobachtete, wie sie einer Gruppe flüchtig zuwinkte, darauf zuging und von den anderen begrüßt wurde.

„Isla!“, rief jemand.

Also, das war Isla. Nicht nur leitende Hebamme am Victoria Hospital und Charles Delameres Jüngste, ein Umstand, dem sie zweifellos eine für ihr Alter hohe Stufe auf der Karriereleiter verdankte. Nein, er kannte sie sogar von früher. An das Mädchen erinnerte er sich nicht mehr, aber an seinen Namen – sie waren zusammen zur Schule gegangen.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme.“ Isla lächelte.

„Wie war es?“, fragte Emily, eine der Hebammen, gespannt. Auch sie kannte Cathys Geschichte.

„Unbeschreiblich schön. Ich bin so froh, dass ich dabei war.“

„Und ich bin neidisch, das kannst du mir glauben.“ Emily wandte sich um. „Isla, dies ist Alessandro Manos, unser neuer Neonatologe.“

Sie nahm den Mann erst jetzt richtig wahr. Als Isla sich zu ihm umdrehte, hielt sie unwillkürlich den Atem an.

Er war umwerfend. Dichtes, leicht zerzaustes dunkles Haar, ein verwegener Bartschatten auf dem markanten Kinn. Als Isla ihm in die schwarzen Augen blickte, wünschte sie sich, dass Rupert heute Abend hier wäre.

Isla und Rupert galten als Traumpaar. Sie waren seit der Schulzeit zusammen, als sie noch Schulsprecherin war und er den Debattierclub geleitet hatte. Eines Abends, auf einer Feier und nach einem Kuss, der für beide kein Feuerwerk zündete, gestand Rupert ihr, dass er Männer liebte.

Er traute sich nicht, seinen Eltern davon zu erzählen, und fürchtete sich vor Gerüchten, die an der Schule umgehen könnten. Isla schützte ihn davor, indem sie seine Freundin spielte. Bis heute.

Rupert machte beim Film Karriere, und sein Agent legte ihm immer wieder nahe, sich nicht zu outen. Es könnte ihn so einige Rollen kosten. Für Isla war er in all den Jahren ein wundervoller Freund, der sich natürlich auch fragte, warum sie die Scharade aufrechterhielt.

Die Antwort war einfach: Isla brauchte den Schutz, den ihr diese „Beziehung“ bot.

Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie, die ein grandioses Selbstvertrauen ausstrahlte und sich unbefangen auf jedem gesellschaftlichen Parkett bewegte, noch Jungfrau war.

Ihre Erfahrung in Liebesdingen passte auf die Rückseite einer Briefmarke. Ein unbeholfener Schulmädchenkuss mit Rupert und ein paar geübtere Küsse, auch mit Rupert, aber nur für die Öffentlichkeit … das war alles.

Manchmal kam sich Isla wie eine Hochstaplerin vor, wenn sie mit ihren Patientinnen über Verhütung und Beckenbodentraining sprach oder Ratschläge zu Sexualität während und nach der Schwangerschaft gab. Sie selbst kannte nur die graue Theorie.

Oh ja, in diesem Moment wäre sie froh gewesen, Rupert an ihrer Seite zu haben. Seine Hand zu halten, sich an ihn zu lehnen. Damit niemand merkte, wie sie erbebte, während sie in die nachtschwarzen Augen eines Mannes sah, dessen intensiver Blick sie schwindlig machte.

„Isla Delamere ist leitende Hebamme unserer Entbindungsstation“, fuhr Emily fort.

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ Alessandro streckte die Hand aus, und als Isla sie lächelnd nahm, spürte sie die Wärme seiner schlanken Finger auch in ihren Wangen. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Isla?“

„Nein danke.“ Isla wollte schon sagen, dass die erste Runde auf sie ging, da fiel ihr etwas ein. „Oder doch, ich hätte etwas zu feiern. Vorhin habe ich meiner Patientin Cathy versprochen, auf sie anzustoßen.“

Alessandro ging zur Bar, und Emily nutzte die Gelegenheit, etwas loszuwerden.

„Danke, Isla, dass du gekommen bist. Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“

„Klar. Ich muss dir danken, dass du dich losgeeist hast. Aber wir waren so wenige. Alessandro sollte nicht denken, dass uns seine Willkommensparty egal ist. Fahr nach Hause zu deinen Babys.“

Während Emily sich verabschiedete, stieß eine andere Kollegin Isla unauffällig an. „Ist er nicht atemberaubend?“

„Er sieht nicht schlecht aus“, täuschte sie Desinteresse vor. Das würde ihr jeder abnehmen, schließlich gab es ja Rupert.

Isla sah zum Tresen hinüber, wo Alessandro seine Bestellung aufgab. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, das seine olivfarbene Haut betonte. Als sie sich dabei ertappte, wie sie seinen athletischen Körper anstarrte, kribbelte es in ihrem Bauch.

Hastig sah sie weg, als Alessandro sich umwandte, und redete mit ihren Kolleginnen.

„Vielen Dank.“ Sie nahm das Glas entgegen und war etwas überrascht, dass er sich neben sie auf das Sofa setzte. Isla trank einen Schluck.

Oh!

Gesellschaftliche Anlässe waren eine gute Schule, mit Wein und Sekt kannte sich Isla aus. Und dies war feinster Champagner! „Ein Sekt hätte genügt“, erklärte sie. „Sie halten mich hoffentlich nicht für unverschämt.“

„Überhaupt nicht. Sie strahlen vor Freude, da hat Ihr Grund zum Feiern sicher nur das Beste verdient.“

Isla nickte. „Es war eine sehr bewegende Geburt.“ Und ehe sie sich’s versah, erzählte sie Alessandro die ganze Geschichte, die so kummervoll begonnen und so glücklich geendet hatte. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, als ihr bewusst wurde, wie viel Zeit vergangen war. „Ich bin etwas übers Ziel hinausgeschossen.“

„Was völlig verständlich ist“, antwortete er lächelnd. „Es gibt keine schönere Belohnung für unsere Arbeit, wenn trotz denkbar widriger Umstände eine Familie glücklich wird. Solche Momente machen uns Mut und geben uns Kraft in den dunklen Stunden unseres Berufs.“

Er schien genau zu verstehen, wie ihr zumute war.

Sie unterhielten sich weiter, rissen sich nur von ihrem Gespräch los, als die ersten Kolleginnen sich verabschiedeten.

„Sind wir wirklich zur selben Schule gegangen?“, rief Isla aus, nachdem Alessandro das Thema zur Sprache gebracht hatte. „Wie alt sind Sie?“

„Dreißig.“

„Dann müssen Sie zwei Jahrgänge über mir gewesen sein …“ Isla versuchte, sich zu erinnern. Vergeblich. „Meine ältere Schwester Isabel kennen Sie bestimmt. Sie ist vier Jahre älter als ich.“

„Ich erinnere mich schwach. Sie war Schulsprecherin, als ich in die zehnte Klasse kam. Aber ich habe mich im Schulbetrieb nicht besonders stark engagiert, sondern in jeder freien Minute gelernt. Ich hatte ein Stipendium bekommen und brauchte gute Noten. Waren Sie auch Schulsprecherin?“

Isla lachte. „Ja.“

Alessandro lachte nicht. Er focht einen inneren Kampf aus, während er an seine Zeit an der elitären Privatschule zurückdachte. Genau wie er hatte auch seine Schwester Allegra ein Stipendium erhalten. Nicht selten litten sie unter spöttischen Sticheleien ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler – verzogene Sprösslinge aus reichem Elternhaus, die die Manos-Zwillinge immer wieder spüren ließen, dass sie nicht dazugehörten. Alessandro ließ die höhnischen Bemerkungen an sich abprallen, doch wenn sie seiner Schwester zu sehr zusetzten, schritt er ein.

Beide arbeiteten sie damals in jeder freien Minute im griechischen Café der Familie. Alessandro erinnerte sich gut an das überhebliche Grinsen seiner Klassenkameraden, wenn sie sich von den Geschwistern Kaffee und Kuchen servieren ließen.

Heute rissen sie sich um einen Tisch im Nobelrestaurant „Geo’s“, das seine Schwester zu einer der besten Adressen Melbournes gemacht hatte.

Isla war mit demselben Hintergrund aufgewachsen wie die snobistischen Plagegeister damals. Das heißt nicht, dass sie genauso war, dachte er, während er sie ansah.

Sie verstanden sich großartig.

Isla zeigte ihm sogar ein Foto vom Klassentreffen, an dem sie vor zwei Jahren teilgenommen hatte.

„An den erinnere ich mich.“ Alessandro lachte humorlos auf. „Er sich an mich bestimmt auch.“

„Und das heißt?“

„Meine Schwester vermisste ihren Schulblazer und hatte große Angst, es unseren Eltern zu beichten. Ich fand heraus, dass ihr Mitschüler ihn gestohlen hatte, und dann gab es eine Rauferei.“

„Hat sie die Jacke wiederbekommen?“

„Natürlich“, antwortete Alessandro lächelnd. Doch das Lächeln verging ihm, als Isla auf eine Frau deutete, die er seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte.

„Erinnern Sie sich an Talia?“, fragte sie. „Sie ist Ärztin geworden, lebt aber in Singapur. Stellen Sie sich vor, sie ist nur wegen des Klassentreffens nach Melbourne geflogen.“

Ja, er erinnerte sich viel zu gut an Talia. Allein seine Eltern sorgten dafür, dass er sie nicht vergaß. Selbst heute noch hielten sie ihm vor, wie sehr er das arme Mädchen beschämt hätte, als er sich zwei Tage vor der offiziellen Verlobung von ihr trennte. Er wäre längst verheiratet, ging die Litanei weiter, und hätte Familie statt der Affären, über die die gesamte Großfamilie Manos missbilligend den Kopf schüttelte.

Niemand außer Talia kannte den wahren Grund für die Trennung.

Was für ein seltsamer Zufall, dass auf Islas Handy ein Teil seiner Vergangenheit gespeichert war, die ihn unerwartet wieder einholte.

„Talia hat vier Kinder“, plauderte Isla munter weiter, ohne zu merken, was in ihm vorging. „Vier!“

Es könnten fünf sein, hätte er beinahe gesagt. Schweren Herzens erinnerte er sich an jenen Tag, an dem er bei Talia vorbeischaute, weil er sich Sorgen um sie machte. Sie war nicht bei den Vorlesungen gewesen, und als sie ihm blass und sichtlich schwach die Tür öffnete, packte ihn die Panik. Alessandro fürchtete, dass seine zukünftige Verlobte ihr gemeinsames Baby verlieren würde, und bestand darauf, sie ins Krankenhaus zu fahren. Er wollte schon losgehen, um den Wagen zu holen, da erklärte sie ihm, es gäbe kein Baby mehr. Ohne ihn einzuweihen, hatte sie sich am frühen Vormittag in einem örtlichen Krankenhaus auf den OP-Tisch gelegt. Alessandro war nicht länger Vater in spe.

Selbstverständlich erwähnte er die Geschichte Isla gegenüber mit keinem Wort, sondern lenkte die Unterhaltung wieder auf Isla selbst. Als er nach ihrem Abschlussball an der Highschool fragte, zeigte sie ihm noch ein Foto. Selbst diese Aufnahme von ihr weckte keine Erinnerungen. Alessandro deutete auf die ältere Frau neben ihr.

„Wer ist das?“

„Evie, unsere Haushälterin.“ Ein liebevolles Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Meine Eltern hatten an dem Abend keine Zeit, also hat sie mich begleitet. Es war nicht das erste Mal, sie hat sie oft vertreten. Damals war sie schon sehr krank und ist zwei Monate später gestorben. Evie wollte uns nicht zur Last fallen, aber für Isabel und mich kam nicht infrage, dass sie in ein Hospiz ging. Wir haben sie bis zum Schluss bei uns zu Hause gepflegt.“

Isla starrte auf das Bild. Evies warmherziges Lächeln erinnerte sie an eine Zeit, an die sie lange nicht gerührt hatte.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“, bot Alessandro ihr an, als sie das Smartphone weglegte.

„Nein, vielen Dank.“

„Dann etwas essen?“

Sie war hungrig und fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl. Also sagte sie Ja.

Würzige Kartoffelspalten mit Sour Cream, das hatte ihr noch nie so gut geschmeckt!

Die Uhr ging auf Mitternacht zu, als Isla und Alessandro feststellten, dass sie die letzten Gäste waren.

„Ich fahre besser nach Hause.“

„Haben Sie morgen früh Dienst?“

„Nein, an diesem Wochenende habe ich frei.“ Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter und traten auf die Straße. „Sie fangen am Montag an?“

„Ja, und ich freue mich darauf. In dem Krankenhaus, wo ich zuletzt gearbeitet habe, herrschte ein ständiger Kampf um ausreichend Intensivbettchen und – ausrüstung. Es dürfte sehr viel befriedigender sein, auf einer Station zu arbeiten, die nicht unter Kostendruck steht.“ Er sah Isla an – sie war wirklich eine aufregend schöne Frau. Die Anziehungskraft war da, es hatte von Anfang an zwischen ihnen geknistert. „Aber jetzt ist erst einmal Wochenende.“

„Stimmt, Sie wollten mit Ihrer Freundin wegfahren.“ Das hatte er angedeutet, als sie den Termin für den Umtrunk abgesprochen hatten.

„Nicht mehr, wir haben uns getrennt.“

„Das tut mir leid“, sagte Isla und gab damit die richtige Antwort.

„Mir nicht“, sagte Alessandro und gab damit die falsche Antwort. Jedenfalls für Isla.

Den ganzen Abend über war sie völlig unbefangen und offen gewesen, wohl weil sie sich sicher fühlte. Er hatte ja eine Freundin.

Jetzt sah sie ihm in die schwarzen Augen, dann fiel ihr Blick auf seinen Mund. Ein fester männlicher Mund mit einer vollen Unterlippe, der sich nun zu einem sinnlichen Lächeln verzog.

Noch hatte er sie nicht geküsst, doch er würde es tun, das spürte sie mit untrüglicher weiblicher Intuition.

Als Alessandros warme Lippen ihre berührten, schmolz etwas in ihr wie Zuckerwürfel in heißem Kaffee. Es war ein süßer, verführerisch sanfter Kuss, so völlig anders als die verkrampften Küsse mit Rupert. Eine Berührung, zart wie Schmetterlingsflügel, die Isla erbeben ließ.

Er legte die Hände auf ihre Hüften, sie fühlte seine Wärme durch den Jeansstoff ihrer Shorts. Isla versank in watteweichem Wohlgefühl, sehnte sich nach etwas, das sie nicht genau benennen konnte, und wünschte sich gleichzeitig, dass dieser Moment nie enden möge.

Doch als Alessandro den Kuss vertiefte, riss sie die Augen auf und wich zurück. Nicht nur, weil dieser Kuss sie durcheinanderbrachte, sondern vielmehr, weil ihr bewusst geworden war, dass sie mitten auf dem Bürgersteig in leidenschaftlicher Umarmung mit einem Mann stand.

Er denkt, dass ich leicht zu haben bin, dachte sie aufgewühlt. Und vielleicht war sie das auch. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, dass ein einziger Kuss auf direktem Weg ins Bett führen konnte.

Isla wusste sich auf viele Arten zu verteidigen, doch nun griff sie zu einer ihrer schärfsten Waffen. Sie warf ihm einen Blick zu, als sei sie zutiefst angewidert. „Was fällt Ihnen ein?“, zischte sie.

Alessandro hatte es gewusst. Er hätte vorsichtig sein sollen.

Solche hochmütigen Blicke kannte er gut.

Sogar sehr gut!

Natürlich sagte sie es nicht, aber ihre verächtliche Miene sprach Bände. Hände weg, weißt du nicht, wer ich bin?

„Mein Fehler.“ Lässig zuckte er mit den Schultern. „Gute Nacht, Isla.“

Damit ließ er sie stehen. Alessandro dachte nicht daran, auf sich herumtrampeln zu lassen.

Ihr Pech.

Sie hatte den Kuss genauso sehr genossen wie er. Ihre Lippen, ihr weicher, anschmiegsamer Körper waren eine einzige Einladung gewesen. Da konnte sie ihm nichts vormachen.

Ja, Isla hatte den Kuss genossen.

Als sie ins Taxi stieg, bebte sie vor Verlegenheit, aber da war auch ein anderes, ein neues Gefühl. Trotz des beschämenden Schlussakts an diesem Abend fühlte sie sich ungewohnt lebendig, wie wachgeküsst von Alessandros Lippen, deren Wärme sie immer noch auf ihren spürte.

Kurze Zeit später schloss sie die Tür zu ihrem Penthouse-Apartment auf, das einen herrlichen Blick über Melbourne bot, der dem von der Rooftop Garden Bar in nichts nachstand. Lächelnd begrüßte sie ihre Schwester.

„Tut mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte“, sagte Isabel. „War’s schön?“

Isla nickte, noch immer ein wenig benommen von dem verführerischen Kuss.

Es war der schönste Valentinstag ihres Lebens gewesen.

Nicht, dass Alessandro jemals davon erfahren würde …

1. KAPITEL

Neujahrstag

An der Abzweigung zum Melbourne International Airport setzte Isla den Blinker und redete weiter, als wollten Isabel und sie auswärts frühstücken gehen.

Anscheinend mochte keine von ihnen darüber sprechen, dass Isabel für ein Jahr nach England zog. Stattdessen drehte sich die Unterhaltung um Rupert. Er war seit einer Woche wieder in Melbourne, und die Klatschpresse beschäftigte sich ausführlich damit, dass er während der Dreharbeiten zu seinem letzten Film eine Affäre mit einer der Schauspielerinnen gehabt haben sollte. Selbst Isabel wusste nicht, dass Islas Beziehung zu Rupert nur vorgetäuscht war.

„Bist du gar nicht sauer?“, fragte sie.

Isla lachte. „Warum? Nur weil er angeblich vor ein paar Wochen etwas mit einer amerikanischen Kollegin hatte? Du weißt doch, wie die Medien sind.“

„Du bist viel stärker als ich.“ Isabel seufzte. „Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn …“ Sie verstummte.

Isla ahnte, woran ihre Schwester dachte. Isabel hätte Gerüchte, dass Sean jemand anders hatte, nicht ertragen.

Sean Anderson, Gynäkologe und Geburtshelfer, arbeitete seit November am Victoria und war der Grund dafür, dass sie jetzt auf dem Weg zum Flughafen waren. Isabel trat die Flucht nach vorn an, nachdem ihre Jugendliebe unverhofft wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Sie hatte sich bei einem Austauschprogramm für Fachmediziner beworben und einen Platz in Cambridge bekommen. Im Gegenzug würde Darcie Green an ihrer Stelle zwölf Monate lang im Victoria Hospital praktizieren.

Noch nie war Isla beim Anblick des mehrstöckigen Flughafen-Parkhauses mulmig geworden. Doch als sie jetzt durch die Schranke fuhr, nahm der Druck in ihrem Magen zu.

Sie luden Isabels Gepäck aus dem Kofferraum auf einen Wagen und schoben ihn zum Fahrstuhl. In der Kabine drückte Isla auf den Knopf für die Abflughalle und lächelte. Es fühlte sich gezwungen an.

„Wenn ihre Maschine pünktlich ist, siehst du Darcie vielleicht vorher noch“, sagte sie.

Isabel nickte. „In ihren Mails klingt sie wirklich nett. Ich hoffe, das ist sie auch – vor allem weil du mit ihr zusammenwohnen wirst.“

Isla hatte noch nie allein gelebt. Aber da die Wohnung riesig war, hatte es nahegelegen, Darcie anzubieten, für die Dauer ihres Aufenthalts dort einzuziehen. Inzwischen war sich Isla nicht mehr so sicher. Isabel verschwand nach Europa, um mit ihrem Herzen ins Reine zu kommen, und auch Isla wollte darüber nachdenken, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte.

Im Grunde wusste sie es längst. So ging es nicht weiter, sie musste endlich anfangen, wirklich zu leben. Und dazu gehörte, dass sie die Scharade mit Rupert beendete. Noch schreckte sie davor zurück, sich zu öffnen, sich auf die Suche nach dem Richtigen zu machen. Aber wenn sie nicht eines Tages einsam und allein dasitzen wollte, musste sie sich verändern und den nächsten Schritt wagen.

Allerdings heute Abend noch nicht!

Wieder traf sie sich mit Kolleginnen und Kollegen auf einen Drink in der Rooftop Bar, diesmal, um Darcie willkommen zu heißen. Alessandro würde auch dort sein.

Seit jenem Valentinsabend war fast ein Jahr vergangen, die Stimmung zwischen ihnen angespannt geblieben. Der Mann war ein Playboy, wie er im Buche stand. Isla ärgerte sich, wenn sie mit ansehen und hören musste, wie er hemmungslos mit Krankenschwestern und Ärztinnen flirtete oder sich mit ihnen verabredete. Obwohl er Isla selbst kaum eines Blickes würdigte, geschweige denn mit ihr flirtete.

So viel war klar: Alessandro hielt sie für eine snobistische Zicke, die sich über ihren Vater einen leitenden Posten erschlichen hatte.

Dass sie selten zusammen arbeiten mussten, passte beiden sehr gut ins Konzept!

Die Morgensonne schien gleißend hell vom Himmel, als Isla und Isabel den verglasten Übergang vom Parkhaus zur Abflughalle betraten. Neugierige Blicke folgten den beiden Schwestern. Nicht nur, weil sie ausgesprochen gut aussahen mit ihrem auffallend blonden Haar und der Modelfigur. Nein, viele Leute erkannten sie von den zahlreichen Fotos in Zeitungen und Zeitschriften wieder.

Isabel und Isla waren diese besondere Aufmerksamkeit gewohnt, doch heute Morgen hätten sie gern darauf verzichtet.

Heute Morgen waren sie keine Promis, sondern zwei Schwestern, die sich für ein ganzes Jahr voneinander verabschiedeten. Der Anlass dafür lag zwölf Jahre zurück in ihrer Vergangenheit begraben, und beide konnten nicht darüber sprechen. Auch ein Zeichen dafür, dass sie den Vorfall noch nicht endgültig hinter sich gelassen hatten.

Was in jener Nacht geschehen war, hatte bei den Schwestern tiefe, wenn auch unterschiedliche Narben hinterlassen.

Isabel gab ihre Koffer am Check-in auf. „Ich werde nicht auf Darcie warten, sondern gleich zum Gate gehen“, sagte sie zu Isla.

Die verstand, was sie meinte. Sie könnten noch einen Kaffee zusammen trinken, aber das würde den Abschied nur hinauszögern.

„Ach Isabel, ich werde dich wahnsinnig vermissen!“ Isla umarmte sie und mochte gar nicht daran denken, wie sehr. Sie wohnten und arbeiteten nicht nur zusammen, sondern teilten sich auch zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen. Auftritte bei Spendengalas und anderen Wohltätigkeitsveranstaltungen, an denen eine Delamere teilnehmen musste.

„Du verstehst doch, warum ich für eine Weile verschwinde?“ Isabel sah ihre Schwester bittend an.

Isla nickte nur. Ihr Hals war sie zugeschnürt.

„Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll“, fuhr Isabel fort. „Seit Sean wieder da ist, muss ich ständig daran denken. Er hat nie verstanden, warum ich von einem Tag auf den anderen Schluss gemacht habe. Was zwischen uns gewesen ist, war mehr als eine Teenagerliebelei. Ich habe ihn geliebt, Isla …“

Tränen rannen Isabel über die Wangen, und obwohl Isla die Jüngere war, wusste sie, dass sie jetzt für ihre Schwester stark sein musste. Sie schob ihre eigenen Ängste und kummervollen Erinnerungen beiseite, nahm Isabel in die Arme und drückte sie tröstend an sich. „Du machst das schon richtig“, versicherte sie beruhigend. „Es wird alles gut, ganz bestimmt.“

„Aber du sagst doch Sean nichts, oder?“ Isabel klang zaghaft.

„Natürlich nicht. Keiner wird je davon erfahren, das hatte ich dir damals versprochen. Nutze dieses Jahr, um mit dir ins Reine zu kommen. Ich werde das Gleiche tun.“

„Du?“ Überrascht sah sie Isla an. „Was musst du denn für dich klären? Ich kenne niemanden, der so gefestigt ist wie du.“

Das täuscht. „Hab dich lieb“, sagte Isla statt einer Antwort.

„Ich dich auch.“

Eine letzte Umarmung, dann machte sich Isabel auf den Weg durch die Passkontrolle. Isla sah, wie sie Pass und Bordkarte vorzeigte. Bevor sie endgültig den abgetrennten Bereich betrat, drehte ihre Schwester sich noch einmal kurz um und winkte.

Sobald Isabel außer Sichtweite war, erlosch Islas Lächeln. Sie, die nie weinte, spürte, wie die Dämme brachen. Froh darüber, dass bis zu Darcies Ankunft noch eine gute Stunde vergehen würde, eilte sie zum Parkhaus. Tränenblind nahm sie auf dem Weg durch den Glasgang kaum etwas wahr.

Endlich erreichte sie ihren Wagen, setzte sich hinein und weinte bitterlich.

Sie verstand ja, warum Isabel flüchtete. Seit Sean nach Melbourne zurückgekehrt war und sie ihm täglich auf der Entbindungsstation begegnete, musste ihrer Schwester die geliebte Arbeit wie ein Joch vorkommen. Sogar für Isla waren die damaligen Ereignisse so schrecklich gewesen, dass sie heute noch nachts von Albträumen geplagt wurde.

Angefangen hatte es wundervoll romantisch. Sie erinnerte sich sehr gut, wie sie als Zwölfjährige förmlich an den Lippen ihrer sechzehn Jahre alten Schwester gehangen hatte, während Isabel von ihrem Freund erzählte, von den Treffen mit ihm und davon, wie sie sich geküsst hatten.

Irgendwann jedoch hörten die herzbewegenden Geschichten auf. Isabel wurde verschlossen wie eine Auster.

Ein Flugzeug donnerte über sie hinweg, und der Lärm schluckte Islas Aufschluchzen, als sie sich daran erinnerte, wie sie in jener Nacht wach geworden war, weil sie Isabel weinen hörte.

Ihre Eltern waren verreist, und Evie schlief in ihrer kleinen Einliegerwohnung am anderen Ende der Villa. Die Schwestern waren praktisch allein. Von Isabels Schluchzen geweckt, stieg Isla aus dem Bett und tappte barfuß zum Bad, lauschte einen Moment.

„Isabel?“ Leise klopfte sie an die Tür.

„Geh wieder schlafen, Isla.“ Ein schmerzerfülltes Stöhnen begleitete die gepresste Antwort.

Alarmiert drückte Isla die Klinke hinunter. Vergeblich. „Isabel, mach auf!“

Stille.

Dann wieder ein unterdrücktes Stöhnen. Isla bekam es mit der Angst zu tun.

„Isabel, bitte.“ Wieder klopfte sie. „Wenn du mich nicht reinlässt, hole ich Evie.“

Evie war mehr als eine Haushälterin. Sie kümmerte sich um die beiden Mädchen, als wären es ihre eigenen. Und sie war für sie da, wenn die Eltern eine Party und ein Festbankett nach dem anderen besuchten.

Die Schwestern liebten Evie heiß und innig.

Isla wollte schon loslaufen, da drehte sich der Schlüssel im Schloss. Sie öffnete die Tür und blieb erschrocken stehen, traute ihren Augen nicht. Schweißgebadet krümmte sich Isabel am Boden, auf den Fliesen war Blut.

Momente später dämmerte es Isla: Ihre Schwester bekam ein Baby.

„Bitte verrate Evie nichts“, flehte Isabel. „Niemand darf davon wissen. Versprich mir, dass du es keinem erzählst …“

Ihre Schwester, die vor Schmerzen stöhnte, dazu überall Blut … trotzdem schaffte es Isla irgendwie, ruhig zu bleiben.

Sie sank auf die Knie, als Isabel sich auf den Rücken drehte und sich mit den Ellbogen abstützte. „Wir schaffen das“, sagte sie beruhigend. „Es wird alles gut.“

„Ich spüre etwas zwischen den Beinen.“ Wieder stöhnte Isabel auf. „Es kommt.“

Gleich darauf hielt Isla das Baby in den Händen, blickte darauf, während Isabel vor Erschöpfung weinte.

Das Kind, ein winzig kleiner Junge, war tot.

In den Wochen und Monaten danach sollte sie sich immer wieder fragen, ob sie ihn hätte retten können. Jetzt betrachtete sie die geschlossenen Augen, streichelte sanft die schmale Hand ihres Neffen. „Er ist wunderschön“, sagte sie andächtig.

Isla wickelte ihn in ein Handtuch und reichte ihn ihrer schluchzenden Schwester.

„Wusstest du, dass du schwanger warst?“

Isabel antwortete nicht, sondern strich über die kleine Wange des Jungen.

„Wusste Sean davon?“

„Niemand weiß es. Und du musst mir versprechen, dass du nie, niemals jemandem davon erzählst!“

Das konnte sie nicht.

„Ich muss es Evie sagen.“

„Nein, bitte nicht, Isla.“

„Und was sollen wir mit ihm machen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Aber du weißt, dass wir uns um ihn kümmern müssen.“

Isabel nickte unter Tränen. „Du sagst es nur Evie, versprich mir das.“

„Versprochen.“

Isla rannte durchs Haus und weckte Evie.

Die Haushälterin reagierte anfangs erschrocken, blieb jedoch besonnen. Sie ahnte, was für ein Skandal der Familie drohte und welche Folgen das für Isabel hätte, wenn die Geschichte publik wurde. Eine ihrer Schwestern arbeitete als Hebamme in einem Vorstadtkrankenhaus. Evie rief sie an und fragte, was sie tun sollten.

Bedrückt erinnerte sich Isla an die Fahrt zu einem Vorort von Melbourne. Isabel hielt ihr Baby im Arm und weinte stumm vor sich hin. Im Krankenhaus kam Evies Schwester ihnen entgegen, Isabel wurde in einen Rollstuhl gesetzt und zur Entbindungsstation geschoben. Isla folgte ihr, stark beeindruckt davon, wie freundlich, ruhig und unaufgeregt die Hebamme sie begrüßt hatte.

„Was passiert jetzt?“, fragte sie. Die anderen sahen sie an, als merkten sie erst jetzt, dass Isabels jüngere Schwester auch noch da war. Eine Krankenschwester brachte sie in einen kleinen Warteraum.

Später, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, kam Evie zu ihr und sagte, dass das Baby zu klein gewesen sei, um registriert zu werden. Damals hatte Isla keine Ahnung gehabt, was das genau bedeutete, aber sie dachte sich, dass die Sache wenigstens nicht herauskommen würde.

Jahre danach sollten Islas Eltern Sturm laufen gegen ihre Entscheidung, Hebamme zu werden. Dir stehen mehr Türen offen, sagten sie. Eine Delamere ist zu Höherem geschaffen. Doch für Isla war es das Höchste und das Größte, werdende Mütter zu betreuen und Babys auf die Welt zu helfen.

Ihr Vorbild waren die Hebammen, die sich in jener Nacht um Isabel gekümmert hatten.

Nur eins würde sie besser machen.

Zwar war ihre Schwester liebevoll umsorgt worden von Frauen, die sich auskannten mit verängstigten Sechzehnjährigen, deren Eltern von der Schwangerschaft nichts erfahren durften. Aber darüber hatten sie schlichtweg jemanden vergessen. Isla saß allein im Warteraum, voller Sorge um ihre geliebte Schwester. Es waren quälende Stunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen.

Irgendjemand, eine der Hebammen oder der behandelnde Arzt, hätte an das zwölfjährige Mädchen denken und wenigstens kurz mit ihm sprechen müssen. Sie hätten ihr erklären können, dass ein Baby, das in der achtzehnten Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, nicht überleben kann. Dass Isla nichts hatte tun können, um ihren kleinen Neffen am Leben zu erhalten.

Das erfuhr sie erst viele Jahre später während ihrer Ausbildung.

Ja, diese Nacht hatte Narben hinterlassen.

Auf den ersten Blick hatte Isla alles: eine fantastische Figur, lange, golden schimmernde Haare, schicke Designerkleidung und einen berühmten Namen, der ihr Zutritt zu schillernden gesellschaftlichen Anlässen verschaffte. Niemand hätte vermutet, dass sich dahinter eine junge Frau verbarg, die höllische Angst davor hatte, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen. Weil für sie Sex gleichbedeutend war mit einer drohenden Katastrophe. Ihr Verstand sagte ihr natürlich, dass dem nicht so war. Doch das Gefühl blieb fest verankert mit der Folge, dass sie als Teenager Verabredungen mit Jungen vermieden hatte. Und im letzten Schuljahr war Rupert wie ein Geschenk des Himmels gewesen. Die perfekte Lösung.

Isla hatte nie mit jemandem über die traumatische Nacht geredet.

Sie hatte es ihrer Schwester doch versprochen.

Isla klappte den Spiegel herunter, um die Tränenspuren, so gut es ging, zu beseitigen. Ihre Lider waren geschwollen, die Nase gerötet. Isla weinte nie. Eine einzige Träne konnte die Erinnerungen an damals mit voller Wucht zurückbringen. Deshalb hielt sie selbst bei den schwierigsten Geburten ihre Gefühle im Zaum.

Immer.

Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg zur Ankunftshalle. Dort suchte sie sich einen Platz, von dem aus sie alle drei Ausgänge im Blick hatte, fragte sich aber, ob sie Darcie überhaupt erkennen würde.

Letztendlich entdeckte Darcie sie zuerst.

„Isla!“, ertönte eine helle Stimme hinter der Absperrung.

Lächelnd drehte sie sich um. „Einen Moment lang auf die falsche Tür geachtet, und schon kommt sie durch eine andere!“ Sie umarmte sie herzlich. „Frohes neues Jahr, Darcie.“

„Danke, dir auch.“ Die Ärztin strahlte.

„Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ich dich verpasse, weil ich dich nicht erkenne.“

„Oh, ich habe dich sofort erkannt. Du siehst genauso toll aus wie in der Zeitschrift, die ich gerade …“ Verlegen unterbrach sie sich. Wahrscheinlich war ihr bewusst geworden, dass Isla über den Artikel, den Darcie im Flugzeug gelesen hatte, nicht besonders erfreut wäre. Alle Zeitungsberichte, die sich mit Isla befassten, drehten sich zurzeit nur um Ruperts Untreue.

Isla ging einfach darüber hinweg und wies den Weg zum Ausgang. Melbournes unbeständiges Wetter zeigte sich von der besten Seite. Ein silberblauer Himmel spannte sich über der Stadt, herrlicher Sonnenschein empfing die beiden Frauen.

„Hast du während des Flugs ein bisschen schlafen können?“, fragte Isla, als sie den Wagen in den morgendlichen Verkehrsstrom lenkte.

„Nein, eher nicht. Ich werde dir keine gute Gesellschaft sein.“

„Das macht nichts.“ Isla lächelte. „Ich bringe dich nach Hause und fahre zur Arbeit. Du hast die Wohnung ganz für dich allein.“

„Du hättest mir sagen sollen, dass du Dienst hast.“ Darcie schien unangenehm berührt. „Ich hätte mir ein Taxi genommen.“

„Nein, ich wollte dich gern abholen. Außerdem war ich sowieso am Flughafen, weil ich Isabel hingebracht habe.“

„Ach ja, natürlich.“ Darcie warf ihr einen Blick zu. Isla war klar, dass Make-up und eine dunkle Brille nicht völlig verbergen konnten, dass sie geweint hatte. Und nach der Lektüre der Zeitschrift zog Darcie bestimmt ihre Schlüsse. „Es war sicher schwer, dich von deiner Schwester zu verabschieden“, fügte sie mitfühlend hinzu.

„Ja, das war es. Ich werde sie sehr vermissen. Aber es wird bestimmt ein tolles Jahr für sie in England.“

Sie plauderten unbefangen, während sie weiter nach Melbourne hineinfuhren. Isla zeigte ihr ein paar Sehenswürdigkeiten wie den Federation Square, das kulturelle Zentrum im Herzen der Stadt, und das Arts Centre mit seiner markanten Stahlspitze, das Theater- und Konzerthallen beherbergte. Darcie meinte, sie könnte es kaum erwarten, Straßenbahn zu fahren.

„Heute Abend hast du die erste Gelegenheit dazu“, versprach Isla. „Ich habe ein kleines Treffen mit den Kolleginnen und Kollegen organisiert. Das ist bei uns in der MMU schon Tradition. Wir heißen unsere Neuen auf besondere Art willkommen, und wenn sie dann ihren ersten Arbeitstag haben, können sie gleich starten, ohne sich überall vorstellen zu müssen.“ Sie warf Darcie einen Seitenblick zu. „Aber wenn es dir zu viel wird, werden alle Verständnis haben. Du bist ja einmal um die halbe Welt geflogen.“

„Nein, nein, das geht schon. Was für eine nette Idee! Ich freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen.“

„Hast du einen Freund, den du zurücklassen musstest?“

Darcie schüttelte den Kopf. „Ich bin seit Kurzem Single, und das soll auch so bleiben. Meine Karriere steht an erster Stelle. Und ich habe schon so viel über die MMU am Victoria Hospital gehört – ich brenne darauf, bei euch anzufangen!“

„Da ist es.“ Isla fuhr langsamer, damit Darcie einen Blick auf das altehrwürdige Gebäude werfen konnte. Nach außen hin wirkte es wie aus einer längst vergangenen Zeit, doch hinter den mächtigen Mauern arbeiteten hoch qualifizierte Teams mit der besten Ausstattung, die die moderne Medizin zu bieten hatte.

Bald darauf erreichten sie das Apartmentgebäude, und Isla parkte den Wagen in der Tiefgarage.

„Wow“, entfuhr es Darcie, als sie die Penthouse-Wohnung betrat. „Als du sagtest, wir teilen uns ein Apartment, da habe ich bestimmt nicht so etwas erwartet.“ Sie schien überwältigt von der luxuriösen Umgebung und blickte staunend aus den hohen Fenstern hinunter auf das geschäftige Treiben in den Straßen der Großstadt. „Wahnsinn!“

„Du wirst dich bald wie zu Hause fühlen“, versicherte Isla. „Wir machen einen kleinen Rundgang, dann muss ich aber wirklich zur Arbeit.“

„Die Führung kann warten. Ich möchte nur schnell duschen und ins Bett. Kann sein, dass ich noch drinliege, wenn du nach Hause kommst.“

Isla zeigte Darcie ihr Zimmer mit dem eigenen Bad. Kurz erklärte sie die Fernbedienung für die Jalousien und ein paar andere Dinge und zog sich für die Arbeit um.

„Ich versuche, gegen sechs wieder hier zu sein“, sagte sie schließlich. „Der Umtrunk ist um sieben. Falls ich es nicht schaffe, schicke ich eine Kollegin vorbei, die dich abholt.“

„Nicht nötig. Sag mir einfach den Namen der Bar, ich finde schon allein hin.“

„Kommt gar nicht in die Tüte“, antwortete Isla lächelnd. „Du wirst auf keinen Fall an deinem ersten Tag in Melbourne allein durch die Stadt irren.“

Sie ist nett, dachte sie, während sie zum Victoria fuhr. Isla war immer noch ein bisschen erschöpft von ihrem Gefühlsausbruch. Noch nie hatte sie so sehr geweint wie vorhin im Auto. Aber seit Sean wieder da war, konnte sie die Erinnerungen an damals nicht mehr von sich schieben.

Wie um das zu unterstreichen, war Sean die erste Person, der sie begegnete, als sie die MMU betrat. Zu allem Überfluss winkte er sie auch noch zu sich. Auch wenn das unmöglich war, sie hätte sich am liebsten wieder hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt!

„Kannst du mal mit Christine Adams reden?“, bat er sie. „Du hast einen besseren Draht zu Teenagern, und ehrlich – was ich ihr auch über Verhütung erzähle, scheint zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rauszugehen. Ich sehe sie schon in neun Monaten wieder bei uns auftauchen. Nach der Geburt hatte ich ihr eine Spirale eingesetzt, doch sie bekam leichte Blutungen, sodass die abgestoßen wurde. Eine neue kann ich frühestens in sechs Wochen einsetzen. Hinzu kommt, dass Christine schon einmal eine tiefe Venenthrombose hatte. Sie darf also nicht die Pille nehmen.“

Er seufzte. „Kannst du auf sie einwirken, dass sie und ihr Freund unbedingt jedes Mal ein Kondom benutzen? Immerhin hat sie mir gesagt, dass sie in den nächsten zwei Jahren kein Baby haben möchte. Und sie hat recht – ihr Körper sollte sich mindestens so lange von dieser Schwangerschaft erholen.“

„Ihr Eisenwert ist ziemlich im Keller.“ Sie studierte die Patientenkarte.

„Ja. Ich war drauf und dran, ihr eine Bluttransfusion zu verordnen, aber wenn sie regelmäßig ihre Eisentabletten nimmt, sollte sich ihr Zustand bald bessern.“

„Gut, ich spreche mit ihr.“ Isla hatte oft mit sehr jungen Schwangeren zu tun und daher im letzten Jahr eine Gesprächsgruppe gegründet, den Teenage-Mummy-Treff oder kurz TMT. Wenn sie verhindert war, sprang eine der anderen Hebammen für sie ein, und oft kam ein Gynäkologe und Geburtshelfer hinzu, der Fragen der Mädchen beantwortete. Der Zuspruch war groß, die Runde versprach ein voller Erfolg zu werden.

Christine hatte innerhalb eines Jahres mit zwei Schwangerschaften teilgenommen. Robbie, vor wenigen Tagen zur Welt gekommen, war ihr zweites Baby. Heute Morgen sollte sie nach Hause entlassen werden, wo sie sich dann um ein Neugeborenes und ein zehn Monate altes Kind kümmern musste. Und das mit einer Blutarmut. Sie konnte schneller wieder im Krankenhaus landen, als allen lieb war.

„Ach, noch etwas, Isla“, begann Sean, als sie schon losgehen wollte. Mehr erfuhr Isla allerdings nicht, da er hinter ihr jemanden entdeckt hatte. „Guten Morgen, Alessandro. Danke, dass du runtergekommen bist! Übrigens siehst du blendend aus.“

Mehr als blendend, dachte Isla. Und dabei war ein atemberaubender Alessandro mit seinem lässigen Lächeln genau das, was sie heute Morgen nicht gebrauchen konnte. Er sah göttlich aus: maßgeschneiderter Anzug, der seine breiten Schultern betonte, eine tadellos gebundene Krawatte. Und besonders ungewöhnlich: frisch rasiert! Man hätte meinen können, dass er auf dem Weg zu einer Hochzeit war und nicht zu einem Neugeborenen, um das sich Sean Sorgen machte.

„Guten Morgen“, sagte er.

„Morgen, Alessandro!“, rief eine von Islas Hebammen ihm zu.

„Was für eine Augenweide“, flötete eine andere.

Islas Stimmung ging noch weiter auf Talfahrt, als aus dem nächstgelegenen Behandlungszimmer ein anerkennender Pfiff ertönte. Sie umschwärmten ihn wie die Bienen den Honigtopf, und Alessandro nahm es lächelnd zur Kenntnis.

Nicht, dass er sie angelächelt hätte. Zwischen ihnen herrschte Eiszeit. Beide waren jedoch professionell genug, die Arbeit nicht darunter leiden zu lassen. Ihre Pfade kreuzten sich, aber Isla und Alessandro achteten sorgsam darauf, so wenig Kontakt wie möglich zu haben. Allerdings geriet sie hart an ihre Grenzen, weil er ungeniert mit ihren Hebammen flirtete. Sie überlegte, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Vor allem seit ihr zu Ohren gekommen war, dass er sich mit einer ihrer Hebammenschülerinnen traf.

Amber war zwar nicht mehr blutjung und sogar etwas älter als Isla, doch solche Gerüchte weckten die Glucke in ihr.

Andererseits musste auch sie zugeben, dass Alessandro ein hart arbeitender Arzt war, einer der tüchtigsten überhaupt. Wenn sie morgens zum Dienst erschien, war er schon da, und abends blieb er meistens länger.

„Was hast du für mich?“, fragte er Sean.

„Ich lasse euch in Ruhe“, sagte Isla, froh über die Gelegenheit, verschwinden zu können.

„Kannst du einen Moment warten, Isla? Ich habe noch eine Frage an dich.“ Sean wandte sich an Alessandro. „Heute früh haben wir ein Baby auf die Welt geholt, das bei der Geburt gesund und normal entwickelt schien. Aber es schreit nicht richtig. Alles andere ist in Ordnung.“

„Das sehe ich mir gleich an.“

„Warum hast du dich so aufgebrezelt?“ Sean zwinkerte ihm zu.

Seine Frage war berechtigt, da Alessandro sonst nur in OP-Kleidung herumlief und meistens aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen.

„Mittagessen mit den großen Häuptlingen“, kam die ironische Antwort. Unerwartet blickte er Isla an, lächelte verhalten. „Genauer gesagt mit Islas Vater.“

Bildete sie sich etwas ein, oder war das eine kleine Spitze gegen sie?

„Viel Spaß“, sagte sie.

„Wohl kaum“, erwiderte er knapp. „Manches muss man einfach über sich ergehen lassen.“

Alessandro wusste, worum es bei diesem Essen ging. Er sollte demnächst für seine Zuwendungen an die Neonatal-Station im letzten Jahr gewürdigt werden. In zwei Wochen fand ein hochkarätiger Spendenball statt, und Charles Delamere würde versuchen, ihn dafür einzuspannen. Natürlich war Fundraising enorm wichtig, und Alessandro empfand auch einen gewissen Stolz, dass sein Beitrag anerkannt werden sollte. Andererseits würde er lieber seine Arbeit machen, als beim Frühstücksfernsehen über die Neonatal-Abteilung zu sprechen – wie Charles es kürzlich vorgeschlagen hatte.

Seine Tochter schien ihre eigenen Sorgen zu haben. Die leicht geschwollene Augenpartie verriet Alessandro, dass sie geweint hatte. Wegen ihres untreuen Freundes, so nahm er jedenfalls an. Die Wochenendausgaben der Boulevardblätter waren voll davon gewesen. Allerdings hat sie sich gut im Griff, dachte er. Mit geringschätziger Miene wartete sie sichtlich gelangweilt, dass er sein Gespräch mit Sean beendete. Und als er ging, um sich den Säugling anzusehen, würdigte sie ihn keines Blickes.

Er ahnte nicht, dass die kühle Haltung nur vorgetäuscht war. Isla zitterte innerlich, weil sie zu wissen glaubte, was Sean sie fragen wollte. Nach Isabel.

„Wie war’s heute Morgen?“

„Gut.“

„Ist Isabel gut weggekommen?“

„Sie hat mir gerade geschrieben, dass sie jetzt an Bord geht. Worüber wolltest du mit mir sprechen?“

„Darüber“, antwortete er. „Isla, ihre Entscheidung, nach England zu gehen, hat doch nichts damit zu tun, dass ich hier arbeite, oder?“

„Sean, man hat ihr angeboten, ein Jahr lang Erfahrungen an einer englischen Klinik zu sammeln. Wer würde da nicht mit beiden Händen zugreifen?“

„Ich meine nur …“

„Tut mir leid, Sean, ich habe zu tun.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie davon.

Er mochte sie für abweisend halten, doch das war ihr immer noch lieber, als mit ihm über Isabel sprechen zu müssen.

Isla holte ein paar Kondome aus dem Vorrat an Warenproben, legte sie in eine Tüte und ging zu Christine und ihrem Neugeborenen.

Blake, ihr Freund und genau wie sie achtzehn Jahre alt, war bei ihr, zusammen mit Joel, dem ersten Baby der beiden jungen Leute.

Über Verhütung zu sprechen fiel Isla nicht schwer. Unbefangen und offen behandelte sie das Thema mehrmals am Tag auf der Station oder in den Sprechstunden der Schwangerschaftsnachsorge. Doch als sie nun den Vorhang beiseitezog, hinter dem Christine den kleinen Robbie stillte, fiel ihr Blick auf die glänzenden schwarzen Schuhe auf der anderen Seite des angrenzenden Vorhangs. Alessandro. Dass er nebenan ein Baby untersuchte und jedes Wort zwischen ihr und Christine und Blake hören konnte, verunsicherte sie doch ein bisschen.

„Hallo, Christine.“ Isla lächelte. „Hi, Blake. Heute geht’s also endlich nach Hause?“

„Ich kann es kaum erwarten.“ Liebevoll blickte sie auf ihr Baby hinunter. Robbie lag ruhig an ihrer Brust und trank.

„Du machst das großartig“, lobte Isla. „Stillst du Joel noch?“

„Nur nachts. Aber jetzt ist er eifersüchtig auf Robbie und will öfter gestillt werden.“

Und richtig, Joel starrte seinen Bruder missmutig an.

Christine war eine bewundernswerte Mutter, doch Isla verstand, warum Sean sich Sorgen um sie machte. Das Mädchen wirkte blass und durchscheinend. Für Christine selbst blieb kaum Kraft übrig, wenn sie zwei Kinder stillte.

„Ich möchte mit dir noch über Verhütung sprechen“, begann Isla, kam aber nicht weit.

„Oh, das ist schon klar“, unterbrach Christine sie. „Die Hebamme hat es uns erklärt, und Dr. Anderson war auch deswegen hier. Sie müssen nicht alles noch mal sagen.“

„Ich möchte es trotzdem.“

„Dann lasse ich euch solange allein.“ Blake stand auf.

„Nein, nein, bleib bitte hier.“ Isla lächelte, als der junge Mann sich widerstrebend setzte. „Ich möchte mit euch beiden reden. Wie ihr wisst, hat es mit der Spirale nicht geklappt. Das kann passieren. Dr. Anderson möchte allerdings bis zu deiner Nachsorge in sechs Wochen warten, bevor er eine neue einsetzt.“

„Ja, das hat er mir gesagt.“ Christine seufzte.

„Euch ist doch klar, dass Stillen kein verlässliches Verhütungsmittel ist?“

Christine sah Robbie an und fing an zu lachen. „Inzwischen weiß ich es … er ist der Beweis!“

„Du kannst auch nicht die Pille nehmen, weil du für Thrombosen anfällig bist“, fuhr Isla fort. „Ihr müsst jedes Mal ein Kondom benutzen oder auf Geschlechtsverkehr verzichten, bis …“

„Zur Not gibt’s die Pille danach“, warf Christine ein.

Isla hielt gar nichts davon, diese Pille als Hintertürchen nach sorglosem Verkehr zu nutzen. Wenn sie dazu riet, dann höchstens in Missbrauchsfällen. Außerdem kam das Mittel für Christine wegen der Thrombosegefahr nicht infrage. Das sagte sie ihr auch. „Ihr müsst vorsichtig sein“, fügte sie hinzu, wurde aber wieder von der jungen Mutter unterbrochen.

„Ich warte doch nicht sechs Wochen, und er …“ Mit dem Kopf deutete sie auf Blake. „… kann das erst recht nicht.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ihr in der Zeit nicht miteinander schlafen sollt“, meinte Isla geduldig. „Sondern nur, dass ihr wirklich jedes Mal ein Kondom nehmt, bevor die Spirale eingesetzt werden kann.“ Sie blickte Blake an. „Deshalb wollte ich auch mit dir reden.“

„Ach, lassen Sie ihn doch.“

„Christine, du bist hochgradig anämisch. Eine Schwangerschaft ist das Letzte, was dein Körper jetzt gebrauchen kann. Ich bitte Blake nur darum, vorsichtig zu sein.“

„Es ist nicht seine Schuld, er passt ja auf“, verteidigte das Mädchen seinen Freund. „Waren Sie denn noch nie so hin und weg, dass Ihnen alles egal war?“

Isla sah flüchtig zu den schwarzen Männerschuhen hinter dem Vorhang. Alessandro hörte alles mit.

Ihre Wangen wurden warm, etwas, das ihr nur sehr selten passierte.

„Nun?“ Christine blickte sie an und grinste. „Ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine.“

„Hier geht es nicht um mich“, entgegnete Isla ruhig. „Ich habe den Vorratsschrank für euch geplündert“, setzte sie hinzu und drückte Blake die Tüte in die Hand. „Denkt jedes Mal daran – oder ich sehe euch sehr schnell wieder bei uns. Vielleicht mit Zwillingen? Vier Kinder unter zwei Jahren, was für ein Spaß!“

Wäre die Angelegenheit nicht so ernst gewesen, sie hätte über Blakes entsetzte Miene gelacht. Er blickte erst Christine an, dann Isla. Die hoffte, dass er die Botschaft verstanden hatte. „Alles klar?“, fragte sie.

„Alles klar.“ Er nickte.

Draußen wäre sie fast mit Alessandro zusammengestoßen. Er lächelte, was für sie fast einem Waffenstillstand gleichkam. Isla lachte unwillkürlich auf.

„Sie haben Christines Frage nicht beantwortet“, neckte er.

„Stimmt.“

„Weil Sie kein gutes Vorbild abgegeben hätten?“, forschte er nach, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen.

Isla ließ sich nicht aus der Reserve locken und lächelte vage. Ihn würde auf der Stelle der Schlag treffen, wenn er die Wahrheit wüsste.

Zum Glück hakte er das Thema ab und berichtete von dem Neugeborenen, das er sich auf Seans Bitte hin angesehen hatte. „Es sieht gut aus, keine Anzeichen einer Infektion. Ich vermute, er hat einen schlaffen Kehlkopf, daher das heisere Schreien. Trotzdem brauche ich einen Bluttest, und alle zwei Stunden sollte die Temperatur gemessen werden. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, verständigen Sie mich bitte sofort.“

Als sie nickte, fiel ihm wieder auf, wie mitgenommen sie um die Augen herum aussah. Alessandro war drauf und dran, etwas zu sagen.

Aber was?

Es tut mir leid, dass Ihr Freund Sie hintergeht?

Es tat ihm ja nicht leid.

Okay, natürlich tat es ihm leid, dass sie litt, aber dass es zwischen ihr und Rupert aus war, nicht.

Obwohl fast ein Jahr vergangen war, seit er beschlossen hatte, sie nicht zu mögen, dachte Alessandro oft an jenen ersten Abend mit Isla. Dass sie mit dem sprichwörtlichen Silberlöffel im Mund geboren worden war und anscheinend auch die für ihre Schicht typische Arroganz in die Wiege gelegt bekommen hatte, änderte nichts daran, dass sie ihm einfach nicht aus dem Sinn ging.

„Um wie viel Uhr fängt das Treffen heute Abend an?“, fragte er.

„Gegen sieben.“

„Gut. Sehen wir uns dort?“

„Ja.“

Es war die persönlichste Unterhaltung, die sie seit dem Abend damals geführt hatten.

Und dabei wird es auch bleiben, schwor er sich, als er sich abwandte.

Alessandro gefiel es gar nicht, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Elf Monate waren vergangen, und dennoch war ihm ihr Duft vertraut, wann immer ihm ein Hauch davon in die Nase stieg. Und er ärgerte sich über sich selbst, dass er ihr vorhin offen in die Augen gesehen und gelächelt hatte.

Halt dich zurück, ermahnte er sich.

Seine Beziehungen zu Frauen waren locker und sollten es auch bleiben. Für mehr war Alessandro nach seiner Erfahrung mit Talia nicht zu haben. Allerdings glaubte er auch nicht, dass Isla Delamere ihre Meinung über ihn jemals ändern würde.

2. KAPITEL

Isla begleitete eine Entbindung und war erst kurz vor halb sieben zu Hause.

Darcie war schon aufgestanden und kam gerade aus der Dusche. Isla war froh, in der riesigen Wohnung nicht allein zu sein.

„Kann ich mir deinen Föhn leihen? Der Stecker passt hier nicht.“

„Klar.“ Isla holte ihn ihr. „Ich will nur schnell Rupert schreiben, dass ich mich verspäte und wir uns direkt dort treffen.“

„Oh, dann seht ihr euch also noch …“ Darcie verstummte betreten. „Entschuldige, Isla. Das geht mich überhaupt nichts an. Meine Manieren scheinen in England geblieben zu sein.“

„Mach dir keine Gedanken. Meine Schwester hat fast das Gleiche gesagt“, sagte sie achselzuckend. „Es muss dir nicht unangenehm sein. Ich gebe nichts auf das, was die Regenbogenpresse schreibt. Das sind nur Lügen, die sich jemand aus den Fingern gesogen hat.“

„Natürlich. Es ist schön, dass du ihm vertrauen kannst.“ Darcie lächelte, doch Isla meinte, flüchtig einen Ausdruck von Mitgefühl in ihren Augen zu entdecken. Also dachte Darcie das Gleiche wie viele andere auch: Rupert hielt sie zum Narren.

Isla ging duschen.

Neues Jahr, neues Glück, dachte sie, während sie sich einseifte. Ich werde mit Rupert Schluss machen.

Sie durfte sich nicht länger hinter ihm verstecken. Außerdem warf es kein gutes Licht auf sie, dass sie unverbrüchlich zu ihm hielt, während alle Leute glaubten, dass er sie nach Strich und Faden betrog.

Rupert hatte sie längst angerufen und ihr erklärt, wie es zu dieser Geschichte gekommen war. Besagte Schauspielerin hatte denselben Agenten wie Rupert, und die vermeintliche Enthüllungsstory war von diesem lanciert worden. Erst als die Geschichte publik wurde, fand Rupert heraus, dass alles geplant gewesen war.

„Nicht gut genug“, hatte Isla gesagt. Sie konnte Rupert nicht böse sein. Außerdem wusste sie genau, dass in dem Artikel nur Lügen standen.

Allerdings hatte sie sich vorgenommen, die Beziehung zu beenden. Aber vielleicht noch nicht sofort. Sie hatte Rupert gebeten, heute Abend dabei zu sein, und für den Spendenball in zwei Wochen hätte sie ihn auch gern an ihrer Seite. Da Alessandro geehrt wurde, saß er bestimmt am Tisch ihres Vaters, und das bedeutete, am selben Tisch wie sie!

Heute war es jedoch ganz gut gegangen. Isla erinnerte sich an sein Lächeln, als sie hinter Christines Vorhang hervorgekommen war. Sie schloss die Augen und dachte an seinen Kuss, daran, wie gut sich seine starken Arme angefühlt hatten.

Warm strömte das Wasser über ihren Körper, als sie in Gedanken an jene wundervollen Momente versank. Unwillkürlich strich sie mit beiden Händen über ihre Hüften, so wie Alessandro es getan hatte. Isla riss die Augen auf, als eine Hand wie von selbst tiefer glitt, zu dem Punkt, wo die Sehnsucht am stärksten war. Die Sehnsucht danach, wieder in Alessandros Armen zu liegen. Eine ungekannte Neugier erwachte in ihr. Was wäre gewesen, wenn sie nicht Nein gesagt hätte? Es drängte sie, die Möglichkeiten zu erforschen, ihr Körper bettelte förmlich darum.

Sie war erregt, voller Lust, die sich prickelnd und verlockend in ihr ausbreitete.

Es waren neue Gefühle, die sie verlegen machten und von denen sie gleichzeitig mehr wollte. Viel mehr.

Isla wurde bewusst, dass sie ihre Sexualität bisher völlig verdrängt hatte.

Seit jener Nacht, als sie Isabels Baby auf die Welt holte.

Jetzt jedoch fühlten sich ihre Brüste schwer an, und das Sehnen zwischen ihren Beinen nahm noch zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie ihren Körper streicheln, sich verwöhnen.

Schockiert drehte Isla das Wasser ab und verließ die Dusche. Sie trocknete sich rasch ab, zog frische Unterwäsche an und griff nach dem mintgrünen Sommerkleid, das sie für heute Abend bereits herausgehängt hatte. Beim Blick in den Spiegel, auf ihre sanft geröteten Wangen, die glänzenden Augen, stöhnte sie stumm auf. Außerdem musste sie die ganze Zeit daran denken, dass Alessandro auch da sein würde. Mit seinem lässigen Lächeln – und der Erinnerung an jenen Kuss.

Er hätte dich nur benutzt, dachte Isla, während sie Lipgloss auflegte. Wie all die anderen Frauen in der MMU, die seinem Charme erlegen waren.

Allerdings schien keine von ihnen ihre Affäre mit Alessandro zu bereuen.

Würdest du es bereuen?

Isla nahm sich zusammen. Auf gar keinen Fall würde sie ihren Gefühlen für diesen Mann nachgeben! Sie sah ihn vor sich, ungläubig lächelnd, wenn sie ihm die Wahrheit gestehen musste. Ach was, wahrscheinlicher war, dass er sich halb totlachte!

„Du siehst toll aus“, sagte Darcie, als Isla ins Wohnzimmer kam. „Ich muss sagen, ich bin ein bisschen aufgeregt.“

„Musst du nicht. Das sind alles nette Leute.“

Laue Abendluft hüllte die beiden Frauen ein, als sie zur Straßenbahn-Haltestelle gingen. Sie fuhren zwei Stationen, und nach einem kurzen Fußweg erreichten sie die Bar. Isla hatte nicht zu viel versprochen: Die neue Ärztin wurde herzlich begrüßt.

„Das ist Lucas“, stellte Isla vor. „Er ist der erfahrenste Entbindungspfleger der MMU …“

„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte Darcie lächelnd.

„Und hier ist Sophia, die Gemeindehebamme …“

Erleichtert stellte Isla fest, dass Alessandro noch nicht da war. Ihre Anspannung legte sich, und sie ging zur Bar, um Getränke zu bestellen. Doch als sie an den Tisch zurückkehrte, war Alessandro gerade eingetroffen. Zusammen mit Amber, was Isla besonders wurmte.

„Alessandro ist Neonatologe.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Alessandro, das ist Darcie, die mit Isabel für ein Jahr den Platz getauscht hat.“ Isla beobachtete, wie er Darcie sein Tausend-Watt-Lächeln schenkte, und fuhr rasch fort: „Und hier ist Amber, eine unserer Hebammenschülerinnen.“

Das klang schärfer als beabsichtigt, und Isla fing Alessandros spöttischen Blick auf. Dachte er etwa, sie wäre eifersüchtig? Weit gefehlt, sie war sauer, dass er mit ihrer Schülerin anbandelte!

„Hallo, zusammen.“

Isla zuckte leicht zusammen, als sie Ruperts Stimme hörte und dann seinen Arm auf ihrer Taille spürte. „Ich habe mich verspätet, entschuldige“, sagte er an ihrem Ohr.

„Ist nicht schlimm.“ Noch nie war sie so froh gewesen, ihn zu sehen. Sie gab ihm einen Kuss, die gewohnte Begrüßung für die Öffentlichkeit.

Ungewohnt war hingegen der düstere Blick, den Alessandro Rupert zuwarf. Danach sah er Isla an und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Seine Missbilligung war deutlich.

Nun ja, sie hätte ihm auch einiges vorzuhalten! Ärger packte sie, wenn er mit Amber sprach. Ihre Selbstbeherrschung, auf die eigentlich immer Verlass war, drohte zu zerfallen, und Isla fand, dass sie nicht die perfekte Gastgeberin war wie sonst. Gut, dass Darcie im Mittelpunkt stand und alle am Tisch von ihr hören wollten, woher sie genau kam, wie in Cambridge gearbeitet wurde und was Isabel erwartete. Niemand außer Rupert und Alessandro schien zu bemerken, wie angespannt Isla war.

„Immer sachte“, sagte Rupert, als sie wieder einmal ihr Glas auffüllte. Für gewöhnlich trank sie höchstens ein Glas Sekt, doch heute Abend brauchte sie Wein. Natürlich warnte Rupert, der ein feines Gespür für ihre Stimmungen hatte, sie zu Recht.

Alessandro schien es jedoch gar nicht gut zu finden, dass Rupert sie ermahnte – falls sie seinen Blick und die hochgezogenen Brauen richtig deutete.

Tatsächlich hätte er diesem Rupert gern ein paar Takte erzählt. Alessandro störte es gewaltig, dass Rupert Isla sagte, was sie zu tun hatte. Noch mehr störte es ihn, dass Rupert überhaupt hier war. Alessandro fühlte sich mehr als unbehaglich inmitten der fröhlichen Runde. Nicht etwa, weil ihm Isla leidtat, sondern Amber. Seine Beziehungen mochten nie lange halten, aber wenn er mit einer Frau zusammen war, dann betrog er sie nicht oder flirtete mit einer anderen. Doch im Moment kostete es ihn große Mühe, genau das nicht zu tun – zumindest in Gedanken.

Es fühlte sich nicht richtig an, neben Amber zu sitzen, wenn Isla hier war.

Er saß neben der falschen Frau.

Isla stand auf und ging in Richtung Damentoilette. Alessandro blieb sitzen, obwohl die Versuchung, ihr zu folgen, groß war.

Die Toiletten lagen am anderen Ende der Bar. Isla merkte, dass sie ein bisschen zu viel getrunken hatte, und war froh darüber, einen Moment allein zu sein.

Zwar hatte niemand eine Anspielung gemacht oder sie direkt wegen Rupert gefragt. Die anderen waren es gewohnt, dass sie ihn gelegentlich mitbrachte. Heute jedoch war es anders als sonst. Manche konnten ihre Gefühle nur schlecht verbergen, und Isla hasste die verstohlenen Blicke, die sie Rupert und ihr zuwarfen. Tadelnd oder mitfühlend, je nachdem. Heute Abend mache ich Schluss, nahm sie sich vor. Auch wenn es ein Sprung ins eiskalte Wasser werden würde, raus aus der Sicherheit, die Rupert ihr gab.

Wie kalt, wurde ihr bewusst, als sie aus der Tür trat und Alessandro ihr entgegenkam.

„Alles okay?“, fragte er – wahrscheinlich weil sie ihn ärgerlich ansah.

„Wenn Sie schon so fragen … nein! Sie gehen mit einer meiner Schülerinnen aus. Was soll das?“

„Verzeihung?“

„Sie haben mich schon verstanden.“

„Erstens ist sie nicht meine Schülerin“, betonte er. „Und zweitens hören Sie sich an, als wäre Amber nicht älter als achtzehn. In Wahrheit ist sie zweiunddreißig und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Weder verspreche ich ihr mehr, als ich halten kann, noch …“

„Es gefällt mir nicht, wie Sie mit meinen Hebammen flirten“, unterbrach sie ihn scharf.

Alessandro lächelte herablassend. „Hat sich jemand über mich beschwert?“

„Nein.“

„Irgendwelche Andeutungen, dass ich mich unpassend verhalten habe?“ Er beobachtete, wie sie errötete, während sie den Kopf schüttelte. „Gut. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig, Isla. Hat irgendjemand ein Problem mit mir?“, fügte er hinzu. Wieder verneinte sie stumm. „Damit sind Sie die Einzige, der es ein Dorn im Auge ist, dass ich mich mit Amber treffe. Da frage ich mich doch, warum?“

Ihr Gesicht fühlte sich flammend rot an. Hätte ich bloß meinen Mund gehalten, haderte sie mit sich. „Ich wollte Sie nur wissen lassen, wie ich darüber denke.“

„Ich flirte gern, Isla. Ich verabrede mich mit Frauen – aber nur mit Frauen, denen von Anfang an klar ist, dass eine Beziehung mit mir nicht lange dauern wird.“

„Warum?“, entschlüpfte es ihr.

Warum?

Außer seiner Familie gab es nur wenige, die ihm diese Frage stellten. Auch vor sich selbst hatte er sie bisher nie aufrichtig beantwortet. Alessandro dachte nicht daran, ausgerechnet jetzt damit anzufangen.

„Weil ich genau so leben will. Dazu brauche ich nicht Ihr Einverständnis und schon gar nicht Ihre Erlaubnis. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass ich noch nie eine Frau betrogen habe.“

„Ich muss zurück.“ Ihr gefiel absolut nicht, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickelte.

Autor

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