Julia Best of Band 239

1. KAPITEL

Ana wusste nicht, was sie mit all den Bildern machen sollte. Sie hatte Hunderte von Fotos aufgenommen und wagte nicht, auch nur eines davon zu löschen. Gut, dass sie mehrere Speicherkarten mitgenommen hatte. Afrika war genau so, wie sie gehofft hatte: weitläufig, wild und unglaublich heiß. Es war ganz anders als alles, was sie bisher erlebt hatte – das wollte sie festhalten. Und das Gefühl der Freiheit, das sie hier empfand, wollte sie mit nach Hause nehmen.

Auch jetzt, als der Truck im Außenbezirk von Arusha auf den Seitenstreifen fuhr, hielt sie ihre Kamera aufnahmebereit. Sie reckte sich, um herauszufinden, was Bundy, der Fahrer, machte. Er redete mit jemandem. Sie sah, wie er den Fremden, der mit dem Rücken zu ihr stand, anlächelte.

Auch Ana lächelte. Ihr gefiel, was sie sah. Bundys Freund war unglaublich gut aussehend. Es war das erste Mal seit einem Jahr, dass sie eine angenehme körperliche Reaktion auf einen Mann verspürte, und Ana genoss das Gefühl. Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Wie wäre es wohl … Sie wandte sich in ihren Sitz und legte den Kopf schief, um besser sehen zu können. Oh, ja. Ein klarer Fall von wie wäre es.

Sie schmunzelte. Fantastisch, endlich reagierte sie wieder normal. Gesund und unversehrt und sexuell interessiert. Sie hob die Kamera und machte mehrere Aufnahmen. Und dann zoomte sie die Bilder auf dem Display heran.

Die Shorts aus Denim gaben den Blick auf muskulöse, braun gebrannte Beine frei. Die Hände waren in die schmale Hüfte gestützt, was den wohlgeformten Po noch besser zur Geltung brachte. Aber das Beste waren seine Schultern … sie waren so breit, dass der Stoff seines T-Shirts an den Nähten spannte. Wunderbar breite Schultern, die dafür gemacht zu sein schienen, sich daran festzuhalten. Der Fremde hatte einen Körperbau, der einer Frau das Gefühl gab, unglaublich weiblich zu sein. Und Ana als Riesin brauchte einen großen Mann, damit sie sich weiblich fühlte. Allerdings gab es davon eher wenige, und wenn sie das Glück hatte, einem zu begegnen, interessierte er sich meistens nicht für sie. Aus irgendeinem Grund hatten große Männer offenbar eine Schwäche für zierliche, kleine Frauen. Doch das konnte ihr jetzt egal sein – sie genoss die Fantasien, die er in ihr auslöste. Schnell machte sie ein weiteres Foto. Sein Haar war sehr kurz geschnitten, fast schon militärisch. Wie es sich wohl anfühlen würde, mit der Hand darüber zu streichen?

Doch das Beste war definitiv seine Größe. Schon Bundy war nicht gerade klein, doch dieser Mann war gut einen halben Kopf größer als er. Da sie selbst so schrecklich groß war, hatte Ana sich schon immer von sehr großen Männern angezogen gefühlt, aber dieser war wirklich riesig. Und nicht nur das. Wenn er sich doch nur umdrehen und in seiner ganzen Pracht zeigen würde! Für einen kurzen Moment nahm sie die Kamera in die andere Hand und bewegte ihre Finger, um sie zu lockern. Sex. Wenn sie ehrlich war, dachte sie an Sex.

Erstaunlich.

Wieder schmunzelte sie, und wieder drückte sie auf den Auslöser. Sie wusste, dass es dumm war, aber sie genoss die Freiheit, sich an einem schönen Mann erfreuen zu können. Diese Freiheit hatte sie für immer verloren geglaubt. Nach dem schrecklichen letzten Jahr war sie froh, sich getäuscht zu haben. Nun musste sie nur noch hoffen, dass der ganze Papierkram bereits erledigt wäre, wenn sie nach London zurückkäme, und ihr Leben würde weitergehen. Es war richtig gewesen, hierher zu kommen. Und jetzt hatte sie den Beweis dafür, dass sie sich erholt und ihre Lebensfreude zurückgewonnen hatte – und ihr sexuelles Interesse.

Bundy wandte sich um, und die beiden Männer gingen gemeinsam vor den Truck, sodass Ana sie nicht länger sehen konnte. Egal – sie schaute auf das Display ihrer Kamera und betrachtete die Schnappschüsse von der schönsten Rückenansicht eines Mannes, die sie je gesehen hatte.

Sie lächelte. Sie war darüber hinweg. Endlich war sie ganz darüber hinweg.

Es gab einen Knall und einen Stoß, und der Truck fuhr wieder. Als sie die Stimmen der anderen hörte, blickte Ana auf. Es dauerte einen Moment, bevor sie begriff, dass ein neuer Passagier zugestiegen war, der von den anderen Fahrgästen begrüßt wurde. Und dass er direkt auf sie zukam.

Ana hatte es nicht für möglich gehalten, dass sie bei dieser Gluthitze derartig erstarren könnte. Doch auf einmal war sie unfähig, sich zu bewegen oder zu denken. Sie traute ihren Augen nicht. Irgendwie gelang es ihr, weiterzuatmen, zu sehen und zu erkennen.

„Sebastian?“ Hatte sie das etwa laut gesagt?

Er war es in den abgeschnittenen Jeans und dem lässigen T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte. Er war der große Mann, der Bundy eben zum Lachen gebracht hatte.

Er hatte ihre Fantasie angeregt – zum ersten Mal seit Monaten.

Was für eine bittere Ironie!

Sie blinzelte und hoffte inständig, dass sie sich das nur einbildete.

Aber nein – es war tatsächlich Sebastian.

Ihr Ex.

Sebastian Rentoul. Der einzige One-Night-Stand ihres Lebens. Ihre einzige längere Affäre. Ihre einzige überstürzte Hochzeit.

Ihr Mann. Ihr Mann, der sie belogen hatte.

Der Vater ihres Kindes. Ihres Kindes, das gestorben war.

Augenblicklich überschwemmte Ana eine Bilderflut. Die Hitze und die Lichter in der Bar, das Dröhnen der Bässe, als sie dicht beieinander standen, die Begierde in ihren Berührungen, das Gelächter, als sie gleichzeitig gekommen waren und diese törichten Dinge gesagt hatten. Ihr Zorn, als sie entdeckte, dass er sie verraten hatte. Der Kummer über den einsamen Verlust.

Es war ihr nicht vergönnt gewesen, ihr Kind kennenzulernen. Inzwischen wusste sie, dass sie auch ihren Mann nicht gekannt hatte. Den Mann, in den sie sich verliebt hatte, gab es nicht. Ihr sehnsüchtiges Herz hatte ihn sich nur ausgedacht.

Wie hatte sie nur so dumm sein können! An dem Schmerz, den sie davongetragen hatte, war sie fast zerbrochen.

Reiß dich zusammen, Ana.

Vorbei. Es war vorbei, und sie war darüber hinweg. Sie würde nicht bei seinem bloßen Anblick zusammenbrechen! Er kannte nur die halbe Geschichte, und das sollte auch so bleiben. Wieder blinzelte sie. Er kam auf sie zu. Schnell verdrängte sie all die Erinnerungen und Gefühle. Sie schaltete die Kamera aus und legte sie auf ihren Schoß. Keinesfalls sollte er die Bilder sehen, über die sie eben noch geschmunzelt hatte. Um Himmels willen! Dass sie gerade noch Verlangen nach ihm verspürt hatte!

Sie senkte den Blick und beeilte sich, den Platinring von ihrem Finger zu ziehen. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie seinen Ehering noch trug. Die ganze Zeit über hatte sie ihn nicht abgenommen. Selbstverständlich hatte sie es vorgehabt. Aber man hatte ihr gesagt, dass er einer allein reisenden Frau nützlich sein konnte, um unerwünschte Annäherungsversuche abzuwenden. Und da sie den Ring bereits hatte …

Rasch schob sie ihn in ihre Fototasche. Allerdings sah man jetzt an seiner Stelle eine blasse Linie auf ihrem sonnengebräunten Finger. Doch dagegen konnte sie nichts tun. Und er würde es nicht bemerken – so nah würde er ihr gar nicht kommen. Sie riskierte einen weiteren Blick.

Er war jetzt fast auf ihrer Höhe. Und er lächelte, wenn auch ein wenig verhalten. Es war nicht das umwerfende Lächeln, das sie in der ersten Nacht schwach gemacht hatte. Trotzdem wurde ihr ganz heiß davon. Zu gemein, dass ausgerechnet einer wie er ein solches Talent besaß.

Auch sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und versuchte, das Durcheinander, das in ihr herrschte, zu ignorieren. Ihr Stolz kam ihr dabei zu Hilfe.

„Wow. Sebastian.“ Gut, sie klang ein wenig außer Atem. Aber das war auch kein Wunder, wenn man bedachte, wie sehr ihre Gedanken in Aufruhr geraten waren.

Unglaublich. Da stand er und wirkte so vertraut mit der Umgebung, als wäre er derjenige, der seit fast einem Monat auf Safari in Afrika war. Er war sogar schon braun geworden. Sie wusste, dass er sehr schnell Farbe bekam. Während der verrückten Tage in Gibraltar war das auch so gewesen. Verflixt, musste sie sich daran erinnern? Hitze jagte durch ihren Körper.

„Ana.“ Er klang gefasst und wies auf den Platz neben ihr. „Darf ich mich setzen?“

„Gern.“ Sie bemühte sich zu lächeln, und rückte so weit wie möglich von ihm ab. Ihr Herz klopfte schneller, ihre Muskeln spannten sich an; sie war in höchster Alarmbereitschaft.

Das war doch nicht möglich! Er konnte nicht hier sein. Und sie konnte nicht gedacht haben, was sie gedacht hatte. Nicht über ihn. „Komisch, dass wir uns hier treffen – ausgerechnet in Afrika.“

„Ja, das ist schon ein komischer Zufall“, erwiderte er mit einem diabolischen Lächeln.

„Allerdings!“ Als ob es ein Zufall wäre! „Wer hat dir gesagt, dass ich hier bin?“

„Niemand“, sagte er unschuldig. „Es ist wirklich ein Zufall.“

Ja, sicher.

Er sah sie zu genau an. Er saß zu nah neben ihr. „Übrigens, ich habe unsere Scheidungsunterlagen.“

Das ließ er ganz nebenbei fallen. Ana bemühte sich um ein noch süßeres Lächeln. „Hast du schon unterschrieben?“

Bitte, bitte! Dann wäre es endlich vorbei.

„Noch nicht.“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.

„Ich wollte dich vorher sehen.“

„Aha.“ Warum? Sie hatten doch alles geklärt? Oder besser gesagt: nicht geklärt, aber genau so sollte es auch bleiben. Es hatte keinen Sinn, alles noch einmal zu besprechen. Es war ein Fehler gewesen, und jetzt war es das Beste, die Sache zu vergessen und von vorn anzufangen. Und zwar – in Anbetracht ihrer unangemessenen körperlichen Reaktion – mit Abstand und möglichst sofort.

Nach ein paar tiefen Atemzügen versuchte Sebastian seine Gedanken zu sortieren. Verflixt! Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so sein würde. Wenn er in den letzten Monaten an sie gedacht hatte, war sie ganz anders gewesen: blass, schüchtern und nachgiebig.

Nun war sie sonnengebräunt, ihr Haar war länger, und sie trug nur ein Hemdchen und Shorts. Vor allem aber wirkte sie heiter und selbstsicher.

Gut – sein Anblick hatte sie erschreckt. Doch jetzt lächelte sie wieder. Zwar mit verschlossenem Blick, aber sie lächelte. Und was für ein Lächeln …

„Ich wollte dich sehen. Ich wollte …“ Er hielt inne. Es war ein schreckliches Ende gewesen. Nicht einmal eine Woche nach ihrer Hochzeit hatten sie sich furchtbar gestritten, und sie war gegangen. Es war seine Schuld gewesen. Langsam kehrte die Normalität wieder in sein Leben ein – bis er angefangen hatte, sich Fragen zu stellen. „Ich wollte mich davon überzeugen, dass es dir gut geht.“

Als die Scheidungsunterlagen gekommen waren, konnte er sie nicht einfach unterschreiben und alles vergessen. Er musste Ana sehen. Um sich sicher zu sein. In seinem Leben gab es nicht viel, was er bereute. Aber diese eine Woche bereute er mehr als alles andere.

„Nun, wie du siehst, geht es mir gut“, sagte sie lächelnd.

Ihr herausfordernder Ton ging ihm unter die Haut wie eine tödliche Injektion. Sein Körper reagierte auf der Stelle. Würde er dagegen ankommen, oder würde er der Krankheit erliegen? Ein zweites Mal?

„Ja, das sieht man.“

Offenbar ging es ihr mehr als gut. Zwar sah er in ihr Gesicht, gleichzeitig nahm er jedoch mit jeder Faser seines Körpers ihre sanften Rundungen in sich auf – und ihre langen, schlanken Beine, die ihre sehr, sehr kurzen Shorts nur spärlich bedeckten.

Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen, die er verdrängt hatte. Anas Geruch, das Lachen, das Funkeln in ihren Augen und die Sanftheit ihrer Haut. Ihre Glut.

Auch er glühte jetzt – aber das lag an Afrika, nicht an ihr. Es war die trockene, erbarmungslose Hitze eines Kontinents, auf dem ständige Dürre herrschte.

Nun ja, nicht ganz. Denn ihm war nicht nur heiß, er war außerdem erregt. Energisch unterdrückte er die in ihm aufwallende Begierde. Das durfte auf keinen Fall wieder geschehen. Er dachte an die Woche zurück. Es schien ihm, als habe der Strudel der Ereignisse ihm den Atem genommen und seine Sinne getrübt. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, wie es passiert war. Wie er eine solche Dummheit hatte begehen können.

Er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf sie. Fühlte, wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte. Und wusste, was es war. Die sexuelle Anziehung zwischen ihnen, die Zusammengehörigkeit ihrer Körper. Wie auch immer man es nennen wollte – sie hatten es im Überfluss. Für nichts anderes hatten sie mehr Zeit gehabt, nichts anderes hatte sie mehr interessiert. Nie zuvor hatte ihn etwas so sehr interessiert.

Ein Anflug von Panik regte sich in ihm. Jetzt hatte er sie also gesehen. Es ging ihr gut. Und nun musste er eine weitere Woche mit ihr verbringen, in dieser Reisegruppe.

Schlechte Planung, Seb. Zu gern hätte er den Fahrer gebeten anzuhalten und ihn aussteigen zu lassen, doch sie waren bereits außerhalb der Stadt und auf dem Weg in einen Nationalpark. Er rückte ein wenig von ihr ab. Damit konnte er umgehen. Er konnte weitaus verrücktere Triebe unter Kontrolle halten. Hatte er nicht im letzten Jahr gelernt, was Disziplin war?

Ana sah aus dem Fenster und blinzelte. Sie wollte den Nebel loszuwerden, der sich in ihrem Kopf ausgebreitet hatte. Sie hatte es vergessen. Hatte alles vergessen. Gut, sie hatte sich dazu gezwungen, alles zu vergessen. Nur so hatte sie den Liebeskummer überwinden können – indem sie das Knistern und das Feuer vergaß, das Funken geschlagen hatte, sobald sie einander näher kamen. Aber jetzt war es wieder da. Es hatte sie wie ein Blitz getroffen. Noch bevor ihr klar war, dass er es war, hatte sie sich körperlich von ihm angezogen gefühlt.

Mit seinen fast zwei Metern fiel Sebastian allein schon durch seine Größe auf, ob er es wollte oder nicht. Das kannte sie selbst nur zu gut. Doch da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Zählte man nämlich Sebastians Körper, sein Lächeln und seine eisblauen Augen hinzu, hatte man einen äußerst attraktiven Menschen vor sich – und das konnte man von ihr sicher nicht sagen. Sie war einfach nur zu groß, zu knochig und zu schüchtern. Aber Seb hatte noch etwas. Etwas, das jenseits des Körperlichen lag. Es wirkte nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer. Sein Selbstbewusstsein und seine Autorität fesselten einfach jeden.

Das war Seb. Derjenige, zu dem jeder Ja sagte. Aber sie würde nicht zulassen, dass er die Kontrolle übernahm, wie er es getan hatte.

Ein Gefühl der Zuversicht durchströmte sie. Sie war nicht mehr so schwach wie damals. Genaugenommen verdankte sie ihre jetzige Stärke der Aufmerksamkeit, die er ihr damals geschenkt hatte. Wenn da auch sonst nichts gewesen war, so hatte sie sich doch an seine extreme Leidenschaft klammern können. Nie zuvor hatte jemand sie so sehr begehrt wie Sebastian in dieser Woche. Und jemand, der sie so sehr gewollt hatte, selbst wenn es nur eine Woche gewesen war, hatte ihr Selbstwertgefühl ordentlich angekurbelt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Ana sich schön gefühlt. War es nicht eine Schande, dass dann passieren musste, was passiert war? Aber sie hatte daraus gelernt und wollte in Zukunft mehr aus sich machen. Eigentlich musste sie ihm dankbar dafür sein, dass er ihr einen Grund gegeben hatte, endlich ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

„Du willst also mitfahren?“

„Ja.“

Na toll. Das würde interessant werden. „Aber die Tour ist fast vorbei.“ Sie versuchte nicht, das in ihrer Stimme mitschwingende ‚zum Glück‘ zu verbergen. Stattdessen setzte sie ein umso strahlenderes Lächeln auf.

„Ich werde anschließend noch ein wenig bleiben und mich auf eigene Faust ein wenig umsehen.“

„Toll!“ Der Glückliche. Sie selbst würde ins Flugzeug steigen und ihr Leben weiterleben. Aber zunächst einmal musste sie diese Woche durchstehen. Ana ging diesem Gedanken nach. Natürlich könnten sie einander aus dem Weg gehen und mussten nicht nebeneinander sitzen. Allerdings war in dem Laster nicht allzu viel Platz. Wenn sie doch nur etwas mehr mit den Mitreisenden zu tun hätte, um sich bei ihnen zu verstecken! Aber sie war für sich geblieben, hatte sich alles angesehen und ihre Freiheit genossen.

Der Laster holperte die Straße entlang und entfernte sich weiter von der Stadt. Bundy fuhr nun etwas schneller. Ana heftete den Blick auf die Landschaft, die draußen an ihnen vorbeizog, und genoss den Fahrtwind, der ihre brennende Haut kühlte. Ursprünglich war ihr Reisegefährt ein Armeelaster gewesen. Die Abdeckplane, die als Dach diente, war ständig offen, sodass man einen guten Rundumblick hatte – und langsam gegrillt wurde.

Plötzlich gab es einen lauten Knall. Ihr Oberkörper wurde nach vorn geworfen, sodass sie mit dem Kopf gegen den Sitz vor sich stieß. Im gleichen Moment wurde sie auch schon in den Sitz zurückgerissen.

„Au!“ Es war hauptsächlich der Schreck, der sie aufschreien ließ.

Alle um sie herum fluchten. Bundy entschuldigte sich und gab zur Erklärung einen geplatzten Reifen an. Währenddessen hielt Ana die Augen geschlossen. Ihr wurde schlecht von dem Gefühl, dass ihr Gehirn noch immer im Schädel hin und her schaukelte.

Jemand berührte ihre Schulter. Ein Kribbeln brachte ihr Herz zum Rasen, und sie schloss die Augen noch fester. Sie wollte nicht wahrhaben, was er in ihr auslöste.

„Ana, ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie antwortete nicht.

„Ana?“ Seine Finger bewegten sich, strichen über ihre Schulter, über ihren Arm. Jede Stelle, die er berührte, schien zu glühen. So einfach, wie er das Feuer in ihr entfachte, war es ein Wunder, dass kein Rauch zwischen ihnen aufstieg.

Endlich öffnete sie die Augen und sah direkt in ein Gesicht, das ihr so vertraut und doch so verändert erschien. Schmaler und irgendwie straffer. Auch er sah sie an. Als ihre Blicke sich trafen, schienen die Stimmen um sie zu verstummen. Außer dem lauter werdenden Rauschen in ihren Ohren hörte sie nichts mehr. Es war so lange her. So lange hatte sie diese Lust, diesen Aufruhr in ihrem Inneren nicht gespürt.

Ihr Gehirn war wie gelähmt, dafür schoss ihr das Blut umso schneller durch die Adern. Sehnsüchtig nach der Leidenschaft, die sie schon früher besinnungslos gemacht hatte, rauschte es in ihrem ganzen Körper.

Sie öffnete den Mund, doch kein Laut kam hervor. Wie hypnotisiert beobachtete sie, wie seine Augen sich veränderten. Zunächst ließ der Schreck seine blassblauen Augen kälter aussehen. Dann weiteten sich seine Pupillen, und Dunkelheit vertrieb die Kälte. Ana sah, wie die winzigen Muskeln arbeiteten, als er die Augen ein wenig zusammenkniff.

Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie konnte weder blinzeln noch atmen.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor seine Aufmerksamkeit nachließ. Aber noch immer spürte sie seinen Blick. Noch immer konnte sie seine Gedanken lesen. Und einen Moment lang wollte sie es.

Einen Kuss.

Zitternd nahm sie Abstand von ihm. Sie musste eine Gehirnerschütterung haben. Das war die einzige Erklärung für diesen Augenblick des Wahnsinns.

Er ließ die Hand sinken und murmelte die Worte, nach denen sie sich einst so sehr gesehnt hatte: „Es tut mir leid.“

Auch ihr tat es leid. Es tat ihr leid, dass er wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Und noch mehr, dass ihr Körper diesen Umstand derartig begrüßte.

„Ich werde dem Fahrer mit dem Reifen helfen.“ Er stand auf.

Sie lächelte, als wäre nichts gewesen. „Gute Idee.“

Eine Woche mit Sebastian. Das würde schon klappen. Sie würde es irgendwie schaffen. Kein Problem.

2. KAPITEL

Die folgende Minute verbrachte Ana damit, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass Sebastian Rentoul nicht nur der Erste gewesen war, der ihr das Gefühl gegeben hatte, begehrt zu werden. Sie verdankte ihm auch den schlimmsten Liebeskummer ihres Lebens. Er war die Flamme gewesen, die in ihr gebrannt hatte, bis nichts als Asche übrig geblieben war. Sein Verlust hatte ihr sämtliche Lebensenergie geraubt. Und er wusste nichts davon.

Das Einzige, was ihn interessierte, war seine Arbeit. Und dabei ging er mit einer rücksichtslosen Entschlossenheit vor. Er tat alles, nur um an die Spitzenposition zu gelangen – und hatte er nicht dasselbe mit ihr gemacht? Sie hatten einen One-Night-Stand gehabt. Aus der einen Nacht waren ein paar Tage zu viel geworden – ein Wochenendausflug, der mit einer Hochzeit endete. Sie war wie verhext gewesen, das wusste sie nun. Berauscht von seinem Verlangen nach ihr und davon, wie richtig es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen. Endlich einmal war sie nicht zu groß gewesen. Und es hatte nichts ausgemacht, dass sie wenig sagte, da sie so sehr mit ihren Körpern beschäftigt waren, dass sie kaum zum Reden gekommen waren. Ebenso atemlos wie gedankenlos hatte sie Ja gesagt – und sich auf die gemeinsame Zukunft gefreut.

Doch als sie nach London zurückgekehrt waren und er wieder arbeiten ging, hatte sie von seiner Beförderung erfahren, die nur möglich gewesen war, weil er jetzt ein geregelteres Leben führte. Er hatte sich also nicht Hals über Kopf in sie verliebt, sondern einfach nur eine Ehefrau gebraucht – eine Dumme, die auf ihn hereinfiel.

Als sie ihm das vorwarf, hatte er es unumwunden zugegeben. Er hatte gesagt, dass er nicht an die Ehe glaube und nie daran gedacht habe, dass ihre Ehe etwas für immer sei. So fand sie heraus, dass das Leben für ihn nur ein Spiel war. Er war ein Playboy. Und er hatte mit ihr gespielt. Sebastian Rentoul bekam alles, was er wollte – und jeden. Nach einem kurzen, furchtbaren Streit war sie gegangen, doch das Schlimmste sollte erst noch kommen.

Also brauchte sie gar nicht darüber nachzudenken – keinesfalls würde sie wieder etwas mit ihm anfangen. Nach einer halben Stunde war der Reifen gewechselt, und Seb stieg wieder ein. Er setzte sich wieder neben sie, und ihr Puls ging noch immer zu schnell und zu unregelmäßig.

Aber da musste sie wohl durch. „Wie läuft es bei der Arbeit?“, fragte sie, um sich abzulenken.

Es sah sie spöttisch an. „Sehr gut. Ich habe viele Fälle und in der letzten Zeit sehr viel gearbeitet.“

Als sie damals erfahren hatte, dass er Anwalt war, hatte sie das beeindruckt. Was für eine ignorante Idealistin sie doch gewesen war! Denn natürlich war er kein Anwalt, der die Unschuldigen und Verfolgten verteidigte. Seb war Scheidungsanwalt. Er vertrat wohlhabende, einflussreiche Leute, die sich erbitterte Trennungskriege lieferten.

Seb sorgte dafür, dass verblühende Damen ihr Haus nicht verloren oder notorische Damenverführer keine Alimente zahlen mussten. Sie kannte seine Überzeugungskünste und wusste, dass er sein Talent vergeudete. Er konnte ein Gericht dazu bringen, einen Mann freizusprechen, selbst wenn Filmaufnahmen und DNA-Proben gegen ihn sprachen.

„Du bist also zum Sozius aufgestiegen?“

Nur darum hatte er sie geheiratet. In seiner traditionsbewussten Firma war man der Ansicht, dass nur jemand mit einem geordneten Familienleben Sozius werden konnte. Und nicht jemand, der das Leben eines Playboys führte, wie Seb vor seiner Heirat.

Sie hätte früher merken müssen, dass er es nie ernst gemeint hatte. Sie hatten sich in einer Bar kennengelernt. Als könnte aus so etwas eine ernsthafte Beziehung werden! In Nullkommanichts war sie ihm verfallen – so wie viele andere Frauen. Nur, dass sie so naiv gewesen war und ihm geglaubt hatte, als er sagte, sie sei etwas Besonderes. Sie war dumm genug gewesen, mit ihm auf eine kleine sonnige Insel zu fliegen, um sich dort miteinander zu vergnügen. Auf eine Insel, auf der man auch heiraten konnte, wenn man es wollte.

Und sie hatte es gewollt. Wie sehr hatte sie versucht sich einzureden, dass sich tatsächlich jemand so sehr in sie verliebt hatte! Wie dumm von ihr – als ob so etwas tatsächlich passieren könnte … Aber eine einsame Kindheit ohne Liebe konnte einen Menschen dazu bringen, derart töricht zu handeln.

„Ja. Ich erfülle alle Kriterien: Ich bin verheiratet und mache Fortschritte …“

„Du bist nicht verheiratet.“

„Doch“, erwiderte er und hob die Hand, um ihr den Ehering zu zeigen.

„Wie, noch eine?“, fragte sie mit ausdruckslosem Gesicht und versuchte, den Adrenalinstoß zu ignorieren. „Um Himmels willen – du bist Bigamist!“

Er lachte. Seine Zähne blitzten auf, und seine Augen funkelten. Und dann der Ton dazu … Sein Lachen klang so erfrischend, dass ihr ganz warm wurde. Sie konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln.

„Ana. Wir sind verheiratet. Noch … falls du das vergessen haben solltest.“

Natürlich hatte sie es nicht vergessen. „Wir sind nur auf dem Papier verheiratet, Seb. Und das nicht mehr lange.“

„Was meinst du mit ‚nur auf dem Papier‘?“ In seinen Augen funkelte es noch mehr. „Ich erinnere mich daran, dass wir die Ehe vollzogen haben, Ana. Und ich erinnere mich an die Nacht auf dem Balkon. Ich erinnere mich, wie du …“

„Schon gut.“ Sie machte eine abwehrende Handbewegung, denn sie wollte nicht an all das erinnert werden. „Ich bin also deine Frau. Aber wie erklärst du, dass ich nicht bei dir bin?“

„Dir missfällt das Stadtleben.“ Mit geneigtem Kopf sah er sie prüfend an. „Soweit ich weiß, könnte das sogar der Wahrheit entsprechen. Deinetwegen lehne ich Einladungen ab. Das ist sehr praktisch.“

„Was? Meine Abwesenheit?“

„Genau. So kann ich zu meinen weiblichen Klienten Nein sagen und steige dadurch sogar noch in ihrer Achtung.“

„Glauben sie dir wirklich, dass du irgendwo eine versteckte Ehefrau hast?“ Das interessierte sie nun doch. Dass er ihnen einen solchen Unsinn als Wahrheit verkaufte!

„Nun ja, es ist doch so, oder? Natürlich ahnen sie nicht, dass nicht einmal ich weiß, wo du steckst. Auf meinem Schreibtisch steht ein Bild von dir.“

„Du machst Witze! Und du meinst, dass sie dir das abnehmen?“

„Ich glaube, ja.“ Sebastian zuckte mit den Schultern. Es war ihm egal, was sie alle dachten. Seitdem er so griesgrämig geworden war, wurde er ohnehin seltener gefragt, sodass er gar nicht lügen musste. Und er hatte sich der Beförderung würdig gezeigt, indem er kaum noch soziale Kontakte pflegte, sondern sich ganz in die Arbeit stürzte. Genau das hätte er schon früher tun sollen. Dann wäre das dumme Stück Papier überflüssig gewesen, das so viel Unfrieden zwischen ihnen gestiftet hatte.

Eines Tages würde er darüber lachen können. Ganz sicher. Aber bevor er von Anas bestem Freund Phil erfahren hatte, wo sie steckte, hatte er geglaubt, ihr sei etwas zugestoßen. Natürlich hatte sie ihm eine kurze Nachricht geschrieben, doch als er deren Inhalt geprüft hatte, musste er feststellen, dass nichts davon stimmte. Und so war er allein mit seinen Sorgen. Und mit der Reue. Warum war er nur so schonungslos ehrlich gewesen, als sie ihn gefragt hatte, warum er sie geheiratet hatte? Er hatte sie nicht verletzen wollen – er mochte sie, und er schlief gern mit ihr.

Aber jetzt reichte ein einziger Blick, um zu wissen, dass er sich keine Sorgen um sie hätte machen müssen. Sie sah toll aus. So viel Haut … So viel verlockende Haut …

Er hätte sie vorhin nicht anfassen dürfen. Er war hergekommen, um die Sache abzuschließen. Nicht, um dieses aus der Kontrolle geratene Feuer wieder zu entfachen. „Ich glaube, sie denken, dass es dir nicht gut geht, oder etwas in der Art“, sagte er. „Sie fragen nicht mehr. Von allen Seiten mitfühlende Blicke.“

„Statt Sex.“

Wie bissig sie war! Doch er konnte es ihr nicht übel nehmen. Immerhin hatte er ihr von seinem letzten Erlebnis mit einer Klientin erzählt. „Das würden sie nicht wagen. Denn sie denken, ich bin meiner Frau treu.“

All die auffordernden Blicke – sie waren verschwunden. Hätte er das geahnt, hätte er schon vor Jahren eine Ehefrau erfunden. Und sich so den Schlamassel erspart, in dem er jetzt steckte. Schon vor seinem Studium hatte er sich vorgenommen, Sozius bei Wilson & Crosbie zu werden. Jetzt hatte er es geschafft. Als Single hätte er seinen jetzigen Posten nicht bekommen, seine Vorgesetzten waren ultrakonservativ. Sie sahen es nicht gern, wenn betuchte Damen ein Auge auf ihn warfen, oder die jungen Ehefrauen von Klienten alles durcheinander brachten. Und erst recht mochten sie es nicht, dass sämtliche Sekretärinnen den Stift fallen ließen und Seb hinterher starrten, sobald er vorüberging. Und in Anbetracht der Tatsache, dass er mit einer von ihnen eine Affäre gehabt hatte, die damit endete, dass sie bei der Arbeit ständig weinte, konnte man es ihnen nicht einmal verübeln.

Doch er hatte es darauf ankommen lassen und seinen Vorgesetzten klarmachen wollen, wie albern es war – immerhin war er Scheidungsanwalt. Doch das war vor seiner Begegnung mit Ana. Sie war wie ein Wink des Schicksals. Er war so verrückt nach ihr gewesen, dass er sie auf jene Insel entführt hatte, um sich dort mit ihr zu vergnügen. Und dann, eines Nachmittags in Gibraltar, war ihm – berauscht von Sonne, Sand und großartigem Sex – diese grässlich dumme Idee gekommen. Sie hatte Ja gesagt, und am nächsten Tag hatten sie geheiratet.

Sie sah ihn an. „Und wie wirst du deine Scheidung erklären?“

„Vielleicht gibt es keine Scheidung.“

„Wie bitte?“ Sie riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. „Es gibt eine, da kannst du sicher sein!“

„Willst du mich so dringend loswerden?“ Warum? Hatte sie einen anderen? Wo war er? Und was machte sie hier in Afrika?

„Das fragst du noch?“

„Aber warum erst so spät?“ Fast ein Jahr hatte er nichts von ihr gehört, und dann waren die Scheidungsunterlagen auf seinen Tisch geflattert.

Jetzt sah sie an ihm vorbei und wich aus: „Willst du denn keine Scheidung? Lieber Himmel …“ Nun sah sie ihn wieder an. „Brauchst du immer noch eine Ehefrau, um deinen tollen Job zu behalten? Das ist doch krank!“

Er setzte zu sprechen an, kam aber nicht dazu.

„Ich werde kämpfen, Seb. Du solltest so schnell wie möglich unterschreiben. Anderenfalls könnte ich vielleicht auf die Idee kommen, Geld zu wollen.“

Lachend schüttelte er den Kopf über ihren schwachen Versuch. „Damit würdest du nicht durchkommen, meine Liebe. Schon vergessen? Du hast mich verlassen. Drei Tage nach der Hochzeit. Ich bin der Geschädigte, ich bin der Unglückliche. Wenn einer Geld bekommt, dann bin ich es.“ Das stimmte zwar nicht ganz, trotzdem wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einmal derjenige zu sein, der sich moralisch im Recht fühlen durfte. Sein Lächeln erstarb. „Aber warum, Ana?“ Warum hatte sie nach Monaten des Schweigens, in denen er keine Ahnung gehabt hatte, wo sie war, plötzlich die Scheidung eingereicht? „Hast du jemanden kennengelernt?“

„Das geht dich nichts an.“

Das stimmte. Trotzdem brannte ihm die Frage unter den Nägeln. Wo war sie im letzten Jahr gewesen? Was hatte sie gemacht? Sie sah so gut aus, dass ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Wie irritierend!

Er selbst hatte das vergangene Jahr mit nichts als Arbeit verbracht. Aber bis jetzt hatte er das nicht auf sie zurückgeführt, sondern gedacht, die Situation habe sein übliches Bedürfnis nach körperlicher Liebe gedrosselt. Kein Wunder, dass er nach dieser missglückten Ehe Frauen zeitweilig eher abgeneigt war. Allerdings dauerte dieser Zustand schon eine ganze Weile. Er hatte in der ganzen Zeit nicht einmal einen One-Night-Stand gehabt – schließlich hatte es mit ihr so angefangen. Und ein solches Desaster wollte er nicht noch einmal erleben. Außerdem hatte er keine getroffen, die ihn interessiert hätte.

Aber sie interessierte ihn.

Unfassbar, dass er sich immer noch so sehr von ihr angezogen fühlte. Wie ärgerlich! Denn eines war klar: Sie würden nichts mehr miteinander anfangen.

Ana unterdrückte einen Seufzer und musste sich anstrengen, um nicht wieder und wieder auf die Uhr zu sehen. Die Zeit verging einfach nicht. Ihre Unterhaltung war beendet. Seb hatte sich weggedreht und sah hinaus – genau wie sie.

Warum hatte sie die Scheidung nicht früher eingereicht? Weil sie in den ersten Monaten zu krank gewesen war, um etwas zu tun. Und als es ihr körperlich wieder besser ging, war sie psychisch nicht in der Lage dazu gewesen. Schließlich aber ging es ihr besser. Sie hatte aus ihren Erfahrungen gelernt und Pläne geschmiedet. Sie hatte ein paar Kurse belegt, die ihr das Gefühl gaben, etwas erreicht zu haben. Sie hatte gearbeitet, gespart und sich auf einen Neubeginn vorbereitet. Allerdings hatte sie bis heute angenommen, dass sie mit Seb klarkommen würde – oder zumindest ihr Anwalt.

Endlich erreichten sie ihr Nachtlager – eine Schlangenfarm. Ana stieg aus und streckte sich. Eine weitere Nacht, ein weiterer Zeltplatz – nach drei Wochen hatte sie es langsam satt, jeden Abend mit den Planen und Stangen zu kämpfen.

Bundy kam herüber. „Ihr zwei werdet heute Nacht ein Zelt teilen.“

Wie bitte? Ana wandte sich um und sah Seb hinter sich stehen. Sie erstarrte. Wie kam Bundy darauf?

„Okay“, antwortete Seb, bevor sie überhaupt wieder denken konnte.

„Baut es unter dem Baum da drüben auf. Dann seid ihr ein wenig für euch.“ Er zwinkerte ihnen zu.

Ana blieb nichts anderes übrig als sich wegzudrehen und so zu tun, als hätte sie das Grinsen der beiden Männer nicht bemerkt und als würde sie nicht rot werden.

Aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn.

Wütend stapfte sie Seb hinterher, der mit einem Zelt unterm Arm schon zu dem Platz ging, den Bundy ihnen gezeigt hatte. Ein Glück, dass sie ‚ein wenig für sich‘ waren, denn sie war kurz davor, einen Mord zu begehen.

„Wie kommt er darauf, dass wir uns ein Zelt teilen?“ Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut zu werden.

„Ich habe ihm gesagt, dass wir verheiratet sind.“

„Wie bitte? Warum?“

„Weil es so ist. Und um so spät zusteigen zu können …“

Also hielt Bundy ihre Begegnung für eine Art freudiges Wiedersehen? Sie kniff die Augen zusammen. „Hattest du nicht gesagt, dass unser Zusammentreffen ein Zufall war?“

Seb lachte. „Ich habe gelogen.“

„Nicht das erste Mal.“

Doch er lächelte nur. „Ich hatte damit gerechnet, dass es so toll sein würde, dich wiederzusehen.“

Auf keinen Fall würde sie die Nacht mit ihm im Zelt verbringen. Der Einzige, der wusste, wo sie hingefahren war, war Phil. Zurück in London würde sie ein Hühnchen mit ihm rupfen.

Irritiert beobachtete sie, wie Seb die Teile des Zelts begutachtete. Für das erste Aufbauen hatte sie fast eine Stunde gebraucht. Sicher würde er es schneller schaffen. Die Zelte waren furchtbar. Eigentlich waren sie schon für eine Person zu eng. Aber mit Seb? Er war fast zwei Meter groß. Keiner von ihnen konnte darin liegen, ohne sich einzurollen. Und zusammen würde sie nur hineinpassen, wenn sie sich gemeinsam zusammenrollen würden. Sie würde keine Luft bekommen. Schon jetzt konnte sie kaum noch atmen, obwohl er zwei Meter entfernt stand.

Weil es immer noch da war. Trotz allem, was vorgefallen war, wollte sie ihn. Sie hatte ihn nur von hinten gesehen, und es hatte wieder angefangen. Diese Empfindungen, die so lange brachgelegen hatten, erwachten wieder. Es verlangte sie nach Berührung – nach seiner Berührung.

Doch das wollte sie nicht zulassen. „Ich werde nicht mit dir in diesem Zelt übernachten, Seb.“

„Wir müssen.“

„Nein, wir müssen nicht.“

„Bundy meinte, es gäbe keine freien Zelte mehr.“

„Dann nimm ein Moskitonetz und schlaf unter freiem Himmel.“ Oder im Truck. Oder bei den Schlangen. Egal wo, nur nicht in meiner Nähe. „Ich kann dir eins leihen.“

„O.k.“ Er sah ihr in die Augen und wiederholte sanft ihre Worte: „Unter freiem Himmel.“

Ana erinnerte sich daran, wie er ihr einmal genau das vorgeschlagen hatte. Unter einem anderen Nachthimmel. Dort hatte es kein Moskitonetz gegeben, auch keine Laken, nichts außer zwei nackten Körpern. Es war ihre Hochzeitsnacht gewesen. Auf ihrem Balkon in Gibraltar, über ihnen nur die Sterne.

Ein heißes Kribbeln lief durch ihren Körper. Sie bückte sich und begann geistesabwesend, die Einzelteile des Zelts vor sich auszubreiten.

„Lass mich das machen.“ Seb schob sie behutsam beiseite. „Willst du nicht etwas trinken? Du siehst aus, als sei dir heiß.“

„Ich schaffe das schon.“ Ihm musste doch klar sein, dass sie das schon oft gemacht hatte!

„Sicher, aber ich habe nicht tagelang in dem Laster in der prallen Sonne gesessen. Gönn dir doch eine Pause im Schatten.“

Natürlich konnte sie das Zelt problemlos selbst aufbauen. Aber wenn er es unbedingt machen wollte – super. Sie musste das Ganze nur von der positiven Seite sehen. „Danke.“

Ihr war tatsächlich heiß. Sie nahm den Sarong, den sie als Handtuch benutzte, und ging zum Waschraum. Auf Campingplätzen wie diesem gab es nur kalte Duschen. Und die taten sehr gut.

Nach dem Duschen ging sie zu den Tiergehegen. Lange sah sie ein großes Krokodil an, das derart reglos in der Sonne lag, dass man es für eine Statue hätte halten können.

„Meinst du, dass es tatsächlich lebendig ist?“, fragte Seb.

„Lass dich nicht täuschen“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. Es wunderte sie nicht, dass er sie gefunden hatte. „Es kann sich schneller bewegen, als du blinzeln kannst.“

Die Schlangen, die sie mit ihren kalten, gefährlichen Augen anstarrten, gefielen ihr nicht. Aber das Chamäleon faszinierte sie. Sie beobachtete, wie es die Augen unabhängig voneinander in unterschiedliche Richtungen bewegte, und bewunderte die leuchtendbunten Tupfen auf seiner Haut.

„Es kann sich nicht entscheiden, welche Farbe es annehmen soll, um sich zu tarnen“, lachte Seb.

Prompt empfand sie Mitgefühl mit dem armen Tier, schließlich wusste sie selbst nicht, wie sie sich verhalten sollte. Doch dann siegte ihre Neugier, und sie stellte Seb die Frage, die sie enorm interessierte: „Und du, Seb? Warum reist du allein? Gibt es keine, die dir den Schlafsack wärmen will?“

„Wenn du magst, kannst du das erledigen.“ Er lachte über ihr erschrockenes Gesicht. „Was ist, du hast mich doch gefragt. Ehrlich gesagt ist es ziemlich lange her, dass ich überhaupt jemanden nur geküsst habe.“

Ungläubig drehte Ana sich zu ihm um. „Erwartest du etwa, dass ich das glaube?“

„Ja.“

„Seb, ich war mit dir zusammen. Ich weiß, wie du bist.“

„Nach dir war ich mit keiner zusammen. Das zwischen uns war nicht normal, Ana.“

„Nein.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. Für sie war es ganz sicher nicht normal gewesen.

„Normalerweise frage ich Frauen nicht, ob sie mich heiraten.“

Sie lachte. „Und? Hast du nach dieser Erfahrung endgültig genug von Frauen?“

Er sah sie ruhig an. „Kann sein.“

Das klang erstaunlicherweise ganz ernst.

„Und du? Hast du einen anderen kennengelernt?“, erkundigte er sich.

„Die meisten Männer mögen es nicht, wenn sie von einer Frau überragt werden.“

„Mich überragst du nicht. Ich bin größer als du.“

„Du bist nicht die meisten Männer.“

Als er an ihr hinabsah, fühlte sie seinen Blick über ihren Körper wandern als wäre es seine Hand. „Die meisten Männer mögen lange Beine.“

Kopfschüttelnd widersprach sie. „Die meisten Männer ergreifen die Flucht.“ Daraufhin sah er sie so ungläubig an, dass sie ärgerlich wurde. „Bei dir stört deine Größe nicht. Du bist ein Mann – da ist es ein Pluspunkt. Aber wenn man als Frau so groß ist wie ich, fällt man komisch auf. Ich sehe sie doch, Seb, wie sie mich anstarren und lachen und sich neben mich an die Bar stellen, nur um zu sehen, ob sie genauso groß sind wie diese Riesin.“

Er runzelte die Stirn. „Stört dich das so sehr? Aber sie starren dich doch nur an, weil du schön bist …“

Sicher.

„Da ist wirklich kein anderer?“, hakte er nach und machte einen Schritt auf sie zu.

War das alles, was er wissen wollte? „Nein“, antwortete sie, unfähig zu lügen. „Aber das ist unwichtig, Seb.“

Nachdenklich warf er einen Blick auf das Chamäleon. „Kann sein.“

Sie würde nicht zulassen, dass er sie aus dem Konzept brachte. Nein, sie durfte nicht zulassen, dass die Vergangenheit Oberhand bekam und sie von ihrem Kurs abbrachte. Nicht jetzt, wo sie endlich über all dem stand.

Also wandte sie sich um, um zu den anderen zurückzukehren, wo sie sicher wäre. Doch Seb stellte sich vor sie und versperrte ihr den Weg. Er lächelte schwach, doch sein Blick war durchdringend und sein Körper verkrampft.

„Sicher ist das Essen fertig“, brach sie nach einer Weile mit heiserer Stimme das angespannte Schweigen. „Ich bin am Verhungern.“

Ana aß hastig und hörte zu, wie Seb sich mit den anderen unterhielt. Er sagte nichts über die Gründe für sein Hiersein oder über ihr Verhältnis zueinander, und glücklicherweise fragten die anderen nicht nach. Aber es war offensichtlich, dass sie ihn mochten – wie alle, die ihn kennenlernten. Auch ihr und Phil war es so gegangen, als sie an dem Abend ausgegangen waren. Sebs Lächeln, seine Aufmerksamkeit, seine angenehmen Umgangsformen waren einfach unwiderstehlich. Auch heute spielte er sie voll aus. Den Männern sah man an, dass sie ihn bewunderten, und die Frauen warfen Ana neidische Blicke zu.

Wenn die wüssten. Die freundliche Aufmerksamkeit, die er hier zeigte, war nichts gegen die Hingabe, die er im Bett entwickelte. Allein bei dem Gedanken daran errötete sie. Es war, als widme er sich mit jeder Faser der Kunst, Lust zu bereiten – wieder und wieder.

Energisch schob sie den Gedanken beiseite und stand auf, um abzuwaschen. Zwar war sie nicht an der Reihe, aber gerade konnte sie weder stillsitzen noch in seiner Nähe sein.

In Afrika wurde es sehr schnell sehr dunkel. Obwohl Tausende von Sternen am Himmel funkelten, war es stockfinster. Draußen schlafen würde Ana nicht, dafür gab es hier zu viele unheimliche Lebewesen wie Schlangen, Skorpione und womöglich sogar Löwen. Aber Seb war groß und stark – er würde schon damit fertig werden. Mit einem T-Shirt bekleidet legte sie sich ins Zelt und versuchte, kein schlechtes Gewissen zu haben.

Stunden später – sie lag noch immer wach – hörte sie die Tropfen. Während ihrer Reise hatte es nicht oft geregnet, aber wenn, dann gewaltig. Wenige große Tropfen reichten aus, um einen völlig zu durchweichen. Sie schloss die Augen und verfluchte den Wettergott. Nicht einmal sie brachte es übers Herz, ihn draußen im warmen Schlamm versinken lassen.

Sie knipste ihre Taschenlampe an und öffnete das Zelt. „Seb, komm rein“, rief sie leise.

Er war nicht weit entfernt und setzte sich gerade auf. Dabei brummelte er leise vor sich hin.

„Los, beeil dich!“

Und plötzlich war er schneller im Zelt, als sie ihm Platz machen konnte. Er nahm fast den gesamten Raum ein und hatte auch noch seinen Schlafsack mitgebracht.

Im Handumdrehen zog er sein T-Shirt über den Kopf.

„Was machst du da?“, fragte sie alarmiert.

Lässig warf er das T-Shirt in eine Ecke. „Wonach sieht es denn aus?“

„Du …“ Er war umwerfend. Sie kannte diese Muskeln. Schon damals war sie beeindruckt gewesen und hatte sich gewundert, wie ein Anzugträger zu solch einem Körper kam. Jetzt war er ein wenig sehniger und sah noch besser aus. Er hatte einen richtigen Waschbrettbauch. Zu gern hätte Ana seine muskulösen Arme angefasst.

„Genau: Ich ziehe meine nassen Kleider aus.“

Nun machte er sich mit seinen schönen, großen Händen an seinen Shorts zu schaffen. Ana konnte sich noch gut daran erinnern, wie sich diese Hände auf ihrer Haut angefühlt hatten. Wie er sie eng an sich gezogen hatte. Sie erinnerte sich an die laue Nacht und die herüberklingende Musik. Die Besinnungslosigkeit, die sie erfasst und immer wieder „ja, ja, ja“ hatte seufzen lassen.

„Vergiss nicht, dass es hier Skorpione gibt. Sie könnten dich stechen“, schnappte sie.

Mit einem amüsierten Lächeln zog er seine kurze Hose gemächlich aus. Darunter kamen knappe Boxershorts zum Vorschein. „Mich könnte etwas viel Größeres beißen.“

Sie schaltete die Taschenlampe aus.

„Moment!“ Seb griff nach der Taschenlampe und schaltete sie wieder an. „Ich muss meinen Schlafsack suchen.“ Er lachte. „Denn es würde dir sicher nicht gefallen, wenn ich aus Versehen in den falschen schlüpfe.“

Seine Augen funkelten heiter, und der Seb, den sie geliebt hatte, schimmerte durch: der Schelm, der Neckische. In seiner Gegenwart schien alles so leicht, so lustig. Weder sie noch irgendeine andere Frau konnte der guten Laune, die er ausstrahlte, widerstehen.

Wie um sich zu schützen, zog sie das große, weite T-Shirt über die angewinkelten Beine und glitt in ihren Schlafsack, obwohl ihr bereits ohne ihn viel zu heiß war. Sie starrte an die Zeltdecke; die Stille war unerträglich. Jedes Rascheln war deutlich zu hören, und ihr Atem klang laut und stockend.

Wie sollte sie nur schlafen, wenn sie derartig unter Strom stand? Es war, als wäre Seb eine Energiequelle, die sie schon aus drei Metern Entfernung unter Spannung setzte. Und jetzt, wo sie direkt neben ihm lag, war es, als würde eine geheime Macht sie einen halben Meter über dem Boden schweben lassen.

Sie schloss die Augen und versuchte, an irgendetwas anderes als an ihn zu denken. Als sie erkannte, dass es vergeblich war, musste sie lachen. Und konnte nicht mehr damit aufhören.

Auch er lachte. Der warme Klang seines Lachens wirkte auf eine sonderbare Art erleichternd. Sie liebte es, ihn lachen zu hören.

Doch gleich darauf war diese Spannung wieder da. Das Verlangen kam wieder, als sie sich daran erinnerte, wie sie engumschlungen miteinander gelacht hatten.

„Musstest du nach Afrika kommen, Seb?“

„Ja“, seufzte er, und es klang, als würde er es genauso bedauern wie sie. „Ja, ich musste kommen.“

3. KAPITEL

Als Ana die Augen öffnete, lag Seb neben ihr. Sie war zwischen ihm und ihrem Gepäck eingeklemmt. Seinem ruhigen Atem nach zu urteilen schlief er noch. Vorsichtig drehte sie sich zu ihm und betrachtete sein Gesicht genauer. Wäre er wach gewesen, hätte sie sich das nicht getraut, doch so konnte sie einen Blick auf ihn wagen.

Doch sie hatte sich geirrt. Denn da war dieser Geruch, der Geruch von Seb, der ihr immer sofort zu Kopf stieg. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Ihr Herz begann heftiger zu klopfen. Spannung mischte sich mit einer anderen Empfindung, die sie vor Monaten aus dem Gedächtnis verbannt hatte.

Er hatte Bartstoppeln am Kinn. Sie erinnerte sich, wie die Stoppeln sich unter ihren Fingern angefühlt hatten, wie sie am Bauch gekitzelt und am Oberschenkel leicht gekratzt hatten.

Bloß nicht daran denken!

Aber seine vollen Lippen erinnerten sie daran, wie es sich anfühlte, ihn zu küssen. Ihr Blick glitt über seinen Körper. Sein muskulöser Oberkörper und seine breiten Schultern waren unbedeckt. Bei dem Anblick zog sich alles in ihr zusammen. Noch immer war er der schönste Mann, den sie kannte.

„Ana.“ Es war kaum hörbar, doch seine raue Stimme schlug eine Saite tief in ihrem Innern an.

Langsam wandte sie den Blick von seinem Oberkörper ab und seinen Augen zu. In ihnen lag noch ein wenig Schlaftrunkenheit, doch dahinter glomm etwas anderes. Wissen. Er wusste, dass sie ihn angesehen hatte. Begierig angesehen hatte.

Keiner von ihnen rührte sich.

„Ich bin mit dem Frühstück dran.“ Er war ihr zu nah, und das war ihre eigene Schuld. Schnell zog sie ihre Shorts an und griff nach dem Bikinioberteil. Sie würde es hinter einem Baum unter das T-Shirt ziehen. Rasch schlüpfte sie aus dem Zelt und überhörte sein Rufen.

Als sie an all die Empfindungen dachte, von denen sie gedacht hatte, dass sie für immer vergessen wären, erschauerte sie. Wie er aussah, wie er roch, wie er sich anhörte und anfühlte.

Wie er schmeckte. Wie gern sie ihn schmecken wollte!

Wie konnte sie das noch immer wollen, obwohl sie wusste, dass sie ihm nichts bedeutete? Wie war das möglich?

Aber ihr Körper hörte nicht auf ihren Kopf – er interessierte sich nicht für die schrecklichen Erinnerungen. Nein, ihr Körper erinnerte sich an etwas anderes. Das Gewicht seines Körpers auf ihrem fiel ihr ein, die Empfindungen und die Lust, die er in ihr geweckt hatte. Ihr Körper sehnte sich danach – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

Sie ging in die Mitte des Lagers, wo Bundy bereits Feuer gemacht und Wasser gekocht hatte. Sie brühte sich einen Tee auf, den sie schwarz und so heiß trank, dass sie sich die Lippen und den Gaumen daran verbrannte. Der oberflächliche Schmerz war ihr eine Warnung – tiefergehenden Schmerz brauchte sie jetzt wirklich nicht.

Im Nu war das gemeinsame Frühstück vorüber. Sie schaute Seb nicht an. Als sie sah, dass er nicht nur das Zelt abgebaut, sondern auch ihre Sachen zusammengepackt hatte, murmelte sie fast unhörbar. „Danke.“

Die Jeeps, die sie zum Rand des Ngorongoro-Kraters bringen sollten, hielten am Lager. Ana sprang auf und ging zu den Wagen, doch Seb hatte sie nach zwei Schritten eingeholt. Seine Augen funkelten unternehmungslustig, als er ihr Gepäck in einen der Jeeps warf.

Ana wurde unruhig. Zu gern hätte sie auf ihre alte Methode, das Weglaufen, zurückgegriffen. Doch es gab kein Entkommen. Zumindest nicht, nachdem er ihr die Tür aufgehalten und nach ihr in den Wagen gestiegen war.

Die Straße war in einem erbärmlichen Zustand. Riesige Schlaglöcher und steinharte Lehmbrocken sorgten dafür, dass der Jeep ständig schaukelte und seine Insassen ordentlich durchrüttelte. Seb streckte einfach den Arm aus und hielt sich am Überrollbügel fest. Den anderen Arm legte er um Ana und zog sie fest an sich, sodass auch sie ein wenig sicherer saß. Ihr wäre es allerdings lieber gewesen, weiterhin gegen die Wände des Wagens geworfen zu werden.

Schließlich erreichten sie das Lager am Kraterrand. Morgen würden sie in den Krater hineingehen. Ana konnte es kaum erwarten – hatte sie doch Lebendfutter für die Löwen dabei!

Seb streckte sich und beobachtete, wie Ana zu den Gemeinschaftsräumen ging. Als er sah, dass sie ihr T-Shirt auszog, konnte er nicht anders, als ihr hinterherzugehen.

Weil sie nun nur noch das Bikinioberteil und die tief sitzenden Shorts trug, war viel von ihrem unglaublichen Körper zu sehen. Wie kam sie bloß auf die Idee, dass ihre Beine zu lang waren?

Er beschleunigte seinen Schritt, griff nach ihrem Arm und drehte sie zu sich. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie sah ihn ernst aus ihren leuchtendblauen Augen an, während er sie von oben bis unten betrachtete.

„Was ist das?“, krächzte er. Sonderbar, vorhin war er nicht heiser gewesen.

„Was?“

Mit dem Zeigefinger wies er auf ihren Bauchnabel. „Das.“

„Oh.“

Vergnügt beobachtete er, wie sie tief errötete.

„Das ist ein Nabelpiercing.“

Das wusste er, aber es fühlte sich gut an, dass sie so auf ihn reagierte. Demnach empfand sie auch noch etwas für ihn. „Seit wann hast du es?“

„Seit ein paar Monaten.“

„Warum hast du es machen lassen?“

Plötzlich sah sie aus wie ein genervter Teenager, der bei etwas Verbotenem erwischt wird. „Ein Vorschlag aus einem Ratgeber. Man sollte etwas völlig Untypisches machen, ein Tattoo oder ein Piercing. Ein Tattoo war mir zu dauerhaft.“

„Du hast es machen lassen, weil ein Buch dir dazu geraten hat?“ Fast musste er lachen, war aber zu sehr mit Starren beschäftigt. „Was für ein Buch war das?“

„Ein ziemlich gutes, wenn du es genau wissen willst.“

„Es hat dir also Kraft gegeben.“

„Ich bin selbstbewusst geworden.“

Nun lachte er kurz. Selbstbewusst? Von wegen! Dann wurde er wieder ernst. Er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen und legte seine Hand flach auf ihren Bauch. Er fühlte die Wärme ihrer Haut und die zuckenden Muskeln darunter. Sein Verlangen nach ihr wurde größer. „Tat es weh?“

„Nein.“ Ihre Stimme klang herausfordernd. „Ich habe schon Schlimmeres erlebt.“

Ihre Augen waren so unglaublich blau – ultramarin –, man konnte viel zu leicht darin versinken. Er war kurz davor, sie zu küssen.

Wenn sie so selbstbewusst war, wie sie behauptete, würde sie ihn dafür sicher ohrfeigen. Und das verdiente er auch. Denn sie hatte ihre Heirat ernst genommen, während es für ihn nur ein Spaß gewesen war. Allerdings hatte er gedacht, dass ihr das klar gewesen wäre. Doch nun wurde ihm immer bewusster, dass er so sehr damit beschäftigt gewesen war, mit ihr zu schlafen, dass er gar nicht dazu gekommen war, mit ihr darüber zu sprechen, was sie beide wollten. Und er wollte noch immer mit ihr schlafen. Die Leidenschaft brannte noch immer, Monate, nachdem sie ihn verlassen hatte.

„Aha.“ Angestrengt suchte er nach den richtigen Worten, nach etwas, das er sagen konnte, ohne sich lächerlich zu machen. „Was hat deine Mutter dazu gesagt?“

Ana blinzelte, offenbar überrascht. „Über das Nabelpiercing? Seb“, lachte sie trocken, „meine Mutter ist tot.“

Nun war es an Seb zu blinzeln. Ob sie erst kürzlich … Er wusste es nicht. „Entschuldige, Ana, es tut mir leid.“

„Schon in Ordnung. Es ist lange her.“

„Oh.“ Genau wie sie lächelte er schwach. „Und was hat dein Vater gesagt?“

Nun lächelte sie nicht mehr. Offenbar war er in ein Fettnäpfchen getreten.

„Sie sind beide bei einem Unfall gestorben, als ich sechs war, Seb.“

„Ana, das ist ja furchtbar!“

Sie tat einen Schritt zurück, um zu gehen. Doch er wollte nicht, dass sie ging. Jetzt wollte er alles wissen. Wollte all die Fragen stellen, die ihm früher nicht in den Sinn gekommen waren. Vielleicht würde er sie dann besser verstehen. „Bei wem hast du denn gelebt?“

„Bei dem Bruder meiner Mutter und seiner Frau.“

Langsam ging Seb neben ihr her. Einerseits wagte er kaum, weiter zu fragen, andererseits konnte er aber nicht anders. „Waren sie nett?“

„Willst du es wirklich wissen?“, fragte sie und blieb stehen.

Er nickte.

„Ich war das typische einsame Waisenkind. Sie hatten schon zwei eigene Kinder – perfekte kleine Blondschöpfe. Ich habe nicht dazu gepasst und konnte ihnen nicht das Wasser reichen. Und ich habe meinen Eltern hinterhergetrauert. Ich habe es ihnen von Anfang an schwer gemacht. Ich war verschlossen und schwierig.“

Mit einem Lächeln versuchte sie, sich hinter ihrem Sarkasmus zu verstecken, doch Seb spürte, wie tief der Schmerz noch immer saß. „Du warst sechs! Du hattest das Recht, deinen Eltern nachzutrauern. Du hast dich sicher verloren gefühlt. Sie hätten dir Geborgenheit schenken müssen!“

Wie es war, sich nicht angenommen zu fühlen, wusste Seb nur zu gut – hatten ihm ein oder zwei seiner Stiefeltern doch auch das Gefühl gegeben, unerwünscht zu sein. „Ist es irgendwann besser geworden? Und hast du dich gut mit deinen Cousins verstanden?“

„Nicht besonders.“

Also war es schlimmer geworden.

„Ich bin so schnell wie möglich von zu Hause ausgezogen. Und du? Hast du Geschwister?“

Seb zögerte. Womit sollte er anfangen, um den Albtraum zu schildern? Er wusste, wie furchtbar es war, mit Kindern auszukommen, mit denen man nichts gemeinsam hatte, und mit denen man nur der Erwachsenen wegen zusammenleben musste. In seinem Fall waren die neuen Ehen seiner Eltern der Grund. Aber dieses Fass wollte er jetzt nicht aufmachen. „Nein.“ Er sah sie an. „Wir wissen wirklich nicht viel voneinander, stimmt’s?“

Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann lachte sie und wandte sich ab. „Wahrscheinlich haben wir das gar nicht gewollt. Wir waren ganz zufrieden auf unserer Wolke sieben.“

Auch Seb lachte. Es stimmte. Sie waren regelrecht unzurechnungsfähig gewesen. „Aber es war eine gute Zeit, findest du nicht?“

Darauf hob sie nur leicht die Schultern und sagte nichts, was ihn nur noch ungeduldiger werden ließ. „Warum bist du nach Afrika gefahren? Hast du die Scheidung eingereicht und bist dann weglaufen?“ Das war doch ihre Spezialität: weglaufen.

„Ich bin nicht weggelaufen. Ich wollte ein Abenteuer erleben. Ein Abenteuer, über das ich die Kontrolle habe.“

Im Gegensatz zu ihrem gemeinsamen Abenteuer? Bei dem sie beide die Kontrolle verloren hatten? „Hättest du dich nach deiner Rückkehr mit mir getroffen?“

„Nein.“

In der Notiz bei den Scheidungsunterlagen hatte sie ihn gebeten, alles Nötige an ihren Anwalt zu schicken. Sie hatte ihn nicht sehen wollen und gehofft, er würde einfach unterschreiben und die Papiere abschicken. „Du bist ein Feigling, Ana.“

Einen Moment lang herrschte Stille. „Ich war ein Feigling, ja“, gab sie schließlich zu. „Aber jetzt bin ich es nicht mehr.“

Den Nachmittag verbrachte Ana lesend im Schatten und ignorierte das Fußballspiel, das Seb für die Männer organisiert hatte. Sie musste nicht daran erinnert werden, wie fit er war. Denn auch so verbrachte sie schon viel zu viel Zeit damit, an seine unglaubliche Lust zu denken.

Beim Abendessen saß er neben ihr und unterhielt sich mit ihr. Er fragte sie nach den Höhepunkten ihrer Afrikareise, was sie gemacht und gesehen habe. Ungefährliche Themen. Und doch gefährlich – denn es war zu leicht, dabei zu lächeln, zu lachen und sich zu entspannen. Als die Dunkelheit hereinbrach, redeten sie noch immer.

Da er nur wenige Meter entfernt von ihr draußen lag, schlief sie kaum in dieser Nacht. Sie erwachte früh und setzte sich im Zelt auf, um ihr klopfendes Herz und ihre Hormone unter Kontrolle zu bekommen. Es war nicht nur die körperliche Nähe zu ihm, sondern auch die Gespräche vom letzten Abend. Sie machten ihn noch anziehender. Was sie brauchte, war mehr Selbstbewusstsein. Sie musste ausstrahlen, dass er mit ihr nicht machen konnte, was er wollte. Aus den Tiefen ihres Gepäcks zog sie diese albernen Schuhe hervor, die sie mitgenommen hatte und nun schon seit Wochen mit sich herumschleppte. Ana konnte kaum glauben, dass sie sie mitgenommen hatte, und auch nicht, dass sie sie tatsächlich anziehen würde. Aber sie war in einer verzweifelten Lage und musste den Mut aufbringen, sie anzuziehen. Seb hielt sie nicht für zu groß? Sie würde es ihm schon zeigen.

Natürlich bemerkte er es sofort. „High Heels auf einer Safari! Wie passend!“

„Ja, findest du nicht? Gefällt es dir nicht, wie groß ich damit bin?“

„Ich bin immer noch größer als du.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Eines Tages werde ich welche finden, mit denen ich größer bin als du.“

„Frag mal beim Zirkus nach, da haben sie Stelzen.“

„Hast du keine Angst davor, zu mir aufzusehen?“

„Ich habe kein Problem mit deiner Größe.“ Er beugte sich vor und sagte in verführerischem Ton: „Es hat durchaus Vorteile, wenn man größenmäßig zusammenpasst.“

Daran dachte er! Sie gingen immer ein wenig zu weit miteinander. Und sie ging noch einen Schritt weiter, indem sie sich provokativ zu ihm vorbeugte und mit Genugtuung beobachtete, wie er die Augen aufriss. „Willst du wissen, was das Beste an diesen Schuhen ist?“

Er öffnete den Mund, sagte aber nichts.

„Die Absätze eignen sich sehr gut, um jemandem, der einem zu nahe kommt, auf die Füße zu treten.“

Nun kniff Seb die Augen zusammen. „Ich verstehe das als Warnung.“

„Sehr gut.“ Sie wandte sich ab und stolzierte mit einem siegesgewissen Lächeln davon.

Sie stiegen in die Jeeps und fuhren den steinigen Weg in den Krater hinab. Der Krater gehörte zum Weltnaturerbe, und Ana wünschte sich seit Jahren, ihn zu sehen. Trotz der kurzen Nacht wollte sie das Beste daraus machen – es wäre zu schade, wenn ihre Hormone ihr diesen Ausflug verderben würden. In der Sohle des Kraters standen sie in dem offenen Jeep, um eine bessere Sicht auf die vielen Tiere zu haben. Überwältigt von der Fülle vergaß sie den Kampf mit Seb – und mit sich selbst.

„Was für ein Tier steckt in dir, Seb? Ein Löwe? Nein, warte. Ich weiß.“ Sie lächelte. „Ein Gepard.“

„Nein. Ein Elefant.“

„Warum?“, fragte sie, „wegen deines dicken Hinterteils?“

„Danke für das Kompliment, Schätzchen, aber: nein. Wegen meines Gedächtnisses. Vielleicht wusste ich nicht viel über dich, Ana, aber was ich wusste, habe ich nicht vergessen.“ Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich weiß, was du magst. Ich weiß, wie du es magst. Wie schnell, wie tief, wie oft.“

Seine dreiste Andeutung weckte ihre Begierde. Das war seine Rache für ihre Aktion mit den Stöckelschuhen.

„Und weißt du auch, was für ein Tier in dir steckt?“ Er zog eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr hervor.

„Wage es nicht, ‚Giraffe‘ zu sagen.“

„Nicht im Traum.“ Seine Augen glitzerten. „Ich hätte eher an eine Gazelle gedacht.“

Musste er sie so ansehen? „Du machst dich lustig über mich.“ Sie war eine Giraffe. Groß und schlaksig. Nicht im Entferntesten hatte sie etwas mit einer zarten, geschmeidigen, hübschen Gazelle gemein.

„Nein, ich meine es ernst!“ Er schien noch näher gekommen zu sein. „Schreckhaft, sprunghaft und scheu.“

„Ich bin nicht scheu!“ Sie wich zurück und stieß gegen die Wand des Jeeps.

„Oh doch“, beharrte er sanft. „Aber es stört mich nicht. Ich habe Geduld und belauere meine Beute.“

Sie wollte nicht seine Beute sein. „Elefanten ernähren sich rein pflanzlich.“

„Na, dann bin ich wohl doch ein Löwe.“

Ana hob ihr Kinn. „Normalerweise geht eher das Löwenweibchen auf die Jagd …“

„Tatsächlich? Also los. Zeig mir deine Krallen.“

Stattdessen wich sie noch einen Millimeter zurück; weiter ging es nicht.

„Siehst du? Ich hatte recht. Eine scheue kleine Gazelle.“

Trotzig zog sie den Bauch ein, drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu. Dann lehnte sie sich hinaus, entschlossen, die Aussicht zu genießen. Sie wollte keine weiteren Wortgefechte mit ihm austragen – schließlich gewann er ohnehin immer.

Lieber genoss sie die schöne Aussicht: In einiger Entfernung standen Flamingos in einem See, Nilpferde faulenzten im Wasser, Hyänen schlichen lauernd umher. Und Seb ließ sie in Ruhe. Er wies sie auf Motive hin, machte Bilder von ihr und freute sich mit ihr, als sie einen im Schatten liegenden Löwen entdeckten. Das Tier schien sich nicht an den Menschen im Jeep zu stören. Sie konnte kaum glauben, wie nah sie ihm kommen konnten, und als sie ein Löwenbaby und seine Mutter entdeckte, blieb ihr fast das Herz stehen.

„Guck doch, Seb“, wisperte sie und drehte sich um, weil sie sichergehen wollte, dass er es auch gesehen hatte.

Doch er sah nicht die Tiere an, sondern sie. In seinem Blick lag die angespannte Ruhe und Konzentration eines Jägers.

„Nimmst du eigentlich ein Malariamittel?“, fragte sie. „Ich fürchte, du hast Fieber. Du hast so einen glasigen Blick.“

Da streckte er die Hand aus und berührte ihre Stirn. „Komisch. Dabei bist du doch diejenige, die heiß aussieht.“

Ana duckte sich weg. „Du bist ein unheilbarer Fall, oder?“

„Sieht so aus.“

Die gesamte furchtbare Fahrt über, vorbei am Nachtlager der vergangenen Nacht und zurück zur Schlangenfarm, wo der Laster wartete, saßen Seb und Ana aneinander gequetscht im Jeep. Stundenlang wurde er an sie gedrückt. Vor lauter Frustration würde er noch umkommen! Er spürte jeden ihrer stockenden Atemzüge. Immer wieder versuchte sie, so weit wie möglich von ihm abzurücken. Wenn er nach unten sah, konnte er ihre Brustknospen durch das dünne, enge Bikinitop hindurch schimmern sehen. Wie gern hätte er sie mit den Lippen liebkost!

Seine Begierde wurde immer stärker. Und er wusste, dass es ihr genauso ging. Sie standen kurz davor, und jedes Wort, jeder Blick brachte sie einander näher.

Aber sie passten nicht zusammen. Nie würde er den Schmerz in ihrem Gesicht vergessen, als sie ihn gefragt hatte, ob er sie nur geheiratet habe, um zum Sozius aufzusteigen. Was hatte sie nur gedacht? Dass es wahre Liebe war? Ja, vermutlich hatte sie das gedacht. Aber sie hatten nur eine wilde Affäre gehabt – das war alles. Das Verlangen hatte ihn blind gemacht – das Verlangen nach ihr und die Aussicht auf den beruflichen Aufstieg. Die Heirat hätte ihnen ein wenig Sicherheit gegeben, zumindest für eine Weile. Das hieß aber nicht, dass er an die Ehe glaubte. Er hatte so viele Ehen geschieden, dass sie eigentlich nicht auf die Idee hätte kommen dürfen, dass er es ernst meinte. Auch an seinen Eltern hatte er wieder und wieder gesehen, wie Ehegelübde gebrochen und vergessen wurden. Das wusste sie allerdings nicht. Denn er hatte ihr nichts über sich erzählt.

Und nun konnte er nicht vergessen, wie sie sich anfühlte. Er sprang aus dem Jeep und ging zum Laster, um sich etwas zu trinken zu holen. Um sich von innen abzukühlen, bevor er sich beim Fußballspielen abreagierte. Insgeheim jedoch wusste er genau, dass Sport die Flamme, die in ihm loderte, kaum zum Ersticken bringen würde.

In Rekordzeit baute Ana das Zelt auf. Sie wollte sich unbedingt ein wenig verkriechen, auch wenn es nur für ein paar Minuten war. Rasch schlüpfte sie hinein und zog den Reißverschluss zu. Sie war völlig erschöpft. Einen Tag lang an Sebastian gepresst zu verbringen, ohne ihn wirklich für sich zu haben, würde jede Frau fertigmachen. Sie starrte die grüne, ausgeblichene Zeltwand an. Obwohl sie todmüde war, würde der Schlaf auf sich warten lassen. Erinnerungen und Worte, Gesagtes und Ungesagtes wirbelten in ihrem Kopf herum. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

Wie gern sie sie gestoppt hätte! Und was sie darum gegeben hätte, dass Sebastian nicht diese Gefühle in ihr auslösen würde! Als ob es in Afrika nicht so schon heiß genug wäre! Warum hatte er herkommen müssen und mit seinen alles durchschauenden Blicken und den sanften Berührungen das Quecksilber um weitere 15 Grad ansteigen lassen? Jede noch so leichte Berührung brachte alles in ihr zum Knistern, und inzwischen verging sie fast vor Sehnsucht.

Die Tröpfchen, die sich an ihren Schläfen gebildet hatten, liefen den Hals hinab zwischen ihre Brüste. Sie sehnte sich nach einer Dusche. Der Gedanke an das über ihren Körper rieselnde kühle Wasser war fast so erquicklich wie die andere Vorstellung in ihrem Hinterkopf. Allerdings erhitzte sie diese Vorstellung noch sehr viel mehr.

Momentan stand jedoch weder das eine noch das andere zur Verfügung. Natürlich könnte sie duschen gehen, aber dann müsste sie an den fußballspielenden Männern vorbeigehen, und dafür fühlte sie sich zu schwach. Allerdings hatte sie Feuchttücher dabei – ungemein praktisch in Afrika. Mit ihnen konnte sie sich zumindest ein wenig frisch machen.

Sie zog ihr Bikinioberteil aus, öffnete den Plastikbehälter und zog ein paar der kühlen Tücher daraus hervor. Mit geschlossenen Augen ließ sie sie über ihre erhitzte Haut gleiten.

Plötzlich hörte sie ein lautes ‚Ritsch‘ und erstarrte. Rasch griff sie nach ihrem Top, doch er war schneller und hielt ihre Hand fest. Mit der freien Hand schloss er den Reißverschluss hinter sich wieder zu.

„Wolltest du nicht Fußball spielen?“

„Ich … ich musste …“

„Was musstest du?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete er mit fiebrigem Blick.

„Sebastian.“ Sie wollte den Kopf schütteln, doch die Hitze lähmte sie.

Außerdem sah er nicht so aus, als würde er sie hören. Sein begehrlicher Blick entfachte ihre Begierde noch mehr. Ihre Brustknospen richteten sich auf – sie schrien förmlich nach seiner Berührung. Trotz allem wünschte sie sich, dass er sie anfassen und küssen würde, um endlich dieses quälende Verlangen zu lindern.

Er biss die Zähne zusammen. Langsam trafen sich ihre Blicke. Es knisterte zwischen ihnen. Aufstöhnend wandte er sich um und verließ das Zelt so schnell, als wäre eine Giftschlange hinter ihm her.

Ana ließ sich fallen und vergrub den Kopf im Schlafsack. Was sollte sie nur tun? Sie zog sich ein frisches, langes T-Shirt an und ging hinaus. Weit entfernt von den anderen kickte er einen Ball immer wieder gegen einen Baum. Als sie zu ihm ging, sah er sie kurz an, drehte sich aber sofort wieder weg. „Komm mir nicht zu nahe.“

Sofort hielt sie inne. „Warum nicht?“

„Weil ich dich küssen will. Und nicht nur das …“

Wieder traf der Ball den Baum. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mit dir vorhabe“, brummte er. Seine Fäuste waren geballt, seine Muskeln angespannt, sein nackter Oberkörper glänzte. Er schien zu allem bereit.

Hitze breitete sich in ihren geheimsten Stellen aus, und sie war so atemlos, als wäre sie diejenige, die in der Nachmittagshitze Sport trieb.

Plötzlich stoppte er, stemmte die Fäuste in die Seiten und sah sie drohend an. „Wir hatten einmal etwas miteinander, Ana. Und für mich ist es nicht vorbei. Ich hatte geglaubt, da sei nichts mehr. Aber ich habe mich getäuscht.“ Er trat kräftig gegen den Ball. „Und ich möchte einen solchen Schlamassel nicht noch einmal erleben. Also bleib mir vom Leib.“

4. KAPITEL

Jedes Mal, wenn Ana aufblickte, sah Seb gerade zu ihr herüber. Wenn er sich mit jemandem unterhielt, betrachtete sie ihn. Ständig erwischte er sie dabei – so wie sie ihn. Immer wieder trafen sich ihre Blicke.

Die Anziehungskraft zwischen ihnen war nicht zu leugnen. Aber vielleicht konnte sie sie ja ignorieren.

Ana versuchte, Abstand zu Sebastian zu wahren. Sie setzte sich auf den Rand des Lasters, angeblich, um die Landschaft besser sehen zu können. Doch nach einer Weile tat ihr das Sitzen auf dem harten Metall weh und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich wieder weiter nach innen zu setzen.

Irgendwann gehorchte sie dem Diktat ihres Körpers und setzte sich neben ihn. Zwar hatte er gesagt, sie solle ihm nicht zu nahe kommen, aber das war kaum möglich. Der Raum, auf dem sie sich bewegten, war begrenzt.

Gerade fuhren sie mit zwölf weiteren Personen nach Daressalam. Es konnte also nichts passieren, und sie konnte sich ihm ohne Gefahr nähern.

Kaum, dass sie sich hingesetzt hatte, begann er ein Gespräch mit ihr. „Erzähl mir von deiner Geschäftsidee!“

Eine gute Idee – ein persönliches Thema, das nicht zu intim war, dachte sie. „Ich eröffne eine Verleihfirma.“

„Was willst du verleihen? Waschmaschinen? DVDs?“

„Accessoires.“

„Was für Accessoires?“

„Mode-Accessoires.“ Sein verwunderter Blick überraschte sie nicht, und sie fuhr fort: „Was sagt die gute Fee in ‚Cinderella‘?“

„Sei um Mitternacht zurück?“

„Bibbity-Bobbity-Boo. Sie sagt es, und – zack – Cinderella hat ein wundervolles Kleid an. Meine Idee ist: Bibbity-Bobbity-Bling. Ich bin die gute Fee, zu der man geht, wenn man noch ein i-Tüpfelchen für sein Outfit braucht, es sich aber nicht leisten kann.“ Sie lachte. „Weißt du, ich habe so viel Schmuck, unzählige High Heels und noch mehr Handtaschen …“

Seb wandte sich ihr zu und legte den Kopf schief. „Versteh mich nicht falsch, Ana, aber du kommst mir nicht vor, als würdest du dich besonders für Mode interessieren.“

„Ich weiß. Aber ich interessiere mich sehr dafür. Oder besser gesagt: Ich habe mich sehr dafür interessiert. Früher habe ich furchtbar viel Geld ausgegeben und sogar Schulden gemacht, um mir Schuhe und Taschen und all diesen Kram zu kaufen. Das Schlimmste daran ist, dass ich mich nie getraut habe, die Sachen zu tragen.“ Sie lachte über sich selbst. „Alles ist noch fein säuberlich verpackt. Aber ich kann mich nicht davon trennen.“

Bei der Erinnerung an ihre vielen Käufe schüttelte sie den Kopf. Zu gern hätte sie sich weiblich und ausgefallen kleiden wollen, war jedoch dabei geblieben, vornehmlich Schwarz zu tragen, um nicht allzu sehr aufzufallen. Es hatte sie geärgert, dass sie sich von dieser Gewohnheit nicht lösen könnte. Darum hatte sie aus lauter Frust eingekauft, wie andere aus Frust essen.

„Es hat lange gedauert, die Schulden loszuwerden.“ Nach ein paar Jahren mit zwei oder drei Jobs hatte sie alles zurückzahlen können, und sie hatte nicht vor, je wieder Schulden zu machen. „Und statt all diese schicken Sachen verstauben zu lassen, mache ich lieber Geld damit. Ich werde die Sammlung ein wenig ergänzen und die Sachen verleihen. Die Webseite ist schon fast fertig. Jetzt suche ich noch nach einem geeigneten Laden, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, welche Gegend am besten geeignet ist.“ Sie hielt inne. „Findest du die Idee dumm?“

„Nein.“ Er sah ein wenig verwirrt aus. „Das könnte funktionieren. Ja, doch.“

Ana wusste, dass es funktionieren würde. Garantiert gab es Frauen, die sich den Luxus ausgefallener Kleidung gönnen wollten, aber nicht leisten konnten. Und war es nicht besser, etwas zu leihen, als etwas zu kaufen, was man nur selten tragen würde? Immerhin handelte es sich um Sachen, die niemand unbedingt brauchte.

„Die Schuhe, die du im Krater anhattest …“, erkundigte sich Seb.

„Ja, das waren welche aus dem Fundus. Zum Glück sind meine Füße nicht so groß wie der Rest von mir, sodass auch normal große Frauen sich bei mir Schuhe ausleihen könnten. Und die meisten Accessoires haben keine Konfektionsgrößen.“

Er lachte.

„Ich weiß, es ist verrückt.“

„Warum hast du sie gestern angezogen?“

Weil sie nicht zugeben wollte, dass sie es seinetwegen getan hatte, zuckte sie nur mit den Schultern.

„Du solltest sie öfter anziehen.“

Nun musste sie lächeln. „Ich habe sogar welche mit noch höheren Absätzen.“

„Nicht wahr!“

Ohne Scheu erzählte sie ihm von weiteren unvernünftigen Käufen. Sie freute sich über sein verschmitztes Lächeln, die Fragen, die er ihr stellte, und darüber, dass er an ihre Idee glaubte. Sie redeten die halbe Nacht, bis alle anderen Reisenden um sie herum eingeschlafen waren.

Irgendwann sagten sie nichts mehr und waren sich der Anwesenheit des jeweils anderen schmerzhaft bewusst, während der Laster weiterfuhr und das laute Motorengeräusch die Stille der Nacht durchschnitt. Schließlich riss Ana sich los und streckte sich auf den im Mittelgang gestapelten Zelten aus. Es war der bequemste Platz im Wagen. Da die Abdeckung offen war, sah sie direkt in den Sternenhimmel. Um sie herum war es so dunkel, dass sie die Mitreisenden kaum ausmachen konnte. Doch eines war sicher: Seb sah sie an.

Es war extrem heiß. Seit die Sonne aufgegangen war, hatte sie eine unglaubliche Kraft. Die Übernachtfahrt war eine Qual gewesen. Zwar hatte Seb die Unterhaltung mit Ana genossen, doch sich dabei unentwegt gewünscht, mit ihr allein zu sein. Das wünschte er sich auch jetzt noch. Er würde sie an sich ziehen und küssen, wie er sie seit Tagen küssen wollte. Während er Ana beobachtete, die auf den zusammengepackten Zelten lag, überlegte er sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie allein gewesen wären. Wenn sie nur Ja sagen würde … Wenn sie nur nicht verheiratet wären und schon genug Ärger miteinander hätten …

Es machte ihn wahnsinnig. Nach ihr hatte es keine andere gegeben, und jetzt begriff er, dass er keine andere wollte. Doch es wäre töricht, wieder etwas mit ihr anzufangen. Als sie der Versuchung das letzte Mal nachgegeben hatten, war ihr Leben genug durcheinandergeraten. Ihre Erwartungen waren zu unterschiedlich – sie wollte etwas für immer, und er wollte seinen Spaß. Allerdings wollte er den Spaß mit keiner anderen als mit ihr.

Endlich erreichten sie Daressalam. Eine große, laute Stadt. Wann würde das verdammte Boot ankommen, das sie nach Sansibar bringen sollte? Seb hatte keine Lust mehr, den klassischen Touristen zu spielen. Er sollte hier aussteigen und allein weiterreisen, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Jetzt, wo er Feuer gefangen hatte, genoss er es zu sehr, in Anas Nähe zu sein. Und dann war da noch dieses kleine Fünkchen Hoffnung … Ihr Blick verriet es ihm. Also konnte er noch nicht gehen.

Die Überfahrt kam ihr endlos vor, doch endlich legte das Boot an und Ana konnte mit den anderen Unguja, die Hauptinsel Sansibars, betreten. Jetzt musste sie sich dringend ausruhen. In der Nacht hatte sie kaum geschlafen, und ihr Verstand litt darunter, dass sie Dinge dachte, die sie lieber nicht denken sollte.

Verlockende Dinge. Verbotene Dinge.

Seitdem Seb ihr gesagt hatte, dass sie ihm nicht zu nahe kommen solle, verspürte sie das Bedürfnis, genau das Gegenteil zu tun. Also stieg sie in den bereitstehenden Jeep und rutschte durch, sodass er sich neben sie setzen konnte. Der Jeep brachte sie von Stone Town zu einem der Strände am anderen Ende der Insel.

Dort standen vier ‚Bandas‘ – Hütten – in einer Reihe, und dahinter noch einmal vier. Außerdem gab es noch Duschen und Toiletten und ein großes Open-Air-Restaurant mit Bar. Gerade ausreichend, aber wunderschön.

Ana betrat die Banda, die ihr und Seb zugeteilt worden war. Die kegelförmige Hütte aus Holz und Palmwedeln beherbergte vier einfache Betten, die nur aus einem hölzernen Gestell und einem darüber gespannten Tuch bestanden. Die Betten standen direkt im Sand, die Tür war wie die Wände aus verflochtenen Palmwedeln gefertigt.

Als sie sich umdrehte, sah sie ihn direkt hinter sich. Bisher waren die Wettergötter ihr hold gewesen, und er hatte jede Nacht – bis auf die erste – draußen unter dem Moskitonetz geschlafen. Aber die Zelte und Moskitonetze lagen im Laster in Daressalam. Hier gab es nur diese schummrige Hütte.

„Ich denke nicht, dass wir hier gemeinsam übernachten sollten“, erklärte er, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich werde mal fragen gehen, ob anderswo …“

„Das geht schon.“ Sie vermied es, ihn anzusehen. Sie waren erwachsen. Sie konnten damit umgehen.

Außerdem konnten sie sich keinesfalls gemeinsam in eines der schmalen Betten quetschen, sofern sie nicht aufeinander liegen wollten. Aber wünschte sie sich nicht genau das?

Nein.

Den ganzen Nachmittag lang gingen sie einander aus dem Weg. Abends saßen sie an gegenüberliegenden Seiten der Bar und unterhielten sich mit den anderen. Ana trank nichts. Auch Seb rührte keinen Tropfen an. Es war zu gefährlich. Schon der Anflug eines Schwipses würde sie leichtsinnig machen, und sie würden der Versuchung nicht widerstehen können.

Ana ging auf Nummer sicher, blieb lange an der Bar und zog sich im Waschraum um.

Sie sah ihn nicht an, als sie in ihren Schlafsack schlüpfte.

„Gute Nacht, Ana.“ Er knipste die Taschenlampe aus.

„Gute Nacht, Seb.“

Das schmale Bett knarrte, als sie ihren Fleecepullover als Kopfkissen zurechtlegte. Er fluchte, weil die Betten zu kurz waren. Dann war es still.

Die Zeit verging nicht, und auch Seb lag noch wach, das spürte sie. Sie zählte Schafe, dachte an etwas Schönes, schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen.

Nichts funktionierte.

Es ging wohl nicht anders. Sie mussten das tun, wozu sie bislang nicht gekommen waren. Sie mussten reden.

„Seb?“

„Hm?“

„Bist du wach?“

„Offenbar.“

Sie drehte sich in seine Richtung. „Hast du deinen Eltern erzählt, dass du geheiratet hast?“

„Um Himmels willen, nein.“ Er lachte.

„Warum nicht?“

„Na ja, zunächst einmal bist du verschwunden, bevor ich es jemandem hätte sagen können. Außerdem haben sie selbst genug gescheiterte Ehen hinter sich. Da muss ich nicht auch noch mit einer aufwarten.“

„Deine Eltern sind geschieden?“