Julia Best of Band 260

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GESTOHLENES GLÜCK IN DER PROVENCE?
Nach einem Unfall hat Anna das Bewusstsein verloren und wird von einem faszinierenden Mann mit grünen Augen in seine Villa gebracht. Doch dann erfährt sie, dass ihr unbekannter Retter Jacques Sabran heißt. Um ihn zu finden, ist sie in die Provence gereist – denn sie soll dem berühmten Maler ein Porträt stehlen!

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  • Erscheinungstag 23.12.2022
  • Bandnummer 260
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511766
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marian Mitchell

JULIA BEST OF BAND 260

1. KAPITEL

Nur mit Mühe gelang es Anna, die Augen zu öffnen. Das Licht, das hell auf ihre Pupillen traf, ließ sie blinzeln. Sie wollte gerade die Hand heben und ihre Augen damit bedecken, als sich ein Schatten zwischen sie und das Licht schob und sie spürte, wie sich eine Hand warm auf ihren Arm legte. Es dauerte jedoch einen Moment, bis sie erkannte, dass sich jemand über sie beugte.

Ungläubig und verwirrt starrte sie hinauf in das Gesicht, das langsam vor ihren Augen Kontur gewann. Ein Mann beugte sich über sie und sah besorgt auf sie herunter.

Ihr Blick glitt von seinem markanten Kinn über seine geschwungenen Lippen und die dunklen Schatten auf der gebräunten Haut seiner Wangen, die zeigten, dass er sich bald wieder rasieren musste, über die gerade Nase hinauf zu den smaragdgrünen Augen, die ihren so nah waren, dass sie die winzigen goldbraunen Flecken darin erkennen konnte. Über die eine Seite seiner Stirn verlief eine helle Narbe, halb verdeckt durch das dichte, blauschwarz schimmernde Haar, das darüberfiel.

Die Narbe entstellte ihn jedoch nicht. Nein, dachte Anna verträumt. Er sah gut aus. Und er duftete ganz leicht nach einem männlich-frischen Aftershave. Sie atmete tief ein und verlor sich für einen Moment in seinen Augen. Ein warmes Gefühl durchflutete sie, eine Mischung aus Geborgenheit und Sehnsucht, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Ohne sich dessen bewusst zu sein, lächelte sie zu ihm auf.

Der Mann hielt ihren Blick fest, und dann, ganz langsam, erschien auch auf seinem Gesicht ein Lächeln. Es ließ seine faszinierenden Augen leuchten, die jetzt von feinen Lachfältchen umkränzt waren, und Anna hielt den Atem an, ganz in diesem seltsam verzauberten Moment gefangen. Unwillkürlich sah sie wieder auf seine Lippen, und das warme Sehnen in ihr wurde mit einem Mal zu einem heißen Brennen. Atemlos wartete sie darauf, dass er sich tiefer zu ihr herunterbeugte und sie küsste. Es war das, was sie wollte. Was sie sich mit jeder Faser ihres Wesens wünschte. Für nichts anderes war in ihren Gedanken mehr Platz.

Doch der Mann küsste sie nicht, sondern runzelte erneut die Stirn. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er richtete sich auf, wich zurück. Nein. Anna wollte die Arme heben und um seinen Nacken legen, um ihn festhalten. Doch sie waren seltsam schwer und wollten sich gar nicht recht heben lassen …

„Sie sind Engländerin, oder?“

Die Frage des Mannes kam so unerwartet, dass Anna mit einem Schlag aus dem Traumzustand katapultiert wurde, in dem sie geschwebt sein musste, seit sie die Augen aufgeschlagen hatte. Sie nickte, zu überrascht, um zu antworten.

„Tut Ihnen der Kopf weh?“

Der Kopf? dachte sie irritiert, immer noch ganz auf das Gefühl in ihrem Bauch konzentriert, das nur langsam abebbte. Ja, ihr Kopf schmerzte tatsächlich ein bisschen, jetzt, wo er es erwähnte. Aber wieso? Instinktiv hob sie die Hand, die ihr jetzt wieder gehorchte, an die Stirn, und als ihre Finger ein großes Pflaster ertasteten, keuchte sie überrascht auf.

„Es ist nur eine Schürfwunde. Ich habe sie gereinigt und versorgt“, beruhigte der Mann sie. Seine Stimme klang tief und angenehm und hatte einen ganz leichten Akzent, den Anna nicht zuordnen konnte.

Wieder starrte sie ihn an, diesmal jedoch verwirrt und fassungslos, weil ihr bewusst wurde, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich sprach. Schlimmer noch: Sie konnte nicht mal mit Sicherheit sagen, ob sie diesen Mann kannte! Da war ein Nebel in ihrem Kopf, der sich einfach nicht lichten wollte und der nur Bruchstücke von Erinnerungen freigab.

Wo bin ich überhaupt? dachte sie benommen und sah an dem Mann vorbei auf die breiten Terrassentüren an der gegenüberliegenden Wand, die ihr nicht bekannt vorkamen. Sie standen offen, und die Sonne schien hell auf die Natursteine der Veranda und die Terrakottakübel mit hochgewachsenen Oleanderbüschen, die den Rand der Veranda säumten. Vögel sangen, und die warme Luft duftete würzig-süß. Hinter der Veranda begann ein kleiner Pinienhain, und in der Ferne über den Baumkronen konnte Anna eine Bergkette mit bizarren, teilweise grün bewachsenen Felsformationen erkennen.

Sie war … in Südfrankreich. Natürlich! Jetzt fiel es ihr wieder ein. Mit dem Flugzeug war sie bis Marseille geflogen und von dort mit dem Bus weiter nach Aix-en-Provence gefahren. Aber warum? Was tat sie hier? Das wollte ihr aus irgendeinem Grund nicht einfallen.

Und auch den Raum, in dem sie lag, konnte sie nicht zuordnen. Die schwarze Couch, dessen kühles Leder sie unter ihren Fingern spürte, war ihr genauso fremd wie die bunt gemusterte, leichte Decke über ihren Beinen, der Couchtisch aus Glas und Wurzelholz oder die interessant aussehenden geschnitzten Skulpturen, die vor den weißen Bücherschränken neben der Terrassentür standen.

Ihr Blick glitt zurück zu dem großen, dunkelhaarigen Mann, der neben ihr auf der Couch saß und sich immer noch besorgt über sie beugte. Ihn hatte sie vorher auch noch nie gesehen. Oder?

„Wer sind Sie?“, fragte sie zaghaft. Diese ganze Situation kam ihr mit einem Mal so unwirklich vor, dass sie für einen Moment glaubte, es wäre vielleicht nur ein Traum, der sich in Luft auflöste, wenn sie etwas sagte. Doch der Mann verschwand nicht, sondern blickte sie jetzt ernst an. Die Erleichterung, die eben noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, schien mit einem Mal verschwunden.

„Das sollte ich wohl besser Sie fragen“, meinte er, und es schwang fast so etwas wie ein Vorwurf in seiner Stimme mit. „Sie lagen an einer Böschung unterhalb der Straße, die an mein Grundstück grenzt. Ich habe Sie kurz aus Ihrer Bewusstlosigkeit wecken können, und Sie sagten etwas auf Englisch zu mir, das ich jedoch nicht zuordnen konnte. Etwas darüber, dass Sie gestürzt sind. Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist? Hatten Sie einen Unfall?“

„Unfall?“ Anna riss erschrocken die Augen auf. Das Pflaster an ihrem Kopf fiel ihr wieder ein, und der Schmerz an der Stirn. Langsam, ganz langsam kehrte die Erinnerung zurück.

„Da war dieses Auto“, erzählte sie stockend und spürte wieder den Schreck, den es ihr eingejagt hatte. „Es tauchte plötzlich hinter der Kurve auf. Ich wollte ausweichen, aber dabei bin ich abgerutscht und gefallen. Mehr weiß ich nicht mehr.“

Der Mann sah sie an, und für einen kurzen Augenblick wurden seine Augen schmal. Ein misstrauischer Ausdruck huschte über sein Gesicht, der Anna irritierte. Glaubte er ihr etwa nicht? Doch noch bevor sie reagieren konnte, schüttelte er den Kopf, so als müsse er einen unangenehmen Gedanken verscheuchen, und der Schatten verschwand.

„Haben Sie sich das Nummernschild gemerkt?“

„Nein“, erwiderte Anna unglücklich. „Das ging alles viel zu schnell. Es war ein dunkelblauer Sportwagen, glaube ich. Aber mehr weiß ich nicht mehr.“

„Dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass der Fahrer zur Rechenschaft gezogen werden kann“, erwiderte der Fremde.

Anna sah ihn an. Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, wie er sie auf seinen Armen getragen hatte. Es waren nur kurze Bilder, allesamt verschwommen, aber sie spürte noch dieses Gefühl der Sicherheit, das sie offenbar wieder in die Bewusstlosigkeit hatte gleiten lassen.

„Abgesehen von der Stirnwunde scheinen Sie den Sturz allerdings recht glimpflich überstanden zu haben“, unterbrach er ihre Gedanken. „Dennoch sollten Sie noch etwas vorsichtig sein. Es ist nicht auszuschließen, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben.“

Jetzt war es Anna, die ihn skeptisch musterte.

„Sind Sie Arzt?“

Wie ein Mediziner wirkte er eigentlich nicht. Er war ganz normal gekleidet, trug Jeans und ein dunkelblaues Poloshirt. Und sie befand sich auch ganz offensichtlich in seinem Privathaus, denn wie eine Praxis sah es hier nicht aus.

Der Mann schmunzelte jetzt leicht, offenbar amüsiert über ihr Misstrauen.

„Nein, bin ich nicht. Aber ich kenne mich mit erster Hilfe aus. Ich war in der Armee bei den Sanitätern.“ Er legte seine Hand auf Annas Stirn und sah ihr noch einmal prüfend in die Augen. „Können Sie sich denn sonst an alles erinnern? An Ihren Namen zum Beispiel?“

Sie dachte nach, und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass ihre Erinnerungslücken sich offensichtlich nur auf die Ereignisse der letzten Tage bezogen. Denn ansonsten wusste sie noch alles. Sie konnte ihm sagen, dass sie Anna Mayfield hieß. Und dass sie dreiundzwanzig Jahre alt war und in der Paxton Road, einer kleinen Seitenstraße in Londons Künstlerviertel Notting Hill wohnte. Sie sah das Gebäude genau vor sich. Ihre Wohnung, die sie sich mit ihrer jüngeren Schwester Bella teilte, lag direkt über „Rainsborough Antiques“, dem Antiquitätengeschäft ihrer Tante Mia, die in den Räumen hinter dem Laden lebte und für die sie arbeitete.

Und dort sollte sie doch jetzt auch eigentlich sein, oder? Wieso nur schien sich in ihrem Kopf alles zu sperren, wenn sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in die Provence geführt hatte?

„Wollten Sie hier Urlaub machen?“

Gute Frage, dachte Anna. Deswegen kamen die meisten im Sommer nach Südfrankreich, oder? Aber Ferien konnte sie sich doch überhaupt nicht leisten! Sie musste arbeiten, um die Schulden an ihre Tante zurückzuzahlen, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Was würde Mia sagen, wenn sie erfuhr, dass sie hier war und …

Anna stockte. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Mia hatte sie hergeschickt! Sie war im Auftrag ihrer Tante hier. Aber um was zu tun?

„Ich weiß es nicht genau“, gestand sie. „Wo bin ich denn hier eigentlich?“

„Mein Haus liegt etwas abseits der Straße, etwa achtzig Kilometer entfernt von Aix-en-Provence. Das nächste Dorf ist Saint-Céleste.“

Saint-Céleste! Annas spürte, wie sie sich anspannte, als erneut eine Erinnerung aus dem Nebel auftauchte. Aufgeregt fuhr sie hoch und stützte sich nach hinten auf die Ellbogen.

„Da wollte ich hin“, erklärte sie. „Genau! Da war dieses nette englische Ehepaar in dem roten Citroën, das genau wie ich ins Hinterland wollte. Sie haben mich mitgenommen, und das letzte Stück bin ich dann zu Fuß weitergegangen. Bis das Auto kam …“

„Und was wollten Sie in Saint-Céleste?“, hakte der Mann nach.

Anna setzte sich ganz auf. Für einen Moment befürchtete sie, dass ihr schwindelig werden würde, doch nichts geschah. Sie runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach, aber in diesem einen Punkt verweigerte ihr Kopf hartnäckig die Mitarbeit. Da war nur dieses ungute Gefühl, das nach ihrem Herzen griff, wenn sie daran dachte. Aber was beunruhigte sie denn nur? Es kam ihr vor, als taste sie an dieser Stelle ihrer Erinnerungen in einem weißen Nebel, der nichts preisgab.

Als sie merkte, dass der Mann sie immer noch fragend musterte, zuckte sie die Schultern.

„Ich weiß es wirklich nicht mehr. Vielleicht wollte ich mir diesen Ort ansehen. Ist er schön?“

Der Mann nickte. „Oh, ja. Saint-Céleste ist ein wunderschönes Bergdorf. Wir haben hier jedes Jahr eine Menge Touristen. Es kann gut sein, dass Sie ebenfalls Urlauberin sind.“

„Ja. Wahrscheinlich.“

Anna seufzte. Es war ein schreckliches Gefühl, diese Leere in ihrem Kopf. Sie spürte, dass die Antwort ganz nah war, doch es wollte ihr einfach nicht einfallen. Warum hatte ihre Tante sie in ein südfranzösisches Dorf geschickt? Das passte doch überhaupt nicht zu Mia. Wann hätte sie je zugelassen, dass …

In diesem Moment fiel ihr Blick auf das Gemälde, das über der Couch hing und das ihr erst jetzt auffiel. Es war das einzige Bild im ganzen Zimmer – und es war großartig!

Leuchtendes Orange, erdiges Braun und strahlendes Weiß, durchbrochen von sattem Grün und dem hellen Violett des Lavendels. Und Blau, ein Blau so klar und strahlend, dass es einen gefangen nahm. Es waren die Farben der Provence, die Farben, die Anna draußen erkennen konnte, doch so atemberaubend schön komponiert, dass man sich der Wirkung nicht entziehen konnte.

Der Mann war ihrem Blick gefolgt. „Gefällt es Ihnen?“

Anna nickte. „Es ist unglaublich“, schwärmte sie. „Man kann erkennen, was es darstellt, und doch weist es über sich hinaus, weil man die Gefühle spüren kann, die der Künstler damit ausdrücken will. Es ist wie … wie eine Liebeserklärung irgendwie. Eine gemalte Liebeserklärung an diese Gegend.“ Sie wandte sich zu dem Mann um, der immer noch neben ihr auf der Couch saß. Er musterte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen, der sie verlegen machte. „Entschuldigen Sie“, erklärte sie hastig. „Das klingt wahrscheinlich dumm.“

„Nein, nein.“ Der Fremde schüttelte vehement den Kopf. „Ganz und gar nicht. Ich weiß nicht, wann jemand zuletzt etwas so Treffendes über dieses Bild gesagt hat. Sie verstehen etwas von Malerei. Haben Sie mit Kunst zu tun?“

Anna schluckte.

„Ein bisschen“, erwiderte sie nach kurzem Zögern. „Ich jobbe bei meiner Tante. Sie besitzt in London einen kleinen Antiquitätenladen und stellt dort auch zeitgenössische Kunstwerke aus.“

Das stimmte zwar, aber es war trotzdem nur die halbe Wahrheit. Denn sie hatte auch schon vorher mit Kunst zu tun gehabt, eigentlich so lange sie zurückdenken konnte. Deshalb kannte sie sich auch mit Bildern aus. Weil sie als Tochter der berühmten Malerin Janice Burdon umgeben davon aufgewachsen war und tatsächlich einen geübten Blick für die Qualität eines Gemäldes besaß, über den viele in ihrem Alter sicher noch nicht verfügten. Doch sie hatte einen hohen Preis für dieses Wissen bezahlt. Einen zu hohen. Deshalb sprach sie nicht gerne darüber, schon gar nicht mit jemandem, den sie – offensichtlich – gar nicht näher kannte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Fremde überhaupt nichts über sich preisgegeben hatte. Sie kannte noch nicht einmal seinen Namen. Und trotzdem wolltest du ihn küssen, als du vorhin die Augen aufschlugst und er sich über dich beugte, erinnerte sie sich erschrocken. Meine Güte, hatte sie sich das wirklich gewünscht?

Anna spürte, wie sie errötete, als ihr dieser für sie so untypische Wunsch wieder einfiel. Der Mann konnte zwar nicht ahnen, was sie in jenem ersten Moment gedacht hatte, doch er sah sie immer noch auf diese beunruhigende Weise an, die ihr Herz schneller schlagen ließ, ohne dass sie etwas daran ändern konnte.

Hastig wandte sie den Kopf ab und betrachtete erneut das Gemälde über der Couch. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas Unverfängliches, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. Doch als sie gerade ansetzte, fiel ihr Blick auf die untere rechte Ecke des Gemäldes, in der die Signatur des Malers stand. In ihrem Kopf schien plötzlich alles ganz stillzustehen, während sie wie gebannt auf die geschwungene Schrift auf der Leinwand starrte.

Der Namenszug war deutlich zu lesen, und er weckte endlich die Erinnerung, nach der Anna schon die ganze Zeit über verzweifelt gesucht hatte.

„Jacques Sabran“, flüsterte sie.

Natürlich! Dieses Bild stammte ganz offensichtlich von dem französischen Maler, der eine ganze Weile die Londoner Kunstwelt entzückt hatte, von dem jedoch seit einiger Zeit nichts mehr zu hören und zu sehen war.

Jetzt wusste Anna wieder, warum sie hier in der Provence war.

Um diesen Sabran zu finden.

Für ihre Tante.

Weil Mia wollte, dass sie …

O mein Gott! Anna spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, und sie sog scharf die Luft ein, als ihr die schreckliche Wahrheit, die ihr Gehirn bis jetzt erfolgreich verdrängt hatte, auf einmal wieder einfiel.

2. KAPITEL

Die Erinnerungen an den gestrigen Tag standen Anna plötzlich wieder erschreckend deutlich vor Augen. Sie sah sich noch einmal in dem kleinen, stickigen Büro hinter den Ausstellungsräumen von „Rainsborough Antiques“ stehen und jenes verhängnisvolle Gespräch mit ihrer Tante führen. Sie sah Mias merkwürdig verzerrtes Gesicht, hörte den gehetzten Unterton in ihrer Stimme …

„Du musst das für mich tun, Anna. Sonst stehe nicht nur ich vor dem Nichts.“

Schockiert sah Anna ihre Tante an. Sie wusste schon länger, dass es nicht gut bestellt war um das Antiquitätengeschäft. Schließlich jobbte sie dort, seit sie vor fünf Jahren nach dem Tod ihrer Mutter zu Mia gekommen war. Die Verkäufe waren seit einiger Zeit rückläufig, und selbst die attraktiven Ausstellungen, die Anna in der kleinen Galerie veranstaltete, brachten kaum neue Kunden in den etwas abseits der Hauptstraße gelegenen Laden. Es war ihr schon lange ein Rätsel, wie es Mia trotzdem gelang, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Jetzt weißt du es, dachte sie bitter.

Sie hatte damals gleich so ein komisches Gefühl gehabt, als sie Liam Hayes kennenlernte, einen untersetzten, schmierig aussehenden Kerl mit schütterem aschbraunen Haar, den Mia ihr als ihren neuen Geschäftspartner vorstellte. Angeblich besaß er gute Kontakte und vermittelte dem Laden wertvolle Antiquitäten. Doch in den zwei Jahren, die sie ihn jetzt kannte, hatte sie ihn nur sporadisch gesehen und war deshalb davon ausgegangen, dass er ein Windhund war, der ihre Tante ausnutzte. Dass er jedoch ein handfester Krimineller sein könnte, der einen blühenden Handel mit Hehlerware betrieb – darauf wäre sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht gekommen. Aber so war es. Hayes verkaufte Liebhaberstücke – meistens Möbel, aber vereinzelt auch Bilder –, die er gezielt in ganz England stehlen ließ. Seine Kunden waren internationale Kunstliebhaber, die für die illegale Ware gut bezahlten. Der Antiquitätenladen diente ihm lediglich als Deckmantel und Anlaufstelle.

Anna konnte immer noch nicht fassen, dass ihre Tante bei dieser Sache mitmachte. Sind Mia die drückenden Schulden schließlich doch über den Kopf gewachsen, die meine Mutter nach ihrem Tod hinterlassen hat? fragte sich Anna. Janice Burdon war bekannt gewesen für ihren ausschweifenden Lebensstil, und obwohl ihre Bilder nach wie vor hohe Preise erzielten, war zu ihrem Entsetzen nichts mehr vom Vermögen ihrer Mutter übrig, als sie starb. Anna war froh gewesen, dass Mia sich damals um alles gekümmert und die noch übrigen Bilder verkauft hatte. Doch der Erlös reichte angeblich nicht aus, um die Schuldensumme zu decken, und ihre Tante hatte zusätzlich Geld aufnehmen müssen, um die Gläubiger zufrieden zu stellen. Seitdem arbeitete Anna hart für sie, denn sie war sich durchaus bewusst war, wie tief sie bei der Schwester ihres Vaters in der Schuld stand.

Mia hätte sie und Bella nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter schließlich nicht bei sich aufnehmen müssen. Richard Mayfield, ihr Vater, war früh gestorben, schon wenige Jahre nachdem er sich nach kurzer und stürmischer Ehe von Janice Burdon getrennt hatte. Anna konnte sich kaum an ihn erinnern, und auch der Kontakt zu seiner Schwester Mia Rainsborough war während der Jahre ihrer Kindheit und Jugend nur sporadisch gewesen. Janice hatte nichts von Mia gehalten, und das Gleiche galt auch umgekehrt. Umso erstaunter war Anna über das Angebot ihrer Tante gewesen, mit ihrer zwölf Jahre jüngeren, durch einen Unfall gelähmten Halbschwester Isabella zu ihr zu ziehen, als sie von Janice’ Tod hörte. Außerdem hatte Mia sich um den Nachlass von Janice gekümmert, sodass Anna sich ganz auf die zeitaufwändige Betreuung der kranken Bella konzentrieren konnte. Vor allem dafür war sie ihrer Tante dankbar, denn ihre kleine Schwester war der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete. Und sie war auch die Einzige, um die sie sich im Moment wirklich sorgte. Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen.

„Wie meinst du das?“, fragte sie mit krächzender Stimme.

„Hayes hat gesagt, wenn er das Bild nicht bekommt, lässt er mich auffliegen. Das wäre das Ende für den Laden, und ich hätte außerdem die Polizei am Hals“, erklärte Mia. Sie sah Anna bedeutungsvoll an. „Dann stündest du auf der Straße. Und für Bellas Behandlung kann ich dann auch nicht mehr aufkommen.“

Anna schluckte. Ihr war egal, was aus ihr selbst wurde, wenn das wirklich alles stimmte, was ihre Tante ihr da beichtete. Sie würde zurechtkommen, irgendwie. Auch als ihre Mutter noch lebte, hatte sie stets für sich selbst sorgen müssen. Aber das Wohlergehen ihrer Schwester wurde durch diese Sache massiv gefährdet, und das war ihr alles andere als egal. Schließlich trug sie Schuld daran, dass es Bella so lange so schlecht gegangen war.

„Du darfst die Therapie nicht abbrechen“, widersprach sie deshalb heftig. „Auf gar keinen Fall.“ Sie dachte an das kleine Mädchen mit den blonden Locken und den großen blauen Augen, das sich nie darüber beklagt hatte, im Rollstuhl sitzen zu müssen. Doch Anna war nicht bereit gewesen, sich damit abzufinden, und hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um etwas dagegen zu unternehmen. Bellas Rückenmark war bei dem Unfall nicht vollständig durchtrennt, sondern nur gequetscht worden, doch lange sah es so aus, als würde sie trotzdem gelähmt bleiben. Dann hatte vor einem Jahr endlich ein Arzt einen komplizierten Eingriff gewagt, und seitdem machte Bella durch eine spezielle Bewegungstherapie große Fortschritte, konnte sogar schon wieder etwas laufen. Doch der Prozess war noch lange nicht abgeschlossen. Wenn Mia die Behandlung jetzt abbrach, war vielleicht alles umsonst gewesen. Daran darf ich gar nicht denken.

„Was bleibt mir denn übrig?“, fragte Mia vorwurfsvoll. „Wenn du mir nicht hilfst, dann habe ich keine andere Wahl.“

Verzweifelt blickte Anna ihre Tante an.

„Aber ich kann das nicht machen! Das … das geht doch nicht!“

„Du musst“, beharrte Mia, und ihre Stimme klang hart. „Es ist viel unauffälliger, wenn du fährst. Dieser Sabran hat sich zwar vor zwei Jahren völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber ich habe herausgefunden, dass er irgendwo in einem kleinen Bergdorf in Südfrankreich wohnt. So schwer kann es nicht sein, ihn zu finden, wenn du erst mal da bist, und es wird dir schon gelingen, an ihn heranzukommen. Du bist schließlich ein hübsches Mädchen – wenn du verstehst, was ich meine.“

Allein bei dem Gedanken daran, was ihre Tante von ihr zu erwarten schien, erschauderte Anna.

„Aber wie soll ich denn …?“

„Irgendwie“, schnitt ihre Tante ihr harsch das Wort ab, und als Anna den Blick hob, sah sie Mias Augen fiebrig glänzen. „Dir wird schon etwas einfallen. Denk an Bella! Und denk an mich, Herrgott noch mal. Habe ich nicht alles für dich und deine Schwester getan? Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Das darfst du nicht.“

Anna wandte den Kopf ab und trat an das Fenster, von dem aus man in den kleinen betonierten Innenhof sah. Der Kastenwagen des Antiquitätenladens war dort geparkt. Die Heckklappe stand offen, und Anna konnte erkennen, dass auf der Ladefläche mehrere sorgsam in Luftpolsterfolie verpackte Bilder und ein Chippendale-Sekretär standen, bereit zum Abtransport. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Gehörten diese Sachen etwa auch zu der Hehlerware, die von hier verschoben wurde?

Zögernd drehte sie sich wieder zu Mia um. Die ältere Frau stand hinter ihrem Schreibtisch, und die Anspannung war ihr anzusehen. Anna fühlte sich hilflos und wütend. Sie durfte Bellas Wohlergehen nicht gefährden, das wusste sie. Trotzdem sperrte sich alles in ihr gegen das, was ihre Tante da von ihr verlangte.

Mia schien zu spüren, wie sehr Anna immer noch zweifelte, denn sie ging zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. Doch Anna zuckte unwillkürlich zurück. Ihr Verhältnis zu ihrer Tante war noch nie besonders herzlich gewesen, egal, wie sehr sie sich darum bemüht hatte, sie zu mögen. Und was sie jetzt über sie wusste, machte es für sie nicht einfacher, ihre innere Distanz zu der strengen, oft kalt wirkenden Schwester ihres Vaters zu überwinden.

„Ich würde das nicht von dir verlangen, wenn es nicht so wichtig für uns alle wäre“, versicherte Mia ihr.

„Aber warum ich? Wieso macht Hayes das nicht einfach selbst?“

„Er hat keine Möglichkeit, unauffällig an Sabran heranzukommen“, erklärte Mia. „Nicht so wie du.“

Deshalb sollte sie in der Provence nach dem Maler suchen, sein Vertrauen gewinnen und dann …

Die schockierende Erinnerung verschwamm vor ihren Augen, weil der Mann seine Hände um ihre Oberarme legte und sie damit aus ihrem Trancezustand riss. Offenbar war ihm ihr langes Schweigen unheimlich, denn in seinem Blick lag erneut Sorge.

„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen plötzlich wieder so blass aus“, meinte er.

Anna schluckte. „Nein, alles in Ordnung“, versicherte sie ihm und versuchte, nicht darauf zu achten, wie kalt sich ihre Arme mit einem Mal anfühlten, als er sie losließ.

„Ich hole Ihnen etwas Wasser“, meinte er und verschwand in der offenen, modernen Küche, die sich direkt an den Wohnraum anschloss. Kurze Zeit später kehrte er mit einem vollen Glas in der Hand wieder zurück und reichte es ihr. Ihre Hände zitterten leicht, als sie es entgegennahm und dankbar einen Schluck trank.

Der Mann setzte sich wieder neben sie.

„Ist wirklich alles okay?“, fragte er skeptisch.

Anna nickte.

„Ja, wirklich.“ Sie stand auf, um sich das Gemälde über der Couch noch einmal genauer anzusehen, während sie fieberhaft überlegt.

„Aber sagen Sie – dieses Bild …“, sie deutete darauf und sah den Mann an, der ebenfalls aufgestanden war, „… stammt das nicht von Jacques Sabran?“

Der Mann nickte, doch seine Miene verfinsterte sich aus irgendeinem Grund.

„Sie kennen ihn?“

„Ich … ja, ich … habe von ihm gehört“, erklärte Anna rasch. Vermutlich war es besser, ihr besonderes Interesse an Sabran nicht zu offenkundig werden zu lassen. Aber sie dufte diese Chance, etwas über seinen Aufenthaltsort zu erfahren, auch nicht verstreichen lassen. „Ich sagte doch, dass ich in einer Galerie arbeite, da bekommt man einiges mit, wissen Sie. Lebt er nicht hier in der Nähe?“

„Warum interessiert Sie das?“

„Das Bild gefällt mir“, sagte Anna, erschrocken über das Misstrauen, das plötzlich in der Stimme des Mannes mitklang. Warum war er mit einem Mal so feindselig? „Ich dachte, dass ich ihn vielleicht mal in seinem Atelier besuchen und mir noch andere Werke von ihm ansehen kann, wenn ich schon mal hier bin.“ Sie gab sich Mühe, so zu tun, als wäre es eine spontane Idee und nicht schon die ganze Zeit über ihr Plan gewesen. „Es ist immer sehr interessant, mit dem Maler persönlich zu …“

„Das wird nicht möglich sein“, unterbrach der Mann sie barsch.

„Und warum nicht?“ Anna sah ihn verwirrt an. Sie konnte sich seine unerwartete Unfreundlichkeit einfach nicht erklären.

Der Mann fixierte sie lange und schien seine Antwort abzuwägen.

„Weil er Ihnen seine Bilder nicht zeigen wird“, sagte er schließlich.

Seine Vehemenz machte Anna wütend. „Und woher wissen Sie das so genau?“

„Weil ich Jacques Sabran bin. Und ich veranstalte keine privaten Führungen durch mein Atelier. Deshalb.“

Fassungslos starrte Anna ihn an.

Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit.

Der Mann, der sie gerettet hatte, war … Sabran? Sie konnte es nicht fassen. Also dann … dann gehörte ihm dieses Bild, an das sie herankommen musste. Ein unverkäufliches Frauenporträt, das bei seiner letzten Ausstellung vor zwei Jahren für große Furore gesorgt hatte und das ein „Kunde“ von Liam Hayes unbedingt haben wollte. Deshalb war sie von Tante Mia nach Südfrankreich geschickt worden. Um herauszufinden, wo Sabran das Bild aufbewahrte und wie es gesichert war. Und es ihm anschließend zu stehlen – dem Mann, ohne den sie jetzt vielleicht noch irgendwo im Straßengraben läge …

Alles begann sich um Anna herum zu drehen, und ehe sie sich versah, gaben ihre Beine nach und sie sackte nach vorn gegen Jacques Sabran, der sie in seinen Armen auffing.

3. KAPITEL

Jacques erster Gedanke, als Anna in seinen Armen lag, war, dass sie doch schlimmer verletzt sein musste, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Und der Schreck fuhr ihm ziemlich in die Glieder.

Sofort setzte er sie wieder auf das Sofa, was sie sich gefallen ließ. Doch seine Aufforderung, sich hinzulegen, wehrte sie ab.

„Es geht schon wieder. Mir war … nur ein bisschen schwindelig, das ist alles“, versicherte sie ihm. Sie war jedoch so erschreckend blass geworden, dass Jacques sich ernsthaft Sorgen um sie machte. Verdammt, er hätte sie gleich ins Krankenhaus nach Aix-en-Provence fahren sollen. Aber er mied die Stadt, wenn er konnte, und der Gedanke, in der Notaufnahme vielleicht von jemandem erkannt zu werden – vor allem in Begleitung einer verletzten jungen Frau –, hatte ihn zögern lassen. Ihr Zustand war schließlich nicht wirklich kritisch gewesen. Und nichts konnte er derzeit weniger gebrauchen als die Aufmerksamkeit der Presseleute, die sich bestimmt wieder wie Bluthunde auf ihn stürzen würden, wenn irgendjemand diese Information an sie weitergab.

„Sind Sie sicher?“

Anna nickte. „Ja, wirklich, es ist alles in Ordnung. Und es tut mir leid wegen meiner Frage, ich … ich wusste ja nicht, dass Sie Jacques Sabran sind. Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin.“

Für einen Moment musterte Jacques sie irritiert, weil sie seinem Blick plötzlich auswich. War er zu unhöflich zu ihr gewesen? Jetzt bereute er seinen harschen Tonfall. Aber er hatte gleich klarstellen wollen, dass er jegliches Interesse an seiner Arbeit und seiner Person nicht zu schätzen wusste, vor allem im Moment nicht.

Doch konnte das allein wirklich der Grund für die Reaktion der jungen Frau sein? Da war plötzlich so eine Abwehr in ihrer Haltung und etwas, das an Verzweiflung grenzte – und das hatte er vorher nicht bemerkt.

Im Gegenteil, dachte Jacques. Vorhin, als sie aufwachte, war da ein Leuchten in ihren klaren blauen Augen gewesen, das ihn auf eine seltsame Art berührt hatte, und für einen kurzen Moment war er sogar ernsthaft versucht gewesen, sie zu küssen. Er wusste selbst nicht, wieso.

Natürlich hatte er es nicht getan. Schließlich war sie verletzt, und er hätte ihre hilflose Situation niemals ausgenutzt. Aber allein die Tatsache, dass er überhaupt darüber nachgedacht hatte, erschreckte ihn. Doch egal, was es war, das ihn kurzfristig zu ihr hingezogen hatte, er würde solche Gefühle nicht zulassen. Nie wieder. Unbewusst hob er die Hand an die Stirn, und seine Finger glitten über die Narbe, die ihn für immer an jenen schicksalhaften Sommertag erinnern würde – den schwärzesten Tag seines Lebens. Würde er jemals vergessen können, was passiert war?

Für einen Moment schloss Jacques frustriert die Augen, um die Gedanken an die Vergangenheit zu verscheuchen und sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Anna Mayfield war nicht Laetitia, und er konnte sie nicht dafür verantwortlich machen, dass sie etwas in ihm weckte, an das er nicht erinnert werden wollte. Aber sie tat es trotzdem, und deshalb würde er versuchen, seinen ungebetenen Gast so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Seine eigenen Sorgen waren weiß Gott groß genug, da brauchte er nicht auch noch eine Frau ohne Gedächtnis, die in seinen Armen zusammenbrach und bleich wie ein Laken war!

„Aber Sie haben doch etwas“, meinte er, fast ein bisschen barsch. „Was ist denn los? Können Sie sich wieder erinnern?“

„Ich …“ Anna schaffte es nicht, ihren Satz zu beenden, sondern starrte Jacques Sabran immer noch bestürzt an.

Dass sie nach ihrem Unfall ausgerechnet bei ihm gelandet war, schien ein unglaublicher Zufall zu sein – oder Schicksal? Doch was es auch war, es machte das, weshalb sie hergeschickt worden war, mit einem Mal erschreckend real. Und es verschlimmerte ihren inneren Konflikt. Sie wollte Bella beschützen, aber konnte – durfte – sie dafür wirklich einen Diebstahl begehen? Noch dazu, wenn das Opfer der Mann war, der sie gerettet hatte? Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was soll ich denn jetzt nur tun? dachte sie verzweifelt. Und dann wusste sie es plötzlich.

Sie musste mit Mia sprechen, ihr berichten, was passiert war, und noch einmal versuchen, ihrer Tante diese ganze schreckliche Sache auszureden. Das war von Anfang an ein Wahnsinn gewesen, auf den sie sich überhaupt nicht hätte einlassen dürfen. Gemeinsam würde ihnen schon irgendetwas einfallen, um Liam Hayes zufrieden zu stellen. Und dann kann ich nach England zurückkehren und diese ganze leidige Geschichte vergessen …

„Ja, es … es ist mir wieder eingefallen“, sagte sie, als sie merkte, dass Sabran immer noch auf eine Antwort wartete. „Ich will hier in Südfrankreich Urlaub machen. Aber ich muss … darf ich wohl mal Ihr Telefon benutzen?“

Zu ihrem Erstaunen schüttelte Jacques den Kopf.

„Tut mir leid, aber im Haus gibt es keinen Festnetzanschluss, und mein Handy hat letzte Woche den Geist aufgegeben. Ich muss mir erst ein neues besorgen, bevor ich wieder mit der Außenwelt verbunden bin.“

Jacques verschwieg, dass er persönlich eigentlich ganz froh über diese – wenn auch kurzfristige – Unerreichbarkeit war und dass er, wenn es nach ihm gegangen wäre, auch sehr gut auf ein neues Mobiltelefon hätte verzichten können. So entging er wenigstens für eine Weile den besorgten Anrufen seiner Freunde, die sich ständig nach seinem Wohlergehen erkundigten. Und den Nachfragen seines Agenten, der ihm in letzter Zeit wegen dieser Ausstellung in London in den Ohren lag, die er unbedingt veranstalten wollte und vor der es ihn graute. Denn dazu hätte er schließlich erst etwas Neues vorweisen müssen, das er ausstellen konnte …

„Aber ich muss wirklich dringend telefonieren!“

Jacques zuckte die Schultern, von Annas Frage aus seinen Gedanken gerissen.

„Mein Freund Pierre hat ein Telefon. Er führt eine kleine Pension in Saint-Céleste. Vielleicht hat er ja auch ein Zimmer für Sie frei.“

„O ja, das wäre … großartig.“ Mit einer Mischung aus Entsetzen und Scham sah Anna ihn an. Sie wusste, dass es keinen Grund gab, sich so zu fühlen, denn noch war ja überhaupt nichts passiert. Aber sie hatte mit einem Mal ein schrecklich schlechtes Gewissen, sich in diesem Haus aufzuhalten, und wollte nur noch fort von hier, von diesem großen, attraktiven Mann, der sie mit seinen durchdringenden Blicken so nervös machte. Je eher sie deshalb ihre Tante davon überzeugte, dass sie das Bild nicht stehlen konnte, desto besser. Dann würde sie zurück nach England fliegen und dann …

Erschrocken hielt sie inne.

„Wo ist meine Tasche?“, keuchte sie aufgeregt. „Ich hatte eine Reisetasche dabei. Ist sie …?“

„Keine Sorge“, unterbrach Jacques sie. „Sie lag neben Ihnen. Ich habe sie mitgebracht. Sie steht im Flur.“

„Gut“, seufzte Anna erleichtert auf. „Alle meine Papiere sind darin.“ Und der Zettel mit der Adresse von Hayes Kontaktmann in Marseille, dem sie das Bild übergeben sollte, wenn sie es hatte. Daran durfte sie gar nicht denken. Sie musste sofort mit Mia sprechen.

„Könnten wir … könnten wir dann vielleicht gleich ins Dorf fahren?“, bat sie mit leiser Stimme und wich seinem Blick aus. „Ich würde das Telefonat gerne so bald wie möglich erledigen.“

Als sie kurze Zeit später nebeneinander in Jacques’ weißem Peugeot mit offenem Verdeck saßen und nach Saint-Céleste fuhren, schwieg Anna, ganz in ihre düsteren Gedanken versunken.

Jacques beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er war überrascht gewesen, als sie ihm ihr Alter genannt hatte, denn mit ihrem schulterlangen hellblonden Haar und ihrer zierlichen Figur wirkte sie auf den ersten Blick jünger, fast zerbrechlich – ganz anders als Laetitia, die mit ihrer langen schwarzen Mähne und ihrer dunklen Haut eine rassige Schönheit gewesen war. Und während Laetitia alle mit ihrem lebhaften Temperament verzaubert hatte, wirkte die junge Engländerin ernst und verschlossen. Das Strahlen in ihrem Gesicht, das ihn vorhin für einen kurzen Moment so fasziniert hatte, war verschwunden, so als hätte er es sich nur eingebildet. Und der traurige Ausdruck, der jetzt in ihren blauen Augen stand, sagte ihm, dass sie in ihrem Leben schon einiges durchgemacht haben musste …

Unwillig schüttelte Jacques den Kopf, weil er schon wieder über Anna Mayfield nachdachte und sie auch noch mit Laetitia verglich. Herrgott, sie war eine Fremde, irgendeine Frau, der er geholfen hatte und die jetzt wieder ihrer Wege gehen würde. Was spielte ihr persönliches Schicksal für eine Rolle? Wenn er sie in der Pension abgesetzt hatte, endete diese Sache für ihn.

Doch es ließ ihn einfach nicht los, dass sie jetzt plötzlich so anders war als vorhin. Im Moment konnte sie es offenbar gar nicht abwarten, von ihm wegzukommen, und das irritierte ihn. Denn die Offenheit, mit der sie vorhin noch über sein Bild gesprochen hatte, die Begeisterung in ihrer Stimme – das hatte ihn wirklich fasziniert. Er war sogar versucht gewesen, ihr seine Bilder zu zeigen – einfach um zu hören, was sie dazu sagte. Was für sich genommen bereits eine höchst beunruhigende Regung war, wenn man bedachte, dass er schon lange Zeit für niemanden eine Ausnahme mehr gemacht hatte.

Daran schien Anna Mayfield jedoch überhaupt kein Interesse mehr zu haben, und darüber war er … Jacques suchte nach dem richtigen Wort für das nagende Gefühl in ihm. Enttäuscht? Unsinn, schalt er sich selbst. Er konnte froh sein, dass sie ihm nicht länger zur Last fiel. Und doch … wen musste sie plötzlich so dringend anrufen, dass alles andere beinahe unwichtig erschien?

Das geht dich nichts an, erinnerte er sich, verärgert über sich selbst, und konzentrierte sich mit einem unterdrückten Fluchen wieder auf die schmale, kurvenreiche Straße.

„Ist es noch weit?“, fragte Anna etwas später und brach damit das Schweigen zwischen ihnen.

„Nein, wir sind gleich da. Sehen Sie?“ Jacques deutete auf eine Ansammlung von Häusern im Mittelmeerstil, die sich oben auf der Spitze des Berges vor ihnen an die Hänge schmiegten.

„Das dort ist Saint-Céleste?“, staunte Anna. Sie hatte über Bergdörfer wie dieses in ihrem Reiseführer gelesen, doch es überraschte sie, wie malerisch die bebauten Terrassen in der goldenen Nachmittagssonne tatsächlich wirkten. Fast wie verzaubert, so als wäre es ein Überbleibsel aus einer ganz anderen Zeit.

Aber der Ort war real, genau wie der Mann an ihrer Seite. Anna spürte, wie ihr Magen sich erneut zusammenzog, wenn sie daran dachte, dass Jacques Sabran nicht ahnte, wem er da gerade half. Sie kam sich so entsetzlich schlecht vor. Warum musste dieser miese Liam Hayes es nur ausgerechnet auf ein Werk dieses Malers abgesehen haben? Anna hätte alles dafür gegeben, aus dieser ganzen Situation fliehen zu können. Verzweifelt schloss sie für einen kurzen Moment die Augen, doch dann zwang sie sich, sie wieder zu öffnen. Eins nach dem anderen, beruhigte sie sich. Du wirst eine Lösung finden. Irgendwie.

Aber als ihr Blick dem von Jacques begegnete, der fragend die Augenbrauen hob, wandte sie hastig den Kopf ab. Wenn er sie so ansah, machte er sie noch nervöser, als sie es ohnehin schon war. Und sie musste unbedingt einen kühlen Kopf behalten, sonst würde diese ganze Situation katastrophal enden, für sie und – was viel schlimmer war – für Bella.

Sie fuhren schon eine Weile bergan und erklommen jetzt die letzte steile Straßenbiegung und erreichten über holpriges Kopfsteinpflaster das Dorf. Vor einigen der Haustüren saßen Männer und Frauen, die meist älteren Gesichter wettergegerbt, und blickten ihnen hinterher. Auf einem offenen Marktplatz mit einem rundgemauerten Brunnen in der Mitte brachte Jacques das Auto schließlich vor einem mehrstöckigen Steinhaus mit rotbraunen Dachziegeln zum Stehen, über dem ein einladendes Schild prangte: „Chez Pierre“.

Auf der anderen Seite des Platzes waren verschiedene Stände aufgebaut, vor denen eine ziemlich große Anzahl von Menschen die Auslagen – heimische Lebensmittel, aber auch Kunsthandwerk – betrachtete und um Waren feilschte.

„Touristen“, erklärte Jacques, während er Anna die Tür aufhielt. „Haben Sie die beiden Reisebusse gesehen, die vor den Stadtmauern geparkt waren? Im Sommer herrscht hier ein wirklich reges Treiben. Aber es ist auch gut für das Dorf, denn die meisten Einwohner bestreiten ihren Lebensunterhalt heute allein vom Tourismus.“

Jacques wusste selbst nicht, wieso er sich genötigt fühlte, Anna das alles zu erklären. Er war schließlich kein Fremdenführer, und er musste es mit seiner Hilfsbereitschaft auch nicht übertreiben. Sie würde jetzt das dringende Telefonat führen können, das ihr offensichtlich so auf der Seele brannte, und danach würde er es Pierre überlassen, sich weiter um sie zu kümmern. Er holte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum.

„Kommen Sie, gehen wir meinen Freund begrüßen“, meinte er und lief mit weit ausholenden Schritten auf den Eingang der Pension zu.

Eine Viertelstunde später verließ Anna das kleine Büro wieder, in das Pierre Bérengère, ein freundlicher älterer Herr mit dunklem, an den Schläfen leicht ergrautem Haar und fröhlich blitzenden Augen sie geführt hatte. Ein altmodisches Schnurtelefon mit Wählscheibe stand dort auf einem breiten, mit Papieren übersäten Schreibtisch.

„Lassen Sie sich Zeit“, hatte er in einem Englisch gesagt, das längst nicht so geschliffen klang wie Jacques’, und Anna war dankbar gewesen, dieses Gespräch allein führen zu können.

Doch es war nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Denn von einer Änderung des Plans wollte Mia nichts wissen.

„Aber das ist doch perfekt“, hörte Anna ihre Tante noch durch die leicht rauschende Leitung sagen. „Besser hätte es ja gar nicht laufen können. Du kennst Sabran jetzt, also wird es dir nicht schwerfallen, weitere Treffen mit ihm zu arrangieren. Lass dich nicht abschütteln, hörst du. Flirte mit ihm, mach ihm schöne Augen, tu alles, was nötig ist, um an Informationen zu kommen! Sobald du weißt, wo das Bild ist, wartest du einen günstigen Zeitpunkt ab und bringst es nach Marseille zu der Adresse von Hayes’ Kontaktmann; da du es ja dann nicht mehr hast, kann dir niemand etwas nachweisen. Den Rest erledigt Hayes, und du fliegst zurück.“

Ihre Einwände und moralische Bedenken ließ ihre Tante einfach nicht gelten, und am Ende drohte sie sogar offen. „Du kannst keinen Rückzieher machen, Anna. Jetzt nicht mehr. Ich weiß, dass es gefährlich ist, was ich da von dir verlange, aber ich brauche dieses Bild – du brauchst es, und Bella braucht es, sonst … du weißt, was dann passiert!“ Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an ihre kleine Schwester dachte. „Deshalb solltest du deine Skrupel besser gleich vergessen. Denk lieber an Bella und mach dich an die Arbeit – es wird schon gut gehen“, waren Mias abschließende Worte gewesen, bevor sie das Gespräch beendete.

Als Anna zurück in die Empfangshalle trat, fiel ihr Blick sofort auf Jacques, der mit seinem Freund sprach. Anna verstand nicht, worum es ging, weil die beiden Männer sich auf Französisch unterhielten, doch sie lauschte fasziniert dieser melodiösen Sprache. Oder war es Jacques’ tiefe Stimme, die gegen ihren Willen etwas in ihr zum Klingen brachte? Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass er wirklich sehr attraktiv war. Schlank und doch muskulös lehnte er lässig am Tresen. Das etwas zu lange schwarze Haar fiel ihm in die Stirn und überdeckte die helle Narbe fast vollständig, und der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht betonte seine ebenmäßig, beinahe klassisch schönen Züge.

Unwillkürlich dachte sie an den Moment, in dem sie vorhin die Augen aufgeschlagen und in diesem merkwürdigen Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen geglaubt hatte, zu diesem Mann zu gehören – und an das Glück, das sie erfüllt hatte, an das Verlangen, ihm noch näher zu kommen … Nun hör schon auf, ermahnte sie sich, erschrocken darüber, wie gut sie sich noch daran erinnern konnte. Das war gar nichts gewesen, ein Tagtraum, ein Missverständnis, weiter nichts. Allein der Gedanke war … absurd. In ihrem Leben war kein Platz für einen Mann. Sie musste sich um Bella kümmern und dafür sorgen, dass sie wieder laufen konnte. Nur das war wichtig. Und außerdem war sie gerade drauf und dran, einen Diebstahl zu begehen – kein guter Zeitpunkt also für romantische Gefühle für das geplante Opfer.

Erneut musste Anna gegen das Bedürfnis ankämpfen, so schnell und so weit wegzulaufen, wie es eben ging. Sie wollte Jacques Sabran nicht bestehlen. Und sie wollte auch nicht nett zu ihm sein und mit ihm flirten, um an ihn heranzukommen, so wie Mia es verlangte. Noch niemals im Leben hatte sie sich derart überfordert gefühlt. Aber sie durfte auch nicht zulassen, dass Bella noch mehr leiden musste. Nicht nach allem, was durch meine Schuld passiert ist. Deshalb war sie gezwungen, Mias Spiel vorläufig mitzuspielen, bis ihr eine Lösung eingefallen war.

Zaghaft machte sie einige weitere Schritte in den Raum. Jacques schien die Bewegung bemerkt zu haben, denn er wandte den Kopf, und als ihre Blicke sich trafen, hielt Anna gegen ihren Willen den Atem an. Was war es nur, dass es ihr so schwer machte, sich nicht in diesen grünen Augen zu verlieren? Irgendwie fühlte sie sich … erkannt, wenn er sie so ansah, so als wüsste er genau, was in ihr vorging. Machte er alle Frauen so nervös wie sie? Oder lag es nur an ihr und dieser ganzen vertrackten Situation, dass ihre Hände zitterten?

Jacques löste sich vom Tresen, an dem er gelehnt hatte, und setzte an, etwas zu sagen, doch sein Freund kam ihm zuvor.

„Haben Sie Ihren Anruf erledigt?“, fragte Pierre Bérengère mit einem freundlichen Lächeln.

„Ja. Und vielen Dank noch mal, dass ich Ihr Telefon benutzen durfte“, erwiderte Anna. „Was bin ich Ihnen schuldig?“

Rien! Nichts! Einer Freundin von Jacques helfe ich sehr gerne“, meinte der ältere Mann augenzwinkernd, und Anna spürte, wie sie errötete. Einer Freundin von Jacques? Aber der Gastwirt wusste doch, was passiert war. Jacques hatte es ihm erzählt, als sie ankamen. Es musste ihm also bewusst sein, dass sie nichts weiter war als eine Zufallsbekannte.

„Sie möchte hier Urlaub machen und braucht ein Zimmer, Pierre.“ Jacques’ Stimme klang beinahe barsch, und als Anna ihn erschrocken anblickte, fixierte er seinen Freund mit einem warnenden Ausdruck im Gesicht. Doch Pierre Bérengère schüttelte den Kopf und wandte sich dann mit einem entschuldigenden Lächeln an Anna.

Excusez, Mademoiselle, aber es ist Hochsaison. Die Pension ist leider komplett ausgebucht.“

„Oh.“ Mit dieser Antwort hatte Anna nicht gerechnet, und auch Jacques schien überrascht. „Dann könnten Sie mir vielleicht ein anderes Haus empfehlen?“, fragte sie den Pensionsbesitzer hoffnungsvoll. Denn egal, wie es jetzt weiterging, sie brauchte auf jeden Fall erst einmal ein Dach über dem Kopf.

Pierre Bérengère schüttelte jedoch erneut den Kopf. „Tut mir leid, wirklich. Aber es ist keine gute Zeit für einen spontanen Besuch in Saint-Céleste, wissen Sie. Wir haben nur recht wenig Fremdenzimmer, und soweit ich informiert bin, sind die zurzeit alle belegt.“

Anna wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder verzweifelt sein sollte. Wenn es kein Zimmer gab, würde sie nicht bleiben und Mias Plan weiterverfolgen können. Doch was würde ihre Tante dazu sagen? Und was sollte dann aus Bella werden?

„Aber ich bin sicher“, fuhr der ältere Mann fort, „dass mein Freund Ihnen gerne für heute Nacht sein Gästezimmer zur Verfügung stellt, während ich in Erfahrung bringe, ob es noch irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Nicht wahr, Jacques?“

4. KAPITEL

Jacques wurde von dem großzügigen Angebot seines Freundes genauso überrascht wie Anna, obwohl er so etwas nach der Bemerkung mit der „Freundin“ schon fast befürchtet hatte. Es war kein Geheimnis, dass Pierre in letzter Zeit gerne den Kuppler spielte. Die Gelegenheit dazu ergab sich zwar nicht oft, weil er inzwischen sehr zurückgezogen lebte. Aber wenn in seinem Leben, so wie jetzt, unerwartet eine Frau auftauchte, dann konnte der ältere Mann es offenbar nicht lassen, auch wenn Jacques ihm schon hundert Mal erklärt hatte, dass er solche Einmischungen nicht wünschte.

Pierre wollte im Grunde nur von ihm, dass er endlich einen Neuanfang wagte, das war ihm bewusst. Und für den alten Franzosen beinhaltete das eben unerlässlich eine Frau, die sein Leben mit ihm teilte. Natürlich. Schließlich war er selbst seit mehr als dreißig Jahren verheiratet, und es gehörte für ihn zum Glück dazu. Für Jacques jedoch nicht. Es war besser, wenn er allein blieb. Und genau deshalb räumte er auch keiner Frau mehr einen Platz in seinem Leben ein – nicht einmal übergangsweise.

„Das wäre keine gute Idee“, entgegnete er und warf Pierre einen vielsagenden Blick zu. „Ich bin nicht auf Gäste eingerichtet. Das Zimmer steht voll mit Sachen. Wir sollten wirklich lieber versuchen, hier in Saint-Céleste etwas für Miss Mayfield zu finden.“

„Aber ich sage doch, es gibt hier nichts“, widersprach Pierre, und sein strenger Gesichtsausdruck teilte Jacques unmissverständlich mit, was er von dessen Unhöflichkeit hielt. „Und dass das Zimmer in einem so schlimmen Zustand ist, kann ich mir nicht vorstellen. Dann schiebst du die Sachen eben so lange zur Seite. Außerdem ist es schon spät, und wir können Miss Mayfield doch nicht einfach sich selbst überlassen, oder?“

Jacques zögerte. Pierre sah wirklich besorgt aus. Und wenn das nun keine Finte war und es tatsächlich keine Unterkunft mehr gab? Immerhin war Hochsaison, und Saint-Céleste konnte sich über mangelndes Touristeninteresse nicht beklagen. Vielleicht versuchte Pierre ja wirklich nur zu helfen, denn der nächste Ort lag rund dreißig Kilometer entfernt über enge Bergstraßen, und es war schon recht spät.

Sein Blick wanderte zu der jungen Frau, und er runzelte die Stirn, als er den beinahe entsetzten Gesichtsausdruck wahrnahm, mit dem sie ihn musterte – so als wäre der Gedanke, die Nacht bei ihm zu verbringen, das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte.

„Vielleicht sollten wir erst einmal Miss Mayfield fragen, was sie von deinem Vorschlag hält“, wandte er deshalb ein und verschränkte die Arme vor der Brust, nicht sicher, ob er erleichtert oder verärgert über Annas Reaktion war. Diese Frau gab ihm wirklich Rätsel auf – die er jedoch nicht zu lösen gedachte, erinnerte er sich schnell.

Beide Männer blickten Anna erwartungsvoll an, und sie spürte, wie ihre Wangen erneut heiß wurden.

„Ich … also …“, stotterte sie, während sie innerlich mit sich kämpfte. Es war offensichtlich, wie wenig Jacques Sabran die Aussicht gefiel, sie bei sich wohnen zu lassen, und nichts wollte sie weniger, als das Angebot annehmen. Doch in ihrer momentanen Lage konnte sie sich eine solche Reaktion einfach nicht leisten. Schließlich ging es hier nicht um ihre persönlichen Befindlichkeiten. ‚Das ist doch perfekt!‘, hörte Anna das Echo von Mias Stimme in ihrem Kopf. Ob sie wollte oder nicht, sie musste diese Chance ergreifen, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Allein der Gedanke, was ihre Tante von ihr erwartete, ließ sie erschaudern. Mit Jacques Sabran flirten? Ihm schöne Augen machen? Es war doch offensichtlich, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte.

Anna schluckte beklommen. Ihr blieb jedoch keine Wahl, wenn sie Bellas Wohlergehen nicht gefährden wollte. Und vielleicht würde ihr morgen, wenn sie ausgeschlafen war und sich von dem Schock der Ereignisse erholt hatte, eine Lösung für ihr Problem einfallen.

„Ich … ich wäre schon dankbar, wenn ich heute Nacht irgendwo unterkommen könnte“, beendete sie ihren Satz deshalb zögernd. „Es … es war ein langer Tag und ich bin müde …“

„Da hörst du es“, schimpfte Pierre auf Französisch mit Jacques. Dann wandte er sich wieder an Anna. „Er meint das nicht so, Mademoiselle. Künstler sind da manchmal etwas schwierig. Aber ich kenne ihn. Er räumt das Zimmer für Sie, machen Sie sich keine Sorgen. Nicht wahr, Jacques?“ Die letzte Frage stellte er mit einem scharfen Unterton.

Jacques wich dem Blick seines Freundes aus und knurrte eine Zustimmung, zu überrascht, um etwas zu erwidern. Er hätte schwören können, dass Anna Mayfield ablehnen würde. Hatte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht tatsächlich so falsch gedeutet?

Eine Nacht, dachte er verärgert. Länger würde sie auf keinen Fall bei ihm bleiben. Und auch nur, weil er seinen Freund nicht noch weiter brüskieren wollte. Danach würde sich eine andere Lösung finden, eine, die mit ihm nichts mehr zu tun hatte …

Als sich eine zarte Hand auf seinen Oberarm legte, fuhr Jacques erschrocken zusammen. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass Anna neben ihn getreten war. Lächelnd blickte sie jetzt zu ihm auf, und für einen Moment verlor er sich in ihren blauen Augen.

„Vielen Dank“, sagte sie fast entschuldigend, und Jacques nickte knapp, plötzlich von einem schlechten Gewissen geplagt. Er wusste, dass er gerade nicht besonders höflich gewesen war. Aber er konnte es auch nicht ändern. Diese junge Frau sandte eindeutig verwirrende Botschaften aus, und er wollte einfach nicht herausfinden, was der Grund dafür war.

Eine Nacht, wiederholte er innerlich grimmig, während er Annas Tasche nahm und Anna und Pierre nach draußen zum Wagen folgte. Nicht länger …

Anna spürte ein Flattern im Magen, als Jacques den weißen Peugeot wieder auf dem Kiesweg vor seinem Haus parkte und ausstieg. Den ganzen Weg über war er sehr schweigsam gewesen, und sie hatte nicht gewagt, eine belanglose Unterhaltung zu beginnen. Sie spürte seine Verärgerung, die wie eine knisternde Spannung zwischen ihnen in der Luft lag, und es verunsicherte sie vollends. Wie sollte sie mit ihm flirten, wenn er sie nicht einmal ansah? Und wie sollte sie ihn überreden, ihr seine Bilder zu zeigen und sie noch länger bei sich wohnen zu lassen, wenn jetzt schon offenkundig war, dass er sich von ihr belästigt fühlte?

Vorhin hatte sie versucht, nett zu ihm zu sein, indem sie sich bei ihm bedankte. Doch mehr als ein Lächeln hatte sie nicht zustande gebracht, und besonders beeindruckt schien er davon nicht gewesen zu sein. Anna seufzte unterdrückt. Warum sollte er auch? Sie war weiß Gott kein Flirt-Profi. Im Gegenteil, sie hatte eigentlich gar keine Erfahrung mit Männern. Weil dafür nie Zeit gewesen war. Seit ihrem zwölften Lebensjahr kümmerte sie sich um Bella, denn schon kurz nach der Geburt der Kleinen war offensichtlich gewesen, dass ihre Mutter dazu nicht in der Lage sein würde – und dass sie auch kein Interesse daran hatte. Schon Anna war ihr mehr Belastung als Freude gewesen, doch damals hatte Janice Burdon zumindest noch nicht getrunken. Als sie dann jedoch nach Jahren noch einmal ungeplant von einem ihrer zahlreichen Liebhaber schwanger wurde – von wem, wusste sie selbst nicht –, geriet das Leben der labilen Künstlerin völlig aus den Fugen, und die gesundheitlichen Probleme, die sie nach Bellas Geburt plagten, ließen sie immer öfter zur Flasche greifen. Dadurch hatte Anna früh lernen müssen, die Verantwortung für ihre kleine Schwester zu tragen. Die Männer, denen sie während ihrer Jugend begegnet war, gefielen ihr nicht – waren es doch alles nur Künstlerfreunde ihrer Mutter, die mit ihr ausschweifende Partys feierten. Und als sie mit achtzehn schließlich doch mit einem Freund aus der Schule geschlafen hatte, weil sie endlich wissen wollte, wie es sein würde, war es nicht nur enttäuschend gewesen. Sie hatte auch ihre Mutter bitten müssen, einen Abend lang auf Bella aufzupassen. Ein großer Fehler, denn Janice war dazu wie immer viel zu betrunken gewesen. Und dann war der Unfall passiert …

Als ihre Mutter kurz danach an den Folgen ihrer Sucht starb, hatte Anna keine Zeit mehr für Verabredungen gehabt. Wenn sie in den vergangenen fünf Jahren ausgegangen war, dann nur mit ihrer Freundin Janet, die in einer anderen Galerie arbeitete und die sie über die Arbeit kennengelernt hatte. Woher sollte sie jetzt also wissen, wie sie sich diesem Mann gegenüber verhalten musste, damit er sie bleiben ließ?

Das wird er nicht tun, dachte sie frustriert und rief sich noch einmal seine Reaktion in Erinnerung, als sie sich nach seinen Bildern erkundigt hatte. Ihre Gnadenfrist reichte nur bis morgen früh. Wenn ihr bis dahin nichts eingefallen war, dann würde er sie fortschicken. Und was dann?

Unsicher folgte sie Jacques, der erneut ihre Tasche trug, zum Haus. Er hielt die Haustür für sie auf, aber er sagte immer noch nichts, sondern sah sie nur auf diese unergründliche Weise an, die ihre Nervosität noch steigerte.

Sie hielt das Schweigen einfach nicht mehr länger aus, als sie gemeinsam im Flur standen, deshalb sagte sie aus reiner Verlegenheit: „Dürfte ich kurz das Bad benutzen?“

Er zeigte ihr den Weg, und als sie wenig später in den großen Wohnbereich zurückkehrte, stand er in der offenen Küche.

„Ich mache uns etwas zu essen. Sie haben doch bestimmt Hunger, oder?“, meinte er, und Anna nickte dankbar. Erst jetzt, als er es ansprach, wurde ihr bewusst, wie lange es her war, dass sie etwas gegessen hatte. Zögernd trat sie neben ihn.

„Kann ich helfen?“, fragte sie vorsichtig, und Jacques, der gerade einen frischen Laib Brot aufschnitt, deutete mit dem Messer auf ein Brett mit Käse und Schinken, das er schon bereitgestellt hatte.

„Das könnten Sie zum Tisch tragen“, meinte er, und Anna war froh, sich mit etwas beschäftigen zu können. Sie brachte das Brett und eine Schale mit Butter, etwas Salz und frische Tomaten und Gurken zu dem gusseisernen Tisch auf der Terrasse und half Jacques auch, Teller, Besteck und Gläser zu decken.

Als schließlich alles bereitstand, setzten sie sich, und Jacques goss ihnen beiden Rotwein ein, von dem Anna hastig einen Schluck trank, um ihre angespannten Nerven zu beruhigen.

Obwohl es inzwischen dämmerte, war es noch angenehm warm, und die beiden Lampen an der Außenwand des Hauses und die Kerzen, die Jacques auf den Tisch gestellt hatte, verbreiteten ein angenehm weiches Licht. Im Gras zirpten laut die Grillen, und in der Luft lag der würzige Duft von Pinien, der Anna daran erinnerte, wie weit im Süden sie sich befand. Zu jeder anderen Zeit hätte sie es genossen, an einem so bezaubernden Ort zu sein. Doch jetzt konnte sie nur an den großen, attraktiven Mann denken, der ihr gegenübersaß.

„Willkommen in meinem bescheidenen Heim“, sagte er und zog einen Mundwinkel fast ein wenig spöttisch hoch.

Anna rang einen Moment mit sich, ob sie darauf reagieren oder schweigen sollte. Sie entschied sich für die Flucht nach vorn.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen zur Last fallen muss“, sagte sie und ärgerte sich über sich selbst, weil ihre Stimme zitterte. „Wenn das mit dem Gästezimmer wirklich so schlimm ist, dann kann ich auch gerne auf der Couch schlafen. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.“ Aber ich muss hierbleiben, dachte sie, und die Verzweiflung über diese verfahrene Situation drohte sie endgültig zu übermannen.

Jacques sah sie jedoch nur einen Moment lang schweigend an.

„Um das Gästezimmer kümmern wir uns später“, antwortete er dann. „Jetzt greifen Sie erst mal zu.“

Bildete sie sich das ein, oder klang er nicht mehr ganz so abweisend und verärgert wie zuvor? Anna trank noch einen Schluck aus dem Glas, das sie noch immer in der Hand hielt. Der Wein war schwer, und weil sie nichts gegessen hatte, spürte sie die Wirkung des Alkohols fast sofort, was sie ein wenig beruhigte. Dann nahm sie sich eine Scheibe von dem köstlich duftenden, dunklen Brot.

„Das ist unglaublich lecker“, lobte sie, als sie den ersten Bissen gekostet hatte. Zusammen mit dem Ziegenkäse und den frischen Tomaten, mit dem sie es belegt hatte, war es ein echter Gaumenschmaus, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gut gegessen hatte. Der Hunger, den sie so lange ignoriert hatte, meldete sich mit Vehemenz, und beinahe ohne es wirklich zu registrieren, aß sie vier dicke Scheiben.

Jacques lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete sie aufmerksam. „Essen Sie immer so viel?“, fragte er, als sie nach einer fünften Scheibe griff, und zum ersten Mal, seit sie in sein Haus zurückgekehrt waren, spielte ein amüsiertes Lächeln um seinen Mund. Anna erwiderte es, entspannt vom guten Essen und dem vielen Wein, den sie vor lauter Nervosität getrunken hatte.

„Nur wenn ich nach einem langen Flug einen Unfall habe und mir kurzfristig Obdachlosigkeit droht“, erklärte sie trocken. „Ansonsten mache ich nach vier Scheiben eigentlich Schluss.“

Erschrocken über ihre eigene forsche Bemerkung wurde sie wieder ernst und spürte, wie Röte ihr in die Wangen kroch. Doch sie schien mit ihren Worten endlich Jacques’ Panzer aus Verärgerung durchbrochen zu haben, denn er lachte, und das Vibrieren seiner tiefen Stimme ließ ihre Knie ganz weich werden.

Sie lächelte, weil sie gar nicht anders konnte, und während sie in seine unglaublich grünen Augen sah, die jetzt von Lachfältchen umkränzt waren, fühlte sie die Sehnsucht zurückkehren, dieses unbestimmte Gefühl, das sie sich selbst nicht erklären konnte. Genau wie am Nachmittag, als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war und in sein Gesicht geblickt hatte.

„So, so“, meinte Jacques, immer noch amüsiert, und griff ihre Bemerkung wieder auf. „Da können Sie ja von Glück reden, dass noch genug Brot übrig ist. Sonst hätte ich Sie am Ende beim Frühstück gar nicht satt bekommen.“

Anna musste sich zwingen, weiter zu lächeln, als die Realität wie eine kalte Dusche auf sie niederprasselte und ihr wieder bewusst wurde, dass Jacques Sabrans Gastfreundschaft nur bis morgen früh reichen würde. Mein Gott, wieso vergaß sie in seiner Gegenwart ständig, weswegen sie eigentlich hier war?

Er besaß etwas, das sie ihm entwenden musste, um das Wohlergehen ihrer Schwester zu sichern. Und deshalb ist er ganz sicher der allerletzte Mann auf der Welt, zu dem du dich hingezogen fühlen solltest, erinnerte sie sich selbst noch einmal. Denk lieber endlich über eine Möglichkeit nach, wie du hierbleiben kannst.

„Na, dann ist das ja noch ein Grund mehr, warum ich froh bin, dass Sie mich bei sich aufgenommen haben“, meinte sie leichthin, um sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt sie war.

Jacques runzelte die Stirn. „Ach ja? Warum denn noch?“

„Äh …“ Hektisch dachte Anna nach. Schließlich konnte sie ihm schlecht die Wahrheit sagen. „Weil … ich so vielleicht doch noch Gelegenheit bekomme, ein paar von Ihren Bildern zu sehen“, erklärte sie, aber schon als sie es aussprach, erkannte sie, dass dieses Argument ihm überhaupt nicht gefiel. Sein Lächeln schwand, und der Ausdruck auf seinem Gesicht verfinsterte sich.

„Wieso interessieren Sie sich eigentlich so dafür?“, fragte er grimmig, und Anna schluckte. O nein, warum hatte sie nicht den Mund gehalten? Andererseits war es eine Gelegenheit, endlich auf das eigentlich wichtige Thema zu sprechen zu kommen. Sie durfte ihn dabei nur nicht misstrauisch machen.

„Was ist denn so schlimm daran? Malen Sie Ihre Bilder denn nicht, um sie anderen zu zeigen? Immerhin leben Sie doch davon, dass jemand sie kauft. Warum darf ich sie mir dann nicht ansehen?“

Jacques lehnte sich getroffen zurück. Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte er frustriert. Er war ja auch nur so misstrauisch, weil er, als Anna zugegeben hatte, dass sie seinen Namen kannte, für einen kurzen Moment befürchtete, sie könnte eine Journalistin sein, die versuchte, sich bei ihm einzuschleichen.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, dass die Presse extrem aufdringlich sein konnte, wenn man aus einer Familie stammte, die stets im Fokus der Öffentlichkeit stand und deren Mitglieder immer wieder gerne für Schlagzeilen sorgten. Er selbst dagegen hatte diese Aufmerksamkeit schon als Kind gehasst, genau wie die gesellschaftlichen Zwänge, die mit seiner Position und seinem Titel verbunden waren. Er hätte viel dafür gegeben, das alles endgültig hinter sich zu lassen. Doch das war ein Fluch, den er nicht loswerden konnte, denn er würde für die Klatschpresse stets interessant bleiben. Und leider nicht nur für die.

Denn seit bekannt geworden war, dass sein Agent Marchant für ihn in London eine Ausstellung organisieren wollte, schien auch das Interesse der Kunstwelt an ihm mit neuer Vehemenz entfacht. Schlimmer noch – man glaubte offenbar, dass er nach seinem langen Rückzug aus der Öffentlichkeit nun wahre Meisterwerke präsentieren konnte – ein Trugschluss, wie bisher allerdings nur er wusste. Auf gar keinen Fall durfte herauskommen, dass er seit zwei Jahren kein vernünftiges Bild mehr zustande gebracht hatte und innerlich völlig ausgebrannt war. Denn sein Vater, Comte Henri de Sabran-Moriac, hätte dieses Scheitern seines Sohnes mit beißendem Spott quittiert. Seit Jacques sich vor Jahren von ihm und seiner Familie losgesagt hatte, wartete der alte Mann nur auf eine solche Chance, und da er ihm diesen Triumph nicht gönnte, hütete er sein Geheimnis sorgfältig.

Er musste einfach endlich wieder malen. Nicht aus finanziellen Gründen – er besaß genug, um davon gut leben zu können –, sondern für sich selbst, um sich zu beweisen, dass er es noch konnte. Doch nach Laetitias Tod war in ihm für eine lange Zeit nur Leere gewesen, und auch später, als er es wieder versucht hatte, war ihm nichts gelungen, was ihm gefallen hätte. Und das ließ seine Verzweiflung jeden Tag ein bisschen wachsen.

Natürlich hätte es, wie Maxime Marchant ihn ständig erinnerte, auch noch eine andere Möglichkeit für ihn gegeben. Denn für eines seiner Bilder war ihm schon mehrfach eine extrem hohe Summe geboten worden, eine, die immer weiter anstieg, je öfter er das Angebot ausschlug. Wäre er auf das letzte eingegangen, dann hätte er nie wieder irgendeine Vernissage veranstalten müssen, weder in London noch sonst irgendwo auf der Welt. Dann hätte er, wie Marchant betonte, endgültig ausgesorgt.

Doch es ging ihm nicht ums Geld, das wusste auch sein Agent. Wenn das seine Motivation gewesen wäre, dann hätte er sich einfach nur mit seinem Vater versöhnen und seine Rolle als Erbe des Grafentitels annehmen müssen – mit allem, was dazugehörte. Aber das wollte er auf keinen Fall. Und er würde sich eher beide Hände abhacken, als das Porträt von Laetitia an Russel Wentworth zu verkaufen.

Gequält seufzte er auf und sah Anna an, die noch immer auf eine Reaktion von ihm wartete. Selbst er musste zugeben, dass seine Theorie von dem vorgetäuschten Unfall sehr weit hergeholt war. Und dass er nicht mehr malen konnte und diese Tatsache in gut zwei Monaten öffentlich zugeben musste, wenn nicht noch ein Wunder geschah, war nicht ihre Schuld.

„Ehrlich gesagt wird Ihnen gar nichts anderes übrig bleiben, als sich meine Bilder anzusehen. Die meisten davon stehen nämlich im Gästezimmer“, meinte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme sarkastisch klang. Schließlich hatte er sie und Pierre gewarnt. Er erhob sich. „Kommen Sie.“

Verwundert, aber erfüllt von neuer Hoffnung folgte Anna ihm hinaus in die kleine Eingangshalle und über die schmale Treppe nach oben. Von dem kurzen Flur gingen drei Türen ab, und Jacques blieb vor der zu seiner Rechten stehen. Als er sie jedoch öffnete und den Lichtschalter an der Wand betätigte, schlug Anna erschrocken eine Hand vor den Mund.

5. KAPITEL

„Mein Gott!“, entfuhr es Anna.

Das gesamte Zimmer stand voller Leinwände in allen vorstellbaren Größen. Stapel davon bedeckten das große Bett in der Mitte sowie die Kommode, andere lehnten vor dem wuchtigen Bauernschrank sowie an den Wänden und schienen auch sonst jeden Zentimeter des verfügbaren Platzes auf dem Boden einzunehmen. Dazu kamen mehrere dicke Skizzenmappen, die achtlos oben auf das Chaos geworfen worden waren. Einige Blätter waren herausgerutscht, und das Papier wellte sich an den Ecken bereits leicht nach oben.

„Wieso liegen die Bilder alle hier?“, fragte sie erschrocken.

Jacques, der am Türrahmen lehnte und fast selbst ein bisschen erschrocken wirkte, erwiderte. „Das sind nicht alle“, meinte er. „Der Rest steht in meinem Atelier drüben.“ Er deutete mit der Hand aus dem Fenster in Richtung Garten.

„Aber …“ Anna fehlten die Worte. Wie konnte man mit Bildern so achtlos umgehen? „Sie so zu lagern ist nicht gut für die Leinwände, solange sie noch nicht gerahmt sind. Sie können sich verziehen.“

Das war Jacques bewusst. Und früher wäre er vermutlich selbst entsetzt über dieses Chaos gewesen. Doch seit dem Unfall hatte er einfach kein Interesse mehr an Dingen, die ihm vorher wichtig gewesen waren, nicht mal an seinen eigenen Werken. Er hatte gewusst, dass es im Gästezimmer schlimm aussah, aber das Ausmaß der Unordnung überraschte ihn selbst. Andererseits war es vermutlich kein Wunder. Er hatte hier immer nur die Bilder gestapelt, die von den beendeten Ausstellungen zurückgekommen waren. Und als alle wieder da waren, hatte er es offensichtlich nicht mehr betreten, denn die Staubschicht auf den Möbeln und allem anderen war nicht zu übersehen. Außerdem war alles viel vollgestellter, als er es in Erinnerung hatte.

„Ich habe ja gesagt, dass mein Gästezimmer eigentlich nicht bewohnbar ist“, verteidigte er sich, doch Anna schien ihm gar nicht zuzuhören. Sie war in den Raum getreten und hatte sich gestreckt, um an eine Skizzenmappe zu gelangen, die ganz oben auf dem Bilderstapel auf dem Bett lag. Behutsam pustete sie den Staub vom Deckel und öffnete ihn, betrachtete die Bleistiftzeichnung, die zuoberst lag.

„Das dürfen Sie hier nicht einfach so herumliegen lassen. Das Papier vergilbt und, sehen Sie, die Ecken wellen sich nach oben. Das ist doch viel zu schade. Gibt es denn keinen anderen Lagerraum dafür?“

„Sie klingen schon wie mein Agent“, knurrte Jacques, der sich erwischt fühlte. Maxime lag ihm immer damit in den Ohren, dass die Bilder vernünftig katalogisiert und aufbewahrt werden mussten. Er hatte sogar schon angeboten, einen Teil in sein Lager aufzunehmen. Vielleicht ahnt er, dass ich nichts Neues mehr zustande bringe, und will wenigstens den vorhandenen Bestand als Einnahmequelle für sich sichern …

„Ihr Agent scheint ein schlauer Mann zu sein“, sagte Anna, und ihre Bemerkung passte so gut zu seinen Gedanken, dass Jacques sie überrascht ansah. Doch sie bezog sich natürlich auf seine Worte von eben. „Wenn er Ihnen auch schon gesagt hat, dass Sie Ihre Bilder besser behandeln sollen, dann würde ich auf ihn hören.“ Skeptisch sah sie weiter die Mappe durch. „Einige von Ihren Zeichnungen sind schon ziemlich mitgenommen.“

„Das ist gar nichts, das sind nur ein paar Fingerübungen“, verteidigte sich Jacques. „Ich weiß überhaupt nicht, wieso ich die eigentlich aufgehoben habe.“

„Weil sie gut sind“, meinte Anna mehr zu sich selbst und sah noch immer auf die Skizzen. Sie versuchte, eine geknickte Ecke glattzustreichen, dann sah sie sich im Raum um, ging zu einer Kommode hinüber und hob einen Stapel Bilder an, unter den sie vorsichtig die Mappe schob. „So. Vielleicht glätten die Blätter sich auf diese Weise wieder“, meinte sie und wischte sich die Hände ab.

Sie sah sich um und seufzte unwillkürlich. Das war leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es gab noch mehr Mappen, und die Leinwände, die zuunterst lagen, mussten unbedingt …

Erschrocken hielt sie inne, als ihr klar wurde, dass sie sich gerade ungefragt in Jacques Sabrans Angelegenheiten einmischte. Sie sah zu ihm hinüber, um sich zu vergewissern, ob er böse auf sie war, doch er lehnte nur am Türrahmen und beobachtete sie, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so als erstaune ihn, was plötzlich in seinen Gast gefahren war. Aber es ließ Anna einfach keine Ruhe.

„Wieso gehen Sie mit den Bildern so um?“, fragte sie ihn geradeheraus und bereute es einen Moment später, als sie sah, wie sein Gesichtsausdruck sich verfinsterte.

„Das ist eine lange Geschichte“, sagte er in einem Tonfall, der ihr eindeutig mitteilte, dass er nicht vorhatte, sie ihr zu erzählen.

Jetzt wünschte Anna, sie hätte vor ihrer Reise hierher mehr Zeit gehabt, über Sabran zu recherchieren. Aber Mia hatte zur Eile gedrängt, sie quasi nur mit ein paar spärlichen Fakten zu seinem Leben und einem körnigen Schwarz-Weiß-Foto aus dem Internet ausgestattet in den Flieger gesetzt. Die Aufnahme wurde dem echten Jacques jedoch in keiner Weise gerecht. Im Grunde wusste sie nur, dass er ein aufstrebender Stern am Kunsthimmel gewesen war und dass die Boulevardpresse sich wegen seiner Liaison mit einem französischen Model eine Weile für ihn interessiert hatte, Laetitia irgendwas, die Frau auf dem Porträt, um das es Hayes’ Auftraggeber ging. Sie war tödlich verunglückt, und kurz danach hatte Sabran sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Offenbar plante er demnächst eine große Ausstellung in London, mehr wusste sie nicht.

Unwillkürlich fragte sie sich, ob er diese Laetitia wohl geliebt hatte. War es hier deshalb so chaotisch? Kam er nicht über ihren Tod hinweg? Immerhin war er kurz danach abgetaucht, und ihr Porträt wollte er offenbar nicht verkaufen.

Anna dachte an das Foto, das sie von dem Gemälde gesehen hatte. Eine Frau mit langen dunklen Haaren war darauf abgebildet, und wenn Jacques sie richtig getroffen hatte, dann war diese Laetitia sehr schön gewesen.

Und wenn schon, dachte sie, verärgert darüber, in welche Richtung ihre Gedanken plötzlich liefen. Dann hatte Sabran die schöne Laetitia eben geliebt. Das ging sie gar nichts an.

Plötzlich musste sie gähnen und rieb sich über die Augen. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, wie lang der Tag gewesen war und wie sehr die turbulenten Ereignisse sie erschöpft hatten. Aber …

„Wie soll ich hier eigentlich schlafen?“, fragte sie kleinlaut.

„Gar nicht“, erwiderte Jacques fast sofort, und als Anna ihn daraufhin mit weit aufgerissenen Augen ansah, machte er eine beschwichtigende Geste. „Keine Sorge, das ist kein Rausschmiss. Ich stehe zu meinem Angebot. Aber mir ist gerade klar geworden, dass es Stunden dauern würde, das Zimmer herzurichten. Ich hatte ehrlich gesagt vergessen, wie unwohnlich es hier tatsächlich ist. Also schlafen Sie einfach in meinem Bett.“

„Und Sie?“ Anna spürte, wie sie errötete.

„Ich werde auf der Liege in meinem Atelier übernachten“, erklärte er und deutete erneut aus dem Fenster, hinter dem es inzwischen schon Nacht geworden war.

Autor

Marian Mitchell
Ihre erste Geschichte veröffentlichte Marian Mitchell, als sie elf Jahre alt war – und bekam dafür von der Zeitung, die sie abdruckte, ein kleines Honorar, das sie stolz sparte. Von da an war klar: Das Schreiben sollte eines Tages zu ihrem Beruf werden. Nach einigen Umwegen kam es dann auch...
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