Julia Collection Band 148

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Eine Kindheit in Reichtum, aber ohne väterliche Liebe, hat bei ihnen allen Spuren hinterlassen. Werden Rafael, Annabelle und Jacob es schaffen, das Erbe der Wolfes zu überwinden und ihre Herzen vom Glück berühren und heilen zu lassen?

ZURÜCK IN DEINE ARME von JANETTE KENNY
Seit ihrer Heirat mit dem Tycoon Rafael da Souza führt das Supermodel Leila ein glamouröses Jetset-Leben. Aber so schillernd ihre Ehe nach außen ist, so schmerzvoll ist Leilas Geheimnis, das ihr Glück zu überschatten droht. Doch sie wagt es nicht, sich Rafael anzuvertrauen …

GLAUB AN DAS GLÜCK, ANNABELLE! von JENNIE LUCAS
"Ich werde seinen Verführungskünsten niemals erliegen!" Stefano Cortez mag als der gefährlichste Playboy auf dem gesamten Globus gelten, aber seine Wirkung auf sie wird er verfehlen! Da ist Annabelle Wolfe sich sicher. Bis sie eine Woche mit ihm auf seiner Hazienda verbringt …

UND ENDLICH SIEGT DIE LIEBE von KATE HEWITT
"Jacob?" Überrascht blickt die Gärtnerstochter Mollie dem attraktiven Mann, der vor ihr steht, in die eisgrauen Augen. Kein Zweifel: Jacob Wolfe ist endlich zurück! Doch solange die Vergangenheit auf seinem Herz lastet, kann das Glück der Liebe nicht einkehren auf Wolfe Manor …


  • Erscheinungstag 24.07.2020
  • Bandnummer 148
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715380
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janette Kenny, Jennie Lucas, Kate Hewitt

JULIA COLLECTION BAND 148

1. KAPITEL

Den Ansturm auffallend attraktiver Menschen in dem kleinen Ort an der französischen Riviera konnte man durchaus als ein Fest für die Sinne bezeichnen. Doch nur eine der Schönheiten erregte Rafael da Souzas Aufmerksamkeit und hielt sie gefangen. Und das seit dem Tag, an dem er sie in London zum ersten Mal gesehen hatte.

Faszination und Begehren hatten in den fünf Jahren ihrer Ehe nie nachgelassen. Und das würde sich auch niemals ändern. Wie jedes Mal, wenn das betörende Supermodel Leila Santiago auf der Bildfläche erschien, verschlug es ihm auch heute den Atem, obwohl er auf die Begegnung vorbereitet war. Alles in ihm drängte auf Wiedervereinigung – von Körper und Seele.

Bevor sie heirateten, hatten sie abgemacht, den Traum von einer eigenen Familie noch eine Weile hinauszuschieben. Dafür waren beide viel zu karriereorientiert. Lieber genossen sie ein freies Leben und alle damit verbundenen Annehmlichkeiten, nur dass sie diese fortan miteinander teilten.

Zumindest für eine gewisse Zeit …

Rafaels Miene wirkte angespannt, während er über das fünfte Jahr ihrer Ehe nachdachte. Die gemeinsam verbrachten Tage konnte er an einer Hand abzählen. Ihre Karrieren erforderten einen immensen Einsatz an Zeit und Nerven – viel mehr, als sie es sich vorgestellt hatten. Doch inzwischen fragte Rafael sich, ob der berufliche Erfolg nicht ein zu hoher Preis war, zumal er sie in zwei völlig unterschiedliche Richtungen führte.

Leila war für diverse Fotokampagnen gebucht, die sie monatelang rund um den Globus führten, während Rafael ihr zauberhaftes Gesicht nur in Werbespots und auf Plakatwänden bewundern konnte. Er selbst musste hart jonglieren, um den Spagat zwischen seinem Job als technischer Berater eines Filmprojekts und der Entwicklung elektronischer Bauteile für eine neue Handy-Generation zu bewältigen, die er auch designte. Wenn die aktuelle Produktion hielt, was sie versprach, war seine Firma der Konkurrenz auf dem Weltmarkt um Lichtjahre voraus.

Dazwischen hatte das Ehepaar gerade mal ein gemeinsames Wochenende auf Aruba verbracht. Aber auch dort musste Leila ein Foto-Shooting für Bademoden absolvieren, sodass intime Momente zu zweit etwas sehr Rares, Kostbares blieben. Rafael versuchte zwar, die Gelegenheit für ein Gespräch über ihre Zukunft als Familie zu nutzen, doch die Zeit war einfach zu kurz.

„Wir werden auf dem Filmfestival in Cannes darüber reden“, versprach Leila ihm auf Aruba, während sie zärtliche Küsse auf seinem muskulösen Oberkörper verteilte. Schon in der nächsten Sekunde ging das Thema Familie in einem Ansturm geraunter Liebesschwüre und heißer Liebkosungen unter. Für Rafael war es der lustvollste und erfüllendste Sex ihrer gesamten Beziehung. In höchster Ekstase vereinigt, presste er Leilas zarten Körper fest an sein wild hämmerndes Herz. Nie hatte er sich ihr mehr verbunden gefühlt als in diesem Moment.

Und dann war es ganz plötzlich vorbei gewesen mit ihrem Idyll. Rafael verließ das Bett und seine Frau noch vor Sonnenaufgang. Genauer gesagt, nachdem Leila ihm eröffnet hatte, dass sie ihn wegen eines neuerlichen Fotoshootings nicht zur Hochzeit seines Bruders Nathaniel nach London begleiten könne.

„Ich sehe dich dann in Frankreich.“ Mehr hatte er zum Abschied nicht herausgebracht. Dafür war er viel zu ärgerlich und verletzt gewesen.

Doch diesmal würde er sich ganz sicher nicht allein mit Reden begnügen, was das Thema Familie betraf! Sie hatten eine ganze Woche hier in Frankreich. Während die Tage für Business und Promotion reserviert waren, blieben ihnen sieben magische Nächte, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Bei dem Gedanken, Kinder mit Leila zu haben, erwärmte sich Rafaels Herz. Der Gedanke, gemeinsam ein von Leben und Liebe erfülltes Zuhause aufzubauen, das ihm nie vergönnt gewesen war, machte ihn überglücklich.

An der Liebe seiner Mutter hatte er zwar nie gezweifelt, doch um sie beide ernähren zu können, hatte sie quasi Tag und Nacht in mindestens zwei Jobs gleichzeitig gearbeitet. Deshalb bekam er sie als Kind nur selten zu Gesicht. Aufgewachsen war er in einer kleinen, schäbigen Behausung in Wolfstone, die man wahrlich nicht als Zuhause bezeichnen konnte.

Innerlich aufgeatmet hatte Rafael zum ersten Mal, nachdem er der qualvollen Enge und den bedrückenden Erinnerungen entflohen und in ein modernes Apartment in London gezogen war. Einen weiteren Schritt in ein selbstbestimmtes Leben bedeuteten seine Heirat mit Leila und der Umzug in ein neues Luxus-Penthouse in Rio. Es sollte fortan ihr Hauptwohnsitz sein, weit weg von seiner desaströsen Vergangenheit.

Doch auch dort vermisste er die positive Energie und Wärme einer liebevollen Familie, die er sich ein Leben lang gewünscht hatte.

Rafael sehnte sich nach einer Casa … einem echten Heim, umgeben von eigenem Land, wo Kinder genügend Platz zum Spielen und Toben fanden. Ein echtes Zuhause, das sie mit guten Erinnerungen anfüllen konnten, die ihr Leben lang Bestand hatten. Ein Platz, an dem sich alle sicher und geborgen fühlten.

Und geliebt …

Eben all das, was sein aristokratischer Erzeuger ihm vorenthalten hatte.

Leila wusste, was eine eigene Familie für ihn bedeutete, und teilte seinen Wunsch. Mit ein wenig Glück würde er bald in Erfüllung gehen.

Als er sie jetzt auf sich zukommen sah, war Rafael wie immer überwältigt von ihrer Schönheit, Grazie und Anmut. Sein Verlangen nach ihr nahm ihm den Atem. Aus Angst, sie könnte nur eine Fantasiegestalt sein, wagte er nicht einen Wimpernschlag. Wenn sich das Traumbild nun unter seinem hungrigen Blick in Luft auflöste? Und mit ihm die überwältigenden Emotionen, die sie in ihm wachrief.

Seine Frau!

Unter dem Blitzlichtgewitter unzähliger Kameras, das Millionen-Dollar-Lächeln auf den anbetungswürdigen, vollen Lippen schritt sie wie eine Königin über La Croisette. Rafael machte nicht den Fehler, das Lächeln auf sich zu beziehen. Er wusste, dass es ihren Legionen von Fans gehörte. Sie beherrschte den Flirt mit der Kamera, und die Fotografen liebten sie. Wie sollten sie auch nicht?

Leila Santiago war eine zum Leben erweckte Fantasie. Die Frau, von der jeder Mann auf der Welt träumte und mit der jede Frau blind tauschen wollte.

Das Sinnbild für Perfektion. Verführerische Perfektion!

Eine Fülle goldener Locken rahmte das schmale Oval ihres Gesichts ein, das die Titelseiten internationaler Hochglanzmagazine zierte, seit sie dreizehn war. Doch das elfengleiche Wesen, das den Start ihrer kometenhaften Karriere begründet hatte, war von einer sinnlichen Frau abgelöst worden, die sich ihre zeitlose Schönheit diszipliniert und hart erarbeitete. Ihr gazellenhafter, goldgetönter Körper erweckte mehr Begehren als jede weibliche Üppigkeit.

Das scharlachrote Kleid, dessen Oberteil ihre hoch angesetzten Brüste zärtlich umschloss und in der warmen salzigen Meeresbrise verführerisch die Hüften umspielte, war ein Designertraum an sich, aber erst seine Trägerin erweckte ihn zum Leben. Rafael wusste, dass jede Kopfbewegung und jeder Schritt zu einer minutiös einstudierten Choreografie gehörte. Während er ihre langen makellosen Beine in den mörderischen Stilettos betrachtete, glaubte er sie bereits um seine nackten Hüften geschlungen zu spüren …

Das kurze Wochenende auf Aruba hatte ihm wieder eindringlich vor Augen geführt, wie schmerzlich er in diesem hektischen Jahr die körperliche Nähe zu seiner Frau vermisste. Als sie jetzt vor ihm stehen blieb, schien sie ganz kurz zu zögern, bevor sie ihre schmalen Hände auf seine Brust legte und den Kopf zum Begrüßungskuss neigte, wie es in den letzten Jahren bereits auf Hunderten von Paparazzi-Schnappschüssen festgehalten worden war. Jedes Mal ließ ihn die schmetterlingsgleiche, sanfte Berührung bis ins Innerste erbeben. War sie doch wie ein stummes Versprechen auf intime Zweisamkeit, lustvolle Stunden, die nur ihnen allein gehörten.

Mit begehrlichem Blick streichelte Rafael ihr wunderschönes Gesicht, während seine starken Hände besitzergreifend ihre schmale Taille umfassten. Leilas warme, weiche Lippen berührten flüchtig die seinen. Doch noch bevor er den kurzen Moment genießen und festhalten konnte, war er auch schon vorbei. Was ihm blieb, war ein verführerischer blumiger Duft, der seine Sinne reizte und mehr versprach.

Es musste dieses neue Parfum sein, das sie während der offiziellen Filmfestspiele hier in Cannes vorstellen und promoten würde. Zusammen mit dem Film gleichen Namens Bare Souls … Nackte Seelen.

Ein Synonym für Leila und ihn? Für ihre Beziehung? Was wussten sie wirklich voneinander? Weder sie noch Rafael waren auf der Sonnenseite des Lebens geboren worden. Doch so nah und hingegeben sie einander körperlich auch verbunden waren, hatte jeder von ihnen für sich die Dämonen der Vergangenheit weggeschlossen.

Rafael hatte seiner Frau nie erzählt, wie es war, als William Wolfes unerwünschter Bastard aufzuwachsen. Und Leila sprach nicht über den Horror einer fast tödlichen Magersucht in früher Teenagerzeit. Dennoch wusste er davon und fragte sich manchmal im Stillen, ob sie diese schlimme Phase ihres Lebens wirklich ganz überwunden hatte.

Als er jetzt in ihre leuchtenden haselnussbraunen Augen schaute, deren seelenvoller Blick schon vor dreizehn Jahren alle Herzen erobert hatte, vergaß er alles andere um sich herum. Sekundenlang fiel ihm sogar das Atmen schwer. Doch dann war der Moment vorbei, und aus dem verletzlichen Mädchen von damals war wieder die verführerische Sirene geworden, die sich ihrer Reize bewusst war und sie routiniert präsentierte, um ihr geneigtes Publikum nicht zu enttäuschen.

Selbst er war nicht immun dagegen. Sein Körper reagierte auf eine Art und Weise, die es ihm schwer machte, seine Frau nicht wie ein primitiver Urmensch einfach über die Schulter zu werfen und in seine Höhle zu verschleppen! Weit weg von den begehrlichen Blicken anderer Männer.

Mit einem letzten, an alle gerichteten Lächeln wandte sich Leila in einer graziösen Pirouette nun endgültig Rafael zu, der spontan eine Hand hob und seiner Frau sanft über die Wange strich, was der gaffenden Menge einen kollektiven Seufzer entlockte.

„Wie war Nathaniels Hochzeit?“, erkundigte sie sich. Ihre Stimme klang etwas angespannt.

„Alle haben nach dir gefragt“, entgegnete er immer noch verletzt, dass sie ihre Pläne nicht für ihn aufgegeben hatte. „Ich habe versucht dich anzurufen, um zu hören, ob du nicht doch …“

„Ich weiß“, unterbrach sie ihn rasch, „aber ich konnte wirklich nicht weg.“

Er nickte mit schmalen Lippen, weil er keine Lust hatte, sich in der Öffentlichkeit in unsinnige Diskussionen verstricken zu lassen. Doch ein seltsamer Unterton in Leilas Stimme ließ ihn überlegen, ob sie in ihrem Job vielleicht Probleme hatte, von denen er nichts wusste.

Wenn es seinen Brüdern und seiner Schwester sonderbar vorgekommen war, dass Leila sich nicht mal einen Tag für die Familienfeier hatte freinehmen können, so hatten sie es sich zumindest nicht anmerken lassen. Doch das bedeutete nicht viel, da sie einander ohnehin nicht besonders verbunden waren. Im Grunde genommen war jeder darauf bedacht, nur nicht zu viel vom anderen zu erwarten.

Und doch – oder vielleicht auch gerade deshalb – hatte das Zusammensein mit seinen Halbgeschwistern Rafaels Liebe zu Leila auf eine noch höhere, bedeutsamere Ebene erhoben. Zum körperlichen Begehren kam immer stärker ein tiefes, schwer zu definierendes Gefühl der Zugehörigkeit, das Rafael fast Angst machte. Zumal er nie mit seiner Frau darüber gesprochen hatte. Wann denn auch?

Aber jetzt hatten sie endlich Zeit füreinander!

„Unsere Suite ist bereit“, sagte er lächelnd.

Leila seufzte erleichtert auf. „Gut, ich brauche dringend einen kühlen, ruhigen Platz, um zu mir zu kommen.“

Mit einem Anflug von Besorgnis musterte Rafael ihr perfekt geschminktes Gesicht, das kein Anzeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung erkennen ließ. Dafür glaubte er erneut so etwas wie Unsicherheit in den wundervollen braunen Augen aufflackern zu sehen. War sie vielleicht krank gewesen? Einen Arm um ihre Taille gelegt, führte er seine Frau in ihr Luxushotel. Dabei war er dankbar für die Absperrungen, die verhinderten, dass allzu anhängliche Fans ihnen folgten.

Anders als Leila mied Rafael das Scheinwerferlicht so gut es eben ging. Dass er nur ungern im Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit stand, war auch eine Folge seiner traumatischen Jugend als ungewolltes, illegitimes Kind. Selbst wenn er längst nicht mehr Gegenstand von Klatsch und Häme war, hasste er es, von außen beurteilt zu werden. Seine Privatsphäre ging ihm über alles.

Zügig dirigierte er Leila an der eleganten Rezeption vorbei, froh dass niemand sie aufhielt, um nach einem Autogramm zu fragen oder ihnen bedeutungslosen Small Talk aufzudrängen. Auch im Lift waren sie allein. Trotzdem atmete Rafael erst richtig auf, als sie in ihrer Penthouse-Suite ankamen, von der aus sie einen fantastischen Blick auf das türkisblaue Mittelmeer hatten.

„Wie zauberhaft“, freute sich auch Leila, durchquerte rasch den großzügigen Wohnbereich und trat hinaus auf die Dachterrasse. Als sie hörte, dass Rafael ihr folgte, drehte sie sich zu ihm um. „Wann bist du angekommen?“

„Gestern, direkt aus London.“

„Hast du wenigstens genügend Zeit mit deiner Familie verbringen können?“ Im hellen Sonnenlicht wirkte ihr schmales Gesicht sehr blass und fast durchscheinend, wie Rafael besorgt feststellte.

„Ich bin am Tag der Hochzeit hingeflogen und am Morgen danach hierher“, erklärte er knapp und zuckte angesichts ihrer gerunzelten Brauen mit den Achseln. „Mein Terminplan ist genauso eng wie deiner.“

Leila nickte und wandte den Blick ab.

Obwohl Rafael extrem zurückhaltend war, was seine eigene Vergangenheit betraf, gefiel ihm die Verschwiegenheit seiner Frau gar nicht. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er einfach keinen Sinn darin gesehen, ihr von dem despotischen und grausamen Verhalten seines aristokratischen Erzeugers zu erzählen. Oder davon, wie sehr er emotional gelitten hatte, wenn er mitbekam, wie seine Halbgeschwister auch noch körperlich von dem tyrannischen Vater misshandelt wurden.

Einige Dinge blieben besser ungesagt und begraben.

Doch jetzt fragte er sich insgeheim frustriert, ob Leila ihm vielleicht etwas verheimlichte, was nicht in diese Kategorie fiel. Etwas, das möglicherweise auch ihre Beziehung betraf.

„Wir sollten unsere Kalender aufeinander abstimmen“, sagte er rau und schob die unliebsamen Erinnerungen erst einmal zur Seite. „Mein Pressesprecher hält es für ebenso wichtig wie medienwirksam, wenn wir uns gegenseitig bei den verschiedenen Promotion-Events während der Filmtage unterstützen.“

„Ja, natürlich. Ich hole rasch mein Handy.“

War da nicht wieder dieser Anflug von Unbehagen und Kummer in ihrer Stimme, oder täuschte er sich? Stumm sah Rafael zu, wie seine Frau ihre trendige Designertasche durchsuchte. Er sah, wie ihre Hand dabei zitterte. Unbestreitbar war sie eine der schönsten und am meisten beneideten Frauen auf der Welt, doch ihr Leben drohte immer wieder aus den Fugen zu geraten.

Leila Santiago war eine Marke, ein Label. Nach einem vorübergehenden Einbruch war sie jetzt auf dem Zenit einer unglaublichen Karriere angelangt, die ihren eigenen Regeln folgte und vollen Einsatz erforderte. Und als erfolgreiche Geschäftsfrau war sie millionenschwer.

Er selbst hatte im letzten Jahr den Status eines Millionärs gegen den eines Milliardärs eingetauscht. Ganz oben mitzuspielen bedeutete gerade in der schnelllebigen Computertechnologie-Branche der Konkurrenz stets eine Nasenlänge voraus zu sein. Sein rasiermesserscharfer Verstand und ein gewisser Killerinstinkt hatten ihn an die Weltspitze gebracht. Diesen Platz zu behalten, verlangte enorme Anstrengungen.

Doch jetzt fragte er sich, ob er dabei etwas übersehen hatte.

Leila hatte sich verändert … ohne dass er es in Worte fassen konnte. Aber wann? Fühlte er sich in seiner Ehe zu sicher und komfortabel, als dass ihm der Wandel hätte auffallen können? Wo war die lebenssprühende Zauberfee geblieben, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte?

Sie schien selbstsicherer zu sein als früher. Gleichzeitig wirkte sie verletzlich und auf der Hut. Aber wovor? Vor ihm? War ihre Ehe überhaupt noch so stabil, wie er bislang gedacht hatte?

Das waren nur einige der schwerwiegenden Fragen, auf die Rafael in dieser Woche Antworten bekommen wollte. Gleichzeitig drängte es ihn, Leila zu versichern, dass sich zwischen ihnen nichts geändert hatte und auch nie etwas ändern würde. Doch seine Gefühle in Worten auszudrücken, fiel ihm schwer. Das hatte er nie gelernt. Stattdessen hätte er seine Frau am liebsten mit kostbaren Geschenken überhäuft, die ihr zeigen sollten, wie viel sie ihm bedeutete.

Wie zum Beispiel Juwelen oder sein neuestes Baby, ein stylisches, ultraflaches iPhone. Gedankenverloren strich Rafael mit dem Daumen über sein neues Handy, dessen Präsentation gleichermaßen die komplette Elektronikbranche und unzählige potenzielle Käufer entgegenfieberten.

Hier in Cannes konnte es als technologisches Wunderwerk in dem Action-Thriller Bastion 9 bewundert werden, der heute Abend Weltpremiere hatte. Außerdem würden etliche VIPs eines der Objekte ihrer Begierde in den exklusiven Präsentpaketen finden, die anlässlich dieses Mega-Events verteilt wurden. In Silber und Schwarz gehalten, wie die unzähligen Pendants, die ab morgen den Weltmarkt überschwemmen würden, war das Smartphone in Rafaels Hand zusätzlich mit einer purpurnen Speziallegierung beschichtet – Leilas Farbe.

„Ich habe es gefunden!“, rief Leila triumphierend und hielt ihr altes Handy hoch.

Lächelnd streckte Rafael die Hand aus. „Ich brauche nur eine Sekunde, um den Chip auszutauschen.“

Seine Frau machte große Augen. „Was hast du da? Etwa das Zauberteil, über das alle sprechen? Ich wusste gar nicht, dass es auch in Farbe produziert wird.“

„Wird es auch nicht, zumindest nicht in den nächsten Monaten. Und diese Variante wird ohnehin nie auf den Markt kommen.“

Leila sah auf das schillernde Handy in Rafaels Hand, stutzte und sah noch einmal genauer hin. Dann legte sie eine Hand auf den Arm ihres Mannes. „Ist dieser spezielle Schriftzug auch von dir?“, fragte sie weich.

„Ja, das ist er“, murmelte er rau und übergab ihr sein Geschenk.

„Meine einzige Liebe“, übersetzte sie mit Tränen in den Augen den kursiv gedruckten, portugiesischen Schriftzug aus schwarzen Linien und Wirbeln, der sich dem Betrachter erst auf den zweiten Blick erschloss. „Wie außergewöhnlich und einfach … perfekt.“

Genau dieser Gedanke hatte ihn auch bewegt, als er Leila vor fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war es ihr gerade gelungen, an die steile Model-Karriere ihrer frühen Mädchenjahre anzuknüpfen, obwohl sie ihm zu dem Zeitpunkt eher als schmerzlich dünnes, zerbrechliches Elfenwesen mit seelenvollen Rehaugen erschienen war. Zu der Zeit hatte sie noch vollkommen unter der Knute ihrer stets präsenten Mutter gestanden, mit der Rafael gleich bei ihrer ersten Begegnung hart aneinandergeriet.

Er selbst arbeitete damals noch in der Entwicklungsabteilung einer großen Softwarefirma in London. Ein Nobody, der seine unrühmliche Herkunft als William Wolfes Bastard zu vertuschen versuchte, um den ohnehin angeschlagenen Ruf seiner Mutter zu schützen.

Das heißeste Top-Model der Saison, Leila Santiago, war engagiert worden, um einen MP3-Player der neuen Generation zu promoten, den er entworfen und designt hatte. Rafael hielt sich am Set bewusst im Hintergrund, ähnlich wie er als Kind seinen Halbgeschwistern aus der Ferne beim Spielen zugeschaut hatte. Und je länger er Leila beobachtete, desto mehr erschien sie ihm wie eine Marionette, deren Fäden ihre dominante Mutter fest in Händen hielt.

Dann begegneten sich unerwartet ihre Blicke. Für einen atemlosen Moment sah er die Qual und Unsicherheit hinter der perfekten Fassade und spürte ihre Einsamkeit, die in seinem Herzen ein Echo fand. Dieser eine Blick wühlte etwas in ihm auf, das tief in seinem Innersten verborgen lag.

Nackte Seelen …

Sie, das verlorene Geschöpf, das sich nach einem Retter sehnte, er, der unerwünschte Sprössling, auf der Suche nach einer zweiten Hälfte, um sich ganz zu fühlen … wertvoll.

Nach dem Foto-Shooting sollte es zu einem Umtrunk in einen Pub gehen. Rafael freute sich darauf, Leila bei dieser Gelegenheit näher kennenzulernen. Doch ihre Mutter machte schnell klar, dass ihrer Tochter dafür keine Zeit blieb, da sie noch ihr tägliches Work-out zu absolvieren hätte. Obwohl Leila in Rafaels Augen längst mit ihrer Kraft am Ende war, wagte sie keinen Einspruch. Als wäre sie es gewohnt, anstandslos dem Diktat ihrer Mutter zu folgen.

Das reizte Rafaels stets wachen Widerstandsgeist. Dazu gesellten sich eine ordentliche Portion männlicher Stolz und brasilianische Arroganz.

„Möchten Sie mir bei einem Drink Gesellschaft leisten?“, fragte er Leila eindringlich, sobald sie eine Sekunde unbeobachtet waren.

Sie lächelte nervös. „Meine Mutter hat bereits einen Trainer engagiert, der mich heute noch …“

„Das habe ich mitbekommen“, unterbrach Rafael sie und maß die plump wirkende, resolute Dame mit spöttischem Blick. „Warum lassen wir sie nicht einfach das Work-out absolvieren und nehmen uns den Abend frei?“, schlug er vor.

„Wir?“

„Warum nicht?“

„Aber ich kenne Sie doch nicht einmal“, protestierte Leila halbherzig.

Daraufhin stellte er sich vor und rückte sich selbstbewusst in ein strahlenderes Licht als es seinem derzeitigen Job in der Computerfirma entsprach. Aber außer ihm wusste ja auch noch niemand von seinen Visionen, geheimen Tests und neuen Verfahren, die ihn nur wenige Jahre später an die Weltspitze in der IT-Branche katapultieren sollten.

Und er berührte Leila … bewusst, aber ganz sanft und wie zufällig. Die Wirkung überraschte, ja schockierte ihn ebenso wie sie. Denn selbst der flüchtige Kontakt mit ihrer samtenen Haut warf ihn förmlich um. Die sexuelle Anziehung war so stark, dass sein Blut wie glühende Lava durch die Adern schoss, doch da war noch mehr …

„Komm mit mir, Leila …“, drängte er sie.

Nach einem ängstlichen Blick in Richtung ihrer Mutter gab sie sich einen sichtbaren Ruck und folgte ihm. Eine wundervolle Nacht lang waren sie zwei junge Liebende – Romeo und Julia –, für die nichts anderes zählte als der Gleichklang ihrer Herzen.

In dieser Nacht erfuhr Rafael, dass Leila vor einem Jahr auf offener Straße zusammengebrochen war, was einen monatelangen Aufenthalt in einer Spezialklinik für Anorexie nach sich gezogen hatte. Danach übernahm ihre energische Mutter die Regie über ihr Leben. Ihr Prinzip lautete: hundertprozentige Kontrolle, und das vierundzwanzig Stunden am Tag. Dem versuchte Leila immer wieder zu entkommen, fühlte sich aber zu schwach.

Und sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen, sie war ebenso einsam wie er.

Dieses spontane erste Date war der Beginn einer stürmischen Wirbelwindromanze, die durch alle Hochglanzillustrierten geisterte und in Leilas Mutter eine tiefe Abneigung gegen den unverschämten Kerl entfachte, der ihr die bisher so fügsame Tochter entriss.

Rafael kümmerte all das herzlich wenig. Er wusste nur, dass er Leila wollte. Dass er sie haben musste! Und dass ihm eine Affäre mit ihr niemals reichen würde, egal, wie stürmisch und voller Leidenschaft sie auch sein mochte. Er wollte sie für immer an seiner Seite haben, als Ehefrau und Mutter seiner zukünftigen Kinder.

Darum hielt er bereits zwei Monate später um Leilas Hand an. Sie akzeptierte seinen Antrag ohne zu zögern, machte ihrem Liebsten aber im gleichen Atemzug klar, dass sie sich für eine Mutterschaft noch nicht bereit fühlte. Da er selbst gerade erst begonnen hatte, die untersten Sprossen seiner angestrebten Karriereleiter emporzuklimmen, sah Rafael darin kein Problem.

Doch aus einem Jahr Wartezeit waren zwei und dann drei und vier geworden. Im letzten Jahr hatten sie sich seltener gesehen als je zuvor. Damit sollte jetzt Schluss sein!

Nachdem er die SIM-Karte in das neue Handy gelegte hatte, testete er es kurz. „Ich habe noch ein paar neue Apps hinzugefügt, die du dir aber ansehen und nach eigenem Gusto installieren kannst oder auch nicht.“

Als sich ihre Finger berührten, schauderte Leila unwillkürlich und Rafael schluckte trocken. Die unglaubliche Spannung zwischen ihnen war immer noch so stark wie am ersten Tag. „Es sieht schrecklich kompliziert aus“, murmelte Leila unsicher. „Du wirst mir eine Einweisung geben müssen.“

„Das können wir später machen.“ Das Einzige, woran Rafael momentan denken konnte, war, wann er endlich mit seiner Frau im Bett liegen würde, um ihre Wiedervereinigung gebührend zu feiern. Abrupt wandte er sich um und ging zurück in die Suite, wo ein Tablett mit Getränken stand.

„Was für einen Drink darf ich dir kredenzen?“, fragte er launig, während er sich einen Eiskaffee einschenkte und einen Schuss Cachaça hinzufügte.

„Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone. Ich habe am Flughafen schon einen Orangensaft getrunken.“

Der fast entschuldigende Tonfall ließ Rafael eine Grimasse schneiden. Nur selten akzeptierte Leila einen Drink, der aus etwas anderem bestand als Wasser mit Schuss, wobei Letzterer unter einer Kalorie liegen musste! Wie oft er sie eine komplette Mahlzeit hatte essen sehen, konnte er an einer Hand abzählen. Und einen Schwips hatte er bei ihr noch nie erlebt.

Was Alkohol betraf, war Rafael jedoch selbst sehr zurückhaltend, da er nicht vorhatte, in die Fußstapfen seines hassenswerten Erzeugers zu treten.

Als er seiner Frau jetzt die gewünschte Erfrischung reichen wollte, sah er gerade noch, wie ihre wehenden Goldlocken im Schlafzimmer verschwanden. Im nächsten Moment klappte auch schon die angrenzende Badezimmertür. Rafael stand da wie festgefroren, während gedämpfte Würgelaute an sein Ohr drangen.

Wäre es um jemand anderen gegangen, hätte er spontan auf einen Magen- und Darminfekt getippt, aber angesichts Leilas Vorgeschichte fragte er sich natürlich, ob hier vielleicht ein Rückfall in die Magersucht vorlag, von dem er bisher nichts mitbekommen hatte.

Um Leila und sich selbst eine kleine Atempause zu gönnen, trug Rafael ihr Gepäck von der Eingangsdiele ins Schlafzimmer. Dann lauschte er kurz. Da nicht das leiseste Geräusch aus dem Bad drang, drückte er in einem Anflug von Panik die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Leila stand mit dem Rücken zu ihm über das Waschbecken gebeugt und spülte sich den Mund aus. Als sie sich aufrichtete, sah er ihr leichenblasses Gesicht im Spiegel.

„Was ist los?“, fragte er alarmiert, erntete aber nur einen flackernden Blick und ein schwaches Kopfschütteln.

„Ich … ich bin krank. Ein hartnäckiger Virus, der einfach nicht verschwinden will.“

„Warst du damit bei einem Arzt?“

„Ja, beim letzten Foto-Shooting gehörte einer zum Team. Er hat mir ein Antibiotikum verabreicht, es aber leider versäumt, mir zu sagen, dass es im Falle einer Virusinfektion gar nichts nützt.“ Sie lächelte flüchtig. „Aber jetzt geht es schon wieder.“

Er hätte ihr gern geglaubt, tat sich aber schwer damit. In der langen Zeit ihrer Trennung hatte Leila an Gewicht verloren. Außerdem wirkte sie ziemlich nervös und seltsam abwesend.

„Hast du in letzter Zeit versucht, schnell abzunehmen?“

Sie fuhr herum. Unter seinem forschenden Blick röteten sich ihre blassen Wangen. „Nein, habe ich nicht!“, stieß sie wütend hervor. „Ich leide weder erneut an Magersucht noch an Bulimie, sondern an einem hartnäckigen Virus! Und wenn du glaubst, dass ich dich anlüge, dann frag doch den Arzt oder meine Agentin!“

Verdammt! Nie hätte er damit gerechnet, dass sie so wütend werden könnte. Aber wahrscheinlich hatte er das Donnerwetter verdient.

„Tut mir leid, dass ich für einen Moment befürchtet habe, du hättest einen Rückfall erlitten“, sagte er ruhig und streckte die Hand aus, doch Leila wich zur Seite und flüchtete sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer. „Ich mache mir einfach Sorgen um dich“, rief er ihr nach.

Abrupt blieb sie stehen, ihre Schultern sackten nach vorn. „Ich weiß …“ Mit einem tiefen Seufzer drehte Leila sich zu ihrem Mann um und strich sich nervös das honigblonde Haar aus der Stirn. „Ich mache mir auch um dich Sorgen. Aber dieses Jahr ist einfach …“

Diesmal akzeptierte Rafael kein Ausweichen, sondern zog Leila fest an sich und strich ihr sanft mit der Fingerspitze über die gefurchten Brauen. „Ab sofort wird alles besser.“ Es hörte sich regelrecht beschwörend an. Und als Leila zaghaft nickte, küsste er sie liebevoll auf die Nasenspitze.

Ihr Erröten zeigte ihm, dass die kleine Zärtlichkeit nicht ohne Wirkung auf sie blieb. Das bestärkte ihn in seinem Plan, keinen Tag länger darauf zu warten, ihren gemeinsamen Traum voranzutreiben. Ein Kind würde ihrer Ehe noch mehr Stabilität und Inhalt verleihen. Ein Kind der Liebe …

„Darf ich erfahren, was dieses freche Grinsen zu bedeuten hat?“, fragte Leila in gewollt munterem Ton.

Wenn möglich wurde Rafaels Lächeln noch breiter, während sein verlangender Blick über Leilas tiefes Dekolleté zum noch flachen Bauch wanderte. „Ich überlege mir gerade, wie hinreißend du aussehen wirst, wenn du erst schwanger bist.“

2. KAPITEL

Allein die Vorstellung, schwanger zu sein, sandte einen eisigen Schauer über Leilas Rücken. Noch einmal würde sie es nicht durchstehen.

Trotzdem sehnte sie sich ebenso sehr wie Rafael nach einem eigenen Kind. Nach einem Baby, das sie an ihre Brust drücken und lieben konnte. Ein Unterpfand ihrer großen Liebe zueinander.

Sie hatte es versucht und versagt.

Mitte letzten Sommers hatte Leila festgestellt, dass sie schwanger war. Anfang September, in der zwölften Woche, verlor sie ihr Baby und mit ihm eine Menge Blut. Dann hatte sie Gewicht und sich selbst über dieser Tragödie verloren.

Die eindringlichen Warnungen ihres Arztes hallten immer noch in ihrem Kopf. Obwohl es ihr inzwischen besser ging, bestand auch weiterhin eine erhöhte Gefahr von Fehlgeburten. Schuld daran waren ihre überwundene Magersucht und die dadurch verursachten körperlichen Schäden.

Und so gern sie Rafael die ersehnte Familie geschenkt hätte, so groß war ihre Furcht vor einem erneuten Versagen und den seelischen Qualen, die der Verlust eines Babys mit sich brachte. Inzwischen hatte sich ihre Angst zu einer regelrechten Panik gesteigert.

Was ihren Zustand noch weiter verschlimmerte, war das grausame Schicksal einer ihrer Modelkolleginnen, die ebenfalls an Magersucht gelitten hatte und zusammen mit ihrem Baby während der Geburt gestorben war.

Allerdings hatte sich ihre Freundin, sobald die Schwangerschaft anfing, ihren Körper zu verändern, auch in ihre alte, selbstzerstörerische Anorexie zurückfallen lassen. Hilflos hatte Leila mit ansehen müssen, wie sie vergeblich versucht hatte, die grausame Krankheit erneut zu überwinden. Am Ende gewann die Sucht und zerstörte zwei Leben.

Danach begannen Leilas wirkliche Albträume. Inzwischen endeten alle Fantasien von einem eigenen Kind und einer erneuten Schwangerschaft am Sterbebett ihrer Freundin. Ihre Hoffnung und das ohnehin geringe Selbstvertrauen, eine weitere mögliche Fehlgeburt zu verkraften, waren inzwischen völlig geschwunden.

Dass in ihr gleichzeitig das wilde Verlangen brannte, ihrem Mann die ersehnten Nachkommen zu schenken, machte ihr Leben zur Hölle. Der schmerzliche Verlust ihres Babys hatte sie für immer verändert. Was würde die furchtbare Nachricht in Rafael auslösen, der sich so verzweifelt nach einer eigenen Familie sehnte?

Das drückende Schuldgefühl, ihm die Fehlgeburt und den anschließenden seelischen Ausnahmezustand verheimlicht zu haben, überwältigte sie fast. Wie würde Rafael reagieren, wenn er erfuhr, was sie vor ihm verheimlicht hatte?

Zur Zeit der Fehlgeburt war er auf einer Art Exkursion in Brasilien gewesen, und Leila hätte es niemals übers Herz gebracht, ihm eine derartige Nachricht per Handy zu übermitteln. Während ihres kurzen Treffens nach seiner Rückkehr hatte sie es versucht, aber nicht die Worte gefunden, mit denen sie ihm die Katastrophe hätte schildern können. Und dann war der Moment auch schon vorüber gewesen.

Irgendwann lähmte das traumatische Erlebnis sie derart, dass selbst Leilas innere Stimme verstummte. Doch jetzt stellte Rafael Forderungen, die sie nicht erfüllen konnte. Ihn noch weiter im Unklaren über das Geschehene zu lassen, war undenkbar. Aber ihm so einfach zu gestehen …

Mit einem Ruck machte sie sich von ihm frei. Ihr flackernder Blick erinnerte ihn an ein Tier in der Falle, das verzweifelt Ausschau nach einem Fluchtweg hielt.

„Was ist los, Querida?“

Sag es ihm! Erzähl ihm einfach alles, was passiert ist …

Doch sie brachte es nicht über sich und nagte nur verzweifelt auf ihrer Unterlippe. Sie konnte es nicht tun, nicht vor der Premiere des Films, der so wichtig für Rafael war. Nicht, wenn die Wahrheit einen Keil zwischen sie treiben oder sie sogar ganz entzweien könnte.

„Ich muss sichergehen, dass ich auch alles hier habe, was ich in den nächsten Tagen brauche“, murmelte sie und nestelte an ihrer eleganten Reisetasche.

„Dann lass ich dich erst in Ruhe auspacken und erledige inzwischen ein paar Telefonate“, gab Rafael nach. „Die Premiere beginnt um acht, also in … zwei Stunden“, erinnerte er seine Frau nach einem schnellen Blick auf die Uhr.

„Dann habe ich ja noch genügend Zeit …“, erwiderte sie tonlos.

Zeit für was? fragte Leila sich, als Rafael gegangen war. Mir einen neuen Plan zurechtzulegen, wie ich ihm das Unsagbare sagen kann?

Dabei hatte sie nie vorgehabt, die Schwangerschaft und Fehlgeburt vor ihm geheim zu halten. Doch irgendwann war der Point of no Return erreicht, und ihr Kummer und ihre Ängste hatten sich verselbstständigt. Um sich abzulenken und zumindest ein wenig stabil zu bleiben, führte Leila nach ihrer Fehlgeburt ein Ritual ein. Sie gewöhnte sich an, vor jedem Model-Termin ihre Garderobe sehr sorgfältig zu sichten und jede einzelne Einstellung minutiös mit dem Fotografen abzusprechen. Das gaukelte ihr wenigstens in beruflicher Hinsicht ein gewisses Maß an Kontrolle vor.

Inzwischen war sie so privilegiert, nur noch mit einer Handvoll der weltbesten Fotografen arbeiten zu können, die ihren Perfektionswahn akzeptierten und denen es mit viel Einfühlungsvermögen gelang, das Beste aus ihr hervorzuholen.

Daneben gab es auch eine Reihe Modefotografen, die das Supermodel Leila Santiago für eine kapriziöse Diva und einen zickigen Kontrollfreak hielten.

Obwohl sie dieses Fehlurteil traf, musste Leila ihnen das Urteil teilweise zugestehen, wenn sie sich selbst mit kritischem Abstand betrachtete.

Um sich nicht in sinnlosen Grübeleien über all diese Dinge zu verlieren, widmete sie sich in der nächsten Stunde konzentriert ihrem neuen Ablenkungsmanöver und stellte aus der Garderobe, die ihre Agentur in die Suite geliefert hatte, verschiedene Outfits für die nächsten Tage zusammen.

Es war nicht einfach, sich dauerhaft an der Spitze zu halten, besonders in der schnelllebigen Welt der Mode. Ständig wuchsen neue spektakuläre Schönheiten auf der ganzen Welt heran, die nur darauf lauerten, sie von ihrem Thron zu stoßen. Der größte Feind eines jeden Models war die Zeit. Für Frauen, die sich der magischen Grenze von dreißig näherten, tickte die Zeitbombe unerbittlich und zunehmend lauter.

Gerade deshalb war es Leila wichtig, sich voll und ganz auf ihre Karriere zu konzentrieren. Allein der Erlös aus ihrer aktuellen Fotokampagne würde ihrer Klinik für unter Anorexie und Bulimie leidende Mädchen zu einem enormen Schub nach vorn verhelfen. Bisher war ihr Projekt hauptsächlich durch Spenden und Gottvertrauen finanziert worden. Anfangs hatte Leila ihre eigenen Fonds aufgelöst, um das Konzept zu unterstützen, wusste aber, dass die Kapitaldecke auf Dauer nicht ausreichen würde. Sie musste unbedingt weitere Quellen auftun.

Darum war es auch unerlässlich, die einmalige Chance des Worldwide Networking hier in Cannes zu nutzen. Doch so sehr ihr die Klinik zur Herzensangelegenheit geworden war, konnte sie nicht aufhören, an Rafael zu denken.

Einerseits fieberte sie dem Moment entgegen, wenn sie einander endlich in den Armen liegen und sich lieben würden, andererseits schwebten seine letzten Worte immer noch wie das sprichwörtliche Damoklesschwert über ihr: „Ich überlege mir gerade, wie hinreißend du aussehen wirst, wenn du erst schwanger bist.“

Um sich abzulenken, ging Leila zum Schrank, in dem sie ihre persönliche Garderobe unterbringen wollte, und öffnete die Türen. Beim Anblick von Rafaels säuberlich aufgereihter Kleidung musste sie plötzlich gegen aufsteigende Tränen anblinzeln. Viel zu lange war es her, dass ihre Sachen direkt neben seinen gehangen hatten. Oder dass sie beide ein Bett geteilt hatten …

Um ihre zarten Lippen spielte ein wehmütiges Lächeln, während sie fast zaghaft über den Ärmel eines weichen schwarzen Kaschmirpullis strich. Er hing neben zwei eleganten Maßanzügen und mehreren Designerhemden. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Rafael sich gerade mal einen Anzug von der Stange leisten können.

„Na, findet meine Kleiderwahl deine Billigung?“, fragte eine dunkle Stimme in ihrem Rücken.

Immer noch lächelnd drehte sie sich um und fühlte, wie ihr Herz vor Liebe überfloss. Und vor Stolz auf den Mann, der mit nichts gestartet war und sich aus eigener Kraft zu einem der reichsten Geschäftsmänner der Welt hochgearbeitet hatte.

„Oh, ja, ich bin absolut überzeugt von der überragenden Qualität des Materials, dem eleganten Design und dem raffinierten Schnitt deiner Garderobe“, neckte sie ihn, „trotzdem vergesse ich niemals, dass du mein Herz vor vielen Jahren in zerschlissenen Jeans und einem verwaschenen T-Shirt gewonnen hast, das geradezu unverschämt über deiner breiten Brust spannte und …“

Weiter kam sie nicht. Mit einem dumpfen Laut, der einem Donnergrollen glich, riss Rafael sie an sich. „Dieses verdammte letzte Jahr hat mich fast den Verstand gekostet!“, stöhnte er gegen ihren Hals.

„Mich auch“, flüsterte Leila erstickt, und wieder drohte ihr Schuldgefühl sie zu überwältigen, angesichts der Seligkeit, die sie in seinen Armen empfand. Er war so ein fantastischer, umwerfend attraktiver Mann. So liebevoll und fürsorglich. So gut.

Außerdem war er stolz und gradlinig. Ein Mann, der nicht schnell Vertrauen zu anderen Menschen fasste. Und sie hatte sein Vertrauen in sie als seine Geliebte und Ehefrau missbraucht. Ob er ihr das je verzeihen würde?

„Warum dieser traurige Blick, Querida?“

Leila holte tief Luft, halb und halb entschlossen, ihrem Gatten alles, was sie schon viel zu lange belastete, ungefiltert anzuvertrauen und seine berechtigte Wut und stumme Verachtung während der bevorstehenden Premiere zu ertragen. Doch das würde den einen Abend seiner Karriere ruinieren, auf den er jahrelang hart hingearbeitet hatte.

Jetzt wartete sie schon so lange darauf, ihr Gewissen zu entlasten, da machte ein Tag mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Und bis dahin wollte sie mit allen Sinnen das Privileg genießen, nichts anderes als Rafaels Ehefrau und Geliebte zu sein.

„Ich habe nur gerade daran gedacht, wie schön es wäre, diese Woche nicht so viele offizielle Termine wahrnehmen zu müssen“, zog sie sich geschickt aus der Affäre.

Lächelnd führte er ihre Hand an die Lippen. „Ein Wort von dir, Querida! Wir packen die Koffer und fliegen irgendwohin, wo wir ganz allein sind.“

„So verlockend das auch klingt, du weißt, dass wir das nicht tun dürfen“, trat Leila gleich wieder den Rückzug an.

Rafael seufzte und fuhr sich mit den Händen durch das nachtschwarze Haar. „Wann sind unsere Berufe eigentlich wichtiger geworden als unsere Ehe?“, fragte er in gespielter Verzweiflung, aber mit einem ernsten Unterton.

„Das waren sie nie“, protestierte seine Frau spontan.

„Nein? Im letzten Jahr war uns kaum mehr als ein kurzes gemeinsames Wochenende vergönnt, wenn ich mich recht erinnere.“

„Ich weiß, aber du musst zugeben, dass es auch eine besonders heiße berufliche Phase für jeden von uns beiden war.“ Obwohl das stimmte, belastete Leila das Wissen, dass sie nach ihrer Fehlgeburt jedes Alleinsein mit ihrem Mann vermieden hatte, immer mehr.

Als sie Rafaels forschenden Blick auf sich fühlte, errötete sie unwillkürlich.

„Ich weiß nicht“, murmelte er nachdenklich, „irgendwie habe ich das Gefühl, dich bedrückt noch etwas ganz anderes als die wenige Zeit, die wir in den letzten Monaten miteinander verbracht haben.“

Noch während er sprach, kehrte Leila ihm den Rücken zu – aus Angst, sich doch noch zu verraten. „Die letzten sechs Monate waren für mich wie eine einzige Achterbahnfahrt“, erklärte sie in leichtem Ton. „Ich bin quasi nicht eine Sekunde zur Ruhe gekommen, und ein derartiges Leben fordert natürlich seinen Tribut.“

Während sie sprach, hantierte sie mit diversen Gepäckstücken herum, um ihrem Mann nicht in die Augen schauen zu müssen.

„Da es mir selbst kaum anders ergangen ist, kann ich nur wenig dagegen einwenden“, war alles, was Rafael auf ihre dünne Ausrede hin erwiderte.

Frisch geduscht und mit sorgfältig aufgetragenem Make-up schlüpfte Leila in den schillernd blauen Designertraum, den sie für den heutigen Premierenabend ausgewählt hatte. Der lange, schmale Rock war seitlich geschlitzt, um das Gehen zu erleichtern. Die mit winzigen Pailletten bestickte Korsage umschloss eng ihre schmale Wespentaille und öffnete sich nach oben wie eine exotische Blüte im tropischen Regen, was Leilas zartes Dekolleté hinreißend zur Geltung brachte.

Blaue Diamant-Clips strahlten an ihren Ohren und bildeten das perfekte Pendant zu dem aufsehenerregenden Diamanten, den sie an einer schlichten goldenen Kette um den Hals trug. Gedankenverloren schob Leila einen opulenten, ebenfalls mit Diamanten besetzten Ring auf den Mittelfinger ihrer rechten Hand. Lauter großzügige Geschenke ihres Gatten, mit denen er sie zum Geburtstag oder an anderen Festtagen überrascht hatte.

An der linken Hand trug sie wie immer ihren schlichten Trauring, dem sich ein ebenso zierlicher Goldreif mit einem hübschen Solitär, flankiert von weiteren winzigen Brillanten, anschloss. Dieses Hochzeits-Ensemble war ihr liebster Schmuck.

Seit sie besser situiert waren, versuchte Rafael immer wieder, die Stücke durch kostbarere Juwelen zu ersetzen, doch Leila weigerte sich standhaft. Den ersten Ring hatte er ihr angesteckt, nachdem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte, den zweiten, als sie vor dem Altar standen und das Ehegelübde ablegten.

Da wusste sie noch nicht einmal, was im Inneren eingraviert war. Ihre Mutter mokierte sich über das billige Set und die alberne Inschrift, nachdem Leila ihr das kostbare Unterpfand ihrer frischgebackenen Ehe widerwillig zur Inspektion überließ.

Leila hingegen waren Tränen der Liebe und Rührung in die Augen gestiegen, als sie die Worte gelesen hatte: Meu Coração – mein Herz.

Rafael war ein leidenschaftlicher Mann, aber kein Meister großer Worte, und gerade deshalb bedeutete ihr diese versteckte Geste so viel … bis heute. Denn seine mündlichen Liebeserklärungen konnte sie an einer Hand abzählen. Besonders seit die Anforderungen ihrer beider Karrieren den romantischen Traum einer eigenen kleinen Familie immer wieder in den Hintergrund drängten. Der berufliche Erfolg brachte stets neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich, die sie nur schwer ablehnen konnten, wenn sie an der Spitze bleiben wollten.

Genau die hatte Rafael in der hart umkämpften, extrem dynamischen IT-Branche im letzten Jahr definitiv erreicht. Seitdem war er irgendwie verändert. Leila nahm jetzt eine gewisse Kühle und Rücksichtslosigkeit an ihm wahr, die er zuvor nie gezeigt hatte. Das befremdete und verunsicherte sie. Würden sie je wieder an dem Punkt anknüpfen können, an dem ihre Beziehung so hoffnungsvoll begonnen hatte? Verfolgten sie immer noch die gleichen Ziele? Und würde er sie immer noch lieben, wenn sie ihm gestand, was im letzten Herbst geschehen war?

Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, fuhr Leila nervös herum. Liebe, Schmerz und ein sengendes Schuldgefühl fochten einen heftigen Kampf in ihrem Inneren aus, während sie sich bemühte, dem forschenden Blick ihres Gatten standzuhalten.

Rafael lehnte lässig im Türrahmen. In dem maßgeschneiderten Smoking, der seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und langen Beine perfekt zur Geltung brachte, wirkte er selbst wie ein Model. Sein markantes Gesicht hätte jeder antiken Statue zur Ehre gereicht, wirkte aber durch die dunklen, lebhaften Augen und das schwarze volle Haar viel lebendiger und anziehender. Ganz zu schweigen von der herausfordernd sexuellen Ausstrahlung und dem Charisma eines Erfolgsmenschen, der es gewohnt war zu bekommen, was er verlangte.

Leila schauderte kaum merklich und senkte den Blick.

Schon als sie vorhin aus der Dusche gekommen war, hatte Rafael nackt, bis auf ein Handtuch um die Hüften, im Türrahmen gestanden und sie intensiv beobachtet. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er sich zu ihr unter den belebenden Schauer gesellen würde, wie er es schon so oft getan hatte.

Wildes Verlangen überfiel sie wie eine heiße Woge beim Anblick des durchtrainierten, bronzefarbenen Körpers und seiner offensichtlichen sexuellen Erregung.

Doch anstatt sie in seine starken Arme zu schließen, war ihr Gatte nur zur Seite getreten, um sie an sich vorbeizulassen. Und als er selbst später splitterfasernackt vom Duschen zurück ins Schlafzimmer kam, schien er mit seinen Gedanken weit weg zu sein und ignorierte sie komplett.

Jetzt hingegen war sein Blick keineswegs abwesend. Im Gegenteil! Es war eindeutig Bewunderung, die sie in den dunklen Augen las, und noch etwas anderes, das kurz aufblitzte und gleich wieder verschwand. Seine Stimme klang allerdings ziemlich ausdruckslos, als er sagte: „In spätestens fünf Minuten müssen wir los.“

„Ich bin fertig, bis auf meine Schuhe und diese störrische Halskette.“ Mit gezwungenem Lächeln hielt sie ihm das Schmuckstück entgegen. „Ich komme einfach nicht damit zurecht.“

Einen Sekundenbruchteil schien er zu zögern, dann stieß Rafael sich vom Türrahmen ab, nahm seiner Frau die Kette aus der Hand und inspizierte sie kritisch mit zusammengekniffenen Brauen, was Leila ein echtes Lächeln entlockte. Sie sah förmlich, wie er seinen Verstand aktivierte, um einen neuen, verbesserten Verschluss zu entwerfen.

Als er ihr die Kette umlegte und sie das kühle Gewicht des Diamanten zwischen ihren warmen Brüsten spürte, erschauerte Leila. Anders als sie, kam Rafael mit dem Schloss offenbar problemlos zurecht. Wenn er ihr anderes Problem doch auch nur so leicht und lässig lösen könnte …

Rafael legte die Hände auf die zart gebräunten Schultern seiner Frau und drehte sie sanft um. „Du siehst atemberaubend aus“, sagte er rau.

„Danke …“ Errötend hielt Leila nach ihren hochhackigen Sandaletten Ausschau, um es nicht nach einer Flucht aussehen zu lassen, wenn sie sich von ihm freimachte. „Das Kompliment kann ich auf jeden Fall zurückgeben.“

Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Okay, dann lass uns los.“ Ungeduld und eine Spur Verärgerung lagen in seiner Stimme. Mit langen Schritten durchquerte er die großzügige Suite und machte erst wieder vor dem Privatlift halt.

So schnell sie es auf ihren High Heels konnte, folgte sie ihm. Die Atmosphäre zwischen ihnen schien plötzlich elektrisch aufgeladen zu sein. Zur fast greifbaren sexuellen Spannung hatte sich eine Nervosität und Gereiztheit gesellt, die sie regelrecht antrieb. Denn eines war klar: Wenn sie nicht ganz schnell hier rauskamen, würden sie im Bett enden, vereint im leidenschaftlichen Liebesspiel.

Oder im leidenschaftlichen Kampf, was wahrscheinlicher war. Denn lange konnte sie ihr schreckliches Geheimnis nicht mehr für sich behalten.

„Ich hoffe, der Andrang an Schaulustigen ist nicht zu groß“, versuchte Leila ein unverfängliches Thema anzuschneiden, während der Lift nach unten schwebte.

„Das werden wir ja bald sehen“, kam es wenig ermutigend zurück.

Was habe ich denn erwartet? Dass Rafael mir versichert, mich gegen allzu neugierige und aufdringliche Fans und Blicke abzuschirmen und zu beschützen? Da sie im letzten Jahr kaum Zeit miteinander verbracht hatten, konnte er nicht wissen, wie groß ihre Popularität war, seitdem sie als Stilikone für den mysteriösen Frauentyp in Bare Souls gehandelt wurde. Die Femme fatale, deren unwiderstehlich verführerischer Duft ab sofort den Herren der Schöpfung die Sinne vernebeln sollte.

Diesen Aspekt ihrer Karriere hatte Leila nie gemocht. Starrummel und allzu distanzlose Fans irritierten sie und machten ihr manchmal sogar Angst. Als die Lifttüren im Erdgeschoss auseinanderglitten und sie die riesige Menschenansammlung sah, stieg das altbekannte Panikgefühl in ihr auf. Im nächsten Moment spürte sie eine warme Hand auf ihrem Rücken. „Tief durchatmen, meu Amor.“

Das tat sie, vorsichtshalber gleich mehrfach hintereinander.

„Ich … ich kann niemanden entdecken, den ich kenne … persönlich, meine ich.“

Promis jeden Geschlechts und jeder Couleur waren genügend vertreten unter den Paradiesvögeln, die das elegante Hotelfoyer bevölkerten. Doch in den letzten Monaten hatte Leila ausschließlich unter sehr intimen Rahmenbedingungen gearbeitet. Zu den übersichtlichen Crews gehörte außer den Modefotografen, Assistenten und Stylisten höchstens noch ein Vertreter der jeweiligen Werbekampagne.

„Hier entlang“, dirigierte Rafael sie geschickt durch das bunte Menschengewimmel in Richtung einer kleinen Gruppe festlich gekleideter Besucher. Die drei Männer und eine Frau sahen ihnen so aufmerksam und erwartungsvoll entgegen, dass es Bekannte von Rafael sein mussten.

„Schön Sie zu sehen, mein Freund“, bestätigte einer der Männer dann auch Leilas Vermutung und streckte ihrem Mann strahlend die Hand entgegen. „Die neuen Smartphones machen sich fantastisch in den Promi-Bags. Noch bevor das Festival vorbei ist, wird man sich darum schlagen!“

„Das hoffe ich doch.“ Rafael schüttelte herzlich die Hand des Älteren und schloss die anderen Anwesenden in sein Lächeln mit ein. „Darf ich Ihnen meine Frau Leila Santiago vorstellen? Leila, das sind die wichtigen Köpfe, die für Bastion 9 verantwortlich sind: Produzent, Regisseur und Drehbuchautor.“

Nach dem Austausch einiger höflicher Nichtigkeiten drückte die Frau des Produzenten begeistert Leilas Arm. „Unsere Tochter wird mich um dieses Treffen beneiden. Sie träumt davon, eines Tages Model zu werden, und Sie sind ihr Idol.“

„Dann wünsche ich Ihrer Tochter viel Erfolg für ihren Traum“, erwiderte Leila lächelnd.

Und hoffentlich nicht meinen Leidensweg …

Rafael hatte einen Wagen mit Chauffeur organisiert, der sie zum Veranstaltungsort der Filmpremiere bringen würde. Die luxuriöse Stretch-Limousine tauchte wie von Zauberhand vor ihnen auf, kaum, dass sie einen Fuß vors Hotel setzten.

Am Zielort angekommen strebte Leila instinktiv von den anderen weg, sodass Rafael sich verpflichtet fühlte, den angeblichen Übereifer seiner Frau zu erklären. „Ich habe ihr so viel erzählt, dass sie es kaum abwarten kann, das fantastische Ergebnis zu sehen“, entschuldigte er das Verhalten seiner Frau.

„Absolut verständlich“, lachte der Produzent geschmeichelt. „Wir treffen uns dann bei der After-Show-Feier wieder. Ich habe nämlich noch eine besondere Überraschung für Sie, da Souza“, versprach er gut gelaunt.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Rafael, als er Leila eingeholt hatte.

Sie schämte sich längst ihrer Überreaktion und lächelte reuevoll. „Entschuldige bitte, du weißt ja, wie nervös mich fremde Menschen und enge Räume machen.“

„So wie mich die verflixten Kameras und Paparazzi“, knirschte ihr Gatte grimmig und lächelte dabei pflichtschuldig ins Blitzlichtgewitter. „Das ist ganz allein deine Welt, Querida …

„Diesen roten Teppich zum Palais du Cinéma zu überstehen, strengt mich mindestens so an wie dich“, flüsterte sie verschwörerisch zurück, und für einen glücklichen Moment fühlte sie sich ihrem Mann ganz nah. Besonders als sie seinen verdutzten Blick sah, der ihn jungenhaft erscheinen ließ.

„Ist das wahr?“, hakte er nach, sobald sie im Palais waren.

„Ja, es ist etwas völlig anderes, nach Anweisung vor einer Kamera zu posieren, als dieses Spießrutenlaufen veranstalten zu müssen. Am Set habe ich alles unter Kontrolle, hier bin ich so … ausgeliefert.“

„Nur wenn du es zulässt, Leila“, sagte Rafael ernst. „Stell dir einfach anstatt der Kamera einen guten Freund vor und lächle ihm zu. Dann ist es halb so schlimm.“

Er hatte recht, und sie wusste es. Trotzdem kosteten sie derartige Auftritte immer wieder eine große Überwindung.

„Na komm“, ermunterte ihr Gatte sie, „lass uns das Ganze so schnell wie möglich hinter uns bringen.“

Sobald sie ihre reservierten Plätze in einer der luxuriösen Kinositzreihen gefunden und eingenommen hatten, entspannte Leila sich. Um sie herum ließ sich die Elite des internationalen Showgeschäfts nieder, und als das Licht gedimmt wurde, seufzte sie verhalten auf.

Erst im Verlauf der Filmvorführung und besonders im Getümmel der animierten Zuschauer nach der Vorstellung wurde ihr bewusst, wie viel Zeit und Energie Rafael in sein neuestes Projekt gesteckt hatte. Und dabei ging es nicht allein um die technische Beratung des Filmteams. Sein innovatives, ultraleichtes iPhone wurde von den glücklichen Besitzern gleich nach der Vorstellung begeistert aktiviert und avancierte rasch zu dem Gespräch des Abends!

„Ich hätte nie gedacht, dass die Handys gleich ausprobiert werden können“, wunderte sich Leila.

„In jedem Gerät ist ein vierwöchiger Nutzerservice installiert, um die neuen Funktionen und Apps testen zu können“, erklärte Rafael. „Sonst würde das Ganze hier wenig Sinn machen.“

Dass er so lässig über Kosten redete, die beträchtlich sein mussten, erstaunte Leila dann doch, auch wenn sie ahnte, dass Rafaels Kontostand im letzten Jahr immens angewachsen sein musste. Aber was wussten sie wirklich noch voneinander?

Die Luxusjacht, auf der die anschließende Party stattfand, war so dekoriert, dass sie das futuristische Panorama des Filmsets von Bastion 9 detailgetreu widerspiegelte, inklusive der Uniformen für das Servicepersonal. Das Buffet war herausragend, Champagner und sonstige Getränke flossen in Strömen.

Am indigoblauen Himmel funkelten die Sterne, unzählige Spotlights illuminierten das Deck der Jacht. Zu Beginn ihrer Ehe hatte Leila das Nachtleben sehr genossen und auf den exklusivsten Events in Rafaels Armen bis zum Morgengrauen durchgetanzt. Doch in den letzten Jahren hatte ihre Lust auf Partys kontinuierlich abgenommen.

Heute Abend erschien ihr sogar der teure französische Champagner seltsam schal und bitter. Und der attraktive Mann an ihrer Seite bedrückend fremd.

Jedermann schien ihn zu kennen und beanspruchte seine Aufmerksamkeit, die früher bei ähnlichen Gelegenheiten hauptsächlich ihr gegolten hatte. Die hingegebene Begeisterung des jungen Designers, der sich in der Anerkennung, die man ihm zollte, sonnte, war einer kühlen Arroganz gewichen, die an Langeweile grenzte. Rafael hatte sich auf seinem Gebiet offensichtlich zu einem ähnlichen Megastar entwickelt wie sie in der Model-Szene.

Einen Unterschied gab es allerdings. Er schritt zielstrebig auf seiner Karriereleiter voran, die steil nach oben führte, während sie eine Art Comeback-Modequeen war. Nach ihrem Zusammenbruch und der mühevollen Genesung hatte es sie eine ungeheure Überwindung gekostet, erneut vor die Kameras der Modefotografen zu treten, doch ihre überehrgeizige Mutter hatte ihr keine Chance gelassen. Außerdem hatte Leila nichts anderes gelernt, als sich vor der Kamera zu präsentieren.

Dass sie nicht völlig untergegangen war, verdankte sie allein Rafael. Er hatte sie damals aus der unerbittlichen Tretmühle gerettet und sich zwischen sie und ihre kontrollsüchtige Mutter gestellt. Er sorgte dafür, dass Leila in Ruhe ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte und umgab sie mit unermüdlicher Fürsorge, bis sie so stark war, dass ihr verrückter Beruf ihr sogar wieder Spaß machte.

Sie verdankte ihm alles.

„Rafael da Souza ist der absolut aufregendste Mann hier am Set“, stellte ein attraktives Starlett unüberhörbar mit schmachtendem Blick fest.

Eine Woge brennender Eifersucht überschwemmte Leila so unerwartet, dass sie förmlich nach Luft schnappen musste. „Der Meinung war ich schon immer“, brachte sie gepresst heraus, sobald sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

„Sie kennen ihn persönlich?“, fragte die heiße Blondine mit klimpernden Wimpern und stieß einen kleinen Schrei aus, weil sie erst in diesem Moment begriff, wer neben ihr stand.

„Er ist mein Mann“, stellte Leila klar und machte sich sofort auf die Suche nach Rafael. Als sie ihn entdeckte und mit klopfendem Herzen auf ihn zueilen wollte, wandte er sich mit strahlendem Lächeln einer fremden Schönheit zu, die ihn neckisch mit dem manikürten Finger auf die Schulter getippt hatte. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Wütend stürzte Leila den Inhalt ihrer Champagnerflöte in einem Zug herunter.

Natürlich wusste sie, dass Rafael die Frauen anzog wie Motten das Licht. Aber bisher hatte sie ihre schlummernde Eifersucht immer ganz gut im Griff gehabt. So oft, wie sie beide getrennt waren, wäre es auch völlig unsinnig, sich verrückt zu machen. Aber das animierte Lächeln, das er dieser grünäugigen Beauty schenkte, erschien ihr dann doch etwas zu übertrieben.

„Da bist du ja“, gurrte Leila und schob eine Hand unter den Arm ihres Mannes, der sie mit einem erstaunten bis zweifelnden Blick musterte. „Ich habe dich vermisst.“

„Ist das so?“, fragte er gedehnt.

Leila errötete leicht, ließ sich aber nicht abschrecken. „Ich dachte, du könntest mit mir eine Besichtigungstour auf der Jacht unternehmen.“

„Später vielleicht“, versprach er mit einer entschuldigenden Geste in Richtung der schönen Fremden. Noch bevor Leila protestieren konnte, wandte die Lady sich direkt an sie.

„Ich bewundere Ihre Arbeit schon seit Jahren. Obwohl ich weiß, wie hart der Model-Job ist, wirkt es bei Ihnen unsagbar leicht und mühelos.“

Angesichts des netten Kompliments fiel es Leila gar nicht schwer, ihr professionelles Lächeln aufzusetzen. Nur ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, nachdem sie ihren Champagner auf leeren Magen heruntergestürzt hatte.

„Sind Sie auch Model?“, fragte sie mit aufrichtiger Neugier, während sie, um Objektivität bemüht, die natürliche Schönheit und Grazie der hochgewachsenen Brünetten bewunderte.

„Katie ist Kostümdesignerin“, meldete sich eine tiefe Männerstimme mit englischem Akzent hinter ihr. „Eine exzellente und außerordentlich begabte sogar, wie ich hinzufügen möchte.“

Überrascht fuhr Leila herum und starrte den hochgewachsenen Mann mit den durchdringend blauen Augen erst irritiert und dann nahezu überwältigt an.

„Nathaniel!“, rief sie aus und wusste sofort, dass dies die vom Produzenten in Aussicht gestellte Überraschung sein musste.

Beim näheren Hinsehen stellte sie für sich fest, dass die Ähnlichkeit zu Rafael sich nicht nur auf Körpergröße und Schulterbreite reduzierte, wie sie bisher gedacht hatte. In natura ähnelten sich die Halbbrüder auch im Schnitt des Gesichts und anderen, weniger ins Auge fallenden Kleinigkeiten.

Das Nächste, was Leila überraschte, war der tiefe Blick, den der berühmte Hollywoodschauspieler mit der attraktiven Kostümdesignerin wechselte.

Das war eindeutig Liebe!

„Katie und mir hat es sehr leidgetan, dass du nicht an unserer Hochzeit teilnehmen konntest“, klärten Nathaniels nächste Worte dann auch die Situation.

„Mir erging es nicht anders“, versicherte Leila mit um Verzeihung heischendem Lächeln, wobei sie peinlichst Rafaels Blick mied. Was der besagte, konnte sie sich lebhaft vorstellen: Wärst du mitgekommen, hättest du gewusst, wer Katie ist und deine alberne Eifersuchtsszene wäre uns allen erspart geblieben.

Die Jacht machte einen plötzlichen Schlenker, und Leilas Magen folgte der Bewegung. Aus Angst, vor versammelter Mannschaft von Übelkeit überwältigt zu werden, murmelte sie eine Entschuldigung und hastete unter Deck, wo die Toiletten waren. Dort gab sie ihrem Unwohlsein nach und sammelte sich noch einen Moment, bevor sie ihren Mund ausspülte und sich, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, auf den Rückweg machte.

Am Niedergang wartete Rafael auf sie.

„Bist du krank?“, fragte er knapp.

Heftig schüttelte sie den Kopf. „Ich habe den Champagner wohl etwas zu schnell auf leeren Magen getrunken. Und dann das Schlingern der Jacht …“

„Eine einleuchtende Entschuldigung“, murmelte er. Der sarkastische Unterton sagte ihr sehr genau, was er wirklich von ihrer Erklärung hielt.

„Das ist die Wahrheit.“ Mit zitternden Fingern strich Leila sich eine Strähne aus der Stirn. „Seltsamerweise ermüden mich diese Partys momentan mehr als sie mir Spaß machen. Was würde ich für ein ruhiges Plätzchen geben …“

„Dann lass uns gehen.“

Wieder schüttelte sie den Kopf und legte eine Hand auf Rafaels breite Brust. „Nein, bleib ruhig hier und genieße deinen Erfolg. Das hast du dir wahrlich verdient.“

Als sie ihre Hand zurückziehen wollte, fing er sie ein und zog sie an die Lippen. „Ich denke nicht im Traum daran. Wenn wir gleich in der ersten Nacht getrennt Party machen, liefern wir den Paparazzi nur überflüssig Stoff für wilde Spekulationen.“

Und wieder einmal hatte er recht. Alles für die Show …

„Außerdem gefällt mir die Idee, dich endlich ganz für mich allein zu haben, mit jeder Sekunde besser.“ Seine Stimme klang jetzt sehr dunkel und samtig.

Leila zwang sich zu einem Lächeln. „Dann nichts wie weg hier.“

3. KAPITEL

Auf der kurzen Tour von der Jacht zurück zum Hafen behielt Rafael seine Gedanken für sich. Er sagte auch nichts, als das Speedboot an Geschwindigkeit zulegte und Leila sich an seiner Hand festklammerte. Das mühsam unterdrückte Beben ihres zarten Körpers bestätigte seine Befürchtung. Egal, wie sehr sie versuchte sich zusammenzureißen, seiner Frau ging es gar nicht gut.

Er schaute hinüber zu La Croisette, dem Prachtboulevard, wo sich Horden von Paparazzi und Celebrities tummelten und es nur um eines ging: sehen und gesehen zu werden. In den Baldachinzelten entlang des Strands galt das gleiche Prinzip, nur ging es dort etwas exklusiver zu.

Früher hatten sie dieses Theater bereitwillig mitgespielt, heute hätte er Leila lieber ganz für sich gehabt. Die Frage war nur, ob sie die intime Zweisamkeit genauso herbeisehnte wie er.

„Möchtest du vielleicht noch ein wenig herumflanieren, bevor wir uns zurückziehen?“, fragte Rafael, als sie ins volle Rampenlicht traten, das vom Palais du Cinéma bis zum Strand schien. Leila schaute auf das bunte Gewimmel, in das sie gleich eintauchen würden, und schauderte. „Oder wollen wir noch ein Stück am Wasser entlanggehen?“

„Das wäre mir viel lieber.“ Die Erleichterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Alles ist besser als zurück ins Rampenlicht.“

Innerlich stimmte er ihr unbedingt zu, trotzdem wuchsen Rafaels Unruhe und Besorgnis. Leila hatte sich verändert, ohne dass er hätte sagen können, worin die Verwandlung eigentlich lag. Sie wirkte verschlossen und distanziert.

„Was für eine gute Idee das war!“, rief sie plötzlich aus, streifte die unbequemen High Heels von den Füßen und grub die nackten Zehen wohlig in den noch warmen Sand. Zum ersten Mal, seit sie in Cannes waren, wirkte sie entspannt und fast glücklich. Sein Herz zog sich vor Liebe und Sorge zusammen. Warum konnte ihr Lächeln nicht immer so strahlend und offen sein?

War sie noch glücklich in ihrem Beruf? Oder wurde ihr der Druck der schnelllebigen Branche zu viel? Vielleicht war es tatsächlich der perfekte Zeitpunkt, um einen Gang zurückzuschrauben und sich auf ihre ursprünglichen Pläne zu besinnen.

„Fühlst du dich besser?“, fragte er liebevoll.

„Viel besser! Die frische Meeresbrise tut unglaublich gut.“ Ganz tief sog sie die würzige Luft ein. „Wie habe ich das vermisst.“

„Den Strand?“

„Den Frieden und das Alleinsein mit dir …“

Also genau das Gegenteil dessen, weshalb sie hergekommen waren. Möglicherweise hatte er mit seiner Vermutung direkt ins Schwarze getroffen. „Wenn das so ist, warum treibst du deine Karriere dann so gnadenlos voran?“

„Wenn ich es nicht täte, könnte ich mich nicht an der Spitze halten und wäre in weniger als einem Jahr vergessen.“

Er fühlte, wie sein Hals eng wurde. „Das hört sich an, als hättest du vor, noch eine ganze Weile so weiterzumachen.“

„Unbedingt!“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

Hatte er sich doch getäuscht? Was war mit ihrem Traum von einer eigenen Familie? Einem Heim, dessen Seele seine Frau sein sollte, als treu sorgende Mutter und entspannte Geliebte. Und nicht eine Model-Mutter, die mit ihren Kindern im Schlepptau von einem Termin zum nächsten jettete.

„Und was ist mit Kindern, Leila? Ich dachte, wir wären uns beide einig, dass du deine Karriere irgendwann zurückschraubst, um Mutter zu sein. Willst du mir etwa sagen, dass sich deine Einstellung zu diesem Thema geändert hat?“

Während sich das Schweigen zwischen ihnen immer weiter ausdehnte, versuchte Rafael, seine auflodernden Emotionen zu beherrschen. Nichts war zu hören außer dem sanften Plätschern der Wellen und heißen Beats, die in der lauen Abendluft pulsierten.

Er hatte ihr eine simple Frage gestellt. Eine, die zu Beginn ihrer Ehe ganz in ihrem Sinn gewesen war. Die Antwort hätte sofort erfolgen sollen.

„Es gibt viele Frauen, die Arbeit und Kinder locker unter einen Hut bringen, Rafael.“

Was sie sagte, hörte sich nicht nach Leila an, sondern wie eine Parole, die sie irgendwo aufgeschnappt und übernommen hatte, um ihn darauf vorzubereiten, dass sie beide nicht mehr an einem Strang zogen, was ihre Familienplanung betraf.

Innerlich knirschte Rafael mit den Zähnen. Am liebsten hätte er seine Frau bei den Schultern genommen und sie durchgeschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Doch das würde zu nichts führen. Er musste sein Temperament beherrschen und Ruhe bewahren. „Die meisten Frauen behalten ihre Jobs nur, weil sie es sich nicht leisten können aufzuhören.“

„Da stimme ich dir nicht zu“, widersprach sie sofort. „Es gibt genauso viele Frauen, die weiterarbeiten, weil es ihrem Leben einen Sinn gibt.“

„Du willst sagen, Mutter zu sein reicht dazu nicht?“

Er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen, doch es war zu dunkel. Dafür war ihre Anspannung so spürbar, dass es gar keiner Worte bedurfte.

„Ich kann mir nichts Erfüllenderes vorstellen als von dem Mann, den man liebt, ein Kind zu bekommen“, sagte sie nach einer langen Pause. „Was aber nicht heißt, dass ich deshalb auf meine Karriere verzichten will. Ich liebe meine Arbeit, Rafael. Durch sie bin ich in der Lage, vielen jungen Mädchen mit Essstörungen zu helfen. Ich kann für eine Veränderung in ihrem Leben sorgen.“

Natürlich wusste er von Leilas Projekt in Rio und war unglaublich stolz auf seine Frau. Als er von dem finanziellen Engpass erfahren hatte, hatte er ihr angeboten, die Klinik unter die Schirmherrschaft seiner Firma zu stellen, doch sie dankte ihm nur für seine Großzügigkeit und lehnte ab. Danach hatten sie das Thema nicht mehr berührt.

„Was ist mit deiner Managerin? Kann sie sich nicht um diese Dinge kümmern?“

„Das tut sie bereits, aber ich habe das letzte Wort bei jeder Entscheidung. Und diesen Einblick und diese Einflussnahme will ich mir auch nicht nehmen lassen“, stellte Leila klar.

Sie hat ebenso viel Stolz wie ich, dachte er, und das gefiel ihm durchaus. Doch etwas anderes beunruhigte ihn. An vielen kleinen Dingen hatte er bemerkt, dass es für Leila zunehmend eine Art Manie geworden war, alles, was sie tat und was um sie herum passierte, bis ins Detail zu kontrollieren.

Ob sie ihre Ehe und ihre Zukunftspläne auch unter diesem Aspekt sah?

Sie wollte also weder ihre Karriere aufgeben noch ihr Charity-Projekt in andere Hände legen – auch nicht als Mutter. Selbstverständlich war es kein Problem, eine Nanny zu engagieren, die Tag und Nacht, selbst am Set während einer Foto-Session auf ihr Kind aufpassen würde. Aber war es wirklich das, was Leila anstrebte?

Er jedenfalls ganz bestimmt nicht!

Rafael spürte einen bitteren Geschmack im Mund, als er an seine eigene Kindheit dachte, in der er von einem Nachbarn zum anderen gereicht worden war, während seine Mutter anderer Leute Häuser putzte, um ihre kleine primitive Wohnung bezahlen und sie beide ernähren zu können.

„Leila, ich habe es einfach satt, unseren Plan von einer eigenen Familie immer wieder aufzuschieben“, platzte es aus ihm heraus. „Ich will meine Frau an meiner Seite haben. Ich will ein Heim und Kinder.“

Nach diesem Satz spürte er ihre Anspannung körperlich. „Gott allein weiß, wie sehr ich dich vermisst habe“, sagte Leila rau. „Aber von mir zu verlangen, alles aufzugeben, ist …“

„Hör zu, ich spreche aus eigener Erfahrung“, unterbrach er sie ungeduldig. „Ich habe mit einer Mutter gelebt, die ihr Leben lang hart geschuftet hat. Und nicht in einem Job, sondern gleich an zwei Arbeitsstellen. Ich weiß, wie es ist, alleingelassen zu werden, und will nicht, dass meine Kinder dasselbe durchmachen müssen.“

Bevor Leila antworten konnte, wurden sie von einer munteren Truppe gestört, die lachend und lärmend vom hell erleuchteten Boulevard an den Strand wechselte.

„Lass uns in unsere Suite gehen“, brummte Rafael und nahm Leilas Arm.

Schweigend bahnten sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge auf der bunten Partymeile zurück zu ihrem Hotel. Sie wussten beide, dass die Diskussion über ihre Familienplanung nur in einer Auseinandersetzung enden konnte. Die erzwungene Redepause gab ihnen Zeit und Gelegenheit, sich zu beruhigen.

Doch kaum hatte sich die Tür der Suite hinter ihnen geschlossen, wandte sich Rafael seiner Frau zu. „Für mich steht fest, dass du dich entscheiden musst, was dir wichtiger ist“, sagte er kühl. „Eine Familie mit mir oder deine Karriere.“

„Vielleicht ist es ja gar nicht meine Entscheidung. Möglicherweise trifft das Schicksal sie für mich“, murmelte Leila tonlos und flüchtete sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer.

Etwas in ihrer Stimme verursachte ihm eine Gänsehaut. Da war wieder dieser ferne Ausdruck in ihren wundervollen Augen gewesen, der ihm Angst machte. Rafael konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass mehr an Leilas kryptischen Worten war, als er bereits ahnte.

Der Weckruf ihres Handys ließ Leila auffahren. Verwirrt schaute sie um sich, dann stellte sie den Alarm ab und sank in die Kissen zurück. Nach den wenigen Stunden Schlaf fühlte sie sich wie gerädert und völlig desorientiert.

Doch schneller als ihr lieb war kehrten die quälenden Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Sie drehte den Kopf und seufzte, als sie die leere Bettseite sah. Kopfkissen und Decke waren zerwühlt, also hatte Rafael neben ihr geschlafen, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihr die Nähe zu geben, die sie so nötig brauchte.

Nein, das war ungerecht. Sie war es, die ihn schon viel zu lange auf Armeslänge von sich weghielt, physisch wie emotional.

Leila seufzte erneut. Dies war unter Garantie die erste Nacht ihrer Ehe, in der sie ein Bett geteilt hatten, ohne miteinander zu schlafen. Und das erste Mal, dass sie abends in Unfrieden auseinandergegangen waren.

„Gut geschlafen?“

Leila zuckte zusammen und schaute in Richtung der geliebten Stimme. Lässig wie ein müder Kater fläzte Rafael sich in einem opulenten Sessel vorm Fenster und hielt sein Gesicht den ersten Sonnenstrahlen entgegen.

Ihr Mund wurde ganz trocken. Bis auf schwarze Boxershorts war er völlig nackt. Sie konnte den Blick einfach nicht von seiner bronzefarbenen muskulösen Brust und dem flachen Bauch abwenden. Im Morgenlicht schimmerte sein Haar Blauschwarz wie das Gefieder eines Raben.

„Ging so“, bekannte sie ehrlich und suchte seinen Blick. Ärger und Kälte waren aus den dunklen Augen verschwunden. „Wann bist du ins Bett gekommen?“

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Gegen vier.“

Für so wenig Schlaf sah er überwältigend gut aus und wirkte völlig fit und kontrolliert, ganz anders als sie. Ihre Augen brannten, der Magen revoltierte schon am frühen Morgen, ihre Nerven vibrierten vor Übernächtigung und Schuldgefühl.

Leila befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze und suchte nach den richtigen Worten, um ihrem Mann zu gestehen, dass sie bereits einmal versucht hatte, Mutter zu werden und gescheitert war. Dass sie verloren hatte, was er sich sehnlichst wünschte … sein Baby.

„Rafael …“

„Nach dem Terminplan, den du mir gegeben hast, musst du in einer knappen Stunde bei einem Foto-Shooting sein“, informierte er sie stirnrunzelnd, mit Blick auf sein Handydisplay.

Offensichtlich war er immer noch wütend auf sie, und das konnte sie ihm nicht einmal verübeln. Aber wie sollte sie ihm in diesem Zustand und der knappen Zeit ihr Geständnis machen können?

„Musst du noch duschen?“, fragte sie.

„Nein.“

Rasch schlüpfte sie ins Bad, und als sie fünfzehn Minuten später mit frisch gewaschenem Haar und fertig geschminkt wieder zurückkam, hatte Leila sich und ihre verworrenen Gefühle schon viel besser unter Kontrolle. Zu ihrer Überraschung war Rafael inzwischen auch angezogen und sah einfach umwerfend sexy aus.

Er könnte ebenso gut ein Model sein wie ich!

Es war nicht das erste Mal, dass ihr dieser Gedanke kam. Er wirkte so selbstsicher. So ganz anders, als sie sich fühlte …

Leila verachtete sich selbst für ihre Unsicherheit und mangelnde Entschlusskraft. Sie waren dafür verantwortlich, dass sie zuerst ihrer Mutter und später ihrer Managerin die Entscheidungsgewalt über ihr Leben eingeräumt hatte. Das hatte zu noch mehr Unsicherheit und körperlichen Schäden geführt, die sie möglicherweise daran hinderten, überhaupt ein Kind zur Welt zu bringen.

Wenn sie jemals die Furcht vor einer erneuten Schwangerschaft loswurde!

Aber selbst dann würde sie ihr erstes Baby nie vergessen können. Die wundervolle, herzergreifende Überraschung, die mit einem schrecklichen Verlust geendet hatte.

Während sie nervös den Inhalt ihrer Handtasche überprüfte, musste Leila ein paar Tränen wegblinzeln. Ihr Make-up-Täschchen war da, die Geldbörse, ihr neues iPhone, das Rafael so liebevoll extra für sie entworfen hatte.

Plötzlich erschien es ihr unmöglich, das Hotel zu verlassen, ohne mit ihm über ihr Geheimnis zu reden. Er hatte es einfach nicht verdient, dass sie ihn so lange im Unklaren ließ. Aber wie anfangen … und wo?

Doch als Rafael sie in der Hotellobby nach dem Ort fragte, wo das Foto-Shooting stattfinden sollte, ratterte sie einfach nur die Adresse herunter, die er kurz darauf an den Chauffeur der Limousine weitergab.

„Gegen Mittag müsste ich fertig sein“, versprach Leila, ohne ihn anzuschauen.

Autor

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