Julia Collection Band 173

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Ihr Gesicht kennt die ganze Welt, auf jedem roten Teppich sind sie zu Gast. Umso schwieriger ist es für echte Promis, die wahre Liebe zu finden. Wird die Beziehung halten, wenn das Rampenlicht erlischt?

ZWEITE CHANCE FÜR DIE LIEBE? von MICHELLE CONDER
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IM STURMWIND DER GEFÜHLE von CAITLIN CREWS
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HERZÖGE KÜSSEN BESSER von SHARON KENDRICK
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  • Erscheinungstag 24.06.2022
  • Bandnummer 173
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511834
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Conder, Caitlin Crews, Sharon Kendrick

JULIA COLLECTION BAND 173

1. KAPITEL

„Soll das ein schlechter Witz sein, Jordana?“ Tristan Garrett stand in seiner Kanzlei im zehnten Stock und wandte sich vom Blick über die Themse zu seiner jüngeren Schwester um. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen vor seinem Schreibtisch, elegant und makellos zurechtgemacht, und sah keineswegs wie die hysterische Verrückte aus, nach der sie klang.

„Als ob ich über etwas so Ernstes Witze reißen würde!“ Jordanas jadegrüne Augen – dieselbe Farbe wie seine – waren weit aufgerissen und voller Sorge. „Ich weiß, es scheint undenkbar, aber es stimmt. Wir müssen ihr helfen!“

Nun, undenkbar schien es ihm keineswegs, nur wusste Tristan auch, dass seine Schwester den Hang hatte, Gutes in anderen zu sehen, wo absolut nichts Gutes zu finden war. Er drehte sich wieder zum Fenster zurück und blickte auf die Fußgänger hinunter, die die milde Septembersonne im Moment sicherlich mehr genossen als er. Er sah seine kleine Schwester nur ungern so aufgewühlt und verfluchte die sogenannte Freundin, die für ihre Tränen verantwortlich war.

Jordana kam zu ihm ans Fenster, und er legte den Arm um ihre Schultern. Was sollte er ihr sagen, um sie zu beruhigen? Dass die Freundin, der sie so unbedingt helfen wollte, es nicht wert war? Dass jeder, der dumm genug war zu versuchen, aus Thailand Drogen einzuschmuggeln, es verdient hatte, hinter Gittern zu landen?

Normalweise würde er seiner Schwester ohne zu zögern helfen, doch in diesem Fall würde er den Teufel tun, sich in dieses Fiasko hineinziehen zu lassen. Und er würde dafür sorgen, dass auch Jordana nicht hineingezogen wurde. „Jo, das ist nicht dein Problem. Du wirst dich da nicht einmischen.“

„Ich …“

Er hob die Hand, duldete keine Widerrede. „Wenn diese Geschichte stimmt, kann ich dazu nur sagen, dass sie sich das selbst eingebrockt hat. Darf ich dich daran erinnern, dass es bis zur Hochzeit des Jahres nur noch acht Tage sind? Oliver wird nicht gutheißen, dass du dich da hineinziehen lässt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der griechische Prinz gern eine Drogenkonsumentin als Tischnachbarin hätte, ganz gleich, wie schön sie sein mag.“

Jordana presste die Lippen zusammen. „Oliver wird wollen, dass ich das Richtige tue. Und was meine Hochzeitsgäste denken, ist mir gleich. Ich werde Lily helfen.“

Tristan schüttelte den Kopf. „Warum willst du das riskieren?“

„Sie ist meine beste Freundin.“

Das überraschte ihn. Er hatte gedacht, die Freundschaft sei schon vor Jahren eingeschlafen. Allerdings … wieso war Lily dann Jordanas Brautjungfer? Die Frage hätte er wohl schon vor zwei Wochen stellen sollen, als er gehört hatte, dass Lily zur Hochzeit eingeladen war. Doch vorerst gab es wichtigere Dinge zu klären. „Wann hast du mit ihr gesprochen?“

„Habe ich nicht. Der Zoll rief an. Sie hatte einen Beamten gebeten, mich zu benachrichtigen, dass sie es nicht schaffen wird und … Oh Tristan, wenn wir ihr nicht helfen, sperrt man sie ins Gefängnis.“

Tristan strich sich eine Locke aus der Stirn. Es wurde Zeit, deutlicher mit seiner kleinen Schwester zu werden. „Für sie ist es wahrscheinlich das Beste. Dort wird man ihr helfen.“

„Das meinst du nicht ernst!“

Nicht? Ehrlich gesagt, er war sich nicht sicher. Was er allerdings wusste, war, dass der Morgen gut begonnen hatte, bevor Jordana in seine Kanzlei geplatzt war und Erinnerungen an ein Mädchen geweckt hatte, an das er lieber nicht dachte.

Honey Blossom Lily Wild, soeben erst zur „Sexiest Woman Alive“ gewählt und berühmte Schauspielerin. Filme interessierten ihn nicht besonders, aber er hatte ihren ersten gesehen – irgendein wirres Endzeitspektakel eines frühreifen Regisseurs. An den Inhalt konnte er sich nicht genau erinnern, aber welcher Mann würde das schon können, wenn Lily praktisch in jeder Szene in knappem T-Shirt und noch knapperen Shorts zu sehen war? Der Film lieferte den Beweis, dass die Kultur sich auf dem Rückzug befand, und Leute wie Lily Wild trugen zu fünfzig Prozent die Verantwortung dafür.

Er und sein Vater hatten die Freundschaft zwischen den Teenagerinnen toleriert, weil Jordana glücklich war. Doch Tristan hatte Lily schon als schlaksige Vierzehnjährige nicht gemocht. Schon damals hatte sie einen Hochmut an den Tag gelegt, der mehr als unangebracht für ihr Alter gewesen war, und sie hatte ihre Drogen unter Jordanas Matratze versteckt. Hätte er damals etwas zu sagen gehabt, hätte seine Schwester sofort das Internat gewechselt.

Mit einem stillen Seufzer kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. „Jo, ich habe zu arbeiten. In einer halben Stunde muss ich zu einem Meeting.“

„Ich weiß, dass du gegen Drogen bist, Tristan, aber Lily ist unschuldig.“

„Und woher weißt du das?“

„Ich kenne Lily. Sie hasst Drogen.“

„Vergisst du da nicht etwas? Die Party an deinem achtzehnten Geburtstag? Und dass ich sie mit einem Joint erwischt habe, als sie noch vierzehn war? Ganz zu schweigen von den Fotos in der Presse, auf denen sie komplett high ist.“

Jordana schüttelte den Kopf. „Die Fotos sind manipuliert. Die Presse jagt sie schon ihr ganzes Leben – wegen ihrer Eltern. Gerade deshalb ist sie viel zu vernünftig, um sich auf Drogen einzulassen.“

„Und weil sie ach so vernünftig ist, gab es auch den Skandal zu deinem Achtzehnten, oder was?“

Jordana verdrehte die Augen. „Das war alles ganz anders, als es ausgesehen hat. Das eine dumme Foto …“

„Das eine dumme Foto“, fiel er ihr ins Wort, „hätte deinen Ruf zerstört, wenn ich nicht eingegriffen hätte.“

„Du meinst, wenn du Lily nicht die Schuld zugeschoben hättest.“

„Lily war schuld!“ Wut und Ärger von vor sechs Jahren meldeten sich erneut. Doch Tristan war niemand, der sein Temperament die Oberhand gewinnen ließ. „Vermutlich hätte ich ihren Stiefvater schon beim ersten Mal unterrichten sollen, dann würde sie heute vielleicht nicht in diesen Schwierigkeiten stecken.“

Jordana senkte den Blick. „Du hast mir nie Gelegenheit zu einer Erklärung gelassen. Was, wenn der Joint damals gar nicht ihr gehörte? Was, wenn es meiner gewesen wäre?“

Tristan schnaubte. Er hatte keine Zeit für diesen Unsinn, trotzdem zog er Jordana in seine Arme. Seine Schwester wollte ihre Freundin verteidigen, und dafür liebte er sie umso mehr. Aber so viel Loyalität hatte die leichtlebige Blondine gar nicht verdient. „Du nimmst die Schuld auf dich, weil du sie beschützen willst. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie nichts als Schwierigkeiten macht. Soll ihr Stiefvater ihr helfen.“

Jordana schluchzte an seiner Brust. „Sie haben sich nie wirklich nahegestanden. Bitte, Tristan! Der Beamte, mit dem ich heute Morgen gesprochen habe, meinte, dass man sie an Thailand ausliefern wird. Das darf ich nicht zulassen!“

Still fluchend musste er zugeben, dass auch er sich nur ungern vorstellte, wie die schöne Lily Wild in einem thailändischen Gefängnis dahinsiechte. „Jo, ich bin Fachanwalt für Gesellschaftsrecht, und nicht für Strafrecht.“

„Aber irgendetwas musst du doch tun können!“

Er ließ seine Schwester los und trat einen Schritt zurück. Unwillkommene Bilder von Lily Wild stürzten auf ihn ein. Seit Jahren schon suchte sie ihn in seinen Träumen heim. Er schloss die Augen, um die automatische Reaktion seines Körpers zu unterbinden, doch das machte es nur schlimmer. Jetzt stand ihm nicht nur ihr Bild vor Augen, sondern er meinte sogar, ihren Duft riechen zu können. Und als Jordana die Hand auf seinen Arm legte, glaubte er für einen Moment tatsächlich, es wäre Lily.

Er fluchte leise. „Jo, vergiss Lily Wild und konzentrier dich auf deine Hochzeit.“

Jordana hob kämpferisch den Kopf. „Wenn Lily nicht dabei ist, findet die Hochzeit nicht statt!“

„Jetzt wirst du melodramatisch.“

„Und du bist grausam. Lily wird zu Unrecht beschuldigt.“

„Die Frau ist auf frischer Tat ertappt worden!“

In Jordanas Miene lag plötzlich tiefer Schmerz. So tief, wie er ihn das letzte Mal bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen hatte. Damals hatte er sich geschworen, dass seine kleine Schwester nie wieder so leiden sollte, dass er alles tun würde, damit sie glücklich sein konnte.

Doch sie verlangte das Unmögliche.

„Tristan, ich weiß, du hasst Drogen – wegen Mum. Aber Lily ist nicht so. Sonst setzt du dich doch auch sofort für die gute Sache ein.“

Ein Muskel zuckte in seiner Wange. „Das ist der springende Punkt – eine drogenabhängige Schauspielerin lässt sich nicht als ‚gute Sache‘ bezeichnen.“

Jordana sah ihn entsetzt an, so als hätte er einen unschuldigen Welpen getreten, und er wusste, dass er geschlagen war. Er konnte nicht zulassen, dass seine Schwester so schlecht von ihm dachte. Außerdem ging ihm das grauenvolle Bild von Lily in einer thailändischen Gefängniszelle nicht aus dem Kopf.

Er stieß die Luft aus. „Das ist ein Riesenfehler, das weiß ich schon jetzt. Und mach dir bloß keine großen Hoffnungen. Gut möglich, dass ich nichts ausrichten kann.“

„Oh Tristan, du bist der beste Bruder, den man sich wünschen kann! Soll ich mitkommen?“ Fast jubelte Jordana, so glücklich und erleichtert war sie.

In Gedanken ging Tristan bereits die notwendigen Schritte durch, deshalb dauerte es einen Moment, bis er Jordanas Frage registrierte. „Auf keinen Fall.“ Seine kleine Schwester, die sich in alles einmischte, konnte er dabei überhaupt nicht gebrauchen. „Ich lasse dich wissen, sobald es etwas Neues gibt. Geh zurück zu deinen Hochzeitsvorbereitungen und überlass die Sache mir. Ich werde mich um das Debakel kümmern, in das du uns beide hineinziehst.“

Er merkte kaum, dass sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte und sein Büro verließ, während er seiner Sekretärin bereits Anweisungen gab. „Kate, verschieben Sie mein Nachmittagsmeeting und holen Sie mir Stuart Macintyre ans Telefon. Ich muss ihn dringend sprechen.“

Mit einem Seufzer lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er musste verrückt geworden sein.

Lily Wild sorgte immer für Schwierigkeiten. Und sollte das Bild, wie sie sich an Jos achtzehntem Geburtstag über einen Kokainhaufen auf dem antiken Schreibtisch seines Vaters beugte, als Beweis nicht ausreichen, dann tat es der heutige Versuch, Drogen durch den Zoll von Heathrow zu schmuggeln, auf jeden Fall.

Damals auf der Party hatte Lily nicht zugegeben, dass sie Drogen nahm. Sie hatte ihn nur mit ihrem typisch hochmütigen Lächeln bedacht, und er hatte rotgesehen. Danach war er für keine Erklärung mehr zugänglich gewesen. Wozu auch? Seiner Erfahrung nach waren alle Drogenkonsumenten aus eigener Sicht so unschuldig wie die Lämmer.

Was ihn an jenem Abend jedoch viel mehr aufgewühlt hatte, war der Blick, mit dem sie ihn aus ihren veilchenblauen Augen ansah. Als wäre er der einzige Mann auf der Welt für sie. Und er – Narr, der er war – wäre fast darauf hereingefallen.

Er hatte mit ihr getanzt, hatte sie in seinen Armen gehalten, hatte sie geküsst … Es nagte noch immer an ihm, dass er fast die Kontrolle verloren hatte. Aber sie hatte so süß geschmeckt, sich so warm und weich angefühlt, so gut …

Fluchend schüttelte Tristan den Kopf. Anstatt sich an ihren Geschmack zu erinnern, sollte er besser an die Gruppe jugendlicher Randgestalten denken, die er im Arbeitszimmer seines Vaters mit gut einem Pfund Kokain erwischt hatte. Zehn Minuten hatte es gedauert, um die Party aufzulösen und jeden außer seiner Schwester hinauszuwerfen, vierundzwanzig Stunden, um die Fotos von Jordana, die jemand mit dem Handy aufgenommen und ins Internet gestellt hatte, zu löschen.

Lilys Geschmack jedoch war wesentlich langlebiger.

Unruhig setzte Lily sich auf dem harten Plastikstuhl um, auf dem sie die letzten vier Stunden und siebzehn Minuten verbracht hatte, und fragte sich, wann dieser Albtraum endlich vorbei sein würde. Im Moment war sie allein in dem kahlen Raum, über den jeder Regisseur einer Polizei-Realityserie in wahre Begeisterungsstürme ausgebrochen wäre.

Heute früh war sie ebenso nervös gewesen – allerdings vor freudiger Aufregung, zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder in ihre Heimat England zurückzukehren.

Die Schlange am Zoll hatte sich nur zäh vorwärtsgeschoben, und sie war gerade an der Passkontrolle angekommen, als der Beamte hinter der Glasscheibe sie zu den beiden Uniformierten mit den Rauschgifthunden weiterleitete. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, Stichproben gehörten nun mal zum üblichen Prozedere. Mit ihren Gedanken war sie schon bei dem Wiedersehen mit Jordana gewesen. Sie hoffte, dass das Hochzeitsgeschenk aus Thailand Oliver und ihr gefallen würde. Und sie freute sich auf die wohlverdiente Pause.

Dann hatte einer der Polizisten einen Plastikbeutel aus ihrer Handtasche gezogen und gefragt, ob der ihr gehöre. An einen solchen Beutel konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern.

„Ich weiß es nicht“, hatte sie ehrlich geantwortet.

„Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen.“

Und so saß sie nun hier in dem kleinen Zimmer und fragte sich, wohin die beiden Zöllner verschwunden waren. Nicht, dass sie sie vermisste, vor allem den jüngeren nicht, der nur auf ihren Busen gestarrt und ihr angedroht hatte, sie nach Thailand abzuschieben, wenn sie nicht kooperiere.

Lachhaft! Seit man sie aus der Reihe gezogen hatte, tat sie nichts anderes als kooperieren! Ja, die Tasche gehörte ihr. Nein, sie hatte sie nicht unbeaufsichtigt gelassen. Ja, ein Freund war bei ihr im Hotelzimmer gewesen, als sie gepackt hatte. Nein, sie hatte nicht gesehen, dass er an ihre Sachen gegangen wäre. Und nein, die kleinen Plastiksäckchen mit Ecstasy und Kokain gehörten definitiv nicht ihr!

Stundenlang hatte man sie nach jedem ihrer Schritte befragt, bis sie nicht mehr wusste, wo rechts und links war. Dann waren die beiden gegangen, vermutlich, um sich mit den anderen hinter der Spiegelscheibe zu beraten.

Wahrscheinlich verdächtigten sie jetzt Jonah Loft, einen aus der Filmcrew, weil er als Letzter bei ihr im Zimmer gewesen war. Sie hatte Jonah in einem Drogenentzugszentrum in New York getroffen, in dem sie ehrenamtlich arbeitete. Bestimmt würde man schnell herausfinden, dass er einmal ein Drogenproblem gehabt hatte. Doch er war schon lange clean. Lily hatte ihm eine Chance geben wollen und ihn in die Filmcrew geholt. Nein, Jonah würde ihr so etwas nicht antun, ganz bestimmt nicht.

Vier Stunden und achtundzwanzig Minuten. Lily seufzte. Ihre Beine waren inzwischen taub. Sie massierte sich die Schläfen. Ob sie wohl aufstehen und im Zimmer umherlaufen durfte? Sie hoffte nur, dass Jordana verständigt worden war, sonst würde sie sich Sorgen machen. Obwohl … wenn sie den Grund erfuhr, weshalb Lily festgehalten wurde, würde sie sich noch mehr sorgen. Lily schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Jordana nicht auf die Idee kam und ihren großen Bruder um Hilfe bat.

Das war das Letzte, was sie brauchte – dass der verboten gut aussehende Tristan Garrett von ihrer misslichen Lage erfuhr. Sicher, es hieß, er sei einer der besten Anwälte weltweit, aber Lily hatte nur unangenehme Erfahrungen mit ihm gemacht – außer den magischen zehn Minuten damals auf Jordanas Geburtstagsparty.

Er hatte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Erst hatte er sie geküsst, dann den Rest des Abends ignoriert. Und schließlich war er in das Arbeitszimmer seines Vaters geplatzt, als sie gerade die Beweise der kleinen Privatparty beseitigen wollte, und hatte genau die falschen Schlüsse gezogen.

Er hatte sie für die Schuldige gehalten und sie – und „ihresgleichen“ – hinausgeworfen. Sie war am Boden zerstört gewesen … genau wie ihre Teenagerfantasien, dass er der Mann ihres Lebens sein könnte.

Rückblickend fragte sie sich, wie sie sich das je hatte einbilden können. Sie beide stammten aus völlig verschiedenen Welten. Er war abgestoßen von ihr, dem einzigen Kind eines berüchtigten Rockstarpärchens, gestorben an einer Überdosis.

Sosehr sie selbst ihre Herkunft verachtete, hatte sie sich einen Satz ihres Vaters doch zu Herzen genommen: „Lass sie nie merken, dass es dir etwas ausmacht, Honeybee.“ Natürlich hatte er damit die Kritiken über seine Musik gemeint, doch dieser Rat hatte ihr oft geholfen, wenn wieder einmal der nächste Skandal um ihre Eltern anstand oder die Spekulationen über sie selbst hochkochten.

Die Tür ging auf, und der jüngere Officer kam dreist grinsend zurück in den Raum. „Sie haben wirklich Glück, Miss Wild. Sieht aus, als könnten Sie gehen.“

Lilys Miene blieb reglos, auch als der Beamte sich ihr gegenübersetzte und einen Stapel Papiere auf den Tisch legte. Und schon wieder starrte er ihr unverschämt auf den Ausschnitt. Der Typ gefiel sich in seiner Autoritätsrolle, nur war ihm offensichtlich nicht klar, dass sein Möchtegern-Rambo-Gehabe und der kurze Bürstenhaarschnitt ihn nicht männlich, sondern lächerlich wirken ließen. Doch selbst wenn er den Schliff eines Prince Charming an den Tag gelegt hätte – Lily war nicht interessiert. Sie mochte Liebesfilme drehen, doch sie glaubte nicht an solche Märchen. Nicht nach den Erfahrungen ihrer Mutter mit Johnny Wild.

„Sie haben richtig gehört“, feixte der Mann, als sie nichts erwiderte. „Ihr Stars kennt immer jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, und dann ist alles wieder in bester Ordnung. Ich hätte Sie ja nach Thailand zurückgeschickt und Sie mit denen da drüben die Suppe auslöffeln lassen. Glück für Sie, Lady, dass ich das nicht zu entscheiden habe.“

Dem Himmel sei Dank! Trotzdem würdigte sie ihn keiner Reaktion.

„Unterschreiben Sie.“ Er schob ihr die Papiere zu.

„Was ist das?“

„Die Bedingungen für Ihre Freilassung.“

Mit klopfendem Herzen beugte Lily sich über die Dokumente. Als die Tür ein zweites Mal aufging, sah sie gar nicht auf. Das musste der zweite Beamte sein. Doch dann drang eine tiefe und sehr verärgerte Stimme an ihr Ohr, und ihr stockte der Atem.

„Das hat alles seine Ordnung, Honey, also unterschreib, damit wir hier rauskommen.“

Diese Stimme würde sie überall erkennen. Sie kniff die Augen zusammen und betete, dass sie sich irrte. Doch als sie aufsah, wusste sie, dass der Albtraum dieses Tages noch nicht vorbei war. Das Schlimmste stand ihr noch bevor.

Jordana hatte ihre Nachricht also erhalten, doch leider hatte die Freundin genau das getan, wovor Lily sich am meisten gefürchtet hatte: Jo hatte ihren großen Bruder Tristan alarmiert.

2. KAPITEL

Lord Garrett, Viscount Hadley, der zukünftige Zwölfte Duke of Greythorn, stand vor Lily und funkelte sie wütend an.

„Tristan“, hauchte sie völlig unnötigerweise. Er schien noch größer und beeindruckender zu sein, als sie in Erinnerung hatte. Der anthrazitfarbene Maßanzug betonte seine muskulöse Statur, das braune wellige Haar verlieh ihm etwas Ungezähmtes und umrahmte ein Gesicht mit aristokratischer Nase und markantem Kinn. Ihr Blick haftete einen Moment auf seinem schön geschwungenen Mund, bevor sie in seine grünen Augen sah.

Ein Montblanc-Füller wurde vor sie hingelegt. „Beeil dich, Honey. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Sie hätte ihn gern daran erinnert, dass sie „Lily“ vorzog, doch ihre Kehle war so trocken, dass sie keinen Ton herausbrachte. Als sie nach dem Federhalter griff, stießen ihre Finger an seine. Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Hektisch setzte sie ihre Unterschrift auf das Papier. Dann wurde das Dokument auch schon weggezogen, Tristan nahm ihre Tasche von dem Zollbeamten entgegen und steuerte sie mit der Hand an ihrem Rücken zur Tür.

Lily scheute vor der Berührung zurück und rieb sich unwillkürlich die Oberarme.

„Wenn dir kalt ist, solltest du dir mehr anziehen.“ Er musterte sie von oben bis unten. Sein Blick war vernichtend.

Stumm sah sie an sich herab – weißes T-Shirt, schwarze Leggings, schwarze Ballerinas.

„Schon mal was von einem BH gehört?“, fragte er abfällig.

Prompt zogen sich die Spitzen ihrer Brüste zusammen, als sie bemerkte, wohin er schaute. Seine Feindseligkeit erschreckte sie. Aber im Moment hatte sie einfach nicht die Energie, um sich zu verteidigen.

Tristan murmelte etwas, zog sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Sofort umgab sie eine männlich duftende Wolke. Ohne ein weiteres Wort fasste er sie am Oberarm und zog sie mit sich Richtung Ausgang, wie ein Vater mit seiner frechen halbwüchsigen Tochter. Lily wollte sich losmachen, wollte Abstand zwischen sie bringen, doch sein Griff wurde nur fester. Sie musste daran denken, wie er früher in die Nachtklubs gestürmt war, um Jordana und sie von den Partys wegzuholen. Meist waren es die Partys ihres Stiefvaters Frank Murphy gewesen, und wenn sie heute zurückblickte, konnte sie nur sagen, dass Tristan das Richtige getan hatte. Damals als Teenager hatte sie natürlich vor Wut geschäumt.

Die großen Schiebetüren zur Ankunftshalle kamen in Sicht. In Gedanken stieß Lily einen erleichterten Seufzer aus. Hoffentlich wartete Jordana auf der anderen Seite, dann konnte Lily sich bei Tristan für seine Hilfe bedanken und brauchte ihn bis zur Hochzeit nicht mehr zu sehen.

Doch ihre Hoffnung verpuffte jäh, als Tristan sie plötzlich in eine der Bars in der großen Halle schob. Außer zwei Geschäftsmännern, die offensichtlich auf ihren Flug warteten, war das Lokal leer. Neben einem der roten Barhocker an der Theke wartete Lily ab, was nun kommen würde. Tristan bestellte zwei Whisky, und erst als die Gläser vor ihnen standen, drehte er sich zu ihr um und taxierte sie mit eisigem Blick.

„Wieso, zum Teufel, tauchst du wieder im Leben meiner Schwester auf?“, fragte er schneidend.

Lily starrte ihn nur stumm an. Die Uhr schien sich um sechs Jahre zurückzudrehen, sie hatte das Gefühl, wieder im Arbeitszimmer seines Vaters zu stehen. Damals hatte er ihr die Schuld für etwas, das sie nicht getan hatte, zugeschoben und sie eine „billige Schlampe“ genannt.

Mit dieser Erinnerung kehrte allerdings auch die an den Kuss zurück, bei dem ihr fast die Sinne geschwunden wären. Auch jetzt reagierte ihr Körper prompt mit einer prickelnden Gänsehaut. Schnell rief sie sich seine rüde Zurückweisung, die auf den Kuss gefolgt war, ins Gedächtnis, um die spontane Reaktion ihres Körpers zu unterdrücken. Wie konnte sie nach so langer Zeit noch immer derart auf jemanden reagieren, der sie so unmöglich behandelt hatte?

Als sie sich das Wiedersehen mit Tristan ausgemalt hatte, da wäre ihr ein Szenario wie dieses hier nie in den Sinn gekommen. Ein wenig hatte sie sogar darauf gehofft, dass sie Freunde werden und zusammen über ihre Teenagerschwärmerei und seinen Irrtum, sie hätte die Kokainparty organisiert und die Fotos ins Internet gestellt, lachen könnten. In diesem Traum hatte sie sich selbst gesehen, wie sie nonchalant abwinkte und sagte: „Oh bitte, das alles ist doch schon so lange her.“

Leider hatte sie bei dieser Fantasie nicht bedacht, dass sie am Londoner Flughafen wegen Drogenbesitzes festgenommen werden könnte.

Jetzt musste sie sich mit aller noch verbliebenen Kraft zusammennehmen, um ihn nicht mit offen stehendem Mund und weit aufgerissenen Augen anzuhimmeln. Still ermahnte sie sich, dass sie kein leicht zu beeindruckender Teenager mehr sei, sondern eine erwachsene Frau. Hatte sie sich nicht vorgenommen, Tristan auf Augenhöhe gegenüberzutreten? Die jugendlichen Fantasien, die sie so oft gequält hatten und an denen sie so viele andere Männer gemessen hatte, endgültig aufzugeben?

„Jordana hat mich zur Hochzeit eingeladen“, erwiderte sie endlich so höflich sie konnte, auch wenn seine rüde Frage eigentlich das genaue Gegenteil von Höflichkeit verdient hätte.

„Ein kapitaler Fehler“, meinte er abfällig. „Ich weiß nicht, was meine Schwester sich dabei gedacht hat.“ Er stürzte den Whisky hinunter, stellte das Glas ab und deutete auf ihres. „Trink. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.“

„Was ich brauche, ist ein Bett“, murmelte sie und wurde sich erst bewusst, was sie da gesagt hatte, als er eine Augenbraue in die Höhe zog.

„Falls das eine Einladung sein soll“, sagte er spöttisch, „vergiss es.“

Einladung?! Sie schnappte empört nach Luft und wünschte, sie hätte es nicht getan, denn jetzt drang sein Duft in ihre Nase und stellte tief in ihr unmögliche Dinge mit ihr an. Ihr Puls beschleunigte sich, und bevor sie es verhindern konnte, eilten ihre Gedanken wieder zurück zu dem Kuss …

Wie muskulös und männlich Tristan gewesen war! Wie verlangend sie sich an ihn geschmiegt hatte! Noch jetzt schoss ihr die Hitze in die Wangen, wenn sie an ihren jugendlichen Überschwang dachte. Himmel, vielleicht hatte sie diesen Kuss ja sogar initiiert! Wie erniedrigend! Vor allem angesichts der Tatsache, dass sie sich an die Küsse von anderen Männern nicht so genau erinnern konnte.

Still verfluchte sie die eigene Dummheit, zog sein Jackett von den Schultern, um es ihm zurückzugeben, und kramte in der großen Handtasche nach ihrer Lieblingsstrickjacke und Baseballkappe. Sie setzte die Mütze auf und zog die viel zu große Strickjacke über. Weder wollte sie von übereifrigen Fans noch von herumlungernden Paparazzi erkannt werden.

Tristans vernichtenden Blick ignorierte sie. Seine schneidende Art erzürnte sie mehr und mehr. Natürlich hatte er Grund, verärgert zu sein, aber sie hatte nichts Falsches getan. Würde ihm ein Zacken aus der Krone brechen, zivilisiertes Benehmen an den Tag zu legen? Schließlich war nicht er stundenlang verhört worden, sondern sie, noch dazu wegen etwas, das sie nicht getan hatte!

Sie rang sich ein Lächeln ab und schulterte die Tasche. „Auf jeden Fall Danke für deine Hilfe. Mir ist klar, dass du dich nicht freiwillig gemeldet hast, dennoch weiß ich es zu schätzen.“

„Was du schätzt oder nicht schätzt, ist mir herzlich egal. Ich fasse es nicht, dass du tatsächlich den Nerv hast, so etwas zu versuchen! Und das bei deiner Vorgeschichte! Hast du gedacht, es würde reichen, keinen BH zu tragen und die blonde Mähne zu schütteln, damit niemand darauf achtet, was du in deiner Tasche mitschleppst?“

Ihr Blick flog zu seinem Gesicht. Er hielt sie also für schuldig?! „Wie kannst du es wagen!“ Die Ungerechtigkeit des Ganzen trieb ihr Wuttränen in die Augen. „Ich wusste nichts von dem Zeug in meiner Tasche. Und so reise ich immer. Ich bin doch wohl vollständig bekleidet, oder etwa nicht?“

„Darüber lässt sich streiten. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass du wenigstens etwas weniger Fleisch zeigst als auf den Filmplakaten.“

Darauf konnte sie nichts entgegnen. Filmplakate wurden immer freizügiger aufgemacht, als vielen Schauspielerinnen lieb war. Viele ihrer Kolleginnen frustrierte es ebenso wie sie.

Nicht, dass Tristan ihr glauben würde. Wie immer dachte er nur das Schlechteste von ihr. Je eher sie hier weg kam, desto besser.

„Sag mal, Honey Blossom, hast du eigentlich schon in einem Film mitgespielt, in dem du deine Kleider anbehalten durftest?“

Lily schäumte. Seit ihrem siebten Lebensjahr nannte sie niemand mehr Honey Blossom, und in ihren Filmen war sie nie nackt. „Ich heiße Lily, und deine Frage entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage, sie ist schlichtweg beleidigend.“

Er zeigte ihr nur ein gelangweiltes Lächeln und deutete nochmals auf den Drink. „Trink endlich aus. Ich habe noch anderes zu tun.“

Jetzt reichte es ihr! Dankbar oder nicht, seine ungehobelten Bemerkungen musste sie sich nicht länger anhören. „Ich will deinen blöden Drink nicht!“ Sie hob das Kinn und rückte die Kappe zurecht. „Und deine Unhöflichkeit habe ich auch satt. Nochmals Danke für die Hilfe bei dieser … misslichen Angelegenheit, aber weitere Umstände brauchst du dir nicht zu machen. Und wenn du auf der Hochzeit einen großen Bogen um mich machst – ich werde es dir ganz bestimmt nicht übel nehmen.“

Sie wollte gehen, aber er versperrte ihr den Weg. „Nette kleine Rede, doch diese ‚missliche Angelegenheit‘, wie du es nennst, hat dich unter meine Obhut gestellt. Was heißt, dass ich jetzt die Anordnungen gebe.“

Lily riss die Augenbrauen in die Höhe. „Unter deine Obhut?“ Fast hätte sie aufgelacht.

Offensichtlich missfiel ihm ihre Reaktion, denn er erwiderte drohend: „Hast du geglaubt, die Bedingungen für deine Freilassung wären nur zum Spaß, und man würde dich einfach so auf die Öffentlichkeit loslassen?“

Lily stieß gegen den Barhocker, als sie zurückwich. Sie hatte das Formular lediglich überflogen, bevor sie es unterschrieben hatte. Jetzt machte sich das ungute Gefühl in ihr breit, dass sie das bereuen würde.

„Diese Bedingung habe ich gar nicht gesehen.“ Sie zog die Oberlippe zwischen die Zähne, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war – eine Angewohnheit aus der Kindheit, die sie nie abgelegt hatte.

Tristan musterte sie durchdringend und musste wohl entschieden haben, dass sie die Wahrheit sagte, denn er lachte spöttisch auf.

„Wie schön, dass du das lustig findest“, fauchte sie.

„‚Lustig‘ wäre die letzte Beschreibung, die mir für diese Situation einfällt“, konterte er grimmig. „Mit deiner Unterschrift hast du schriftlich versichert, dich unter meine Obhut zu begeben, bis du entweder freigesprochen“ – sein Tonfall ließ deutlich durchblicken, für wie unwahrscheinlich er das hielt – „oder wegen Drogenbesitzes angeklagt wirst.“

Lily wurde schwindelig, sie musste sich auf den Hocker stützen. „Ich verstehe nicht …“

„Was denn? Hast du angenommen, die Beweise lösen sich auf magische Weise in Luft auf? Ich bin gut, Honey, aber so gut nun doch nicht.“

„Nein.“ Sie wedelte sich Luft zu und schloss kurz die Augen. „Ich meine das mit der Obhut.“

„Du stehst unter Hausarrest.“

„Was genau heißt das?“

Er sah sie an, als wäre sie schwachsinnig. „Das heißt, dass wir bis auf Weiteres jede einzelne Minute jedes einzelnen Tages miteinander festsitzen.“

Lily blinzelte. Vierundzwanzig mal sechzig Minuten am Tag mit diesem Mann? Sie massierte sich die Schläfen. Es musste eine andere Lösung geben!

„Das kann ich nicht!“, sprudelte es aus ihr heraus, bevor sie ihre Gedanken geordnet hatte.

„Glaub mir, dir kann es nicht unangenehmer sein als mir.“

„Du hättest mir das sagen sollen.“

„Und du hättest die Dokumente durchlesen sollen, bevor du sie unterschreibst.“

Natürlich hatte er recht, und das hasste sie am meisten. „Du hast mich gehetzt.“

„Ach, jetzt ist es also meine Schuld?“

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Das sage ich nicht. Aber du hättest mich zumindest darauf hinweisen können.“

„Und dann?“, fragte er kalt. Mit der langen welligen Mähne erinnerte er Lily an einen Löwen, und dieser Löwe war zum Sprung bereit.

„Ich hätte nach einer anderen Lösung gesucht, andere Optionen durchgespielt …“

„Durchgespielt?“ Er schnaubte abfällig. „Honey, wir sind hier nicht beim Film. Die Szenen lassen sich nicht endlos wiederholen, bis die richtige im Kasten ist.“

Wenn er sie noch einmal Honey nannte, würde sie ihn ohrfeigen! Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, erinnerte sich daran, dass er guten Grund hatte, wütend zu sein. Wäre die Situation andersherum, würde sie vermutlich ebenso reagieren.

Nein, würde sie nicht. Sie würde sich viel zu sehr um den anderen Menschen sorgen, um ihn so … so respektlos zu behandeln. „Hör zu“, setzte sie an, wurde jedoch sofort unterbrochen.

„Nein, du hörst zu. Du hast keine Wahl. Oder doch … eine Gefängniszelle. Wenn dir das lieber ist, können wir gern wieder zu den Beamten zurückgehen.“

Lily wurde bleich. „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“

„Spar dir deine Unschuldsbeteuerungen für den Richter auf. Ich habe nicht das geringste Interesse daran.“

„Verdammt, ich habe Rechte!“

„Nein.“ Er sprach leise, und doch war sein Ton unerbittlich. „Deine Rechte hast du verspielt, als du mit einer Tasche voller Drogen durch den Zoll marschiert bist. Deine Rechte gehören jetzt alle mir. Wenn ich sage: ‚Spring‘, dann fragst du nur: ‚Wie hoch?‘ Ist das klar?“

Der Mann hatte Nerven! Sie schnaubte, inzwischen genauso wütend wie er. „Davon träumst du auch nur.“

Nein, dachte Tristan bitter, wenn er von ihr träumte, dann lag sie normalerweise nackt auf seinem Bett und lockte ihn mit begehrenden Blicken zu sich. Doch hier handelte es sich nicht um einen Traum, und im Moment war ihm nun wirklich nicht danach, mit ihr zu schlafen.

Ihr das süffisante Lächeln von den vollen Lippen zu küssen wäre allerdings etwas anderes.

Es verwunderte ihn nicht, dass er nach all den Jahren noch immer solchen Träumereien nachhing. Lily Wild war die fleischgewordene Fantasie eines jeden Mannes, selbst mit den dunklen Ringen unter den blauen Augen. Aber sie war nicht seine Fantasie. Dieses Mal nicht.

Er hätte schlicht Nein zu Jordana sagen sollen, hätte sich irgendeine Story einfallen lassen sollen, dass nichts zu machen sei. Nur ließ seine Integrität Lügen nicht zu. Und so hatte er einen Freund, einen Fachanwalt für Strafrecht, um Rat gefragt, und der hatte dieses Kaninchen aus dem Hut gezogen: ein Schlupfloch im Gesetz aus dem neunzehnten Jahrhundert.

„Hörst du mir überhaupt zu, Tristan?“ Ihre wunderschönen Augen sprühten Funken. „Ich werde mich nicht von dir herumschubsen lassen.“

Oh ja, er hatte ihr zugehört. Nur hatte sie in dieser Sache keine Entscheidungsfreiheit, und je eher sie das begriff, desto besser. „Provozier mich besser nicht, Lily“, warnte er und warf ihr einen Blick zu, den er normalerweise für seine Gegner im Gerichtssaal aufsparte.

Er sah, wie sie die Fäuste an den Seiten ballte. Vermutlich wäre sie ihm zu gern an die Gurgel gegangen. Er musste sich eingestehen, dass er ihren Kampfgeist bewunderte. Die meisten anderen in ihrer Situation, ganz gleich, ob Frau oder Mann, hätten sich gefügig und unterwürfig verhalten, dieser schöne Hitzkopf jedoch schien immer noch allen Ernstes zu überlegen, ob das Gefängnis nicht seiner Obhut vorzuziehen wäre.

„Dann provozier du mich gefälligst auch nicht!“, schleuderte sie zurück.

Still ermahnte er sich, dass er vor allem deshalb so erfolgreich als Anwalt war, weil er sich grundsätzlich nicht von Emotionen mitreißen ließ. „Du hast eine Einwilligungserklärung unterzeichnet. Halte dich daran.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. Dabei klaffte die weite Strickjacke auseinander und zog seine Aufmerksamkeit automatisch auf ihre vollen festen Brüste.

„Ich sagte dir bereits“, protestierte sie, „ich wusste nicht, was ich da unterschreibe.“

Sicher, so wie sie auch nicht wusste, wie die Drogen in ihre Tasche gekommen waren. Ha, den Straftäter musste er erst noch treffen, der sich schuldig bekannte! Ihr ständiges Leugnen wurde langsam langweilig.

Ihm fiel auf, dass die beiden Geschäftsmänner, die vorhin noch in angeregter Diskussion dagesessen hatten, immer häufiger zu Lily blickten. Verständnis hatte er dafür. Wer würde sich nicht von einer wallenden blonden Mähne und einer Traumfigur mit endlos langen Beinen ablenken lassen?

Damals hatten diese Beine noch länger gewirkt, als Lily an jenem Wochenende in einem knappen silbernen Kleid und Stilettos die Treppe in Hillesden Abbey, dem Haus seiner Eltern, herabgestiegen war …

„Hast du Lust zu tanzen?“ Sie hatte sich genau vor ihn positioniert, eine Hand in die Hüfte gestützt, die blutrot geschminkten Lippen zum Schmollmund verzogen.

Natürlich hatte er verneint. Ihr Anblick hatte eine dunkle Lust in ihm geweckt, mit der sie in ihrem Alter gar nicht hätte umgehen können.

„Mit Jordana hast du aber getanzt.“ Sie klimperte mit den verboten langen Wimpern. „Und mit der Frau in dem blauen Kleid auch.“

Das hatte ihm einen Ellbogenstoß seines Freundes Gabriel eingebracht. „Da hat sie recht.“

„Also?“ Lily verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein, was ihr Kleid fast unmerklich ein Stückchen an ihren Schenkeln höherrutschen ließ.

Er hatte schon ein zweites Mal ablehnen wollen, doch da mischte Gabriel sich erneut ein und meinte, er würde mit ihr tanzen, wenn Tristan nicht wollte. Eine Vorstellung, die Tristan aus irgendeinem Grund einen Stich versetzte. Er warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu und wandte sich wieder an Lily. „Na schön, dann los.“

Sie schenkte Gabriel ein flirtendes Lächeln und ging dann zur Tanzfläche, gefolgt von Tristan, der wenig begeistert wirkte und mit den Zähnen knirschte.

Wie auf Kommando setzte ein langsamer Song ein. Fast hätte er es sich doch noch anders überlegt, aber in diesem Augenblick drehte sie sich um, und das strahlende Lächeln galt jetzt ihm. Als sie begannen zu tanzen, verflüchtigte sich auch der letzte klare Gedanke aus seinem Kopf.

„Tolle Party, nicht wahr?“, fragte sie leise.

„Ja.“

„Das Tanzen macht doch Spaß, oder?“

„Ja.“

„Amüsierst du dich?“

Nein. Nicht, wenn seine Selbstbeherrschung sich mit jeder gehauchten Frage mehr und mehr auflöste. Er war so darauf konzentriert, sich davon abzuhalten, sie an sich zu ziehen, dass ihm völlig entging, wie sie immer näher rückte. Mit dem Moment, in dem er ihren nackten Schenkel zwischen seinen jeansbekleideten Beinen fühlte und ihr Busen sich flüchtig an seine Brust drückte, wurde Selbstbeherrschung endgültig ein Fremdwort für ihn.

Er legte die Hand an ihre Hüfte, um sie ein Stück von sich zu schieben, doch stattdessen stahlen sich seine Finger weiter um sie herum bis an ihren Rücken. Mit einem leisen wohligen Laut schmiegte sie sich sofort der Länge nach an ihn, und er konnte die Reaktion seines Körpers endgültig nicht mehr verheimlichen. Fieber schien ihn jäh zu befallen, sein Herz raste, ein schmerzhaftes Ziehen breitete sich in ihm aus.

Nur traf er genau die falsche Entscheidung: Er tanzte mit ihr in eine stille Ecke, in der vollen Absicht, sie zurechtzuweisen und ihr zu sagen, dass er sich nicht mit Mädchen abgab, die gerade erst aus den Windeln heraus waren. Doch sie erschauerte in seinen Armen, ihre Lippen öffneten sich leicht, und ohne zu wissen, was er tat, presste er seinen Mund auf ihren.

Der Stromstoß, der ihn durchzuckte, hätte ausgereicht, um eine Kleinstadt mit Energie zu versorgen. Wie von allein schob sich seine Hand in ihr Haar, die andere glitt zu ihrem Po, um sie hart an sich zu pressen. Seine Zunge verlangte gierig Einlass, den sie ihm nur zu gern gewährte.

Er verlor jegliches Bewusstsein für Ort und Zeit … bis jemand ihm zögernd auf die Schulter tippte.

Thomas, der Butler, stand hinter ihm wie eine Statue, mit ausdrucksloser Miene, und teilte ihm tonlos mit, dass sein Vater ihn dringend zu sprechen wünsche.

Für eine Sekunde übertraf seine Enttäuschung sogar Lilys, dann wurde ihm klar, was er hier tat. Er war entsetzt und angewidert von sich selbst. Sie war die Freundin seiner kleinen Schwester! Die erotischen Bilder, die in seinem Kopf aufblitzten, waren mehr als unangebracht.

Abrupt hatte er sie losgelassen und scharf angefahren, ihn in Ruhe zu lassen. Er habe kein Interesse an Babys. Als Folge hatte sie ihn damit gestraft, dass sie den ganzen Abend an einem Typen im Armani-Anzug geklebt hatte wie Efeu an einer Hauswand …

Einer der Geschäftsmänner lachte auf und holte Tristan in die Gegenwart zurück. Er schloss die Augen, um sich zu sammeln. Als er die Lider wieder hob, traf er auf Lilys Blick im Spiegel über der Bar. Etwas Ursprüngliches loderte zwischen ihnen auf, eine instinktive Reaktion, die sich ihrer Kontrolle entzog. Ihre Zungenspitze schnellte vor, leckte blitzschnell über die Unterlippe. Prompt durchzog ihn ein süßer Schmerz.

Verdammt. Hatte sie das absichtlich gemacht? Wusste sie, was hinter seiner Stirn vorging?

Bewusst langsam lenkte er seine Augen in eine andere Richtung. Er war kein Trottel, der sich manipulieren ließ. Je eher sie das begriff, desto besser für sie beide.

Er zog sein Jackett wieder an. „Wir gehen.“

„Warte.“ Spontan legte sie ihm die Hand auf den Arm, zog sie jedoch ebenso schnell wieder zurück. „Wir müssen das erst klären.“

„Alles ist geklärt. Ich habe das Sagen, du nicht.“

„Mir ist klar, dass du wütend bist …“

„Aha, das weißt du also?“, spottete er.

„… aber ich habe keine Ahnung, wie das Zeug in meine Tasche gekommen ist. Und ich gehe erst mit dir, wenn ich weiß, was als Nächstes passiert. Ich lasse mich nicht von dir herumschubsen wie vor sechs Jahren. Damals …“

„Oh, lass das Theater, Honey. Hier gibt es nirgendwo eine Kamera.“

„Lily.“

Einen Moment lang starrte er sie an. Sie hatte Kopfschmerzen, das hatte er gleich an ihrer Miene bemerkt, und inzwischen hatte sie es auch geschafft, dass sich bei ihm ein Pochen hinter den Schläfen meldete. „Lily, meinetwegen. Meinst du, das hier macht mir Spaß? Meinst du, ich hätte nicht nach einer Alternative gesucht? Ich habe sogar einen guten Freund mit in die Sache hineingezogen, um dich freizubekommen. Und dir fällt nicht mehr ein, als die Unschuld in Person zu spielen? Du hast das Gesetz gebrochen, nicht ich. Also hör auf, mir die Rolle des gemeinen Widerlings zuzuweisen.“

„Einen Freund?“, wisperte sie. Das hatte ihr offensichtlich den Wind aus den Segeln genommen. „Er wird doch hoffentlich nicht an die Presse gehen, oder?“

Tristan schüttelte den Kopf. „Das ist wieder mal typisch – du denkst nur an dich.“

„Ich mache mir Sorgen, welche Auswirkungen das auf Jordanas Hochzeit haben könnte“, fauchte sie zurück.

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Und nein, er wird nichts durchsickern lassen. Der Mann besitzt Diskretion und Integrität. Die Wörter solltest du mal im Fremdwörterbuch nachschlagen, damit du weißt, was das heißt. Herrgott, du hättest dir auch hier Drogen besorgen können, wenn du es so dringend nötig hast!“

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Was ist in diesem Land aus der Unschuldsvermutung geworden, bis die Schuld bewiesen ist?“

„Am Zoll mit Drogen erwischt zu werden, ist wohl Beweis genug“, schnaubte er.

Lilys Kinn ruckte höher. „Sollten Anwälte ihren Mandanten nicht objektiv gegenüberstehen?“

„Ich bin nicht dein Anwalt.“

„Sondern? Mein Ritter in goldener Rüstung?“

Ein Muskel zuckte an seiner Wange. „Ich tue Jordana einen Gefallen.“

„Ah ja, der große Bruder“, spottete sie. „In der Rolle hast du dir ja schon immer gefallen. Es muss doch damals ein gutes Gefühl gewesen sein, Jordana vor meiner üblen Gesellschaft zu bewahren.“

Sie schlang die Arme um sich – eine Geste der Verteidigung, die ihn seltsam rührte. Doch er weigerte sich, Mitleid mit ihr zu haben. Sein Vater hatte völlig recht gehabt: Lily Wild war eine Katastrophe, die nur darauf wartete, loszubrechen. „Ich hätte schon viel früher eingreifen sollen, eure Freundschaft von Anfang an unterbinden sollen. Als ich gehört habe, dass du zur Hochzeit kommst, wollte ich dich eigentlich nicht einmal grüßen. Jetzt ist ein ‚Hallo‘ wohl mein geringstes Problem. Lass dir versichert sein, dass ich die nächsten acht Tage nicht damit verbringen werde, jeden einzelnen Punkt durchzudiskutieren. Wenn du also …“

„Fein.“ Sie massierte sich die Schläfen.

Natürlich wusste er, was sie meinte, dennoch hakte er nach. „Fein – was? Kommst du mit, oder soll ich dich zu den Beamten zurückbringen?“

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler geworden, und ihr Gesicht hatte praktisch alle Farbe verloren. Traf sie jetzt erst der Schock des Ganzen? Oder hatte sie die ganze Zeit unter Schock gestanden und kam nun zu sich?

Er fluchte leise und hielt ihr seine Hand hin. Kommentarlos legte sie ihre Finger hinein. Eiskalte Finger. Also zog Tristan sein Jackett wieder aus und legte es ihr um, packte sie dann bei den Oberarmen und zog sie näher.

„Benimm dich und kooperiere“, knurrte er.

„Nie sagst du ‚bitte‘.“

Verflucht, selbst jetzt, da sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, musste sie das letzte Wort haben. Eisern hielt er den Blick auf ihre Augen gerichtet, denn sank er erst auf ihren Mund, wusste er schon jetzt, was passieren würde.

„Bitte“, stieß er nach einer langen Pause aus. „Kannst du laufen?“

„Sicher.“ Sie schwankte bedrohlich, als er sie losließ.

Er wusste, dass es ein kapitaler Fehler war … dennoch hob er sie auf die Arme und trug sie aus der Bar. „Mach jetzt ja keine Szene. Uns fehlte gerade noch, dass man dich erkennt.“

Und tatsächlich gehorchte sie und barg den Kopf an seiner Schulter, während Tristan ihren süßen Duft mit jedem Atemzug in sich aufnahm.

Die Brise draußen vor dem Terminal bot eine willkommene Abkühlung. Mit ausgreifenden Schritten steuerte Tristan auf die dunkle Limousine zu. Bert, der Chauffeur, hielt bereits die Wagentür auf. Doch bevor Tristan Lily auf dem Rücksitz abladen konnte, legte sie leicht die Hand auf seine Brust.

„Mein Gepäck …“

„Ist erledigt.“

Er wünschte, er hätte das auch über die höchst unwillkommene Anziehungskraft dieser Frau sagen können.

3. KAPITEL

Lily lehnte sich in die weichen Lederpolster zurück und schloss die Augen. Ihr Puls raste, und sie fror erbärmlich. Sie konnte nicht sagen, ob es an den Erinnerungen oder dem Mann selbst lag, dass Verlangen in ihr schwelte, seit er sie in die Arme gezogen und angesehen hatte, als wollte er sie küssen.

Küssen? Unsinn. Wohl eher schütteln. Schließlich machte er keinen Hehl daraus, dass er sie verachtete.

So wie sie ihn.

Diese seltsame körperliche Reaktion beruhte aller Wahrscheinlichkeit nach auf Stress. Sie war einfach überempfindlich; es hatte überhaupt nichts mit Tristan zu tun. Wie sollte es auch? Für ihn war sie doch ein Nichts. Einen Moment hatte es sie tatsächlich gereizt, in das pubertäre Trotzverhalten zurückzufallen, das sie früher an den Tag gelegt hatte, wenn die Paparazzi sie wieder einmal wegen ihrer Eltern jagten. Damals hatte sie sich angezogen wie ein Stadtstreicher, hatte den Reportern den Vogel gezeigt oder so getan, als wäre sie sturzbetrunken.

Heute ignorierte Lily die Berichte, in denen ihr Leben mit dem ihrer Eltern verglichen wurde. Sie lebte ihr Leben, wie sie es für richtig hielt, die Erwartungen anderer interessierten sie nicht. Bis zu einem gewissen Grad funktionierte es, auch wenn ihr klar war, dass sie den Schatten ihrer berühmt-berüchtigten Eltern nie würde abschütteln können.

Hanny Forsberg, ihre Mutter, war arm und schön nach England gekommen und stand schon in den Gesellschaftsspalten, noch bevor sie eine Bleibe gefunden hatte. Johnny Wild, ihr Vater, ein junger Wilder aus Norfolk, war ausgestattet mit musikalischem Talent, riesengroßem Ehrgeiz und einem unersättlichen Hunger auf das andere Geschlecht. Die beiden hatten sich gesucht und gefunden, zusammen kosteten sie das schillernde Leben auf der Überholspur in vollen Zügen aus. Als Lily dann geboren wurde, war sie nur ein weiteres Mode-Accessoire gewesen und von einem zum anderen geschoben worden, je nachdem, wer gerade Zeit für sie hatte.

Die Blitzlichtgewitter und das ständige Interesse der Öffentlichkeit hatten sie als Kind geängstigt, doch nicht so sehr, dass sie nicht ihre eigene Karriere als Schauspielerin verfolgt hätte. Doch auch heute noch hasste sie die ständigen Anspielungen auf ihre Eltern. Sie konnte keinen Schritt tun, ohne dass die Presse in ihr nicht sofort ihre Mutter entdeckte.

Mit einem stillen Seufzer schaute Lily aus dem Seitenfenster auf die englische Landschaft, die sie so lange nicht gesehen hatte. Aber die vorbeifliegende Szenerie verschlimmerte ihre Kopfschmerzen, und sie schloss die Lider wieder. Hunderte von Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, allerdings bezweifelte sie, dass Tristan auch nur eine davon beantworten würde. Sie könnte natürlich auch das Manuskript lesen, das in ihrer Tasche steckte, aber Lesen während der Fahrt würde das Kopfweh sicherlich noch mehr verstärken. Zwar hatte sie einem Freund versprochen, es sich anzusehen, aber sie hatte auf keinen Fall vor, die weibliche Hauptrolle in einem Theaterstück über das Leben ihrer Eltern zu übernehmen, ganz gleich, wie begabt der junge aufstrebende Autor auch sein mochte.

Ihre Lippen zuckten leicht. Tristans Miene konnte sie sich bestens vorstellen, wüsste er davon. Sicherlich wäre sie seiner Meinung nach die perfekte Besetzung für die Rolle des einsamen, drogenabhängigen Models, das sich nach der Liebe und Aufmerksamkeit eines Mannes sehnte, der der geborene Playboy war.

Welch Ironie des Schicksals. Ein einziges Mal war Lily bisher verliebt gewesen, und das ausgerechnet in einen Mann, der ein fast ebenso großer Playboy war wie ihr Vater! Heute war sie froh, dass Tristan damals ihre übereifrigen Annäherungsversuche so schroff abgewiesen hatte. Zweifelsohne hätte er ihr nur das Herz gebrochen und sie seiner Eroberungsliste hinzugefügt.

Tristan strich eine Zeile aus dem schriftlichen Entwurf, den er überarbeitete, und fluchte in Gedanken. Er hatte den falschen Abschnitt erwischt.

Neben ihm ließ Lily einen Seufzer hören. Ob sie ahnte, was sie seiner Konzentration antat? Er warf einen Seitenblick auf sie und stellte fest, dass sie eingeschlafen war.

Sie wirkte so zierlich und verloren in seinem Jackett. Er wusste, wenn sie es ihm zurückgäbe, würde es wie der Garten seiner verstorbenen Mutter riechen. Sobald sie ankamen, sollte seine Haushälterin es sofort in die Reinigung geben!

Als er merkte, wohin seine Gedanken abschweiften, runzelte er die Stirn. Er hatte zu arbeiten! Er durfte nicht über Lily nachdenken, wollte nicht ihre verletzte Miene vor sich sehen, als er ihren Erklärungsversuch barsch unterbrochen hatte. Ihr Lügengespinst interessierte ihn nicht im Geringsten. Und je weniger sie miteinander redeten, desto besser.

Es war verrückt, aber sie hatte eine Art an sich, die ihm unter die Haut ging. Als ihre Augen vorhin in der Bar tatsächlich feucht zu schimmern begonnen hatten, da hätte er ihr fast über die Wange gestreichelt, um sie zu trösten, und ihr versichert, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Lachhaft!

Es war nicht seine Aufgabe, ihr Problem zu lösen. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass sie bis zu Jordanas Hochzeit nichts anstellte, und Informationen zu liefern, die ihre Verhaftung – oder die eines anderen – rechtfertigten. Freundschaft mit ihr zu schließen oder gefühlsduselige Versprechungen zu machen, fiel nicht in seinen Verantwortungsbereich. Und Küssen schon mal gar nicht – auch wenn er genau das jetzt gern getan hätte.

Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er wirklich den Verstand verloren, sich in die Sache hineinziehen zu lassen. Stuart, sein Freund und Kollege, der ihn auf diese uralte „Obhutsklausel“ aufmerksam gemacht hatte, schien das auf jeden Fall zu denken.

„Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?“, hatte er gefragt. „Falls sie schuldig sein sollte, wird man sich wundern, weshalb du dich da reingehängt hast. Es könnte deine Karriere ruinieren. Auf jeden Fall aber wird man deinen Familiennamen genüsslich durch den Dreck ziehen.“

„Ja, ich weiß“, hatte er geantwortet, obwohl das nicht stimmte. Er wusste nur, dass es da noch immer eine starke Anziehungskraft gab, genau wie vor sechs Jahren.

Nicht, dass er irgendetwas in diese Richtung unternehmen würde. Er ließ sich nicht mit Abhängigen ein. Seine Mutter war abhängig gewesen, zwar nicht von Partydrogen, aber von Medikamenten. Sie hatte eine ganze Palette geschluckt, von Diätpillen bis Antidepressiva. Das Resultat: Veränderte Persönlichkeit, Stimmungsschwankungen und letztendlich der Tod, als sie ihren Wagen frontal vor einen Baum gefahren hatte.

Seine Mutter war nicht leicht zu lieben gewesen. Sie hatte seinen Vater des Geldes und seines Titels wegen geheiratet, und seit Tristan sich erinnern konnte, hatte sie sich entweder darüber beschwert, dass ihr Mann zu viel arbeitete oder dass die Abbey unerträglich altmodisch sei. Sein Vater hatte sein Bestes getan, aber offensichtlich war das nicht gut genug gewesen. Nach einem Streit, von dem Tristan noch immer wünschte, er hätte ihn nicht mit angehört, war sie aus dem Haus gestürmt und nie wieder zurückgekehrt. Sein Vater war am Boden zerstört gewesen, und Tristan hatte sich damals geschworen, niemals eine Frau so nah an sich heranzulassen.

Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, stand also in der Blüte des Lebens. Er nannte eine internationale Anwaltsfirma und Immobilien auf der ganzen Welt sein Eigen. Er hatte gute Freunde und genug Geld, dass er für sein Lebtag ausgesorgt hatte, selbst abzüglich der Summen, die er regelmäßig für wohltätige Zwecke spendete. Mochte sein, dass sein Leben in letzter Zeit einen leicht faden Geschmack bekommen hatte, aber das störte ihn vorläufig nicht weiter.

Jordanas Meinung nach lag es daran, dass er sich mit den falschen Frauen verabredete, und wenn er dann eine traf, die eine Beziehung „wert“ gewesen wäre, brach er den Kontakt nach kurzer Zeit ab. Der Grund dafür war einfach: Frauen erwarteten nach einer gewissen Zeit bestimmte Dinge von einem Mann, begannen von Liebe und einer gemeinsamen Zukunft zu reden.

Daher achtete er darauf, seine Affären kurz zu halten. Eines Tages würde er bestimmt heiraten, aber Liebe würde bei der Wahl seiner Ehefrau wohl eher wenig Bedeutung zukommen. Nein, er brauchte eine Frau, die aus seiner Welt stammte, die die Anforderungen seines Lebensstils verstand. Eine Gattin, die logisch und pragmatisch war wie er.

Lily gab ein Wimmern von sich, als sie leicht zur Seite kippte und ihr Kopf im Schlaf gegen die Scheibe stieß.

Tristan drehte ihr kurz das Gesicht zu. Eine Gattin, die das genaue Gegenteil dieser Frau war.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie mit einem Ruck den Kopf wieder aufrichtete. Dann wiederholte sich das Spiel. Das konnte unmöglich gut sein bei ihren Kopfschmerzen …

Nicht, dass es ihn interessierte. Trotzdem … bevor ihr Kopf erneut gegen die Scheibe prallen konnte, hielt er sie an der Schulter fest. Woraufhin sie sich schlaftrunken umdrehte und sich an seine Seite kuschelte. Ihr Haar kitzelte ihn am Kinn, ihr warmer Atem drang durch den Hemdstoff bis auf seine Haut. Als sie einen zufriedenen Laut hören ließ, der wie ein Schnurren klang, reagierte sein Körper prompt in typisch männlicher Manier.

Großer Gott! Wenn er sie jetzt zurückschob, würde sie aufwachen. Und, ehrlich gesagt, er konnte gut ohne die Fragen auskommen, die sie ihm stellen würde. Er hatte doch gemerkt, wie mühsam sie sich zurückgehalten hatte. Wenn er nicht vorsichtig war, könnte diese ganze Situation sehr schnell außer Kontrolle geraten.

Na gut, fünf Minuten würde er ihr geben. Fünf Minuten, dann würde er wegrutschen und sich um die E-Mails kümmern, die auf seinem Smartphone eingegangen waren …

Zwanzig Minuten später kündigte der Chauffeur an, dass sie da seien.

Natürlich, als ob er es nicht bemerkt hätte! „Fahren Sie uns zum Hintereingang, Bert“, wies Tristan den Fahrer an und versuchte gleichzeitig, Lily aufzuwecken. Er strich ihr übers Gesicht, worauf sie ihre Wange so vertrauensvoll in seine Hand schmiegte, dass sich ein eiserner Ring um seine Brust spannte.

Gott, sie war schön! Wie konnte jemand, dem die Natur so viele Vorzüge mitgegeben hatte, einfach alles für Drogen wegwerfen? Sicher, sie hatte ihre Eltern früh verloren, aber andere Menschen hatten ein schlimmeres Schicksal ertragen und waren daran gewachsen.

Dabei behauptete Jordana, Lily sei vernünftig, bodenständig und zurückhaltend.

Klar. Und er war der Kaiser von China.

„Alles in Ordnung, Sir?“

Na bestens. Zum zweiten Mal wurde er dabei ertappt, wie er vor sich hin träumte. Er musste aufhören, ständig über Lily nachzudenken. Sonst würde er bald vergessen haben, dass er sie weder mochte noch respektierte.

„Ja, natürlich.“ Er schob sich aus dem Wagen, hob die schlafende Lily vom Rücksitz. Sie schmiegte sich an ihn und schlief weiter. Die Kombination von Schock und Jetlag musste zu viel für sie gewesen sein.

Auf den höflichen Gruß des Wachmanns reagierte Tristan nur mit einem unverständlichen Laut. Kate, seiner stets effizienten Sekretärin, die im zehnten Stock von ihrem Schreibtisch aufsprang und die Tür seines Büros für ihn öffnete, warf er nur einen warnenden „Fragen Sie erst gar nicht“-Blick zu.

„Ich bin im Moment nicht zu erreichen“, sagte er noch, dann schob er die Tür mit dem Fuß zurück ins Schloss.

Er legte Lily auf dem weißen Ledersofa ab. Sie rollte sich zusammen und zog sein Jackett enger um sich, ohne aufzuwachen.

Die chemische Reinigung würde er vergessen und das blöde Jackett einfach in die Altkleidersammlung geben.

4. KAPITEL

Ihr war heiß. Viel zu heiß. Und jemand zerrte an ihr, wollte sie nach unten ziehen. Jonah?

Lily blinzelte und sah sich um. Wo war sie? Das Zimmer war ihr fremd …

„Fehlt dir dein Freund schon, Honey?“, drang eine männliche Stimme zu ihr.

Lily stützte sich auf einen Ellbogen. Tristan saß an einem großen Schreibtisch, halb verdeckt durch Stapel von ledergebundenen Büchern und Aktenordnern. Verwirrt starrte sie ihn an, dann stürzten die Ereignisse des Vormittags wieder auf sie ein.

Der Flug, die Drogen, das Verhör, Tristan …

„Du hast seinen Namen im Schlaf gerufen, mehrere Male.“

Wessen Namen? Lily wusste nicht, wovon Tristan sprach. Sie hatte keinen Freund, hatte noch nie einen gehabt. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und übers Gesicht. Schrecklich verschwitzt und verklebt fühlte sie sich, als hätte sie tagelang geschlafen. Das hatte sie doch hoffentlich nicht, oder?

Sie riskierte einen Blick zu Tristan. Er trug noch immer das weiße Hemd und die rote Krawatte, nur dass er die Ärmel aufgekrempelt und den Krawattenknoten gelockert hatte. Es war also noch immer Freitag, Gott sei Dank.

Sie sah sich genauer um. Das Büro war erstaunlich groß und – erstaunlich unordentlich. Nicht nur auf dem Schreibtisch stapelten sich kunterbunt Bücher und Ordner, sondern praktisch überall. Bei jemandem, der so durchorganisiert und kontrolliert war wie Tristan, hätte sie mehr Ordnung erwartet. Zwischen den überquellenden Bücherregalen hing ein – offenbar echtes – Gemälde von Gustav Klimt an der Wand. Auch das überraschte sie. Klimts Werke besaßen eine verträumte, fast märchenhafte Qualität, etwas, das sich mit ihrem Bild von Tristan überhaupt nicht vereinbaren ließ.

„Eine Investition“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Also, was bedeutet er dir?“

„Wer? Klimt?“

Tristan schnaubte ungeduldig. „Der bedauernswerte Kerl, dessen Namen du im Schlaf gemurmelt hast.“

Lily schüttelte den Kopf. Sie hatte immer noch keine Ahnung, von wem Tristan sprach. Immerhin wurde ihr bewusst, dass ihr so heiß war, weil sie immer noch sein Jackett trug. „Ich weiß wirklich nicht … Oh, du meinst Jonah?“

„Es wird ihn kaum freuen zu hören, dass er so schnell in Vergessenheit geraten ist. Obwohl … wie soll eine ‚moderne‘ Frau wie du sich bei so vielen Lovern auch alle Namen merken können, was?“

Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn an. Seine Laune hatte sich also offensichtlich nicht gebessert. Und was ihre sogenannten „Lover“ betraf – die Spekulationen in der Presse überschlugen sich, sobald sie sich nur mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts ein Taxi teilte.

Sie wollte ihn gerade wissen lassen, dass sie sehr gut ohne seinen Sarkasmus auskomme, als er einen großen braunen Umschlag hochhielt.

„Ich habe einen Bericht über dich erstellen lassen.“

Aha. „Schon mal auf die Idee gekommen, mich zu fragen? Hättest dir eine Menge Geld sparen können.“

Er tippte mit dem Füller auf den Schreibtisch. „Ich finde, Detektive arbeiten genauer und sind objektiver. Zum Beispiel wohnst du mit Cliff Harris zusammen …“

„Ein sehr netter Mann.“ Und ein lieber Freund, der ihr Gästezimmer nutzte, weil es ihm im Moment finanziell nicht sehr rosig ging.

„… während man dich auf den Fotos immer wieder am Arm dieses Bildhauers mit dem affektierten Getue sieht, Piers Bond.“

„Ein sehr talentierter Künstler.“ Mit Piers hatte sie ein paar Vernissagen besucht. Und ja, Tristan hatte recht, Piers gab sich wirklich ein wenig affektiert.

„Und in Thailand schläfst du hinter dem Rücken der beiden mit diesem Kamerawagenschieber?“

Sie schenkte ihm ihr schönstes Mona-Lisa-Lächeln, das alles und nichts bedeuten konnte. „Korrekt heißt es Dollyfahrer.“

„Oder Junkie.“

„Früher hatte Jonah ein Drogenproblem, heute nicht mehr.“

„Na, du musst es ja wissen. Schließlich sieht man euch zusammen in diesem New Yorker Entzugszentrum ein- und ausgehen.“

Auch das stimmte. Sie arbeitete ehrenamtlich dort, wann immer sie konnte. So hatte sie Jonah getroffen. Vermutlich führte Tristan jetzt als Nächstes den Direktor an, für dessen gescheiterte Ehe sie angeblich verantwortlich sein sollte …

„Und Guy Jeffrey? Oder liegt das schon so lange zurück, dass du dich nicht mehr erinnern kannst?“

„Dein Mann ist wirklich sehr gründlich“, lautete ihr trockener Kommentar. „Hättest du etwas dagegen, wenn ich das Bad aufsuche, bevor du mir die restlichen Sünden meines liederlichen Lebens aufzählst? Ich glaube, so lange halte ich nicht durch.“

Er funkelte sie so böse an, dass sie fast aufgelacht hätte. Fast. Sie bückte sich nach ihrer Tasche.

Mit dem Kopf deutete er zu einer Tür am anderen Ende des Raums. „Deine Tasche bleibt hier.“

„Wieso?“

„Weil ich es sage.“

Unhöflich, unverschämt, unerträglich! Lily erdolchte ihn mit Blicken. Es war reine Schikane, er wollte ihr nur beweisen, dass er das Sagen hatte. Oder glaubte er tatsächlich, dass sie die konfiszierten Drogen irgendwie wieder in ihre Tasche gezaubert hätte? „Da ist nichts drin.“

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und taxierte sie lauernd. „Dann sollte es auch kein Problem für dich sein, sie hier stehen zu lassen.“

Lily presste die Lippen zusammen. Es wäre auch kein Problem für sie, ihm das gute Stück um die Ohren zu hauen! Mit der Tasche stapfte sie auf ihn zu und leerte den gesamten Inhalt auf seinem Schreibtisch aus. Es befriedigte sie ungemein, dass er verdattert dreinschaute. „Vorsicht.“ Sie setzte ihr bestes Hollywoodlächeln auf. „Ich glaube, irgendwo hatte ich noch eine Kobra mit eingepackt …“

Das Bad hatte definitiv Klasse – graue Schieferfliesen und eine riesige begehbare Duschkabine aus Glas. Für eine heiße Dusche hätte Lily jetzt alles gegeben, aber der Gedanke, danach wieder in ihre verschwitzte Reisegarnitur steigen zu müssen, war wenig anregend. Außerdem saß Tristan nebenan. Sie wollte nicht riskieren, dass er plötzlich hereinmarschiert kam. Also wusch sie sich nur das Gesicht und starrte sich in dem großen Spiegel über dem Waschbecken an. Sie sah grässlich aus. Die Ringe unter ihren Augen waren inzwischen dunkelviolett, und das Haar stand seltsam verknotet von ihren Schläfen ab. Vage erinnerte sie sich an streichelnde Finger, Gleichzeitig fiel ihr auf, dass die Kopfschmerzen verschwunden waren. Hatte Tristan etwa ihre Kopfschmerzen wegmassiert? Eine anrührende Geste, die in krassem Gegensatz zu seinem barschen Verhalten stand. Aber die Vorstellung entzückte sie.

Entzücken? Sie schüttelte den Kopf. Solche Gedanken führten nur zu Komplikationen. Er hatte doch überdeutlich gemacht, dass ihm jede Minute mit ihr zuwider war. Und ihr ging es ebenso. Der Mann war einfach nur ungehobelt, arrogant und unausstehlich – um es harmlos auszudrücken.

Geräuschvoll atmete sie aus und band ihr Haar mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen, das sie genau für solche Situationen ums Handgelenk trug – eine Angewohnheit, die Jordana schon immer entsetzt hatte. Aber Lily legte keinen großen Wert auf eine makellos elegante Erscheinung, so wie Jordana. Deshalb war Jordana ja auch Managerin eines exklusiven Kaufhauses, und Lily trug praktisch alles, was Jordana empfahl.

Die Hand schon am Türknauf, stockte sie. Sie empfand fast so etwas wie Angst, in die Höhle des Löwen zurückzukehren. Dann schalt sie sich für ihre Unsicherheit.

Tristan grübelte sicher schon wieder darüber, wie er sie schikanieren könnte: Den Mund halten und kooperieren. Da würde sie ihm nicht widersprechen. Je weniger sie miteinander redeten, desto besser.

Sicher hatte sie Fragen, aber sie würde sie nicht stellen. So oder so würde sie bald herausfinden, wie es weiterging. Zwar sträubten sich ihr die Nackenhaare bei der Vorstellung, Tristan auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, doch im Moment blieb ihr wohl nicht wirklich etwas anderes übrig.

Also gut. So würde sie es machen: Sich höflich-reserviert geben. Sich zurückhalten. Und hoffen, dass er ebenfalls Distanz hielt.

Tristan sah auf, als Lily aus dem Bad kam, und musterte sie kühl. Sie hatte ihr Haar zusammengebunden, was irgendwie noch unordentlicher aussah – und unglaublich süß. Noch unglaublicher war allerdings, dass er so dachte. Normalerweise zog er schicke Frauen mit makellosem Äußeren vor.

Es ärgerte ihn noch immer, dass er sich vergessen und sie über ihr Liebesleben ausgefragt hatte. Wie ein eifersüchtiger Freund. Ihm wäre es sogar lieber gewesen, wenn sie den ganzen Nachmittag im Bad geblieben wäre. Dann hätte er in Ruhe arbeiten können.

War sie aber nicht. Und jetzt flogen ihre Augen zu dem Tablett, das seine Sekretärin soeben hereingebracht hatte. Er nahm an, dass Lily hungrig und durstig war. Die Zollbeamten hatten ihr sicherlich keine Erfrischungen angeboten.

Er musste sich das Grinsen verkneifen, als sie sich suchend nach ihrer Tasche umschaute. „Nein, ich habe sie nicht in den Abfallcontainer geworfen. Obwohl nicht viel drin war, was sich zu behalten lohnt … außer vielleicht das schwarze Spitzenhöschen.“

Warum hatte er das jetzt gesagt? Das war nicht seine Absicht gewesen. Eigentlich hatte er Lily befehlen wollen, sich aufs Sofa zu setzen und still zu sein.

Ihr stand der Mund offen vor Verlegenheit. Doch sie fing sich schnell wieder. „Ich glaube nicht, dass es deine Größe ist, aber wenn du möchtest, kannst du es gern behalten.“

„So etwas ziehe ich Frauen eher aus, nicht selber an“, konterte er süffisant und genoss es, wie ihre Augen sich unmerklich weiteten.

„Ja, das habe ich schon gehört.“ Dann schien das Tablett endgültig ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie deutete auf die Tassen. „Kann ich davon ausgehen, dass eine davon für mich bestimmt ist?“

„Such dir aus, was du möchtest. Ich wusste nicht, ob du Kaffee oder Tee trinkst, daher habe ich beides bestellt.“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, besagte eindeutig, dass sie ihm solche Umsicht nie zugetraut hätte, und irgendwie ärgerte ihn das. Er beobachtete, wie sie Tee für sich einschenkte und den Mund zögerlich um den Tassenrand schloss. Vor sechs Jahren hatte es kein Zögern gegeben, da hatten sich ihre Lippen geradezu gierig unter seinen geöffnet.

Wieso bloß konnte er nicht aufhören, daran zu denken? Es war sechs Jahre her, Herrgott! Er konnte sich nicht einmal an die Haarfarbe seiner letzten Gespielin erinnern, aber wenn er Lily dabei beobachtete, wie sie an der Teetasse nippte, wusste er noch genau, wie ihr Mund geschmeckt hatte. Wie empfänglich sie auf sein Streicheln und seinen Kuss reagiert hatte! Doch wahrscheinlich hatte sie unter Drogen gestanden. Jedenfalls war das eine Frage, die ihm des Öfteren den Schlaf geraubt hatte.

„Ich komme mir vor wie in einer Reality-Show“, sagte Lily und bemühte sich, freundlich zu klingen. „Nur lächelt der Gastgeber da normalerweise, und es gibt auch noch andere Gäste …“

Immerhin gelang es ihm durch ihren abwegigen Kommentar, den Blick endlich von ihren Lippen loszueisen. Die Falte auf seiner Stirn wurde tiefer – wegen des nicht abzustreitenden Verlangens, das er für eine Frau verspürte, die unter seiner Würde war.

„Na schön“, fügte sie hinzu, „ich nehme an, du willst nicht von mir wissen, welche Schuhgröße ich habe … warum sagst du mir dann nicht einfach, was jetzt als Nächstes kommt?“

„Deine Schuhgröße kenne ich schon.“ Irgendein Teufel ritt ihn, stachelte ihn an, sie genauso aus dem Gleichgewicht zu bringen, wie sie ihn. „Und deine Jeans-, deine BH- sowie deine Slipgröße.“

„Das ist Missachtung der Privatsphäre!“, fauchte sie.

Er lehnte sich lässig im Stuhl zurück. „Verklag mich doch.“ Es befriedigte ihn zu sehen, wie das glatte Lächeln von ihrem Gesicht schwand. Er brauchte ihre halbherzige Freundlichkeit nicht. Um genau zu sein, er brauchte gar nichts von ihr.

Lily platzte fast vor Wut. Wie konnte er es wagen?! Saß da auf seinem Schreibtischstuhl wie auf einem Thron! Dann erinnerte sie sich an ihren Vorsatz: höflich-reserviert …

Stell dir einfach vor, er wäre ein schwieriger Regisseur, mit dem du für eine Weile arbeiten musst.

Das Klingeln seines Handys sorgte für eine willkommene Abwechslung. Mit dem Apparat am Ohr stand er auf und stellte sich an die breite Fensterfront. Lily folgte ihm mit dem Blick. Durch das Glas sah man die imposante Skyline von London, außerdem Big Ben, Westminister Abbey und das London Eye. Eine Aussicht, für die man normalerweise bezahlen musste – hier gab es sie gratis.

Dann allerdings verselbstständigten sich ihre Blicke und wanderten zu dem Mann zurück, der mit dem Rücken zu ihr stand, eine Hand mit dem Handy am Ohr, die andere in die Hosentasche geschoben, und fließend in einer Sprache redete, die sie nicht erkannte. Er war wirklich ein beeindruckendes Exemplar der männlichen Spezies. Wenn man überlegte, dass er eine sitzende Tätigkeit ausübte, musste er wohl regelmäßig im Fitnessstudio trainieren, um sich derart fit zu halten.

Ihr Magen meldete sich knurrend. Lily nahm eins der Sandwiches vom Tablett und kaute lustlos. Sie verstand beim besten Willen nicht, weshalb sie so stark auf jemanden reagierte, den sie nicht ausstehen konnte. Es nur auf Stress und Müdigkeit zu schieben reichte nicht mehr aus. Der Verstand musste doch auch etwas zu entscheiden haben, selbst wenn es um körperliche Anziehung ging, oder?

Tristan beendete den Anruf, steckte das Handy in die Hosentasche und kehrte an den Schreibtisch zurück, blieb aber hinter seinem Stuhl stehen. „Ich muss schon sagen … für jemanden, dem möglicherweise zwanzig Jahre Gefängnis bevorstehen, wirkst du erstaunlich gelassen.“

„Ich vertraue darauf, dass das Universum das regelt. Am Ende wird sich alles klären.“

„Das Universum? Was denn, Sonne, Mond und Sterne?“

Sie weigerte sich anzubeißen, auch wenn er spöttisch eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte. „Nein, nicht wie du das meinst. Das Universum ist ein Kraftfeld, das wir für uns und andere kreieren. Positives Denken kann vieles beeinflussen.“

Er legte den Kopf schief, als würde er wirklich darüber nachdenken. „Nun, wenn das so ist, würde ich sagen, dein Universum hat heute entweder geschlafen, als du durch den Zoll gelaufen bist, oder aber du bist wirklich schuldig.“

Lily verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe vollstes Vertrauen in die Behörden. Die Beamten wissen, was sie tun.“

„Die Beamten wollen dich hinter Gittern sehen.“

Sie hob ihr Kinn. „Willst du mir Angst einjagen?“

Autor

Michelle Conder
<p>Schon als Kind waren Bücher Michelle Conders ständige Begleiter, und bereits in ihrer Grundschulzeit begann sie, selbst zu schreiben. Zuerst beschränkte sie sich auf Tagebücher, kleinen Geschichten aus dem Schulalltag, schrieb Anfänge von Büchern und kleine Theaterstücke. Trotzdem hätte sie nie gedacht, dass das Schreiben einmal ihre wahre Berufung werden...
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