Julia Exklusiv Band 362

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DAS GEHEIMNIS DES SIZILIANERS von JANE PORTER
Zärtlich, leidenschaftlich, vermögend, treu: Vittorio d‘Severano ist Jills Traummann – bis sie zufällig das dunkle Geheimnis ihres Geliebten entdeckt! Entsetzt flieht sie. Aber wenn einem ein mächtiger Sizilianer auf der Spur ist, kommt man nicht weit …

KLEINE HÄNDE, GROSSES HERZ von SUSAN MEIER
„Drillinge?“ Wyatts heimliche Jugendliebe Missy ist schön wie damals – und dreifache Singlemom. Daran, dass er sich nach ihren Küssen sehnt, hat sich nichts geändert. Doch dass sein Herz schmilzt, wenn eine kleine Kinderhand nach seiner greift: Das ist neu …

HERR ANWALT, ICH LIEBE SIE von BARBARA HANNAY
Laura schämt sich: Wie konnte sie nur Oberstaatsanwalt Nick Farrell für einen Stripper halten? Er nimmt es ihr aber nicht übel, sondern scheint sich sogar zu ihr hingezogen zu fühlen. Laura will sich jedoch nicht mehr verlieben! Zu sehr brennen die Narben der Vergangenheit …


  • Erscheinungstag 28.04.2023
  • Bandnummer 362
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519526
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Porter, Susan Meier, Barbara Hannay

JULIA EXKLUSIV BAND 362

1. KAPITEL

Frieden.

Endlich.

Jill Smith atmete tief, während sie an der zerklüfteten Steilküste mit Blick auf den stürmischen Pazifik entlanglief. Sie genoss die frische Luft, die überwältigende Landschaft und einen seltenen Moment der Freiheit.

Seit über neun Monaten hatte sie Vittorios Männer nicht mehr gesehen. Und sie würden sie in diesem kleinen Ort ein paar Meilen außerhalb von Carmel, Kalifornien, niemals aufspüren, wenn sie vorsichtig war.

Den Namen Jill Smith benutzte sie nicht mehr. Sie hatte sich eine neue Identität und ein neues Aussehen gegeben. April Holliday war blond und sonnengebräunt, als wäre sie eine gebürtige Kalifornierin statt einer Brünetten aus Detroit. Nicht, dass Vittorio wusste, aus welcher Stadt sie stammte.

Und er durfte es auch nicht erfahren. Sie musste ihn, den Vater ihres Kindes, so weit wie möglich von sich fernhalten.

Er war zu gefährlich. Eine Bedrohung für sie, für Joe und alles, was ihr wichtig war. Jill hatte Vittorio geliebt und sich sogar schon eine Zukunft mit ihm ausgemalt. Nur um zu entdecken, dass er kein Held war, sondern ein Mann wie ihr Vater. Ein Mann, der sein Vermögen im organisierten Verbrechen verdient hatte.

Jill spürte, wie sich ihre Schultern verkrampften. Beruhige dich! befahl sie sich. Sie hatte keinen Grund, sich zu fürchten. Die Gefahr lag hinter ihr. Vittorio wusste nicht, wo sie wohnte. Er konnte ihr das Baby nicht wegnehmen. Alles war in Ordnung.

Oben auf der Klippe blieb Jill stehen und blickte auf die Schaumkronen im dunkelblauen Wasser. Die Wellen waren hoch heute und krachten mit ungestümer Wucht an die Felsen unter ihr. Das Meer schien wütend und untröstlich zu sein, und einen Augenblick lang empfand Jill genauso.

Sie hatte Vittorio geliebt. Zwar waren sie nur zwei Wochen zusammen gewesen, aber in dieser Zeit hatte sie von einem Leben mit ihm geträumt.

Dann kam die Wahrheit ans Licht. Er war kein Märchenprinz, sondern ein furchterregender Schurke.

Energisch verdrängte Jill jeden Gedanken an Vittorio. Sie wollte die Vergangenheit hinter sich lassen und sich auf die Gegenwart und Joes Zukunft konzentrieren. Ihr Sohn sollte all das haben, was ihr in der Kindheit genommen worden war: Stabilität, Sicherheit, ein glückliches Zuhause.

Schon hatte Jill ein entzückendes Miethaus eine Viertelmeile die Straße hinunter in einer ruhigen Sackgasse gefunden. Sie hatte einen tollen Job im „Highlands Inn“ bekommen, einem der besten Hotels an der kalifornischen Küste. Und, am schönsten von allem, sie hatte auch ein sehr gutes Kindermädchen gefunden. Tatsächlich passte die reizende Hannah jetzt gerade auf Joe auf.

Es begann zu regnen, und der Wind riss an ihrem Haar und dem schwarzen Pullover, doch Jill mochte das raue Wetter.

„Denkst du daran zu springen, Jill?“

Als sie die tiefe, weiche Männerstimme erkannte, wurde sie vor Schreck ganz starr.

Vittorio.

Seit fast einem Jahr hatte sie seine Stimme nicht mehr gehört, aber sie zu vergessen war unmöglich. Der völlig ruhige Ton konnte Menschen beherrschen. Vittorio konnte es.

Aber andererseits war Vittorio Marcello d’Severano ja auch eine Naturgewalt, ein Mann, der so gut wie jedem Ehrfurcht oder Angst einflößte.

„Lösungen lassen sich immer finden“, fügte er sanft hinzu.

So sanft, dass sich Jill nervös einen Schritt von ihm entfernte. Was sie näher an den Rand der Klippe brachte, wo sie lose Steine lostrat. Ihr kam es vor, als würden die in die Bucht hinabstürzenden Steine klingen wie ihr zerspringendes Herz.

Gerade, als sie sich so sicher gefühlt hatte.

Es war unglaublich. Unerträglich.

„Keine, die ich annehmbar finden würde“, antwortete Jill ausdruckslos. Sie drehte sich um, vermied es jedoch, ihm ins Gesicht zu schauen. Vittorio war ein Zauberer. Allein indem er lächelte, konnte er jeden dazu bringen, alles zu tun.

So gut aussehend war er.

So viel Macht hatte er.

„Mehr hast du mir nach einem monatelangen Katz-und-Maus-Spiel nicht zu sagen?“

Es regnete jetzt stärker, und Jills dicker Strickpullover triefte vor Nässe. „Alles ist gesagt. Mir fällt nichts weiter ein.“ Herausfordernd hob sie das Kinn, obwohl ihr die Knie zitterten. Sie war hin- und hergerissen zwischen Wut und heller Panik. Vittorio konnte ihr Leben zerstören, und er würde es tun, wenn er Gelegenheit dazu bekam.

„Mir schon. Ich schlage vor, dass du dich entschuldigst“, erwiderte er fast freundlich. „Das wäre ein Anfang.“

Jill wappnete sich gegen Vittorios tiefe, heisere Stimme und richtete den Blick auf seinen kräftigen sonnengebräunten Hals und die breiten Schultern. Und selbst jetzt, da sie sich auf diesen kleinen Bereich seines Körpers beschränkte, fand sie Vittorio einfach überwältigend. Unglaublich sinnlich und männlich, war er ein echter Alphamann. Keiner war stärker. Keiner mächtiger.

Nur Stunden, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, war sie mit ihm ins Bett gegangen. So etwas hatte sie nie zuvor getan. Um Himmels willen, sie war vor

Vittorio nicht einmal in Versuchung gekommen, mit einem Mann zu schlafen. Aber bei Vittorio war sie unvorsichtig geworden. In seiner Nähe hatte sie sich sicher gefühlt.

„Du bist ja wohl derjenige, der sich entschuldigen sollte.“

„Ich?“

„Du hast mir ein völlig falsches Bild von dir präsentiert, Vittorio …“

„Nein.“

„… und du hast mich in den letzten elf Monaten gejagt wie ein Tier“, fügte Jill scharf hinzu. Sie würde nicht auf die Knie fallen und bitten. Sie würde bis zum bitteren Ende gegen ihn kämpfen.

Er zuckte die Schultern. „Du bist davongelaufen. Und du hast meinen Sohn mitgenommen. Was hast du denn erwartet?“

„Eine derartige Macht über hilflose Frauen und Kinder zu besitzen, muss dich begeistern!“ Jill wurde lauter, um den Wind und die tosende Brandung zu übertönen.

„Du bist alles andere als hilflos, Jill. Tatsächlich bist du eine der stärksten, klügsten Frauen, die ich kenne, mit dem Können einer professionellen Hochstaplerin.“

„Ich bin keine Hochstaplerin.“

„Wozu dann der falsche Name April Holliday? Wie hast du es überhaupt geschafft, diese Person zu werden? Es erfordert Geld und Beziehungen, das durchzuziehen, was du beinahe geschafft hast …“

„Beinahe. Das ist das entscheidende Wort, stimmt’s?“

Er zuckte wieder die Schultern. „Darüber reden wir noch. Im Moment möchte ich erst einmal ins Trockene.“

„Du kannst gern gehen.“

„Ohne dich gehe ich nirgendwohin. Und es gefällt mir nicht, wie dicht du am Rand der Klippe stehst. Komm da weg. Du machst mich nervös“, sagte Vittorio und streckte die Hand aus.

Jill ignorierte sie und sah stattdessen in sein Gesicht, studierte sein energisches Kinn, die sinnlichen Lippen, die hohen Wangenknochen. Dieser eine Blick war alles, was es brauchte, damit ihr heiß wurde.

„Und du machst mir Angst“, erwiderte Jill verbittert und sah schnell weg. Sie musste daran denken, wie Vittorio sie überall geküsst und ihren Körper umwerfend gründlich erforscht hatte. Mit seinem Mund und seiner Zunge hatte er sie zu ihrem ersten Höhepunkt gebracht, und niemals hätte Jill sich Lust so intensiv vorgestellt. Aber andererseits war Vittorio ja auch ein Mann, der alle ihre Vorstellungen übertraf.

In Wahrheit hatte sie keine Angst, vor ihm. Wenn sie mit ihm zusammen war, bekam sie Angst allerdings vor sich selbst. Weil er mit nur einem einzigen Kuss ihre Entschlossenheit schwächen und ihre Unabhängigkeit zerstören konnte. Seit sie sich zum ersten Mal geliebt hatten, begehrte Jill ihn viel zu sehr.

„Das ist lächerlich“, erwiderte er verärgert. „Habe ich dir jemals wehgetan?“

Ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben. In den zwei Wochen, die sie zusammen gewesen waren, hatte Vittorio ihr nur Freundlichkeit, Zärtlichkeit und Leidenschaft erwiesen. Ja, es gab Geheimnisse. Aber Jill hatte ihre Bedenken verdrängt und war ihrem Herzen gefolgt.

„Nein.“

„Trotzdem bist du davongelaufen. Und schlimmer noch, du hast mir mein Kind vorenthalten. Ist das etwa fair?“

Sie brachte kein Wort heraus. Denn schon löste seine Stimme dieses seltsame Gefühl der Verführung in ihr aus, bei der Vittorio sie ihrer strengen Selbstbeherrschung und ihrer Abwehrmechanismen beraubte. Ebenso wie es an jenem allerersten Tag geschehen war, als Jill ihm in der Hotelhalle in Istanbul begegnet war. Sie stellten sich einander vor, es folgte ein kurzes Gespräch, eine Einladung zum Abendessen, und dann verlor Jill völlig den Kopf. Sie nahm Urlaub und zog in seine Villa am Comer See, bildete sich ein, verliebt zu sein …

Und dabei glaubte sie nicht einmal an die Liebe. Romantische Liebe war albern, töricht und zerstörerisch, etwas für Leute, die es nicht besser wussten. Jill hatte gedacht, sie würde über diesen Dingen stehen.

Aber dann kam Vittorio, und ihr gesunder Menschenverstand, ihre Vernunft und ihr Selbsterhaltungstrieb verabschiedeten sich.

Oh, Vittorio war unsagbar gefährlich.

Er würde sie zugrunde richten. Ebenso wie Joe.

Nein. Sie würde nicht zulassen, dass er ihr Kind großzog und aus ihm einen Mann machte, der nicht besser war als sein Vater.

„Joe ist kein Sizilianer. Er ist Amerikaner, und er ist mein Sohn, Vittorio.“

„In den vergangenen Monaten bin ich dir gegenüber nachsichtig gewesen und habe dir Zeit mit ihm allein gegeben. Jetzt bin ich an der Reihe.“

„Nein! Du kannst ihn mir nicht nehmen.“ Jill schwankte am Rand der Klippe. Ihr war durchaus bewusst, dass der Regen die Erde aufweichte und sie in dem Matsch keinen Halt finden würde. Aber sie würde niemals zu Vittorio gehen. Niemals würde sie vor ihm kapitulieren. Rückwärts ins Leere zu stürzen wäre besser, als ihm Joe zu überlassen. Bei seinem Kindermädchen wäre er zumindest in Sicherheit. Falls ihr etwas zustieß, sollte Hannah ihn zu Jills Studienfreundin Cynthia nach Bellevue, Washington, bringen.

Cynthia hatte sich bereit erklärt, im Notfall die Vormundschaft für Joe zu übernehmen, und die Dokumente für eine Adoption waren bereits von einem Anwalt aufgesetzt worden. Es war einfach Jills sehnlichster Wunsch, dass Joe in einer liebevollen Familie aufwuchs. Einer normalen, ohne Verbindung zum organisierten Verbrechen.

Anders als ihre eigene Familie.

Anders als Vittorios.

„Jill, gib mir jetzt die Hand. Die vorstehende Kante kann jeden Moment abbrechen.“

„Das ist mir egal, wenn es bedeutet, meinen Sohn zu schützen.“

„Vor wem? Wovor?“

Sein besorgter Ton brachte sie den Tränen nahe. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, sich gegen Vittorio aufzulehnen. Ein Mal hatte er sie bereits getäuscht, doch das passierte ihr nicht wieder. Sie war klüger geworden. Älter. Und sie war jetzt Mutter. Freundliche Gesten, Zärtlichkeiten, Verführungskünste oder Lust würden sie nicht mehr beeinflussen. Hier ging es um Joes Sicherheit. Sein Überleben. Seine Zukunft.

Es wäre nicht so weit gekommen, wenn sie nur gewusst hätte, mit wem sie es zu tun hatte, als sie vor zwanzig Monaten Vittorios Einladung zum Abendessen gefolgt war.

Leider war Jill damals völlig ahnungslos gewesen. Und so wies sie Vittorio die Rolle des Märchenprinzen zu und glaubte, er würde sie retten. Oder sie wenigstens bei einem verschwenderischen, romantischen Dinner wie eine Prinzessin behandeln.

Das verschwenderische Abendessen führte zu einer traumhaften Liebesaffäre. Vittorio ließ sie sich so schön und begehrenswert fühlen, dass Jill spontan mit ihm ins Bett ging. Er enttäuschte sie nicht.

Er war ein fantastischer Liebhaber. Vittorio weckte unvergessliche Empfindungen in Jill. Er verstand es, seinen herrlichen Körper einzusetzen, und er verstand den Körper einer Frau. Schnell beherrschte er Jills.

Zwei glückselige Wochen lang bildete sie sich ein, dass sie sich in ihn verliebte, und träumte davon, mit ihm zusammenzuleben. Ja, manchmal wurde Vittorio mitten in der Nacht gerufen, um ein Telefongespräch entgegenzunehmen. Aber Jill sagte sich, dass er Vorstandsvorsitzender eines großen internationalen Unternehmens war und rund um die Uhr erreichbar sein musste.

Er erzählte ihr auch von seinem Unternehmen. Gerade hatte er drei ehrwürdige Fünfsternehotels in Osteuropa gekauft, und Jill dachte daran, den Job in der Türkei aufzugeben und für Vittorio zu arbeiten, ihm dabei zu helfen, die Neuerwerbungen zu renovieren. Schließlich war Hotelmanagement ihr Fachgebiet, und sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam um die Welt reisten, zusammenarbeiteten und sich liebten.

Und dann, am vierzehnten Tag, zerstörte Vittorios junges Hausmädchen Jills Illusionen.

„Haben Sie keine Angst vor dem Mafioso?“, flüsterte es.

Mafioso.

Bei dem Wort gefror ihr das Blut in den Adern. „Vor wem?“, fragte sie gespielt gleichgültig.

Nervös blickte das Hausmädchen zur Badezimmertür. Vittorio duschte gerade. Die junge Angestellte sollte nur frische Handtücher bringen, aber anscheinend hatte ihre Neugier die Oberhand über sie gewonnen.

„Ihr Mann. Signor d’Severano.“

„Er ist kein …“

„Doch. Alle wissen es.“ Und damit eilte das Hausmädchen erschrocken davon.

Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zusammen. Natürlich. Vittorios enormer Reichtum. Sein luxuriöser Lebensstil. Die seltsamen, geheimnisvollen Telefongespräche. Jill benutzte ihr Smartphone für eine schnelle Internetrecherche.

Das Hausmädchen hatte recht. Vittorio d’Severano aus Catania, Sizilien, war ein sehr berühmter Mann. Aber berühmt aus falschen Gründen.

Noch am selben Nachmittag flüchtete Jill. Sie nahm nur ihre Handtasche mit. Kleider, Schuhe, Mäntel ließen sich ersetzen, aber Freiheit und Sicherheit nicht.

Jill kündigte in dem Hotel in Istanbul, gab ihre Wohnung auf, verließ Europa und sämtliche Freunde, verschwand einfach, als hätte sie nie existiert.

Wie man das machte, wusste sie. Denn sie hatte es mit zwölf Jahren gelernt, als ihre Familie in das Zeugenschutzprogramm der amerikanischen Regierung aufgenommen wurde.

Aus Jill Smith war Heather Purcell in Banff, Kanada, geworden. Vier Monate hatte sie als Telefonistin im „Fairmont Hotel“ am Lake Louise in den kanadischen Rocky Mountains gearbeitet. Dort, in Alberta, hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war.

„Dir muss doch klar gewesen sein, dass ich dich irgendwann erwischen würde“, sagte Vittorio freundlich. „Dass ich gewinnen würde.“

In die Falle gegangen, dachte Jill. Aber sie war eine Kämpfernatur und würde nicht resignieren. Sie war durch schlimme Erfahrungen hart im Nehmen geworden und kämpfte wie verrückt, seit sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war. Um ihren Sohn vor einem Leben zu schützen, das ihn zerstören würde. Sie kannte dieses Leben nämlich. Ihr Vater hatte dieses Leben früher einmal geführt und die ganze Familie mit in die Hölle hineingezogen.

Jetzt goss es in Strömen, und Jill war nass bis auf die Haut und völlig durchgefroren. Wie immer wirkte Vittorio gepflegt, elegant und gelassen. Genau das hatte sie am Anfang so attraktiv gefunden. Sein Auftreten und sein schönes Gesicht.

„Aber du hast nicht gewonnen“, erwiderte Jill zitternd vor Kälte. „Weil du ihn nicht bekommen wirst, du kannst mich entführen oder foltern – oder was du sonst mit Leuten machst –, ich werde dir niemals verraten, wo er ist.“

„Warum sollte ich dir wehtun wollen? Du bist die Mutter meines Sohnes, meines einzigen Kindes, und mir deshalb lieb und teuer.“

„Ich weiß, was ich für dich bin. Entbehrlich. Das hast du vor elf Monaten deutlich zu verstehen gegeben, als du mir deinen Schlägertrupp auf den Hals geschickt hast.“

„Meine Männer sind keine Schlägertypen, und du hast mich zu deinem Gegner gemacht, indem du meinen Sohn von mir ferngehalten hast“, konterte Vittorio hart, bevor seine Stimme wieder sanfter wurde. „Trotzdem bin ich bereit, unserem Sohn zuliebe unsere Meinungsverschiedenheiten zu vergessen. Also bitte, komm. Mir gefällt nicht, dass du so nah am Rand stehst. Es ist gefährlich.“

„Und du bist es nicht?“

„Das hängt wohl von deiner Definition ab. Ich bin an Wortbedeutungen nicht interessiert. Es wird Zeit, aus der Kälte herauszukommen.“ Entschlossen tat Vittorio einen Schritt nach vorn und griff nach ihrer Hand.

Nur dass sich Jill nicht von ihm anfassen lassen wollte. Nicht jetzt. Nie wieder. Sie wich so ruckartig zurück, dass sie ausrutschte und abstürzte.

Mit schnellen Reflexen gesegnet, packte Vittorio sie am Handgelenk.

Für den Bruchteil einer Sekunde hing Jill in der Luft, unter ihr nichts als der Strand und die Brandung.

Dann zog Vittorio sie zurück über die Kante und in seine Arme.

Er war groß, stark und überwältigend. So überwältigend. Und weil sie sich nach Wärme, Geborgenheit und Sicherheit sehnte, sank Jill gegen ihn.

Während er sie fest an sich gedrückt hielt, bildete sie sich einen Augenblick lang ein, dass er noch Gefühle für sie hatte. Dass sie einen Weg finden würden, Joe gemeinsam aufzuziehen …

Hatte sie völlig den Verstand verloren?

Keinesfalls konnten sie gemeinsam für Joe sorgen. Sie durfte nicht erlauben, dass er in die Welt der d’Severanos hineingeriet.

„Ich kann das nicht, Vittorio“, sagte sie von Kummer gequält. „Ich kann nicht zu deinem Leben gehören.“

Er streichelte ihr die Wange und schob ihr das nasse blonde Haar aus dem Gesicht. Seine Hand war herrlich warm, und die Liebkosung ließ Jill erschauern.

„Und was ist so falsch an meinem Leben?“, fragte er.

Ihr fiel nichts ein. Was sollte denn falsch sein, wenn Vittorio sie doch so sicher in seinen Armen hielt und sie sich gut dabei fühlte?

Im nächsten Moment dachte sie an ihren Vater, an seine Verbindung zur Detroiter Mafia und die schrecklichen Folgen für sie alle, obwohl niemand so teuer dafür bezahlt hatte wie ihre Schwester.

„Du weißt schon“, flüsterte Jill.

„Erklär es mir.“

Sie registrierte jede Stelle, an der sein Körper an ihren gepresst war. Seine Brust an ihren Brüsten. Seine Hüften an ihren. Seine Oberschenkel an ihren. Die Berührung war ebenso wundervoll wie unerträglich. Ihr Körper liebte es, liebte Vittorio. Und wollte so viel mehr. Doch ihr Verstand lehnte sich dagegen auf.

„Du weißt, wer du bist“, flüsterte sie. „Du weißt, was du machst.“

„Anscheinend hast du mich schuldig gesprochen, ohne mir eine Gelegenheit zu geben, meine Unschuld zu beweisen. Weil ich unschuldig bin. Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst.“

„Bestreitest du, dass du Vittorio d’Severano bist, Oberhaupt der Familie d’Severano aus Catania, Sizilien?“

„Selbstverständlich verleugne ich meine Familie nicht. Ich liebe meine Familie und bin für sie verantwortlich. Wieso ist es ein Verbrechen, ein d’Severano zu sein?“

Jill erwiderte seinen Blick fest. „Die d’Severanos füllen in Geschichtsbüchern viele Seiten. Erpressung, dunkle Geschäfte, Schutzgelder … und das sind nur die kleineren Delikte.“

„Jede Familie hat einen dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit.“

„Deine hat mindestens hundert!“

Vittorios braune Augen funkelten. „Mach sie nicht schlecht. Und ja, wir sind eine sehr alte sizilianische Familie. Wir können unsere Vorfahren eintausend Jahre zurückverfolgen. Ich glaube nicht, dass du das kannst, Jill Smith.“

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ sie zusammenzucken. Vittorio gab ihr das Gefühl, gewöhnlich und billig zu sein: Er war Vittorio d’Severano und sie ein Nichts.

Natürlich hatte er recht. Sie war unwichtig. An wen sollte sie sich wenden? Niemand war stark und mächtig genug, um sie zu schützen. Wer würde denn für sie gegen die Mafia kämpfen? Wer würde es mit Vittorio aufnehmen, wenn ihn doch nicht einmal die amerikanische und die italienische Regierung zu Fall bringen konnten?

Also musste sie allein gegen Vittorio kämpfen. Wie sah die Alternative aus? Sollte sie ihm etwa Joe ausliefern? Niemals.

Bei dem Gedanken an ihren Sohn kam Jill zur Vernunft. Was hatte sie in Vittorios Armen zu suchen? Das war ja verrückt. „Du vergisst dich“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Wir sind hier in Amerika, nicht in Sizilien, und ich gehöre dir nicht. Lass mich los.“

Er gab sie frei, und sie ging davon, in die andere Richtung, weil sie Vittorio keinesfalls zu ihrem Haus führen würde.

„Wohin willst du?“, rief er ihr nach.

„Ich setze meinen Spaziergang fort.“

„Ich komme mit.“

„Bitte nicht.“

Vittorio folgte ihr trotzdem.

Während Jill durch Pfützen lief, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihn loswerden und verhindern konnte, dass er herausfand, wo Joe sich aufhielt. Sie hatte ihr Handy nicht dabei, sonst hätte sie Hannah angerufen und gewarnt.

„Wie weit willst du eigentlich noch laufen, Jill?“, fragte Vittorio, als der Pfad endete und sie sich auf dem Bürgersteig einer Kreuzung näherten.

„Bis ich müde bin.“ Besorgt sah Jill, dass die Ampel rot blieb und nur Meter entfernt mit laufendem Motor eine Limousine stand.

Langsam fuhr der Fahrer weiter bis zur Ecke, wendete und blockierte die Kreuzung. Die Türen gingen auf, und zwei von Vittorios Bodyguards stiegen aus.

Unter anderen Umständen hätte Jill vielleicht gelacht. Wer außer Vittorio hatte Leibwächter, die wie Models gekleidet waren? Seine Männer trugen elegante Anzüge, feine Lederschuhe und – gürtel, die neuesten Designersonnenbrillen, waren gepflegt und weltmännisch … und fielen auf. Aber Vittorio musste das wissen. Vittorio Marcello d’Severano überließ nichts dem Zufall.

Die Leibwächter beobachteten sie mit beruflichem Interesse. Offensichtlich warteten sie auf ein Zeichen ihres Chefs. Jill drehte sich zu Vittorio um.

„Sag ihnen, sie sollen wegfahren.“

„Ich habe ihnen gerade befohlen, dort zu halten.“

„Das Auto versperrt mir den Weg über die Straße.“

„Ja, ich weiß. Wir können nicht den ganzen Tag spazieren gehen. Wir haben Dinge zu besprechen und Entscheidungen zu treffen.“

„Zum Beispiel?“

„Wie wir das gemeinsame Sorgerecht für unseren Sohn handhaben wollen.“

„Tun wir nicht. Er gehört mir.“

„Und in welchem Land er eingeschult werden soll.“

„In den Staaten. Er ist Amerikaner.“

„Sizilianer ist er auch“, entgegnete Vittorio sanft. „Mir gehört er auch. Rechtmäßig kannst du ihn nicht von mir fernhalten.“

„Und du kannst ihn mir nicht rechtmäßig wegnehmen.“

Vittorio klopfte sich auf die Brust. „Zum Glück habe ich hervorragende juristische Berater. In den vergangenen Monaten habe ich mit den besten amerikanischen und italienischen Anwälten alles geregelt. Ich habe die Dokumente in der Mantelinnentasche. Du hast unseren Sohn die ersten elf Monate seines Lebens gehabt. Die nächsten stehen mir zu.“

„Wie bitte?“

„Wir teilen ihn uns, oder du verlierst ihn ganz.“

„Niemals!“

„Man wird dich für ungeeignet befinden, Mutter zu sein, wenn du noch einmal versuchst, mit ihm davonzulaufen. Du willst doch sicher nicht wegen Missachtung des Gerichts verurteilt werden. Es würde deinen Aussichten ernsthaft schaden, das Sorgerecht jemals zurückzubekommen.“

Entsetzt starrte Jill ihn an. „Das denkst du dir aus, Vittorio.“

„Ich würde dich nicht anlügen. Wir setzen uns ins Auto, und ich zeige dir die Papiere.“

Er ließ es so einfach klingen. Einsteigen und sich die Dokumente ansehen … Sie fürchtete, dass dieser eine kleine Schritt dazu führte, nie wieder ein sicheres oder normales Leben führen zu können.

Jill holte tief Atem. Schon waren ihre Sinne überlastet. Groß und breitschultrig, war Vittorio unbestreitbar attraktiv. Aber vor zwanzig Monaten hatte sie sich nicht nur in seinen Körper verliebt. Sondern auch in seinen Verstand. Wahrscheinlich war er der intelligenteste Mensch, dem sie jemals begegnet war, und sie hatte die Gespräche mit ihm genossen.

Vittorio konnte über Politik und Wirtschaft diskutieren, über Geschichte, Kunst und Naturwissenschaften. Er war weit gereist und besaß offenbar Geld wie Heu, aber er hatte kein Spiel mit ihr getrieben. Herzlich und sinnlich war er gewesen und – bis auf die seltsamen Telefonate – die ganze Zeit für sie da.

Und sie hatte alles kritiklos hingenommen.

Ihn wiederzusehen erinnerte Jill daran, wie sehr sie ihn gemocht und begehrt hatte.

Ihn wiederzusehen ließ sie erkennen, dass sie nie immun gegen ihn sein würde.

„Ich traue dir nicht“, sagte sie heiser.

„Das Problem in Kurzfassung.“

„Mach dich nicht über mich lustig.“

„Tue ich nicht. Aber dein Mangel an Vertrauen hat uns beiden große Schwierigkeiten eingebracht.“

„Ich will die Dokumente lesen, aber ich steige nicht in dein Auto.“

„Es sollte nicht hart für dich sein.“ Vittorio ging an ihr vorbei auf die Limousine zu. „Aber wenn es unbedingt sein muss, regeln wir das eben auf diese Art“, fügte er mit einem beredten Schulterzucken hinzu und glitt auf den Rücksitz.

Jill beobachtete, wie die Leibwächter einstiegen. Sie kamen sie doch nicht holen.

Anstatt erleichtert zu sein, empfand sie Angst. Irgendetwas stimmte hier nicht, Vittorio würde niemals aufgeben. Wenn er sie in Ruhe ließ, bedeutete das, er hatte schon gewonnen.

Er hatte Joe.

In heller Panik rannte Jill zum Auto. „Was hast du getan?“

Aus dem Innern der Limousine blickte Vittorio sie kühl an. „Es ist, was du wolltest.“

„Ich will, dass mein Baby bei mir ist.“

„Die Chance dazu hattest du, und du hast sie abgelehnt. Du hast klargemacht, dass du allein gelassen werden willst. Ich lasse dich … allein.“

Jill erinnerte sich nicht daran, sich auf ihn gestürzt zu haben, aber plötzlich saß sie neben Vittorio auf dem schwarzen Ledersitz, mit seinen Bodyguards ihnen gegenüber, und die Limousine fuhr.

„Beruhige dich“, sagte Vittorio. „Joseph geht es prima. Er ist bei mir gut aufgehoben und wird mit richterlicher Erlaubnis heute Abend mit mir nach Paterno fliegen.“

„Du bluffst.“

„Nein. Joseph und ich haben zusammen zu Mittag gegessen. Er ist ein großartiger kleiner Junge. Allerdings würde ich ihn nicht noch einmal in Gelb stecken. Die Farbe steht ihm nicht.“

Einen Moment lang konnte Jill nicht atmen. Denken auch nicht. Es war, als würde alles in ihr erstarren.

An diesem Morgen hatte sie ihrem Sohn ganz entzückende winzige Bluejeans und ein gelbes T-Shirt angezogen. Er sieht aus wie Sonnenschein, hatte sie lächelnd gedacht.

„Was hast du mit ihm gemacht?“

„Außer dass ich ihm ein bekömmliches Mittagessen spendiert und darum gebeten habe, ihn für ein Nickerchen hinzulegen? Nichts. Hätte ich sollen?“

„Vittorio.“ Ihre Stimme klang heiser vor Qual. „Dies ist kein Spiel.“

„Du bist selbst schuld, dass es eins geworden ist, Jill.“

„Was ist mit Hannah?“, fragte sie nach dem neuen Kindermädchen, das sie vor zwei Monaten gefunden hatte, kurz nachdem sie in das Haus eingezogen war. „Ist sie bei ihm?“

„Joseph hat jetzt ein sizilianisches Kindermädchen, das ihm seine Muttersprache beibringen wird. Was nicht heißt, dass ich mit Hannah nicht zufrieden war. Sie hat alles getan, was ich von ihr verlangt habe.“

Mit zitternder Hand wischte sich Jill den Regen aus dem Gesicht. „Was meinst du damit?“

Vittorios Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, das sein gut aussehendes Gesicht nur härter und grimmiger wirken ließ. „Hannah hat für mich gearbeitet. Natürlich solltest du das nicht wissen.“

2. KAPITEL

Sie saß so weit weg von ihm, wie sie auf dem schwarzen Ledersitz der Limousine nur konnte. Was Vittorio nicht überraschte. Er hatte gerade Jills Leben auf den Kopf gestellt. Sie war vollkommen außer sich. Und das sollte sie auch sein.

Inzwischen hatte sein Fahrer gewendet, und sie näherten sich der Privatstraße abseits des Küstenhighways, die zu Jills Sackgasse führte.

Jills Haus war klein, braun, von hohen immergrünen Stauden umgeben, mit einer schlichten Asphaltauffahrt. Ein nichtssagendes Haus, das keine Aufmerksamkeit erregte. Jill war viel klüger, als er gedacht hatte. Aber als Vittorio erst einmal verstanden hatte, wie sie tickte, war es leicht gewesen, sie völlig in der Hand zu haben.

Das Haus.

Das Kindermädchen.

Die Arbeitsmöglichkeit.

Vittorio wusste schon seit vier Monaten, dass Jill im Monterey County arbeitete, hatte sie jedoch nicht vertreiben wollen, bis er alles richtig geplant hatte. Damit sie sich sicher fühlte, ließ er das Miet-Angebot an das Schwarze Brett in dem Coffeeshop kleben, wo sie jeden Tag ihren Latte macchiato trank. Vittorio musste dreißig Leuten einen Korb geben, bevor endlich Jill anrief und darum bat, sich das Haus ansehen zu dürfen.

Eine reizende Frau namens Susan, die in seiner Immobilienfirma in San Francisco für ihn arbeitete, führte Jill durchs Haus. Und dabei erwähnte Susan beiläufig die freie Stelle im Highlands Inn. Ein Job, der eigens für Jill geschaffen wurde, denn das Hotel gehörte Vittorio – zusammen mit dreißig anderen rund um die Welt.

Während des Einstellungsgesprächs im Hotel erwähnte die Personalchefin, dass sie ihr Kindermädchen entlassen wolle, da ihre Kinder jetzt alle im Schulalter seien. Ob Jill jemanden kenne, der ein hervorragendes und dennoch nicht teures Kindermädchen suche?

Jill griff zu.

Die Falle war gestellt.

Im Nachhinein klang es einfach. Tatsächlich war es eine Qual gewesen. Vittorio hatte losstürzen und sein Kind kennenlernen wollen, doch er hatte seine Ungeduld unterdrückt und gewartet. Weil er wusste, dass alles, was er tat, überwacht wurde.

Der Name „d’Severano“ rief unterschiedliche Empfindungen hervor. Man kannte und fürchtete seine Familie. Sein Großvater war das Oberhaupt einer der mächtigsten Verbrecherfamilien der Welt gewesen. Die d’Severanos hatten über mehrere Generationen enge Beziehungen zur Mafia unterhalten. Inzwischen gehörten diese Machenschaften der Vergangenheit an. Vittorios Geschäfte waren alle völlig legal und würden es bleiben.

„Wollen wir zu deinem Haus fahren, damit du dich umziehen kannst?“, fragte er.

„Es geht schon.“

„Aber du wohnst doch hier in der Nähe?“

„Nein.“ Jill schaute aus dem getönten Fenster auf die Straße.

Auch er blickte hinaus. Regen prasselte auf den Asphalt. Es hatte in Strömen gegossen an dem Tag, an dem er Jill in der Türkei kennengelernt hatte. Anstatt sich mit dem Auto zu seinem nächsten Meeting fahren zu lassen, wartete Vittorio unten im Hotel darauf, dass es zu regnen aufhörte.

Als er sie auf ihren High Heels die Halle des „Ciragan Palace“ in Istanbul durchqueren sah, erkannte er sofort, dass Jill eine Schönheit war. Und bei der ersten Verabredung zum Abendessen zeigte sie bemerkenswerte Intelligenz.

Nur hatte Vittorio keine Ahnung gehabt, dass Jill dermaßen einfallsreich sein konnte. Die Frau, die neben ihm im Auto saß, war mit allen Wassern gewaschen. Viel cleverer als die meisten Geschäftsleute, mit denen er regelmäßig zu tun hatte.

„Ich weiß, dass du ganz in der Nähe wohnst, aber wenn du nichts holen willst …“

„Nein.“

„Dann fahren wir direkt zum Flughafen, und ich lasse bei dir räumen und deine Sachen einlagern.“

Jetzt wandte sie ihm das Gesicht zu. „Mein Haus geht dich nichts an!“, brauste sie auf.

„Doch. Wer sonst hätte wohl die Miete für einen Bungalow mit Meerblick von fünftausendsechshundert auf eintausendvierhundert Dollar im Monat gesenkt, damit eine alleinerziehende Mutter sich ihn leisten kann? Ich bin der Besitzer, und du bist meine Mieterin, Jill.“

Ihre Augen wurden groß. „Dein Haus?“, brachte sie mühsam heraus.

Vittorio zuckte die Schultern. „Mein Haus. Mein Kindermädchen. Mein Hotel.“

„Was soll das heißen? Ich bin nie in einem teuren Hotel abgestiegen.“

„Du hast in den vergangenen sechzig Tagen in einem gearbeitet, stimmt’s? Das Highlands Inn gehört zu meiner ‚International Prestige Collection‘.“

Sie durchbohrte ihn mit Blicken. Dass sie braune Augen hatte, fand Vittorio sehr interessant. Vor zwanzig Monaten waren sie blau gewesen.

„Du hast mich in eine Falle gelockt“, flüsterte sie.

„Was hast du erwartet? Dass du damit durchkommst, wenn du meinen Sohn entführst?“

„Ich habe ihn nicht entführt. Ich habe ihn unter dem Herzen getragen, ihn auf die Welt gebracht, ihn geliebt …“

„Schön. Und jetzt kannst du ihn bequem und sicher von meinem Heim in Sizilien aus lieben.“

„Ich will nicht in Sizilien leben.“

„Es steht dir frei, zu kommen und zu gehen. Aber weil du so sprunghaft und finanziell nicht imstande bist, für das Kind zu sorgen, haben die Richter genehmigt, dass Joseph ständig bei mir wohnt.“

„Mir ist es immer gelungen, für ihn zu sorgen!“

„Ja, mit meiner Hilfe. Die Richter wissen, dass ich dir ein Haus, einen Job und ein Kindermädchen verschafft habe und du ohne mich nicht hättest überleben können.“

Jill ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist nicht wahr. Uns ging es gut!“

„Das behauptest du.“

Sie sank zurück gegen die Rückenlehne. „Du hast mich ausgetrickst.“

„Ich habe getan, was ich tun musste, um mit meinem Sohn zusammen zu sein.“

„Und jetzt, da du ihn hast?“

„Wird er in Paterno auf dem Familiensitz leben.“

„Was ist mit mir?“

„Du wohnst bei uns, bis er achtzehn ist. Wenn er auszieht, um zu studieren, darfst du auch ausziehen.“

Fest grub Jill die Fingernägel in die Handflächen. „Ich bin eine Gefangene?“

Vittorio musterte ihr blasses Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der geraden Nase und den sinnlichen Lippen. „Natürlich nicht. Wie gesagt, es steht dir frei, zu kommen und zu gehen. Allerdings bleibt Joseph bei mir.“

„Also ist er der Gefangene?“

„Er ist noch klein und braucht Orientierungshilfe und Schutz.“

„Vor deinen Feinden?“

„Ich habe keine Feinde.“

„Abgesehen von mir“, flüsterte Jill.

„Früher warst du es nicht“, erwiderte Vittorio ebenso leise und beobachtete, wie sie rot wurde. Ein Zeichen dafür, dass sie sich daran erinnerte, wie leidenschaftlich sie im Bett auf ihn reagiert hatte.

Ein Wassertropfen fiel von einer Haarsträhne. Gereizt wischte sich Jill übers Gesicht, und Vittorio bemerkte, dass ihr die Hand zitterte.

Jill war nervös. Gut. Das sollte sie auch sein. Er war wütend. Sie hatte ihre Schwangerschaft verheimlicht. Eine seiner Angestellten hatte Jill zufällig getroffen, während sie das Baby spazieren fuhr. Sobald er davon hörte, rechnete er schnell nach und rief sie sofort an. Und sie besaß doch tatsächlich die Frechheit, zunächst abzustreiten, dass das Kind von ihm war.

Als er einen Gentest verlangt hatte, war sie vor ihm geflohen und hatte ihm seinen Sohn fast das ganze erste Lebensjahr vorenthalten. Und das würde nicht ohne Folgen bleiben. Sie musste bestraft werden.

„Ich sehe dich noch immer in Bellagio am Steuer meines neuen Ferraris vor mir“, fügte Vittorio hinzu. „Du hast es geliebt, das Auto zu fahren, stimmt’s? Aber andererseits hast du ja alles an unserer gemeinsamen Zeit in der Villa am Comer See geliebt. Mein Geld ausgeben eingeschlossen.“

„Dein Reichtum hat mir nichts bedeutet!“, antwortete Jill heftig.

„Hast du etwa nicht den Privatjet genossen, die Villa, die Hausangestellten, das Auto?“

„Solche Dinge beeindrucken mich nicht“, schleuderte sie ihm entgegen.

Langsam ließ Vittorio den Blick über ihre feinen Gesichtszüge gleiten, die makellose zarte Haut, das blonde Haar, das ihr in feuchten Wellen über die Schultern fiel. Die Haarfarbe war auch neu.

„Ich verstehe. Du warst meinetwegen dort.“ Scheinbar entspannt musterte er sie und überlegte, ob er sie lieber als Brünette oder als kalifornische Strandblondine mochte. Seine Gelassenheit war jedoch nur Fassade.

Nie zuvor in seinem Leben war er so ausgespielt worden wie von Jill Smith. Es erstaunte ihn noch immer. Sie hatte unschuldig, süß und rein gewirkt. Wirklich, er hatte sie falsch eingeschätzt. Das würde ihm nicht noch einmal passieren.

Offen erwiderte sie seinen Blick und hob herausfordernd das Kinn. „Ich hatte dich wirklich gern.“

„Vergangenheit.“

„Vergangenheit.“

„Und wieso? Was ist passiert, Jill Smith?“, fragte Vittorio und betonte ihren Namen spöttisch, weil er – wie ihr Leben – erfunden war. Eine Jill Smith existierte nicht.

Ihre Lügen hatten es erschwert, Jill aufzuspüren, aber Vittorio war hartnäckig, und er hatte schließlich Erfolg gehabt.

„Nichts ist passiert.“

„Ach nein?“ Fragend zog Vittorio die Augenbrauen hoch.

„Nein.“

„Niemand hat dir etwas ins Ohr geflüstert, Jill?“

Sie sah niedergeschlagen und verängstigt aus, und er fragte sich, ob sie sich so an jenem Tag in Bellagio gefühlt hatte, als sein junges Hausmädchen ihr erzählt hatte, er gehöre zur Mafia. Wie dumm, über Dinge zu sprechen, von denen es keine Ahnung hatte. Wie dumm, zu glauben, er würde es nicht he-rausfinden. Seine Angestellten mussten doch wissen, dass überall in der Villa Überwachungskameras waren.

„Was hast du mit der jungen Frau gemacht?“

„Ich habe sie entlassen.“ Vittorio verdrehte die Augen, als er Jills Miene bemerkte. „Meinst du im Ernst, ich würde einer Achtzehnjährigen etwas tun, weil sie das Wort ‚Mafioso‘ ausspricht? Lächerlich. Das beweist nur, wie wenig du von mir weißt. Weder wende ich selbst Gewalt an, noch erteile ich Befehle, Gewalt anzuwenden.“

Noch immer sah Jill ihn argwöhnisch an, dann huschten in rascher Folge furchtsame und besorgte Blicke über ihr Gesicht. „Also willst du mich wirklich mit nach Sizilien nehmen?“

„Ja.“

„Und du wirst mich nicht von Joe fernhalten?“

„Nicht, solange du kooperierst.“

„Was soll das heißen?“

„Es heißt, dass du bereitwillig, freundlich und unverzüglich tust, worum ich dich bitte.“

Sie atmete scharf ein. „Du kannst Joe nicht als Waffe gegen mich benutzen.“

„Hast du nicht genau das mit mir getan?“

„Ich wollte ihn schützen …“

„Vor mir. Ja, das habe ich kapiert. Was für ein schwerer taktischer Fehler, Jill.“

„Und wenn ich siebzehn Jahre lang kooperiere?“

„Nimmst du an Joes Leben teil, genießt meinen Schutz, meinen Reichtum und alle Privilegien der Familie d’Severano.“

„Aber wenn ich kooperiere, wird es dir gelingen, aus ihm einen von euch zu machen.“

„Du lässt es klingen als wären wir eine Horde Vampire.“

„So groß ist der Unterschied ja nicht, oder?“

„Vampire sind gerade in.“

„Nicht bei mir.“

„Du bist gegen Vampire?“

„Ich bin gegen Leute, die andere einschüchtern und bedrohen. Ich bin gegen Schläger und Gangster. Gegen das organisierte Verbrechen. Gegen jeden, der andere Menschen in die Knie zwingt.“

Vittorios Mundwinkel zuckten. „Du bist entweder haarsträubend mutig oder dumm, wenn man bedenkt, wie viel für dich auf dem Spiel steht, Jill.“

„Ja, sehr viel steht auf dem Spiel. Wir reden hier über das Leben eines kleinen Jungen. Was wir jetzt tun, wird ihn für immer beeinflussen.“

„Eben.“

„Weshalb ich nicht ignorieren kann, wer du bist und was du machst, Vittorio. Deine moralischen Werte sind nicht die meinen …“

Er hatte genug gehört, blendete Jills Stimme einfach aus und gab einem seiner Männer ein Handzeichen. Der Leibwächter klopfte an die Trennscheibe. Sofort wurde der Chauffeur langsamer und fuhr auf die Standspur des Highways.

„Ich wollte, dass es mit uns klappt“, sagte Vittorio ruhig. „Leider ist klar geworden, dass es dazu nicht kommen wird. Trennen wir uns jetzt, dann haben wir es hinter uns.“ Er öffnete die Tür. „Auf Wiedersehen, Jill.“

„Was?“

„Bis zu deinem Haus musst du nur eine halbe Meile zurücklaufen.“

„Vittorio!“, protestierte sie.

Sie sah entsetzt aus. Aber Vittorio hatte ihre Unehrlichkeit und die Verdrehungen von Tatsachen satt. Er verachtete Lügen. Und er hatte zu hart gearbeitet, um seiner Familie die Ehrbarkeit wiederzugeben, als dass er irgendjemandem erlauben könnte, die Familie d’Severano zu beleidigen. Schon gar nicht von Jill Smith mit ihrer fragwürdigen Moral und geheimen Vergangenheit.

„Na los, Jill. Wie sollen wir denn unseren Sohn gemeinsam großziehen, wenn du mich überhaupt nicht magst? Ich will, dass er sich geborgen und geliebt fühlt, nicht, dass er zwischen uns hin- und hergerissen wird. Du hast mich zum Monster abgestempelt und würdest versuchen, ihn gegen mich aufzuhetzen …“

„Nein, würde ich nicht.“

„Du hast es bereits getan. Du hast mich angelogen, bist vor mir davongelaufen, hast versprochen, dich mit mir zu treffen, und dich dann nicht blicken lassen. Es war nur ein Trick, um wieder zu entwischen. Mit meinem Sohn.“ Vittorio holte tief Luft.

Wut und Schmach hatte er empfunden, als Jill ihn nach Josephs Geburt überlistet, getäuscht und monatelang manipuliert hatte. So etwas ließ er niemandem durchgehen. „Nächsten Monat wird Joseph ein Jahr alt, und ich habe ihn heute zum ersten Mal in den Armen gehalten. Und du nennst mich das Monster?“

Sichtlich erschüttert, zuckte sie zusammen. In ihrem jetzt aschfahlen Gesicht wirkten ihre Augen riesengroß. Einen Moment lang hatte Vittorio fast Mitleid mit ihr. Aber nur fast. Weil sie ihn gedemütigt und ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte.

„Tu uns beiden einen Gefallen, und steig aus, Jill.“

„Nein.“

„Wir haben einen Flugplan angemeldet. Ich habe keine Zeit.“

„Ich steige nicht aus.“

„Jill.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich lasse Joe nicht im Stich.“

„Und ich spiele deine Spiele nicht mehr mit.“

„Keine Tricks mehr, ich verspreche es. Bitte. Keine Tricks, keine Schwierigkeiten. Ich sorge dafür, dass es funktioniert. Ich tue alles, was du verlangst. Ich schwöre.“

Vittorio hielt ihren Blick fest. „Eine zweite Chance wird es nicht geben, Jill. Ein Fehler, eine kleine Flunkerei, und du bist weg vom Fenster.“

Sie nickte. Tränen rollten ihr über die Wangen.

Das war ihm egal. Er weigerte sich, noch irgendetwas für Jill zu empfinden. Sie hatte jede Kränkung und jeden Kummer verdient. Er hatte ihr vertraut und sie gern gehabt.

Vor zwanzig Monaten war er wirklich überzeugt gewesen, sie sei die eine. Diejenige, die er heiraten und für den Rest seines Lebens lieben würde. Lächerlich, weil er sonst nicht der impulsive Typ war. Ihm war nie eine Frau begegnet, die er sich als seine Ehefrau vorstellen konnte. Aber Jill hatte er haben wollen.

Und dann war sie davongelaufen, hatte gelogen und ihm das Herz gebrochen.

„Alles, was du verlangst, alles, was du sagst“, brachte sie mühsam heraus.

Jetzt bettelte sie. Vittorio hatte gedacht, wenn er sie so weit hatte, würde er sich vielleicht besser fühlen. Er tat es nicht.

Noch nie hatte er eine Frau hart angepackt.

Noch nie hatte er eine Frau dazu gebracht, zu betteln. Und er hätte es nicht tun sollen.

Vittorio konnte sie kaum ansehen. Er kam sich vor wie der Schurke, als den Jill ihn dargestellt hatte. Obwohl er keiner war. Er hatte Jahre seines Lebens damit verbracht, die von früheren Generationen zugefügten Wunden zu heilen. Nachdem sein Vater unter tragischen Umständen verletzt worden war und Konkurs hatte anmelden müssen, war das Unternehmen von Vittorio wieder aufgebaut worden. Er kämpfte für seinen Vater, er kämpfte für seine Familie und würde der Welt beweisen, dass die d’Severanos anständige Leute waren.

„Lass mich zusammen mit meinem Sohn reisen. Bitte, Vittorio.“

Wut wallte in ihm auf. Er umfasste ihren Arm, während er ihr die andere Hand um den Nacken legte. „Unserem Sohn. Wir beide haben ihn gezeugt. Deiner oder meiner, das gibt es von jetzt an nicht mehr. Nur unser. Nur eine Familie, und zwar die d’Severanos. Verstanden?“

Ruckartig nickte Jill. „Ja.“

Weil in ihrem Blick so viel Traurigkeit lag, tat Vittorio das Einzige, was ihm einfiel – er küsste Jill. Aber nicht zärtlich, um sie zu trösten. Er bemächtigte sich ihrer Lippen so, wie er inzwischen die Kontrolle über ihr Leben übernommen hatte. Jill hatte ihre Chance gehabt. Sie hatten es auf ihre Art ausprobiert. Jetzt war seine dran.

Der harte, bestrafende Kuss besänftigte seinen Zorn nicht. Wenn überhaupt, wollte Vittorio mehr. Ihre Lippen waren so weich und zitterten unter seinen. Vittorio küsste sie leidenschaftlich und kostete ihre Süße.

Jill erschauerte und spreizte die Finger an seiner Brust, und als er anfing, mit ihrer Zunge zu spielen, bog sie aufstöhnend den Rücken durch.

Ihr Widerstand schwand dahin. Vittorio spürte, wie sie sich an ihn schmiegte. Wenn sie allein gewesen wären, hätte er sie auf der Stelle haben können. Er ließ Jill los und beobachtete, wie sie auf dem Ledersitz zurücksank.

„Flughafen“, sagte Vittorio gedehnt, während er seine Manschetten zurechtzupfte. „Wir sind spät dran.“

Als sie sich dem Flughafen von Monterey näherten, wollte Jill nur noch weinen. Sie hatte Joe im Stich gelassen.

Sein Leben würde nie wieder so sein, wie es einmal war. Und das war ihre Schuld. Sie hätte Hannah nicht vertrauen dürfen.

Aber Hannah schien in jeder Hinsicht perfekt zu sein. Ihr Lebenslauf zeigte, dass sie Pädagogik studiert und jahrelang mit Säuglingen und Kleinkindern gearbeitet hatte. Und im Verhältnis zu anderen Kindermädchen war sie nicht teuer.

Deshalb hatte Jill ihre Chance genutzt, Hannah einzustellen.

Hannahs Täuschung war jedoch ein Nichts verglichen mit Jills Selbsthass. Als Vittorio sie geküsst hatte, war sie nahezu dahingeschmolzen. Wie konnte sie auf ihn reagieren, obwohl sie doch wusste, was für ein Mann er war? Ihr Vater war genauso gewesen, nur dass er nicht einer sizilianischen, sondern einer Detroiter Mafiaorganisation angehört hatte.

Sie fuhren durch das Sicherheitstor des Flughafens, und Jill erhaschte auf der Startbahn einen Blick auf eine weiß-rote Boeing. Vittorios Jet. Derselbe, mit dem sie von Istanbul nach Mailand geflogen waren, bevor sie einen Hubschrauber zur Villa am Comer See genommen hatten.

Vittorio besaß sechs Flugzeuge, einschließlich kleinerer Jets, aber diese Boeing mochte er am liebsten. Sie verfügte über zwei Schlaf-, ein Ess- und ein luxuriöses Wohnzimmer, eine Küche, in der alles vom Espresso bis zum Fünf-Gänge-Menü zubereitet werden konnte, sowie eine Personalkabine für Vittorios Mitarbeiter und das Sicherheitsteam.

Die Limousine hielt neben dem Jet. Vittorio stieg aus, wartete aber nicht auf Jill. Stattdessen ging er sofort zur Gangway, denn er wusste ja, dass Jill keine andere Wahl hatte, als ihm zu folgen.

Voller Angst ging sie hinter ihm die Treppe hoch. Was, wenn Joe nicht hier war? Was, wenn Vittorio nur mit ihr gespielt hatte?

Da war er. Ihr Sohn. Ihr Ein und Alles.

Joe saß auf einer Steppdecke auf dem Boden im Wohnzimmer und spielte mit Schaumstoffklötzchen. Noch immer trug er das sonnengelbe T-Shirt und die Bluejeans. Eine schwarzhaarige Frau baute mit den Klötzchen einen Turm, damit Joe ihn umstoßen konnte.

Plötzlich sah er Jill und lächelte. „Mama.“

Sie eilte zu ihm und hob ihn hoch. Ihn in den Armen zu halten linderte den Schmerz in ihrer Brust. Dieses Kind bedeutete ihr alles. Leben, Atem, Hoffnung, Glück. Und selbst wenn Vittorio ihr das nicht glaubte, jede ihrer Entscheidungen diente dazu, Joes Sicherheit, Schutz und Wohl zu garantieren.

Während sie ihn an sich drückte, streichelte Jill ihrem Baby das weiche schwarze Haar und dann den Rücken. Zum ersten Mal seit einer Stunde konnte sie frei atmen. Solange sie mit Joe zusammen war, wurde sie mit allem fertig.

Sich bewusst, dass die anderen sie beobachteten, sah Jill auf. Vittorios Blick war unergründlich. Ihr kam in den Sinn, dass sich in der vergangenen Stunde nicht nur Joes, sondern auch ihr Leben grundlegend verändert hatte. Nichts würde jemals wieder so sein, wie es einmal gewesen war.

Vittorio forderte die junge Frau mit einer Handbewegung auf, das Baby zu nehmen. „Nicht jetzt!“, sagte er schroff, als Jill protestieren wollte. „Wir sind beide durchnässt und müssen uns umziehen. Und dann, wenn wir in der Luft sind, besprechen wir, was wir unseren Familien erzählen.“

3. KAPITEL

Jill stand in dem eleganten, stilvoll eingerichteten Schlafzimmer des Flugzeugs und hörte hinter sich die Tür zugehen. Es war nur ein leises Geräusch, und dennoch hallte es in ihrem Kopf wie der Knall einer Gefängniszellentür.

Sie steckte in großen Schwierigkeiten und hatte Joe da mit hineingezogen.

Und jetzt waren sie unterwegs nach Paterno, Sizilien, Heimat der d’Severanos und ihr Machtzentrum.

Zweifellos waren alle Menschen im Ort Vittorio treu ergeben. Alle würden sie bespitzeln und ihm Bericht erstatten.

Im Geiste hörte Jill, wie ein Schlüssel herumgedreht wurde. Gefangen. Das Schlimmste daran war, dass Vittorio nicht wusste, wer sie war, und es auch nicht erfahren durfte.

Wenn er, das Oberhaupt der einflussreichsten Mafiafamilie der Welt, ihren richtigen Namen herausfand, würde er sie umbringen. Er würde es tun müssen. So lauteten die Regeln. Jills Vater hatte die d’Severanos hintergangen, und sie würden Rache fordern. Sie hatten Blut sehen wollen und das ihrer Schwester Katie vergossen. Sie würden auch Jills Leben verlangen.

Aber was würde bei diesem Machtkampf mit Joe passieren?

Der Gedanke an ihren Sohn rüttelte sie aus ihrem Unglück auf. Sie durfte nicht in Panik geraten. Ihr Leben hing davon ab, dass sie einen klaren Kopf behielt. Um ruhig und konzentriert zu bleiben, musste sie jedoch ihre Gefühle unter Kontrolle haben, und das fand sie fast unmöglich, wenn sie mit Vittorio zusammen war.

Sie öffnete ihren zerbeulten alten Koffer. Wer hatte so überordentlich ihre Sachen gepackt? Es überlief sie kalt. Sie wollte nicht daran denken, dass jemand alle ihre Kleidungsstücke und Dessous angefasst hatte. Dabei kam sie sich schutzlos vor. Entblößt.

Nicht ganz entblößt, erinnerte sich Jill grimmig, während sie ihre durchnässte Kleidung ablegte und eine schwarze Hose und ein flauschiges graues Stricktop anzog. Vittorio wusste eine Menge, aber nicht alles. Er würde nicht erfahren, wer sie wirklich war.

Bis sie zwölf gewesen war, hatte sie taillenlanges rotes Haar gehabt. Die Lockenpracht hatte überall Aufmerksamkeit erregt. Zur damaligen Zeit hätte Jill die großen Renaissancemaler inspiriert, meinte ihre Kunstlehrerin.

Ihre Mutter weinte, als die Regierung darauf bestand, Jills Haar abzuschneiden und mausbraun zu färben.

Heimlich weinte Jill auch. Ihr schönes Haar zu verlieren schmerzte, sich selbst zu verlieren war noch schlimmer. Denn man hatte ihr auch alles andere genommen.

Ihren Namen.

Ihr Zuhause.

Ihr Selbstbewusstsein.

Sie war nicht mehr Alessia Giordano, sondern ein Niemand mit einem erfundenen Namen. Und sie würde es bis an ihr Lebensende bleiben.

Es klopfte an der Schlafzimmertür. „Hast du dich umgezogen?“, fragte Vittorio.

„Ja“, erwiderte Jill.

„Wir starten in zwei Minuten.“

Also geschah das alles wirklich. Kein FBI-Agent würde ins Flugzeug stürmen, um sie zu befreien. Es gab keine Hoffnung auf eine Rettung im letzten Moment.

„Ich komme gleich.“ Jill straffte die Schultern. Sie hatte schon Schlimmeres durchgemacht. Vittorios Spiel konnte sie mitspielen. Solange Joe gesund und glücklich war, würde sie alles ertragen.

Sie verließ das Schlafzimmer und ging in den luxuriösen Wohnbereich, wo Vittorio schon auf sie wartete. Gekleidet in einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, sah er so elegant aus, als hätte er eine Stunde und nicht nur Minuten Zeit gehabt, zu duschen, sich zu rasieren und anzuziehen. Wie er das machte, war ihr ein Rätsel.

„Du hast bequeme Sachen gewählt“, sagte er mit Blick auf ihre schwarze Hose und das schlichte graue Stricktop.

Jill errötete. Natürlich meinte er in Wirklichkeit, dass sie keinen Schick hatte. „Mom-Klamotten“, verteidigte sie sich. Dass sie sich plötzlich für ihr Aussehen schämte, hasste sie. Ihr war völlig bewusst, dass ihre Kleidung alt und billig war. Außerdem hatte Vittorio einen wunden Punkt getroffen, denn Jill war insgeheim ein Modefan.

„Sehr vernünftig von dir“, sagte Vittorio beruhigend.

Was sie alles andere als beruhigend fand.

„Jetzt komm, und setz dich zu mir.“ Er deutete auf einen der Wildledersessel, neben denen er stand.

Sekundenlang zögerte sie, ihre Blicke begegneten sich. Nach einem Moment hoben sich Vittorios Mundwinkel. Es war kein Lächeln, sondern eine Herausforderung.

„Gern.“ Anmutig glitt sie in den Sessel und schlug die Beine übereinander. Sie gab sich lässig, aber ihr Herz hämmerte wie verrückt, und ihr wurde schwindlig. Groß, breitschultrig und verheerend attraktiv, schien Vittorio den ganzen Sauerstoff aus der Kabine zu saugen.

Er war zu stark.

Zu sinnlich.

Zu imposant.

Dass er außerdem einer der mächtigsten Männer der Welt war, kam ihr angesichts all seiner anderen Talente nicht gerade fair vor.

„Ich habe Champagner bestellt.“ Vittorio setzte sich neben sie. „Wir trinken jetzt ein Glas und noch eins, um zu feiern, wenn wir in der Luft sind.“

Wie kalt er war. Wie grausam. Aber warum sollte er nicht feiern? Er hatte es geschafft, sie in eine Falle zu locken und Anspruch auf seinen Sohn zu erheben. Jill versuchte zu lächeln, doch die Anstrengung tat richtig weh.

„Seit Bellagio habe ich keinen Champagner mehr getrunken. Wir sind an den Ausgangspunkt zurückgekehrt.“

„Damals warst du allerdings eine üppige Brünette mit veilchenblauen Augen. Nun bist du das typische kalifornische Beachgirl: blond, schlank, sonnengebräunt. Du bist wirklich eine Verkleidungskünstlerin.“

„Es freut mich, dass dich mein Einfallsreichtum beeindruckt hat“, erwiderte Jill angespannt, bevor sie den Kopf drehte, um aus dem Flugzeugfenster zu schauen.

Dabei hatte sie gar nicht so einfallsreich sein wollen. Sie war ein verträumtes kleines Mädchen gewesen, behütet, verwöhnt, beschützt. Ihre wohlhabenden Eltern hatten sie auf eine exklusive katholische Mädchenschule geschickt. Aufgewachsen war sie in einem von Bäumen und großen Villen eingesäumten Detroiter Vorort.

Nichts in ihrem Leben hatte Jill auf die Enthüllung vorbereitet, dass ihr Vater Mitglied einer Mafiaorganisation und ein Verräter war. Er wurde von allen verachtet, und als er gegen seine eigenen Leute aussagte, brachte er seine ganze Familie in Gefahr.

Von einem Tag zum anderen wurde die zwölfjährige Jill aus ihrer Schule herausgerissen, aus ihrem Freundeskreis, aus ihrer Gemeinde.

Jill mühte sich mit dem neuen Leben ihrer Familie ab, mit den neuen Identitäten, den Umzügen und der manchmal unerträglichen Einsamkeit. Im Verlauf der Jahre gewöhnte sie sich jedoch daran, die jeweils nötige Rolle zu spielen.

So geschickt und diszipliniert war Jills jüngere Schwester Katie nicht. Vor zweieinhalb Jahren – acht Monate, bevor Jill in der Türkei Vittorio kennenlernte – verliebte sich Katie in einen gut aussehenden Studenten im höheren Fachsemester an der Illinois University. Da sie sich bei ihm sicher fühlte, hatte sie ihm erzählt, wer sie wirklich war. Für dieses Vertrauen hatte sie schließlich mit ihrem Leben bezahlt.

Den Fehler würde Jill nicht machen. Sie hatte gelernt, dass sie niemandem trauen durfte, am allerwenigsten Männern mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen.

Katies Tod hatte Jill zutiefst entsetzt. Sie war die große Schwester gewesen und hätte Katie beschützen sollen.

Aber ich habe es nicht getan, dachte Jill, selbst jetzt noch immer erschüttert.

Bei Joe würde sie nicht versagen.

„Jill. Dein Glas.“

Ruckartig blickte sie zur Seite. Die Flugbegleiterin stand mit einer Champagnerflöte vor ihr. Mit unerbittlicher Härte gegen sich selbst verdrängte Jill die Trauer um ihre Schwester und nahm das Glas entgegen.

Die Stewardess ließ sie beide allein, und Vittorio hob sein Glas. „Auf unser gemeinsames Leben.“

Trieb er seinen Spaß mit ihr? Was für ein Leben war das, wenn es zwischen ihnen weder Liebe und Vertrauen noch Respekt gab? „Auf Joe“, sagte Jill stattdessen kalt lächelnd, und sie tranken beide einen Schluck.

Früher einmal hatte sie sich bei einem Glas Champagner elegant gefühlt. Schön. Das hatte sie Vittorio gestanden, und danach hatte er eine Woche lang jeden Abend vor dem Essen Champagner für sie bestellt. Hatte er jetzt welchen bringen lassen, weil er sich daran erinnerte?

„Fühlst du dich nun schön?“, fragte Vittorio.

Also erinnerte er sich. „Wie eine Prinzessin“, erwiderte Jill.

„Und wir leben wie im Märchen“, spottete er.

Wie hatte sie nur übersehen können, dass hinter seinem Charme und seinem umwerfend guten Aussehen ein Machtmensch steckte? „Darf ich Joe holen?“, fragte sie ausdruckslos. „Wir starten gleich, und ich würde mich wohler fühlen, wenn er bei mir ist.“

„Maria passt gut auf ihn auf.“

„Ich vermisse ihn. Ich habe heute nicht viel Zeit mit ihm verbracht …“

„Weil du ihn verlassen hast. Du hast ihn regelmäßig verlassen.“

„Ich musste arbeiten.“

„Nein. Du hättest zu mir kommen können, Jill. Ich hätte für dich gesorgt und es dir ermöglicht, mit ihm zu Hause zu bleiben.“

„Ich wollte das Beste für Joe. Er sollte das haben, was ich nicht hatte: Sicherheit und Stabilität.“

„Und du meinst, das erreichst du, indem du davonläufst, dich versteckst und unter falschem Namen lebst?“

„Joe hätte keinen falschen Namen gehabt.“

„Er hatte schon einen. Du hast Hannah erzählt, dass er in allen Krankenblättern als Michael Holliday erfasst ist. Damit er Mike genannt wird, wenn du ihn in der Vorschule anmeldest.“

Jill wurde rot. „Das hatte ich noch nicht getan“, sagte sie verlegen. „Es war nur so ein Gedanke.“

„Nein, es war, was du dir unter einem guten Plan vorstellst.“

Sein spöttischer Ton tat weh. Vittorio verstand nicht, dass sie sich ständig der Gefahr bewusst sein und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen musste. „Vielleicht habe ich Fehler gemacht“, räumte sie den Tränen nahe ein. „Aber ich wollte nur das Beste für Joe.“

„Jetzt hat er es ja. Seine Mutter und sein Vater unter einem Dach. Was für ein glücklicher kleiner Junge.“

Vittorio war abscheulich, fest entschlossen, sie leiden zu lassen. Jill presste die Lippen zusammen, bis sie sicher war, ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben. „Also? Kann unser glücklicher Junge zu uns kommen? Darf er während des Starts bei seinen Eltern sitzen?“

Fast freundlich lächelte Vittorio sie an. „Unser Sohn schläft tief und fest in einem Kinderbett im Personalraum. Wenn er aufwacht, bringt Maria ihn zu uns.“

Das Flugzeug begann zu rollen. „Bitte, Vittorio. Ich möchte Joe bei mir haben. Ich brauche ihn.“

Weil ihr Vater seine eigenen Leute getäuscht hatte, war ihr Leben kaputtgegangen. Ihre einzige Schwester war bei einem Unfall umgekommen, den die Polizei als „verdächtig“ einstufte, aber man hatte nie Anklage gegen jemanden erhoben. Ihre Mutter hatte aus Angst vor weiteren Vergeltungsmaßnahmen jeden Kontakt abgebrochen. Joe war der einzige Grund, warum Jill fähig war, mit so vielen Schicksalsschlägen zu leben.

Einen Moment lang musterte Vittorio sie schweigend, bevor er fragte: „Du willst wirklich, dass er geweckt wird, nur damit du ihn halten kannst?“

Das klang herablassend und ungläubig. Und warum auch nicht? Was für eine Frau stellte denn ihre Bedürfnisse über die ihres Kindes?

„Nein“, brachte Jill mühsam hervor. „Du hast recht. Er sollte weiterschlafen.“

Wieder blickte Vittorio sie prüfend an. „Manchmal ist es schwer, das Richtige zu tun.“

Jetzt raste das Flugzeug über die Startbahn, wurde immer schneller und hob ab. Dunkle Kiefern sprenkelten den Boden, Jill sah den Pazifik in Sicht kommen. In weniger als einer Stunde würden sie Kalifornien hinter sich lassen. Sie waren tatsächlich auf dem Weg nach Sizilien, wo sie in Vittorios Welt, in seinem Haus ...

Autor

Jane Porter

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